Kapitel 5
Der verlorene Schatz
Inzwischen hatte sich Lena im Internet über diese ominösen LARP-Veranstaltungen informiert und herausgefunden, dass es offenbar eine große Fangemeinde von Rollenspielern gab. Bei mehr oder weniger großen Events trafen sie sich, schlüpften in die Rolle von Elfen, Zwergen oder Trollen und stellten Schlachten oder andere Szenen nach. Wie es aussah, handelte es sich nicht, wie Lena erwartet hatte, um eine Minderheit von völlig durchgeknallten Freaks, sondern angeblich beteiligten sich selbst erfolgreiche Geschäftsleute, Lehrer und Bankangestellte an derartigen Veranstaltungen und schlüpften für ein oder zwei Tage in eine beliebige Rolle.
Trotz allem wurde sie den Eindruck nicht los, dass dieser Ragnar nicht ganz dicht war. Eines Tages wurde sie nämlich Zeuge, wie er vor dem Zimmer seiner Großmutter seinen beleibten Onkel Georg gegen die Wand drückte. Dessen Gesicht war mal wieder knallrot angelaufen, und trotz seiner deutlich kräftigeren Gestalt schien er sich seines Neffen nicht erwehren zu können, auch wenn er ihn lauthals beschimpfte.
»Du wirst dir das Erbe nicht unter den Nagel reißen! Sollte dieser fragwürdige Schatz tatsächlich existieren, dann gehört er mir.«
Ragnars zum Zerreißen angespanntes Gesicht näherte sich bedrohlich dem seines Onkels. »Du widerwärtiger, geldgieriger Schleimer. Deine Mutter interessiert dich doch überhaupt nicht, alles, was du siehst ist … Geld!«
Herr Winter versuchte, sich aus dem Griff Ragnars zu befreien, aber der hielt ihn an den Handgelenken fest. Unentschlossen, was sie tun sollte, stand Lena mit dem Wagen voller Getränke da und beobachtete die beiden Männer.
Ihr wurde die Entscheidung abgenommen, denn Schwester Margareta kam um die Ecke, erfasste die Situation mit einem Blick und stellte sich dann vor die Streithähne.
»So, die Herren, das hier ist kein Boxring, sondern ein Seniorenheim. Wären Sie so freundlich und würden sich außerhalb unserer Einrichtung die Köpfe einschlagen?«
»Retten Sie mich vor diesem Irren!«, keuchte Georg Winter mit hervorquellenden Augen.
»Wer hier irre ist, darüber erlaube ich mir kein Urteil.« Schwester Margarete klatschte in die Hände. »Zack, zack, verschwinden Sie, sonst muss ich die Leitung informieren.«
Widerstrebend ließ Ragnar seinen Onkel los, nicht ohne ihm noch einmal drohend seinen Finger vor die Nase zu halten. »Ich lasse nicht zu, dass du meine Großmutter unter Druck setzt!« Damit fuhr er auf dem Absatz herum und rauschte durch die Tür.
Auch Georg Winter zog ab, nervös an seiner Krawatte nestelnd und den Kopf rot wie ein Feuerlöscher.
»Was war das denn?«, erkundigte sich Schwester Margareta bei Lena.
»Keine Ahnung, ich dachte schon, gleich fließt Blut.«
»Also wirklich, so wie du dreinblickst, könnte man meinen, das hätte dir gefallen«, rügte die resolute Altenpflegerin sie.
»Ein bisschen Action kann nie schaden«, grinste Lena.
»Nun gut, dann fahr mal die Getränke aus, wenn du Action brauchst!«, befahl Schwester Margareta und schob Lena an der Schulter vorwärts, woraufhin sie sich seufzend auf den Weg machte.
Herr Schubert, der bald seinen dreiundachtzigsten Geburtstag feiern würde, verwechselte Lena zum wiederholten Male mit seiner Enkeltochter und schüttete seinen Tee über dem Bett aus, sodass Lena die gesamte Bettwäsche wechseln musste. Dies trug nicht unbedingt zur Aufhellung ihrer Stimmung bei, daher war sie reichlich verärgert, als sie später in Frau Winters Zimmer trat. Die alte Dame saß vor dem Fenster und sah hinab in den Park. Ihr Gesicht legte sich in Falten, als sie Lena anlächelte. »Ist das nicht ein wunderbarer Tag heute?«
»Geht so«, grummelte Lena.
»Hast du vorhin den lauten Streit vor meinem Zimmer gehört? Was ist denn vorgefallen?«, erkundigte sie sich dann.
»Ja, Ihr Enkel und Ihr Sohn haben sich in die Wolle gekriegt.«
»Ach, nicht schon wieder«, stöhnte Frau Winter, dann wandte sie sich einem kleinen Spatz zu, der gerade auf dem Fenstersims landete.
»Ich hatte Ragnar vorhin von den Edelsteinen aus Elvancor erzählt, die Maredd mit hierherbrachte. Doch dann kam Georg dazu. Er wollte wissen, wo sich der Schatz befindet, den Maredd und ich versteckt haben.«
»Okay, da ist er natürlich hellhörig geworden«, stellte Lena fest.
