Kapitel 11
Der Keltenwall
Da Ragnar erneut für ein paar Tage kein Lebenszeichen von sich gab, surfte Lena im Internet nach Informationen über die Keltensiedlung auf dem Walberla. Wie es aussah, hatte Ragnar Recht. Um 500 vor Christus war der Tafelberg ein bedeutender Ort dieser untergegangenen Kultur gewesen. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass auch der Felsvorsprung, auf dem die Ruine Neideck stand, zu Zeiten der Kelten besiedelt gewesen sein sollte. Außerdem fand sie unter den Tausenden von Suchergebnissen zu den Kelten auch Beispiele von Schmuckstücken. Die verschlungenen Knoten und Triskelen gefielen ihr, und einige ähnelten durchaus dem Amulett von Frau Winter.
»Ob das alles Zufall sein kann?«, überlegte Lena laut.
Genau in diesem Moment kam ihre Oma herein. »Was soll Zufall sein?«
»Ach, nichts.«
Oma Gisela stellte Lena einen Korb mit frischgewaschener Wäsche aufs Bett. »Bitte räum die Kleider gleich ein, sonst stehen sie wieder eine Woche lang herum.«
»Ja, ja.«
Neugierig blickte ihre Großmutter auf Lenas Laptop. »Du interessierst dich für die Kelten?«, fragte sie.
»Nee, eigentlich nicht«, antwortete sie ausweichend, »ich bin nur zufällig darauf gestoßen. Ihr Schmuck war hübsch.«
»Ihr Schmuck!« Oma Gisela verdrehte die Augen, dann zog sie Lena spaßhaft am Ohr. »Ja, ihre Schmuckstücke waren sehr kunstvoll, aber hinter ihrer Kultur steckte noch sehr viel mehr als ein paar hübsche Klunker. Wusstest du, dass sie auch in unserer Region über eine lange Zeit gesiedelt haben?«
»Hm, habe ich gelesen.«
»Unter ihnen waren mächtige weise Männer und Frauen, die sich gut in der Heilkunst auskannten«, fuhr Oma Gisela begeistert fort. »Von ihnen hätte die heutige Medizin viel lernen können. Ihr Wissen in Kräuterkunde war vermutlich beeindruckend.«
»Das gefällt einer alten Hexe wie dir!«, lachte Lena.
»Das alt habe ich überhört. Komm jetzt, Lena, das Mittagessen ist gleich fertig. Bitte deck noch den Tisch.«
Also schaltete Lena ihren Computer aus und ging hinunter in die große, gemütliche Küche. Als Kind war dies Lenas Lieblingsort im Haus gewesen, und sie hatte ihrer Oma beim Kochen oder Trocknen der Kräuter zugesehen, während sie auf dem Boden gespielt hatte. Auch heute noch strahlte dieser Ort für sie eine gewisse Geborgenheit aus. Die abgesessene Eckbank aus hellem Holz, die Küchenzeile mit dem altmodischen Holzofen, den ihr Vater schon lange hatte austauschen wollen und den Oma Gisela jedoch mit ihrem Leben verteidigte, und die vielen Tontöpfchen in den Regalen, in denen die unterschiedlichsten Kräuter aufbewahrt wurden – das alles gehörte einfach zu ihrer Großmutter.
Aus den rustikalen Holzschränken holte Lena Teller und Besteck, und keine zehn Minuten später kamen ihre Eltern mit Gesangbüchern in der Hand herein.
»Du könntest ruhig auch mal wieder mit in die Kirche kommen«, meinte Lenas Vater vorwurfsvoll, während er sich mit einem Ächzen auf die Bank setzte.
»Wenn ich schon mal frei habe, schlaf ich lieber aus.«
»Pfarrer Burghardt aus Kirchehrenbach hat heute vertretungsweise den Gottesdienst gehalten. Er hat so schön gepredigt!« Lenas Mutter zog ihren neuen beigefarbenen Blazer aus und hängte diesen über den Stuhl.
»Schön für euch.« Unwillkürlich überlegte Lena, ob es derselbe Pfarrer gewesen sein konnte, der Ragnar als »Gesandter des Satans« bezeichnet hatte, und sie kicherte unterdrückt.
Dieter schüttelte strafend den Kopf. »Etwas Buße könnte dir in jedem Fall nicht schaden, junge Dame.«
Hoffentlich fangen sie jetzt nicht wieder mit der leidigen Kiff-Geschichte an, dachte Lena genervt.
