19. KAPITEL
Ich sitze mit Gerry in The Winds, einem Restaurant
in dem Örtchen Yellow Springs. Es ist sehr edel, mit weißen
Stoffservietten und bauchigen Weingläsern. Gerry zählt offenbar zu
den Stammgästen, wir haben nämlich den besten Tisch mit Ausblick
auf die Straße. Es war eine ganz schöne Strecke bis hierher in
Gerrys riesigem Mercedes mit den schwarzen Ledersitzen. Vor der
Abfahrt hat Gerry über mich hinweggelangt, um mir zu zeigen, wie
der Schalter für
die Sitzheizung funktioniert. Er roch nach teurem Aftershave und
Zigaretten, aber nicht unangenehm. Ganz und gar nicht. Wyatt habe
ich nicht mehr gesehen, als ich vom Gästehäuschen aufbrach, was
auch ganz gut war, weil ich über meinem schicken schwarzen Kleid
von Monsoon den einzigen Mantel anziehen musste, den ich
mitgenommen habe - meinen Parka von Lands’ End.
»Rot oder weiß?«, fragt Gerry mit der Weinkarte
vor sich.
Ist das schön, vor die Wahl gestellt zu
werden.
»Rot«, sage ich genießerisch.
Er grinst mich an. »Ich habe gehofft, dass Sie das
sagen würden.«
Gerry versteht sich darauf, einem das Gefühl zu
geben, als würde man immer haargenau das Richtige sagen, und als
würde er einem förmlich an den Lippen hängen. Eine weitere
willkommene Abwechslung. Stephen verbreitet sich abends gern über
seine Erlebnisse im Büro. »Es besteht ernsthafte Gefahr, dass mein
Streitfall wegen des Fußwegs in Northumberland bis hinauf zum
Berufungsgericht geht.«
»Yellow Springs sticht in der Gegend hier ein
bisschen heraus«, erklärt Gerry mir. »Es ist eine Künstlergemeinde,
und es gibt auch eine kleine Universität. Im Ort wohnen etliche
Filmemacher und Schriftsteller.«
Schon auf dem Weg vom Wagen hierher waren mir die
Unterschiede aufgefallen, die vielen Geschäfte entlang der
Hauptstraße, in denen antiquarische Bücher, gebatikte T-Shirts und
exotische Topfpflanzen zum Verkauf stehen. Das Restaurant ist voll,
die Unterhaltung angeregt, und es duftet verlockend nach
frischgebackenem Brot. Draußen eilen Passanten durch den Schnee,
der immer noch knöchelhoch auf den Gehwegen liegt. Obwohl das hier
ein
Date ist, bin ich kein bisschen nervös oder ängstlich, was
allerdings auch an dem großen Martini liegen kann, den ich auf
Gerrys Vorschlag hin vor dem Essen in der Bar zu mir genommen
habe.
Die Kellnerin kommt. Ich bestelle
Blauflossen-Thunfisch (eigens aus Florida eingeflogen) vom
Holzofengrill, Gerry bestellt Steak. »Und eine Flasche Zinfandel«,
fügt er an.
Als die Kellnerin gegangen ist, sagt er: »Ich
hoffe, Sie mögen kalifornischen Wein.«
Ach, ganz bestimmt.
»Und, Alice, wie finden Sie Barnsley?«
Wie versprochen hat Gerry mir die High School, die
Bücherei und den berühmten indianischen Grabhügel von Barnsley
gezeigt. Das war es schon so ziemlich. Außerdem hat er mir noch
erklärt, dass das Denkmal auf dem Hauptplatz William Armstrong
darstellt, einen Einwanderer aus Barnsley, England, der den Ort im
späten 19. Jahrhundert gegründet hat.
»Für ein Mädel aus London ist das hier alles
sicher stocklangweilig«, fährt er fort.