»Nur leider glaubt er mir nicht, dass ich nicht weiß, wo sich die Edelsteine befinden«, seufzte sie. »Er denkt, ich wollte sie Ragnar vermachen.«
»Und, wollen Sie?«
»Der Junge hat viel mitgemacht, er hätte es verdient.« Traurig sah sie Lena an. »Es ist nicht leicht, so früh seinen Vater zu verlieren. Wüsste ich noch, wo die Edelsteine sind, ich würde ihm sagen, wo er sie finden kann.« Frau Winter blickte zu ihren Bildern. »Manchmal glaube ich, ich hätte den Ort gemalt.« Nun wirkten ihr Blick und ihre Stimme ganz entrückt. »Wenn ich gemalt habe, dann habe ich mich Elvancor stets ganz nahe gefühlt, seinen Zauber gespürt, und ich hatte den Eindruck, ich wäre tatsächlich dort. Aber zu meinem Bedauern kann ich mich nicht an alles entsinnen, was ich mit meinen Bildern zum Ausdruck bringen wollte.«
»Wirklich?« Mit neuem Interesse schweifte Lenas Blick über die fantastischen Bilder und auch über jene, die Landschaftsaufnahmen der Fränkischen Schweiz zeigten. Doch einen Hinweis auf irgendwelche geheimnisvollen Edelsteine fand sie nicht.
»Maredd wird es mir sagen, wenn er mich holen kommt«, behauptete Frau Winter schließlich voller Überzeugung.
»Ja, bestimmt.« Lena zwinkerte ihr zu und wollte noch etwas hinzufügen, als die Tür aufgerissen wurde und Frau Käppler hereingestürmt kam.
»Du solltest doch die Wege im Park rechen«, regte sich die Leiterin auf.
»Aber Schwester Margareta meinte, ich solle zuerst die Getränke ausfahren.«
»Wer hat hier das Sagen?«, schimpfte die hagere Frau.
Lena hob die Schultern, als eine Stimme von der Tür her tönte: »Natürlich ist es wichtiger, totes Laub von den Wegen zu rechen, als lebenden Menschen ihre wohlverdienten Getränke zu servieren.« Auf ihre Gehhilfe gestützt, stand Frau Meister in der Tür, ihr typisch verschmitztes Lächeln im Gesicht.
Hastig fuhr Frau Käppler herum, und ihre eben noch so verbiesterte Miene wandelte sich in ein geschäftsmäßiges Lächeln. »Na, Frau Meister, wie geht es uns heute? Hatten wir schon Stuhlgang?«
Frau Meister runzelte die Stirn. »Glauben Sie ernsthaft, ich gehe mit einem Stuhl spazieren?«
Lena hielt sich rasch eine Hand vor den Mund, als sie Frau Käpplers aufgerissene Augen sah, aber da winkte Frau Meister bereits ab. »War nur ein kleiner Scherz. Aber nun mal im Ernst. Ich hatte schon, wie es bei Ihnen aussieht, kann ich nicht sagen«, entgegnete die alte Dame dann recht trocken. »Doch wenn ich Ihre schlechte Laune richtig interpretiere, würde ich behaupten – nein.«
Obwohl Lena es krampfhaft versuchte, sie konnte das aufsteigende Lachen nicht unterdrücken, denn Frau Käppler schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, wollte offenbar noch etwas sagen, rückte jedoch schließlich nur ihre Brille auf der Nase zurecht und quetschte sich dann an Frau Meister vorbei.
Diese sah ihr kopfschüttelnd hinterher. »Diese dämliche Fragerei nach dem Stuhlgang ging mir schon immer auf die Nerven.«
»Kann ich verstehen«, lachte Lena. »Das Gesicht von der Käppler – einfach genial!«
»Es war mir eine Ehre, dir den Tag versüßt zu haben.« Frau Meister deutete eine Verbeugung an und tippelte dann weiter.
»Frau Meister ist einfach supercool!«, bemerkte Lena und stellte Frau Winter noch eine Flasche Wasser auf ihren Nachttisch. »Ich muss dann mal weiter, der Park ruft.«
»Maredd und ich haben es immer geliebt, durch den Wald zu reiten. Die Wälder von Elvancor waren so majestätisch und voller Magie.«
»Das war sicher sehr schön. Früher bin ich auch geritten«, erzählte Lena.
»Ach tatsächlich?« Interessiert wandte sich Frau Winter ihr zu.
»Ja, aber irgendwann habe ich aufgehört.«
»Das ist schade, Pferde sind wundervolle Geschöpfe.«
»Sofern sie einen nicht im Dreck absetzen, schon«, stimmte Lena zu. »Also, ich würde mich ja wirklich gerne weiter mit Ihnen unterhalten, aber ich muss jetzt los, sonst killt mich die Käppler.«
»Natürlich, ich will dich nicht aufhalten.« Sie streckte ihre schmale, knochige Hand nach ihr aus. »Lena, du bist ein nettes Mädchen, ich habe dich sehr gern.«
»Vielen Dank.« Lena spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Meist ging ihr die Arbeit hier im Altenheim gehörig auf die Nerven, aber sie musste sich eingestehen, Bewohner wie Frau Winter oder Frau Meister liebgewonnen zu haben.
Mit wenig Begeisterung machte sie sich im Park daran, die kiesbedeckten Wege vom Laub zu befreien. Die Gewitter der letzten Tage hatten einiges an Blättern und Ästen zu Boden befördert.
»Sklavenarbeit«, grummelte sie vor sich hin und stutzte, als sie Frau Winters Enkelsohn, an eine alte Buche gelehnt, auf dem Boden sitzen sah. Er hielt die Augen geschlossen, sein markantes Gesicht war den letzten Sonnenstrahlen des Tages zugewandt.