»So heilig sind die Christen auch nicht«, konterte Lena, »schließlich haben sie andere Religionen mit Gewalt zu bekehren versucht und sogar ihre heiligen Haine abgeholzt!«
Vom Herd her hörte Lena ein Husten. Oma Gisela hatte gerade die Bratensoße abgeschmeckt und drehte sich nun schmunzelnd um. »Bravo, Lena.«
»Mutter!«, jammerte Lenas Vater. »Auch wenn du nichts von Religion hältst, musst du doch nicht auch noch deine Enkelin darin bestärken.«
»Ich habe nichts gegen Religion. Ich bin nur gegen Institutionen wie Kirchen, die den Menschen mit Hölle, Fegefeuer und ewiger Verdammnis Angst machen, nur damit ihr Klingelbeutel prallgefüllt ist«, belehrte Gisela ihren Sohn, wobei sie den hölzernen Kochlöffel in seine Richtung schwang.
»Schluss jetzt mit diesem Blödsinn«, bestimmte Lenas Mutter, »sonst wird der Braten trocken.« Sie zog das Blech mit duftendem Schweinebraten heraus und stellte es auf den Tisch. Anschließend verteilte sie Klöße und Soße auf den Tellern.
»Ihr denkt daran, dass ich nächste Woche nicht da bin«, ermahnte sie Oma Gisela.
»Ach ja, deine Hexenwoche«, stöhnte Lenas Vater, dann fuhr er sich über seine hohe Stirn. »Wo geht’s denn diesmal hin?«
Einmal pro Jahr fuhr Oma Gisela zu einem spirituellen Treffen, wo sie sich mit Gleichgesinnten traf und mit ihnen über Kräuterkunde, Esoterik oder Astrologie diskutierte.
»Nach Glastonbury!« Ein freudiges Strahlen überzog Oma Giselas Gesicht.
Wie es aussah, fehlte ihrem Sohn jegliches Verständnis dafür, denn er schüttelte den Kopf. »Wie kann sich eine erwachsene Frau nur mit solch einem Blödsinn abgeben?«
»Mein lieber Junge«, meinte Gisela gelassen, »wären alle Menschen so nüchtern und fantasielos wie du, wäre diese Welt ein noch armseligerer Ort.«
»Mutter, du bist ein hoffnungsloser Fall«, stöhnte Lenas Vater, dann widmete er sich einem weiteren Stück des köstlichen Sonntagsbratens.
Nach dem Essen rief Lena mehrere ihrer Freunde an, denn sie wollte endlich mal wieder etwas mit ihnen unternehmen. Aber niemand schien Zeit zu haben. Entweder sie waren im Urlaub, mussten jobben oder erfreuten sich schon in Erlangen oder Nürnberg eines ausgiebigen Stadtbummels. Lena verfluchte ihre mangelnde Mobilität und setzte sich schließlich mit einem Buch in den Garten, um sich zu sonnen. Nur wollte die Sonne heute nicht richtig hinter den Wolken hervorkommen, der Roman war langweilig wie der bleigraue Himmel und Lena dementsprechend schlecht gelaunt.
Als sie ein Motorrad hörte, setzte sie sich auf. Kurz darauf vernahm sie, wie Oma Giselas Gartentor knarrte, und sie spähte um die Ecke. Ragnar, wie meist in schwarze Jeans und seine Lederjacke gekleidet, eilte auf die Haustür zu.
»Hi, suchst du mich?«
»Nein, deine Oma«, entgegnete er, und nachdem er keine Miene verzog, stutzte Lena für einen Augenblick.
»Sehr witzig!« Froh über die Abwechslung klappte sie das Buch zu. »Wollen wir weitersuchen?«
»Falls du Lust hast.«
»Ja, mir war sowieso langweilig. Ich hole nur rasch meine Jacke, dann kann es losgehen.«
Ragnar nickte zustimmend und ging zu seinem Motorrad zurück.
Im Flur traf Lena auf ihre Mutter. »Ich bin dann mal weg.«
»Wo willst du denn hin?« Manuelas Augenbrauen zogen sich kritisch in die Höhe.
»Nur zu einem Bekannten ins Nachbarkaff.«
»Und um welchen Bekannten und welches Kaff handelt es sich genau?« Eine gewisse Gereiztheit sprach aus den Worten ihrer Mutter.