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Es gefällt mir
hier. Alle sind so freundlich. London kann sehr unpersönlich
sein.«
Er nickt. »Ich habe eine Zeitlang in New York
gelebt«, sagt er. »Da war es das Gleiche.«
»Was haben Sie da gemacht?«
»Gearbeitet. Wir haben ein Familienunternehmen am
Ort, aber wir wollten uns erweitern. Deshalb war ich da.«
»Und«, sagt er nach einer kleinen Pause beiläufig,
»gibt es daheim jemand Besonderen?«
Gerry redet nicht lange um den heißen Brei herum.
Bevor ich heute Abend aufgebrochen bin, habe ich beschlossen, ihm
gegenüber vollkommen aufrichtig zu sein. Keine
Lügen mehr, keine ironischen Kommentare, nichts, was sich falsch
deuten ließe.
»Es gibt jemanden«, sage ich vorsichtig. »Aber wir
haben uns vor meinem Abflug gestritten, am Flughafen.«
»Er wollte Sie nicht gehen lassen?«
Zweifellos stellt sich Gerry einen völlig
aufgelösten Liebhaber vor, der mich anfleht, dazubleiben, während
ich mein Gepäck einchecke. Sämtliche Einzelheiten preiszugeben ist
einfach zu demütigend. Die verdammte Tabelle steckt immer noch in
meiner Parkatasche.
»Wir haben uns getrennt«, sage ich
lakonisch.
»Ich sollte wohl sagen, dass ich das bedauerlich
finde.« Gerry beugt sich vor. »Tu ich aber nicht.«
Ich spüre, wie ich just in dem Moment rot werde,
als die Kellnerin mit dem Wein kommt und uns einschenkt.
»Und ich sollte den guten Tropfen hier atmen
lassen«, sagt Gerry und hebt sein Glas. »Tu ich aber nicht.«
Gerry ist sehr, sehr witzig. Und männlich. Dazu
sieht er auch noch gut aus, und seine ruhige, bestimmte Fahrweise
ist äußerst erholsam.
»Was hat Sie nach Barnsley zurückgeführt?«, frage
ich.
»Familiäre Verpflichtungen. Ich wäre gern in New
York geblieben, aber ich wurde hier gebraucht.«
»War es schwer, zurückzukommen?«
»Was sein muss, muss sein«, sagt er achselzuckend.
»Ich habe Geschäftsverbindungen nach Las Vegas und fliege unter der
Woche meistens hin.«
Ich wüsste gern mehr, doch er wechselt das Thema
und befragt mich nach mir und meiner Arbeit. Ich habe ihm schon
erzählt, dass ich in der Musikbranche tätig bin, ohne in die
Einzelheiten zu gehen, was genau mich hierhergeführt hat.
»Und, was sind derzeit die vielversprechendsten
Bands?«, fragt er mich.
Vermutlich nicht die, die in letzter Zeit bei
Carmichael Music unterschrieben haben, hätte ich um ein Haar
gesagt. Unsere jüngste Erfolgsbilanz ist nicht sonderlich rosig,
weil die New Yorker Zentrale sämtliche Empfehlungen von Graham
abgeschmettert hat. Also berichte ich ihm von ein paar Bands, über
die ich etwas in Billboard gelesen habe,
und lande alsbald bei meinem berühmten Abstecher zu den Brit
Awards.
»Joss Stone sieht in Wahrheit völlig anders aus«,
teile ich ihm mit, »und Sharon Osbourne ist ein richtig
bodenständiger Typ.«
Er streicht über meine Hand. »Ich sehe schon,
Alice, Sie sind das reinste Energiebündel.«
Ehe ich’s mich versehe, tauschen wir uns über
unsere Lieblingsfilme aus, sind mit dem Hauptgericht fertig, und
dann überredet Gerry mich, doch noch eine Nachspeise zu bestellen.