Er schien Lena gehört zu haben und hob die Augenlider, oder vielleicht hatte er auch ihren Blick gespürt. Da sie sich ertappt fühlte, ging sie sofort auf Konfrontation. »Na, heute ganz ohne deinen attraktiven Uruk-Freund und ohne Mordwaffe unterwegs?«
»Heute ausnahmsweise vollständig bekleidet unterwegs?«, schoss Ragnar postwendend zurück.
Auf der Stelle glühten Lenas Wangen. Dieser Kerl war einfach unmöglich. Nun erhob er sich mit einer einzigen fließenden Bewegung und klopfte sich das Hinterteil seiner schwarzen Jeans ab.
»Tut mir übrigens leid, dass du vorhin Zeugin des Streits mit meinem Onkel geworden bist«, sagte er völlig unvermittelt.
»Ist ja nicht mein Problem«, murmelte sie und fuhr damit fort, das Laub zusammenzurechen.
Zu ihrer Verwunderung folgte Ragnar ihr, mit einem Mal ganz entspannt, und begann, beinahe schon freundlich zu erzählen.
»Es macht mich wahnsinnig, wie er hinter dem Geld meiner Großmutter her ist. Sie besitzt nicht viel außer ihrem kleinen Häuschen in Gößweinstein. Auch gibt er nichts auf ihre Geschichten von ihrem Geliebten, nur die Edelsteine, die hätte er schon gern, so sie denn tatsächlich existieren.«
»Glaubst du etwa an die Hirngespinste deiner Oma?«
Er zuckte mit den Schultern, dann sah er sie mit seinen ungeheuer intensiven dunkelgrauen Augen an, in denen Lena plötzlich helle, silbrige Punkte zu entdecken glaubte. »Hirngespinste? Ich kenne das Wort nicht.«
Da Ragnar so gut Deutsch sprach, nur mit diesem leichten Akzent, hatte sie ganz vergessen, woher er kam. »Fantastereien, Spinnereien, ihre Geschichten können doch gar nicht wahr sein.«
»Weshalb nicht?« Fast liebevoll fuhr er mit einer Hand über einen Holunderbusch. »Natürlich klingt vieles absurd, aber es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns ausmalen können, hat meine andere Großmutter in Island immer gesagt.«
Als Lena ihre Nase krauszog, fuhr er fort, wobei ein Schmunzeln um seine schmalen Lippen spielte: »Für Großmutter Sigrid existieren Elfen und Kobolde tatsächlich, und sie stellt ihnen stets eine Schale mit Keksen oder Milch aufs Fensterbrett.«
»Du willst mich doch verarschen?«
»Nein, absolut nicht!«, beteuerte Ragnar. »Bei uns in Island gibt es sogar Elfenbeauftragte, die prüfen, ob neue Straßen das kleine Volk nicht stören.«
»Dann haben bei euch eben alle einen an der Klatsche.« Für den Fall, dass er auch diesen Ausdruck nicht kannte, machte sie eine eindeutige Handbewegung gegen die Stirn. Anders als erwartet, wurde Ragnar nicht böse, sondern lachte nur. »Für euch mag das ungewohnt erscheinen, hier sind die alten Legenden beinahe ausgestorben, habe ich den Eindruck. Aber alle Generationen vor uns haben von magischen Wesen berichtet.«
»Das waren doch primitive Urzeitmenschen!«
»Das würde ich nicht sagen.« Ragnar setzte sich auf eine der Parkbänke und klopfte einladend neben sich. Ein prüfender Blick überzeugte Lena davon, nicht von Frau Käppler beobachtet zu werden, daher ließ sie sich neben ihm nieder.
»Wusstest du, dass in allen Kulturen Legenden von Drachen existieren? Und das zu Zeiten, als es weder Post noch Telefon, Internet oder sonst etwas gegeben hat. Zudem ähneln sich Zeichnungen von Drachen sämtlicher Kulturen auf frappierende Weise. Während alle Wirbeltiere nur vier Gliedmaßen haben, verfügen Drachen über sechs. Ist dies nicht sonderlich für Legenden? Wie bitte sollen sie also zu Stande gekommen sein?«
»Du glaubst ernsthaft an Drachen?« Jetzt war es für Lena endgültig klar – Ragnar hatte nicht alle Sinne beisammen.
»Ich weiß nicht«, räumte er ein. »Auch ich bin in dieser modernen und von Technik übermannten Welt aufgewachsen und hege meine Zweifel. Wenn man mit einundzwanzig von Fabelwesen spricht, laufen die meisten Mädchen davon – jedenfalls hier in der Gegend.«
»Du bist erst einundzwanzig?«, rutschte es Lena heraus.
Verlegen fuhr er sich durch seine von grauen Strähnen durchzogenen Haare. »Liegt bei uns in der Familie, mein Vater war auch mit Anfang zwanzig schon beinahe ergraut.«
»Ist ja nicht so schlimm«, lenkte Lena eilig ein. »Dass die Mädels allerdings davonlaufen, das kann ich verstehen, bei den Dingen, die du von dir gibst. Deshalb gehst du wohl auch auf diese komischen LARP-Events.«
»Nicht regelmäßig, aber ich habe auf einem Mittelaltermarkt gejobbt und dort Kontakte zu einigen Leuten aus der Szene bekommen, die mich eingeladen haben mitzumachen. Dennoch bevorzuge ich richtige Schaukampfwaffen statt dieser Schaumstoffdinger.« Bedächtig wiegte er den Kopf. »Natürlich sehe ich ein, dass es zu gefährlich wäre, bei LARP-Events Metallwaffen zu erlauben.«
»Du kannst also richtig mit Schwertern kämpfen?«, wunderte sich Lena, einerseits entsetzt, andererseits fasziniert.