»Ragnar«, nuschelte Lena, »er wohnt in Burggaillenreuth.«
»Wie heißt der junge Mann?«
»Ragnar«, wiederholte Lena ungeduldig.
»Was ist das denn für ein seltsamer Name. Ist wohl ein Ausländer?«
»Mein Gott, jetzt stell dich halt nicht so an«, entfuhr es Lena. »Muss seit Neustem jeder, mit dem ich weggehe, einen astreinen deutschen Stammbaum vorweisen?«
»Meine liebe Tochter, jetzt werd mal nicht unverschämt. Nach allem, was du dir geleistet hast, ist es doch normal, wenn ich mir Sorgen mache. Und ich möchte nicht, dass du mit irgendwelchen ominösen Typen herumlungerst.«
Lena blies die Backen auf und wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Bring den jungen Mann doch mal mit, dann können wir uns ein Bild machen.«
»Mama, er ist nicht mein Freund«, protestierte Lena.
»Na, streitet ihr schon wieder?« Oma Gisela lugte zur Küchentür heraus.
»Ich möchte nur wissen, mit wem meine Tochter den Tag verbringt«, rechtfertigte sich Manuela.
»Draußen wartet doch der junge Mann aus Island mit dem Motorrad«, sagte Oma Gisela gelassen. »Lena hat ihn bei der alten Dame im St. Elisabeth kennen gelernt.«
»Ach, und du kennst ihn auch?«, fragte Lenas Mutter spitz.
»Na ja«, antwortete Oma Gisela ausweichend, »neulich hat er sich mein Auto ausgeliehen.«
»Wenn das so ist.« Manuela sah Lena streng an. »Aber um spätestens achtzehn Uhr bist du wieder zuhause.«
Als Lena den Mund zu einem Protest öffnete, denn sie war schließlich nicht mehr zwölf und wusste auch nicht, wie lange sie bleiben wollte, schaltete sich erneut ihre Großmutter ein. »Ich bin heute Abend ohnehin bei einer Patientin, ich denke, ich werde spätestens gegen zwanzig Uhr fertig sein, dann kann ich Lena abholen, sofern sie nicht ohnehin schon früher da ist.«
Lena sandte einen stummen Dank an ihre Oma, dann lächelte sie, denn auch ihre Mutter brummte eine Zustimmung. Eilig holte Lena ihre Jacke, dann rannte sie hinaus.
»Na endlich«, begrüßte sie Ragnar unfreundlich.
»Ich hatte noch eine kleine Diskussion mit meiner Mutter.« Sie schwang sich hinter ihm auf den Ledersitz, und schon zockelten sie auf dem alten Motorrad los.
In Ragnars Wohnung herrschte ein heilloses Chao.
»Ich bin in den letzten Tagen zu nichts gekommen«, entschuldigte er sich halbherzig.
»Gut, welches Bild nehmen wir uns als nächstes vor?«, fragte Lena abenteuerlustig.
»Erkennst du einen der Orte wieder?«
»Hast du noch irgendwo dieses seltsame Zeichen gefunden?« »Nur hier.« Ragnar deutete auf ein Ölgemälde. Es zeigte dichten Wald und Felsen. Bei genauem Hinsehen erkannte Lena tatsächlich ganz klein das verschlungene Muster auf einem der Felsbrocken, dennoch schüttelte sie resigniert den Kopf.
»Das könnte überall sein. Diese Felsen gibt es hier in der Gegend zuhauf.«
»Das ist ungünstig.« Er betrachtete das Bild mit gerunzelter Stirn. »Ich habe das Gefühl, diesen Ort schon einmal gesehen zu haben, aber ich kann mich nicht erinnern.«
Einträchtig starrten sie auf das Bild mit dem Wald, so als könnten sie die Erkenntnis erzwingen. Schließlich seufzte Lena. »Wo sind eigentlich die beiden Teile des Amuletts, die wir gefunden haben?«
»Ich habe sie sicher verwahrt.«
»Könnte ich sie vielleicht mal sehen?« Lena verdrehte die Augen. Zunächst glaubte sie, Ragnar würde sich weigern, aber dann kramte er in seinem Bücherregal und holte hinter einem Buch über die Fränkische Schweiz ihre Fundstücke hervor.