»So wie Sie aussehen, setzen Sie bestimmt nie ein Gramm zu.«
Ich genieße das Ganze in vollen Zügen. Ja, ich
könnte mir sogar ein Techtelmechtel mit Gerry vorstellen, bevor die
mittleren Jahre mich voll zu fassen kriegen. Wenn ich erst Jahr um
Jahr an Stephens Seite dahinöde, werde ich auf diese Zeit
zurückblicken. Gelegentlich werden meine Kinder mich dabei
ertappen, wie ich wehmütig aus dem Fenster auf das Schneetreiben
blicke und an Gerry denke, den hinreißenden Amerikaner, den ich
hintan lassen musste, als die Pflicht mich zurück in mein
Heimatland rief. Ich trage ein Kleid mit Blumenmuster im Stil der
Vierzigerjahre, mein Haar ist sorgsam onduliert, mein roter
Lippenstift untadelig. Im Hintergrund ist die Filmmusik zu
Begegnung zu
hören. »Mami, was hast du denn?«, fragt Mabel mit ihrem
geschliffenen britischen Akzent. »Bist du traurig?« Ich lache
einmal kurz auf. »Nein, mein Liebling«, erwidere ich tapfer und
tupfe mir mit einem frisch gewaschenen Leinentaschentuch eine
einzelne Träne ab. Dann nehme ich Mabel bei der Hand und sage
munter: »Komm, wir rösten uns ein Stück Teekuchen im Kamin!«
Ende der Vorstellung, zurück ins Hier und Jetzt.
Ich entscheide mich für Pfannkuchen mit Waldbeeren und Schlagsahne,
Gerry bestellt Käse. Ich erlaube ihm, mir ein zweites Glas
einzuschenken und sein Bein an meins zu schmiegen. Seine Finger
streichen erneut über meine Hand, diesmal länger und sehr viel
sinnlicher.
»Alice«, sagt er und beugt sich zu mir hin, »Sie
sind eine sehr attraktive Frau.« Er nippt an seinem Wein. »Ich
würde Sie gern näher kennenlernen.«
Im Moment ist mir eher danach, den Teil mit dem
Kennenlernen auszulassen und gleich zum Nahkampf überzugehen. Gerry
geht es eindeutig genauso, denn sein Bein presst sich stärker an
meins. Ich greife nach meinem Glas Rotwein. Gerry legt seine freie
Hand unter dem Tisch auf mein Knie, umschließt es mit sanftem
Druck. Unsere Blicke treffen sich.
»Ich glaube, wir gäben ein gutes Paar ab«, wispert
Gerry verführerisch. »Wir könnten dem Begriff ›internationale
Beziehungen‹ eine neue Bedeutung verleihen.«
Jetzt werde ich knallrot. Ich hebe das Glas an die
Lippen, nehme einen großen Schluck und schaue weg, um meine Fassung
wiederzugewinnen. Mein Blick fällt durchs Fenster auf die Straße.
Dort, direkt vor mir, in einem Regenmantel mit Kapuze und mit
Entsetzen im Gesicht, steht Bruce. Und ein paar Schritte hinter ihm
Wyatt.
Verdutzt stelle ich das Glas ab.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Gerry
besorgt.
»Bestens«, sage ich, heillos verwirrt. Was tun
Bruce und Wyatt in Yellow Springs? Und warum hat Bruce mich so
angesehen?
Bevor ich weiter darüber nachsinnen kann, ertönt
vom Eingang ein markerschütternder Schrei. »Alice, stopp!«
Ich sehe mich absichtlich nicht um. Vielleicht
sitzt ja noch eine andere Alice im Restaurant.
Sekunden später steht Bruce bei uns am Tisch.
Wyatt kommt ihm langsam hinterher. Bruce reißt mir das Glas aus der
Hand. »Alice, Sie müssen nicht länger so leben!«
Er hält mein Glas hoch empor und wirbelt zu Gerry
herum. »Diese Frau ist eine genesende Alkoholikerin.«
Gerry starrt mich entgeistert an. »Davon haben Sie
mir nichts gesagt, Alice.«
»Bin ich nicht!«, protestiere ich.
»Nichts geschieht ohne Grund«, verkündet Bruce,
ohne mich weiter zu beachten, und wendet sich an Wyatt. »Wir kommen
zu einem AA-Treffen nach Yellow Springs, und wen sehen wir da?« Er
zeigt auf mich.
Mag sein, dass in Yellow Springs vor allem
alternativ eingestellte Künstlerseelen beheimatet sind, aber das
hindert sämtliche Restaurantgäste nicht daran, uns mit offenem Mund
anzuglotzen.