»Einige Zeit habe ich mich mit Schwertkampfvorführungen auf Mittelaltermärkten über Wasser gehalten und Schnitzereien und Lederarbeiten verkauft.«
Insgeheim verblüffte es Lena, wie gesprächig er auf einmal war, und sie musste sich eingestehen, dass es eigentlich ganz nett war, mit ihm zu plaudern.
»Bist du schon lange in Deutschland?«
»Seit knapp zwei Jahren.« Plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht wieder.
»Und wo wohnst du?«
»Wie gesagt, einige Zeit war ich unterwegs, habe mich hier und da mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen, bis ich hierhergekommen bin, um meine Großmutter wiederzusehen. Momentan arbeite ich als Stallbursche im Reitstall in Burggaillenreuth und wohne in der Holzhütte hinter den Weiden, falls du dich dort auskennst.«
»Ich kenne den Reitstall«, rief sie aus, dann neigte sie den Kopf skeptisch zur Seite. »Echt, in der Bruchbude wohnst du?«
Gelassen zuckte Ragnar die Achseln. »Ich habe die Hütte renoviert, dafür muss ich keine Miete zahlen. Wasser- und Stromleitungen waren noch gut in Schuss, nur das Dach musste ausgebessert werden.«
»Na ja, jedem wie’s ihm gefällt.«
»Ich mag Holzhäuser, sie haben Seele.« Er runzelte seine Stirn, als er zum Gebäude des Altenheims blickte. »Im Gegensatz zu diesen Betonbunkern. Ich könnte niemals in so tristen Gebäuden leben.«
»Der Traum meiner schlaflosen Nächte wäre das auch nicht gerade«, stimmte Lena zu. »Aber manchen Bewohnern bleibt eben nichts anderes übrig.«
Ragnar öffnete den Mund zu einer Entgegnung, aber da sah Lena Frau Käppler forschen Schrittes durch den Park kommen. Sofort sprang sie auf und begann, wie wild zu rechen. Auf Ragnars Gesicht erschien ein zynisches Grinsen.
»Hast wohl Angst vor deiner Chefin?«
»Nein, aber …«
»Ich verstehe nicht, weshalb manche Leute sich tyrannisieren lassen und Berufe ausüben, die ihnen keine Freude bereiten«, unterbrach er sie.
»Das ist nicht mein verfluchter Beruf«, zischte Lena ihn an. »Mir bleibt keine Wahl und …«
»Sehr gut!«, flötete Frau Käppler mit ihrem aufgesetzten Lächeln. »Fleißig bei der Arbeit, so gefällt es mir.«
Lena hörte, wie Ragnar etwas vor sich hin brummelte, vermutlich war es Isländisch, und sein düsterer Blick traf ihre Vorgesetzte. Diese stutzte kurz, dann eilte sie auf ihren hohen Absätzen auf den Ausgang zu.
»Eine unangenehme Person«, bemerkte Ragnar.
»Das kannst du laut sagen!«
»Soll ich?« Er holte tief Luft, aber Lena schüttelte lachend den Kopf. »Was meinst du damit, dir würde keine Wahl bleiben?«
»Hm, na ja …« Verlegen trat Lena auf der Stelle herum. »Ich muss hier Sozialstunden ableisten.« Als er fragend die Augenbrauen hob, fuhr sie fort: »Eine Strafe sozusagen.«
»Hast du etwas ausgefressen?«
»Könnte man so sagen.«
Unvermittelt erhob sich Ragnar. »Wenn du Lust hast, kannst du mir ein anderes Mal davon erzählen. Ich muss jetzt gehen, die Pferde warten auf ihre Abendfütterung.«
»Ja, vielleicht«, stimmte Lena zu, sah ihm kurz hinterher und beeilte sich dann, weiter den Weg von Laub und kleinen Ästen zu befreien.
Kurz darauf kam Maike in legerer Freizeitkleidung den Weg entlang. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab. »Was hast du denn so lange mit dem Weltuntergang zu bereden gehabt?«, erkundigte sie sich neugierig.
»Was? Ich hab ihn nur zufällig im Park getroffen.«
»Das sah aber ganz anders aus.« Maike verschränkte die Arme vor ihrem imposanten Busen.
»Blödsinn. Außerdem ist der Typ echt merkwürdig, wenn man bedenkt, wie er sich verhält und was er so von sich gibt.«
»Huhu!« Maike riss ihre Augen weit auf. »Wir Mädels stehen doch auf geheimnisvolle Männer!«
»Du vielleicht.« Lena machte eine einladende Handbewegung. »Du kannst ihn gerne haben.«
»Nee, lass mal. Ich bleibe lieber bei Timo.« Verträumt wanderte ihr Blick zur Straße, wo der junge Altenpfleger einer Heimbewohnerin in den Bus half.
»Bisher waren deine Bemühungen ja nicht gerade von Erfolg gekrönt. Und du bist schon deutlich länger hier als ich.«
Diese Worte schienen Maike überhaupt nicht zu gefallen. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und meinte dann hochnäsig: »Viel Spaß noch mit dem Laub, ich gehe jetzt ins Freibad.« Sie stolzierte zum Ausgang, wechselte mit demonstrativen Blicken ein paar Worte mit Timo und war dann auch schon verschwunden. Auf Lena hingegen warteten noch drei qualvolle Stunden Arbeit, und sie hätte viel dafür gegeben, irgendwo im Schatten mit einem Buch oder ihrem MP3-Player zu sitzen und es sich gut gehen zu lassen.