Lena hatte das Gefühl, ein Prickeln zu verspüren, als sie das glatte Metall in die Hand nahm. Sie musterte die beiden Teile eingehend, dann legte sie sie auf den Tisch. »Sieh mal, die passen genau ineinander.« Sie schob die Enden der verschlungenen Symbole zusammen.
Erschrocken zuckte sie zurück, als sie eine Art Stromschlag traf, und sie glaubte, einen silbernen Blitz zu erkennen. Mit einem leisen Keuchen beugte sich Ragnar näher heran, starrte auf das Amulett. In der Hütte war es so still, dass man selbst eine Feder auf den Boden hätte fallen hören können. Fassungslos sahen sie sich in die Augen – das Amulett hatte sich perfekt zusammengefügt, nicht einmal mehr ein kleiner Riss war zu sehen. Nun lag vor ihnen die Hälfte des Gegenstücks zu dem Amulett, das Lena bei Frau Winter gefunden hatte.
»Ich … was … verstehst du das?«, stammelte Lena.
Offenbar ebenso fassungslos wie Lena schüttelte er den Kopf, dann nahm er das Schmuckstück ehrfürchtig in die Hand und strich vorsichtig darüber.
»Das war … Magie.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich kann nicht die Spur einer Naht oder Verbindungsstelle erkennen.«
»Quatsch, so was gibt es nicht.« Energisch nahm ihm Lena die Amuletthälfte aus der Hand. »Es muss eine logische Erklärung dafür geben!«
»Auf diese Erklärung bin ich gespannt«, spottete er.
Auch wenn Lena krampfhaft nachdachte, ihr fiel kein Grund ein, weshalb die Knoten auf einmal perfekt zusammengefügt und auch nicht mehr voneinander zu lösen waren. Unwillkürlich fragte sie sich, ob die anderen beiden Teile – so sie diese denn fanden – sich ebenfalls in das Amulett einfügen würden.
»Wir müssen die restlichen Stücke finden, vielleicht führen sie uns zu den Edelsteinen.« Von einer prickelnden Aufregung erfasst kramte Lena in ihren Jackentaschen nach ihrem Smartphone, während Ragnar noch immer auf das Schmuckstück stierte, so als würde sich sein Geheimnis ihm offenbaren, wenn er es nur lange genug ansah. »Ich rufe meine Oma an. Sie soll gleich nach ihrem Termin herkommen und nicht noch stundenlang mit ihrer Patientin quatschen. Oma Gisela lebt schon immer in der Gegend und kennt sich super hier aus.«
»Ja, von mir aus«, entgegnete Ragnar zerstreut.
Ungeduldig suchte Lena eine Stelle, an der sie Empfang hatte, wartete darauf, dass Oma Gisela abhob, und diese erklärte ihr erfreulicherweise sogar, dass sie den Termin vorverlegt hätte. »Sie ist in zwei Stunden hier.«
»Und was machen wir so lange?«, wollte Ragnar wissen.
»Hm.« Lena zuckte ihre Schultern. »Wir könnten noch einmal nachsehen, ob wir auf den anderen Bildern das Zeichen finden.«
Doch Ragnar winkte ab. »Das habe ich schon mehrfach getan.« Kopfschüttelnd betrachtete er noch einmal das Schmuckstück, dann erhob er sich ruckartig und versteckte es wieder hinter den Büchern. »Möchtest du reiten?«
Jetzt fühlte sich Lena überrumpelt. »Ich weiß nicht.«
»Na komm, Regine ist heute nicht da, du kannst Devera auf dem Reitplatz bewegen.«
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Lenas Magengrube breit, selbst wenn sie insgeheim in den letzten Tagen darauf gewartet hatte, dass Ragnar sie zum Ausreiten mitnahm. Trotzdem waren ihre Knie weich, als sie ihm ins Freie folgte.
Nachdem sie die Stute gemeinsam gestriegelt hatten, zeigte Ragnar Lena, wie man das Pferd korrekt sattelte. An das ein oder andere konnte Lena sich noch erinnern, war jedoch froh über Ragnars Unterstützung. Einmal mehr wunderte sie sich über ihn. So ruppig und herablassend er manchmal war, mit dem Pferd sprach er ganz sanft und vermied jegliche schnelle Bewegung. Lena war erleichtert, niemanden auf dem Reitplatz anzutreffen, denn sie befürchtete, sich zu blamieren. Ragnar half ihr in den Sattel, und kurz darauf lenkte sie das Pferd im Schritt um den Sandplatz herum.