»Junge Frau, es ist an der Zeit, die Dinge
nüchtern zu betrachten«, sagt Bruce streng.
»Aber ich bin nicht betrunken«, gebe ich
aufgebracht zurück.
Bruce schüttelt seufzend den Kopf und sagt zu
Wyatt: »Hier haben wir ein Musterbeispiel für die Verleugnung eines
Alkoholproblems.«
»Aber ich bin wirklich keine Alkoholikerin«, sage
ich. »Ich trinke nur ganz gelegentlich und kann jederzeit
aufhören.«
Bruce schenkt mir einen übertrieben
verständnisvollen Blick. »Ich würde sagen, diese Lügen haben wir
uns alle schon das eine oder andere Mal erzählt, Alice.«
»Ich habe kein Problem«, sage, nein brülle ich
schon fast.
Bruce schüttelt erneut den Kopf und mustert mich
traurig. »Glauben Sie das wirklich, Alice? Noch vor ein paar Tagen
haben Sie mir erzählt, dass Sie zu Treffen gehen.« Er legt mir die
Hand auf die Schulter. »Trifft es nicht zu, dass Sie eine Zeitlang
wegen Ihres Alkoholproblems in Behandlung waren?«
Gerry ist käseweiß geworden. »Stimmt das?«
Ich erinnere mich wieder an die Unterhaltung mit
Bruce, und allmählich schwant mir, was da schiefgelaufen ist. »Ja.
Nein.«
Bruce dreht sich zu Wyatt um. »Siehst du, sie weiß
selber nicht, was sie will.« Er winkt eine Kellnerin herbei. »Ein
großes Glas Wasser bitte.« Dann wieder zu Wyatt: »Wir müssen sofort
damit anfangen, sie zu entgiften.«
»Ach Schnauze.« Ich muss hier Klarheit schaffen.
»Es war keine Fachambulanz für Suchterkrankungen. Es war etwas
anderes.« Ich habe nicht vor, meine Überängste mit halb Yellow
Springs zu erörtern. »Etwas Intimes.«
»Sie waren wegen etwas Intimem in Behandlung?«
Gerry zuckt zurück.
»Nicht das«, blaffe ich.
Bruce kommt einen Schritt näher. »Alice, ich
begleite Sie jetzt zu einem AA-Treffen.« Zu Gerry gewandt: »Ihr
Abend ist hiermit beendet.«
»Einen Moment mal«, sagt Gerry wutschnaubend. »Das
entscheide wohl immer noch ich.«
Bruce schnaubt zurück. Er wirkt auf mich, als
wolle er jeden Moment die Samthandschuhe ausziehen. »Laut Wyatt ist
die junge Dame verlobt«, sagt er und rückt Gerry näher auf die
Pelle.
Der wirft ihm einen triumphierenden Blick zu.
»Nicht mehr, alter Knabe.« Sein Ton besagt unmissverständlich, dass
das auf die Begegnung mit ihm zurückzuführen ist.
Gleich werden sie handgreiflich, denke ich - doch
da hält Wyatt Bruce zurück. »Lassen wir’s gut sein, ja?«
Gerry ist immer noch auf Streit aus. »Ja genau,
Wyatt.« Er sieht auf seine Armbanduhr. »Wenn ihr jetzt aufbrecht,
seid ihr gerade rechtzeitig zum Milchkakao daheim.«
Wyatt fixiert ihn lange und eindringlich, schluckt
und wendet sich schließlich ab. Nach ein paar Sekunden folgt Bruce
ihm zögerlich zur Tür hinaus.
Gerry und ich brauchen beide ein Weilchen, um die
Fassung wiederzugewinnen. Dann lehnt er sich zurück. »Ich wollte
zum Abschluss einen Brandy vorschlagen. Aber wir belassen es wohl
besser bei Kaffee.«
Wir trinken ihn so schnell wie möglich aus, dann
bittet Gerry die Kellnerin um die Rechnung. Als er seine
American-Express-Karte zückt, sehe ich, wie er mit Nachnamen heißt.
Gerry Armstrong.