Ähnlich wie der gesamte Juni bescherte auch der Juli der Fränkischen Schweiz einige Tage mit flirrender Sommerhitze. Lena hatte auch das lästige Sommerfest hinter sich gebracht. Hin und wieder sah sie Ragnar noch bei seiner Großmutter, doch mehr als ein paar flüchtige Worte wechselte sie kaum mit ihm. Maike dagegen hatte eines Tages seine Weltuntergangsstimmung mal wieder voll abbekommen, als sie versehentlich beim Putzen eines der Bilder seiner Großmutter heruntergeworfen hatte. Wenn Lena Zeit hatte, erzählte Frau Winter ihr weiterhin von ihren fantastischen Erlebnissen in Elvancor, und ab und zu ertappte sie sich dabei, sogar ihren Feierabend zu vergessen. Selbst wenn die Geschichten erfunden waren, so zogen die Abenteuer, die Frau Winter angeblich mit Maredd erlebt hatte, sie doch immer mehr in ihren Bann. Sie konnte sich den starken, hochgewachsenen Krieger mit den langen Haaren beinahe leibhaftig vorstellen, wie er mit seinem Kriegsross über die Ebenen preschte und die schattenhaften Rodhakan jagte. Auch heute saß Lena an Frau Winters Bett. Die alte Dame hatte sich eine Erkältung zugezogen und sollte daher das Haus nicht verlassen.
»Ich war erst siebzehn, als ich Maredd das erste Mal traf«, erinnerte sie sich. »Ein eiskalter Tag im Winter 1937 war angebrochen. Ich war unterwegs, um Feuerholz am Staffelberg zu sammeln. Damals lebte ich mit meinen Eltern in der Nähe von Staffelstein, die Schneemassen türmten sich mehr als kniehoch. Ein Eissturm überraschte mich, und ich denke, ich wäre erfroren, wäre Maredd nicht wie aus dem Nichts aufgetaucht und hätte mich in einer Höhle in Sicherheit gebracht.«
»Wo kam der denn so plötzlich her?«, wollte Lena wissen.
»Die Grenzen nach Elvancor sind fließend«, erklärte sie. »An bestimmten Kraftorten ist es wahrscheinlicher, nach Elvancor übertreten zu können, und stets ist ein Aufkommen großer Energie nötig, um die Kraftlinien zu verbinden und die Grenzen zu öffnen – in meinem Fall war es der Eissturm.«
»Sie meinen, Sie haben sich an einem solchen Kraftort befunden?«, erkundigte sich Lena aufgeregt.
»Davon gehe ich aus.«
»Und Sie sind mit in Maredds Land gegangen?«
»Nicht sofort. Zunächst saßen wir die halbe Nacht in der Höhle.« Ein verträumtes Lächeln ließ Frau Winter sehr viel jünger aussehen. »Ich glaube, ich habe mich auf der Stelle in ihn verliebt, aber natürlich war ich zu stolz, ihm ohne weitere Erklärungen zu folgen. Wir waren eingeschneit, und auch wenn ich ihm – so mag es dir bei meiner Geschichte ebenfalls ergehen – nicht sofort geglaubt habe, dass er aus Elvancor kommt, so bin ich doch letztendlich mit ihm gegangen.« Sie hob ihre Arme. »Wir waren ohnehin von der Außenwelt abgeschnitten, und ich war jung und neugierig. Aber was ich dann sah, verschlug mir den Atem.«
»Was denn?«
Frau Winter deutete auf eines ihrer Bilder, jenes mit den Wasserfällen und dem gigantischen Bergmassiv. »Die Berge von Avarinn. Dort liegt ein Zentrum uralter Magie. Außerdem sind die mächtigen Berge nicht nur die Wohnstätte der Tuavinn, sondern auch die Grenzen zu den Kraftorten unserer Welt öffnen sich an diesem Ort. Ich war sehr unsicher«, gab sie zu. »Schließlich war Maredd ein mir völlig fremder Mann, seine Welt verwirrte mich, aber gleichzeitig wusste ich, er ist der Richtige – mein Anam Cara.«
»Ihr was?«, hakte Lena nach.
»Anam Cara – Seelenfreund oder Seelengefährte, so nennen die Tuavinn den zweiten Teil ihres Selbst, denjenigen, der für einen bestimmt ist.«
»Wow, das ist voll romantisch.« Lena entfuhr ein Seufzen, und sie ertappte sich dabei, völlig in Frau Winters Geschichte gefangen zu sein. »Was geschah dann?«
»Die Rodhakan hatten bemerkt, dass Maredd mich mitgebracht hatte, und machten Jagd auf uns. Sie wollten mich entführen und ihn erpressen, die Grenzen für sie zu öffnen, damit sie hier ihr Unwesen treiben können, denn heutzutage gibt es bei uns kaum noch Wächter so wie Schamanen, Druiden oder andere weise Männer und Frauen wie in früheren Zeiten, die über die Grenzen wachen.«
»Hm, blöde Sache.«
»Eine gefährliche Jagd durch die Berge begann«, erzählte die alte Frau, die Augen weit aufgerissen, so als würde sie alles noch einmal erleben. »Maredd verteidigte mich mit seinem Leben, und später gestand er mir, ebenfalls sofort gewusst zu haben, dass ich seine Seelengefährtin bin. Glücklicherweise trafen wir auf andere Tuavinn, mit deren Hilfe er die Schattenkreaturen zurückschlagen konnte. Ich war so fasziniert von Maredd, dass ich all meine Vorbehalte und Zweifel über den Haufen warf und eine lange Zeit mit ihm verbrachte. Er lehrte mich auf den edlen Pferden von Avarinn zu reiten, wir besuchten die Menschen auf den Ebenen von Zinth, auch wenn Maredd dort nie lange bleiben mochte.«
»Weshalb nicht?«
»Die Tuavinn sind ein sehr naturverbundenes Volk. Selten erschaffen sie sich künstliche Behausungen, schlafen am liebsten im Freien unter Bäumen und wenn nicht, dann lassen sie sich in Höhlen nieder oder bauen Hütten aus Holz.«
Das fand Lena eigenartig, aber da sie ohnehin alles Frau Winters ausgeprägter Fantasie zuschrieb, machte sie sich auch keine weiteren Gedanken mehr darüber.
»Manchmal hatte ich den Eindruck zu träumen. Elvancor war so fantastisch, mit Tieren, wie man sie hier niemals zu Gesicht bekommt, und Naturgeistern in den Wäldern. Selbst Drachen zogen ihre Kreise über den Bergen von Avarinn.«
»Und die haben Sie nicht gefressen?«, hakte Lena nach.
»Sonst säße ich heute nicht hier, oder?« Frau Winter schmunzelte verschmitzt. »Nein, die Drachen von Elvancor sind nicht die blutrünstigen, menschenfeindlichen Wesen, wie sie so gerne in unseren Legenden beschrieben werden. Sie leben frei und wild in den Bergen und behelligen die anderen Lebewesen nicht. Maredd führte mich sogar ganz in die Nähe der Drachenberge, da ich so fasziniert von ihnen war.«
»Also hat Ihr geheimnisvoller Freund auch noch Drachen als Freunde – echt abgefahren!«
»Als Freunde würde ich sie nicht direkt bezeichnen«, widersprach die alte Frau. »Drachen sind sehr stolze und unnahbare Wesen, und sie greifen nur in das Geschehen ihrer Welt ein, wenn sie direkt bedroht werden.«
»Wollen Sie am Ende behaupten, schon einmal auf einem Drachen geritten zu sein?«
»Aber nein!« Jetzt wirkte Frau Winter äußerst aufgebracht. Energisch schüttelte sie den Kopf. »Die Drachen von Avarinn würden niemals einen Menschen auf ihrem Rücken tragen.«
»Na dann halt nicht.« Vorsichtig spähte Lena auf ihre Armbanduhr. Auch wenn ihr die Geschichte gefiel, langsam musste sie weiter. »Und weshalb sind Sie denn überhaupt wieder gegangen, wenn es Ihnen in Elvancor so gut gefallen hat?«
Ein tiefes Seufzen entstieg Frau Winters Kehle. »Sosehr ich Maredd auch liebte, ein Teil von mir bezweifelte seine Beteuerungen, dass hier in unserer Welt kaum Zeit vergangen sein würde, wenn ich zurückkehrte. Er spürte, was mich beschäftigte. Es war mein schlechtes Gewissen meinen Eltern gegenüber, meine Angst, sie im Stich gelassen zu haben. Also schickte er mich zurück und versprach, sobald es ihm möglich wäre, zu mir zurückzukehren und mich noch einmal zu fragen, ob ich mit ihm leben wolle.«
»Und?« Gespannt beugte sich Lena nach vorne.
»Er kam, allerdings erst zwölf Jahre später, ehrlich gesagt, hatte ich schon gar nicht mehr mit ihm gerechnet. Wir waren inzwischen nach Gößweinstein gezogen, aber Maredd erklärte, er hätte mich auch hier gespürt.«
»Weshalb kam er so spät?« Lena machte sich auf eine neue fantastische Geschichte gefasst und wurde nicht enttäuscht.
»Er musste gegen die Rodhakan kämpfen, denn sie waren enorm erstarkt und drohten die Menschen von Elvancor zu vernichten. Außerdem musste Maredd auf den richtigen Zeitpunkt warten, und der bot sich erst während eines gewaltigen Unwetters im Sommer 1949.«
»Sind Sie wieder mit ihm gegangen?«
»Nein, leider nicht.« Bei diesen Worten sah sie sehr traurig aus. »Auch wenn ich Maredd vermisste, ließ ich mich zu einer Heirat mit Fritz überreden. Mein ältester Sohn Georg war vor nicht allzu langer Zeit geboren worden, und ich konnte ihn nicht allein zurücklassen.«
»Logisch«, stimmte Lena zu.
»Noch einmal kam Maredd zu mir, etwa neun Jahre später. Ich erinnere mich noch an jene Nacht. Dieses eine Mal noch folgte ich ihm, wollte noch einmal seine Nähe spüren und blieb für einige Tage in Elvancor. Aber dann siegte mein Verantwortungsbewusstsein. Ich musste zu Georg zurück und auch zu Fritz, den ich zwar nicht wirklich liebte, den ich jedoch nicht mit einem kleinen Kind zurücklassen wollte.«
»Aber Sie sagten doch, bei uns würde kaum die Zeit vergehen, solange Sie in Elvancor sind«, wunderte sich Lena.
»Für euch vergeht höchstens ein Tag, während man in Elvancor eine lange Zeit verbringen kann. Man lebt in den Tag hinein, macht seine Erfahrungen und altert auch nicht. Trotzdem vermisste ich meinen kleinen Jungen.«
Zwar konnte sich Lena den grobschlächtigen, unangenehmen Georg Winter kaum als niedliches Kind vorstellen, aber er war ja damals erst neun oder zehn gewesen, und eine Mutter machte sich natürlich Sorgen um ihren Nachwuchs.
Verdammt, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, langsam fange ich an, ihr zu glauben und mir Gedanken über das zu machen, was sie behauptet.
»Maredd war sehr enttäuscht, wir stritten uns heftig. Er sagte, er wäre sich sicher, in mir seine Anam Cara gefunden zu haben, seine Seelenfreundin. Aber wenn ich das nicht einsähe, würde er mein Gedächtnis von jeglicher Erinnerung an Elvancor befreien und mir hier ein normales Leben ermöglichen. Sollte er sich täuschen und wir gehörten nicht zusammen, würde ich ihn und Elvancor vergessen. Wenn ich aber seine Anam Cara wäre, käme meine Erinnerung nach und nach zurück. Trotzdem äußerte er auch Bedenken, rechtzeitig zu mir zurückkehren zu können, da schwere Zeiten für die Tuavinn angebrochen waren.«
»Moment«, unterbrach Lena sie verwirrt. »Ein Tag vergeht hier, aber wenn ich es richtig verstanden habe, ist das in Elvancor nicht der Fall – also hätte er sich doch ewig Zeit lassen können.«
Erneut lächelte die alte Dame wehmütig. »So ist es. Für Maredd werden – für unsere Begriffe – viele Jahrhunderte vergangen sein, wenn er wieder zu mir kommt. Lena«, sie beugte sich zu ihr vor, »Zeit ist etwas, das in Elvancor nicht existiert, auch wenn das für uns sehr schwer verständlich ist. Niemand misst dort Jahre oder Jahrzehnte. Man lebt, liebt und entwickelt sich, bevor man in die Ewigkeit eingeht. Es ist faszinierend. Ich hoffe, Maredd liebt mich noch immer und wird mich tatsächlich ein letztes Mal fragen und mich nach Elvancor mitnehmen.«
»Puh.« Lena blies die Backen auf. »Mal ganz ehrlich, Frau Winter, wenn dieser Maredd nicht altert, was will er denn dann noch mit Ihnen?«
Ein glockenhelles Lachen entstieg ihrer Kehle. »Elvancor ist ein magisches Land. Dort könnte ich wieder jung sein.«
»O Mann, sorry, aber das ist mir jetzt doch zu heftig.« Lena stand auf, betrachtete Frau Winter kopfschüttelnd und wandte sich schon zur Tür.
»Lena!«
Noch einmal drehte sie sich um und sah in Frau Winters wache Augen.
»Ich bin dir nicht böse, wenn du mir nicht glaubst. Für jemanden, der noch niemals das erlebt hat, was mir widerfahren ist, mag das alles sehr ungewöhnlich klingen. Ganz besonders in einer Umgebung, in der ohnehin viele Menschen leben, die wirres Zeug reden.«
»Sie treffen den Nagel auf den Kopf«, murmelte Lena kaum hörbar vor sich hin.
»Nur erlange ich meine Erinnerung nach und nach zurück, während alle anderen ihr früheres Leben vergessen.«
»Hm.«
Abermals richtete sich Frau Winter auf, reckte stolz ihr Kinn. »Maredd wird kommen – und dann werde ich wieder jung sein.«
Lena grinste nur mitleidig.
»Ich werde dir ein Zeichen hinterlassen.«
»Okay, alles klar.« Zum Abschied hob Lena die Hand.
Beim Abendessen im Garten erzählte Lena ihrer Oma von Frau Winters Spinnereien. Diese sah das Ganze wie gewohnt eher gelassen. »Es ist doch schön, wenn sie so inbrünstig daran glaubt. Sie ist schon sehr alt und wird nicht mehr lange zu leben haben. Wenn sie in dem Glauben stirbt, ihre große Liebe wiederzutreffen, fällt es ihr sicher leichter zu gehen. Und niemand weiß, ob sie ihm nicht tatsächlich im Jenseits begegnet.«
»Ach was«, mischte sich Lenas Vater ein, »ich halte nichts von all dem esoterischen Krimskrams. Nach dem Tod ist es vorbei, da kommt nichts mehr.«
»Und das sagt jemand, der seit einiger Zeit brav jeden Sonntag in die Kirche rennt«, zog ihn seine Mutter auf. »Oder liegt das vielleicht doch nur an den Stimmen, die du dir zur Bürgermeisterwahl versprichst?«
Ein dunkles Rot überzog Wangen und Hals von Lenas Vater und kündete davon, dass seine Mutter voll ins Schwarze getroffen hatte. Dieter räusperte sich verlegen. »So kannst du das jetzt nicht sagen, Mutter, also … ich …«
»Erspar es dir, Dieter, du hast mich schon mit sieben Jahren nicht anlügen können, als du steif und fest behauptet hattest, nicht die gesamte Keksdose bereits vor Weihnachten leergegessen zu haben.«
»Habe ich auch nicht«, verteidigte er sich im Brustton der Überzeugung, was Lena zum Grinsen brachte. Ihrem Vater blieben weitere peinliche Anekdoten aus seiner Kindheit erspart, denn plötzlich stürmten zwei kleine Jungen herbei.
»Maximilian, Sven-Dominik – laaangsam!«, ertönte die schrille Stimme von Lenas Schwester Ramona. Diese hastete schnaufend um die Hausecke, einen Korb bei sich und so rot im Gesicht, als hätte sie einen Zehnkilometerlauf hinter sich. Auch Lenas Mutter kam jetzt von der Arbeit nach Hause, vermutlich hatten sich die beiden vor der Tür getroffen.
»Uroma!« Die kleinen Jungen umklammerten beide Beine von Lenas Oma, und diese ließ sich auf die Knie nieder und streichelte dem Sechs- und dem Dreijährigen über die braunen Haare.
»Maximilian, du hast schon wieder deine Brille vergessen!« Vorwurfsvoll hielt Ramona ihrem ältesten Sohn die knallrote Brille hin, woraufhin dieser ein trotziges Gesicht machte und sich hinter seiner Urgroßmutter versteckte.
»Blille!«, rief sein jüngerer Bruder dagegen und streckte seine Händchen aus.
»Jetzt setzt euch erst einmal, Jungs. Möchtet ihr Kakao?«
Die beiden nickten einstimmig, und Oma Gisela verschwand eilig im Haus. Stöhnend ließ sich Ramona auf dem Gartenstuhl nieder. »So ein Stress!«
»Warum?«, erkundigte sich Lena kritisch. »Soweit ich weiß, sind die beiden doch donnerstags nach dem Kindergarten immer bei deinen Schwiegereltern.«
»Trotzdem!«, regte sich Ramona sofort auf, wobei sich die Augen hinter ihrer Brille weiteten. »Ich musste schließlich den ganzen Tag putzen und einkaufen.«
»Na ja, wenn man auch hysterisch hinter jedem Staubkörnchen herwischt.«
»Sag nichts, Lena, dein Zimmer könnte sehr gut etwas von Ramonas Gründlichkeit vertragen«, warf ihr Vater sofort ein, was Ramona grimmig nicken und Lena resigniert die Schultern herabhängen ließ. Sie war und blieb das schwarze Schaf der Familie.
Kurz darauf kam Oma Gisela mit Kakao für die Kinder und Obstsalat mit Sahne zum Nachtisch zurück.
»Stellt euch nur vor«, begann Ramona. »Maria, die mit mir in der Schule war, hat vorgestern ihr viertes Kind bekommen, das habe ich beim Friseur gehört!«
Kritisch musterte Lena die Dauerwelle ihrer Schwester. Schon oft hatte sie ihr ans Herz gelegt, sich einen anderen Friseur zu suchen, denn dieser altmodische Kurzhaarschnitt machte sie deutlich älter, aber Ramona weigerte sich hartnäckig. Lena vermutete ohnehin, dass sie hauptsächlich wegen des Tratsches zu dem kleinen Friseurgeschäft in Gößweinstein ging.
»Ach, und was ist es geworden?«, wollte ihr Vater wissen.
»Ein Mädchen.«
»Wie heißt sie denn?« Gespannt musterte Manuela ihre Älteste.
Diese wollte offenbar antworten, dann schimpfte sie jedoch los: »Sven-Dominik, du sollst nicht den Pullover deines Bruders mit Sahne beschmieren!«
Mit einem breiten Grinsen saß der Dreijährige in seinem Stühlchen und patschte unbeeindruckt in die Hände.
»Jetzt kann ich ihn schon wieder umziehen!«, ereiferte sich Lenas Schwester.
»Ein sehr kreatives Sahnekunstwerk, das kann er eigentlich nur von mir haben«, war Oma Giselas einziger Kommentar, auf den Ramona indes nicht einging.
Mit verkniffenem Gesicht zog sie Maximilian, den die Sahneattacke seines Bruders überhaupt nicht gestört hatte, den Pullover aus.
»Ach so, Mama, Marias Kleine heißt Chantal.«
»Du liebe Zeit, womit hat das arme Würmchen das denn verdient?«, stöhnte Oma Gisela.
»Warum?« Ramona starrte sie verwirrt an.
»Eben.« Auch Lenas Mutter schüttelte den Kopf. »Chantal ist doch ein sehr schöner Name.«
»Das ist Geschmackssache.« Nebenbei wischte Oma Gisela dem kleinen Sven-Dominik die verschmierten Händchen ab. »Aber meiner Meinung nach grenzt es an Körperverletzung, sein Kind Chantal zu nennen, wenn man heftigsten Dialekt spricht. Nichts gegen den Dialekt, aber wenn dann Chantal nach Schandoll klingen wird und man noch dazu mit dem Nachnamen Messingschlager geschlagen ist, denn wird es dieses Kind im Leben nicht leicht haben!«
Da Oma Gisela den ausgeprägt fränkischen Dialekt von Ramonas Schulfreundin derart treffend nachmachte und auch deren Gesichtsausdruck mit den stets hängenden Mundwinkeln imitierte, prustete Lena lauthals los.
Ramona dagegen wirkte beleidigt, und ihre Mutter meinte lediglich: »Was du immer hast!«
Aber Lena konnte kaum noch an sich halten. »Schandoll Messingschlocher – genial!«, presste sie lachend hervor. Ihre Neffen stimmten mit ein, auch wenn sie vermutlich nicht verstanden, um was es hier ging.
Dann war die ungewöhnliche Namenswahl als Thema abgehakt. Nur ganz nebenbei hörte Lena den Gesprächen ihrer Familie zu, die ohnehin überwiegend von Nachbarn handelten, für die sie sich wenig interessierte. Sie musste noch immer an Frau Winter denken und fragte sich, welche Geschichte aus dem magischen Elvancor die alte Dame ihr am nächsten Tag auftischen würde.
Zumindest deutlich spannender, als sich über den ungepflegten Garten der Beutners aufzuregen, dachte Lena, denn darum drehte sich im Moment das Gespräch von Ramona und ihrer Mutter.