»Halt die Zügel locker, aber mit leichtem Kontakt zu Deveras Maul«, riet Ragnar. Eine ganze Weile ließ er sie das Pferd im Schritt bewegen, Schlangenlinien und Zirkel reiten. »Trab doch mal an«, schlug er schließlich vor.
Augenblicklich versteifte sich Lena und klammerte sich an den Zügeln fest, woraufhin Devera zu tänzeln anfing.
»Was mach ich denn jetzt?«, jammerte sie.
»Entspann dich, lass die Zügel locker, du hältst sie zu stark fest.«
Das war leichter gesagt als getan, denn Lena hatte Angst, das Pferd könnte durchgehen. Schließlich kam Ragnar zu ihr, fasste die Stute am Zügel und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Trab an, ich bleibe neben euch.«
Vorsichtig drückte Lena die Schenkel in Deveras Flanken, und das Pferd fiel in einen angenehm weichen Trab. Mehrere Runden rannte Ragnar nebenher, dann fragte er: »Kann ich jetzt loslassen?«
Lena nickte zaghaft, hielt die Luft an, aber die Stute zog weiterhin gelassen ihre Bahnen. Ein stolzes Lächeln machte sich auf Lenas Gesicht breit, als sie bemerkte, dass das Pferd sich auch im Trab ganz leicht lenken ließ. Lena passte sich den Bewegungen an, ritt hier und da eine Schlangenlinie, wechselte die Richtung und parierte dann zum Schritt durch. »Meinst du, ich kann mal galoppieren?«
»Wenn du dich traust?« Ragnar wirkte verwundert, aber er nickte ihr aufmunternd zu.
Also atmete Lena tief durch, sprach sich selbst Mut zu und trabte an. Wie sie es vor langer Zeit gelernt hatte, zupfte sie in der nächsten Ecke kurz am äußeren Zügel, legte den äußeren Schenkel ein Stück nach hinten und drückte den inneren an Deveras Bauch. Sofort sprang das Pferd in einen leichten Galopp. Strahlend galoppierte Lena zwei Runden, dann klopfte sie das Pferd am Hals.
»Sehr gut, das nächste Mal können wir ausreiten«, war Ragnars Kommentar. »Lass die Zügel lang, ich denke, es reicht für heute.«
»So ekelhaft du manchmal sein kannst«, erwiderte Lena, »als Reitlehrer machst du dich richtig gut!«
»Herzlichen Dank!« Ragnar verbeugte sich spöttisch.
»Meinst du …«, Lenas Blick wanderte zum Waldrand, »… wir können noch eine ganz kleine Runde ausreiten? Bis meine Oma kommt, dauert es noch.«
»Na, da hat wohl jemand Blut getrunken.«
Lena gluckste unterdrückt. »Geleckt!«
»Wie bitte?«, fragte er verständnislos nach.
»Es heißt: Blut geleckt.«
»Ach so, tut mir leid, manche Begriffe habe ich vergessen.«
»Das macht nichts, du sprichst wirklich super Deutsch.«
»Zuerst das Kompliment für meinen Unterricht, dann für meine Sprachkenntnisse«, staunte er. »Du wirst mich am Ende nicht doch noch heiraten wollen!«
»Haha, sehr witzig. Reiten wir jetzt noch aus oder nicht?«
»Von mir aus. Dann muss ich dich kurz allein lassen.« Er wartete ab, bis sie zustimmend genickt hatte, dann lief er in Richtung Stall.
Langsam ließ Lena ihren Oberkörper nach vorne gleiten und umschlang Deveras Hals mit beiden Armen. »Ich weiß, du magst Ragnar. Bei dir ist er ja auch ganz anders. Aber ich finde, er ist ein seltsamer Typ. Irgendwie habe ich den Eindruck, er hat ein Geheimnis.« Lena verbarg ihr Gesicht in Deveras schwarzer Mähne und atmete den lange vergessenen Geruch nach Pferd, Erde und Gras ein. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie das alles vermisst hatte. Als kleines Mädchen hatte sie immer von einem eigenen Pony geträumt, diesen Traum jedoch nach ihrem Sturz erfolgreich verdrängt.
Es dauerte nicht lange, bis Ragnar auf einem langbeinigen Schimmel angetrabt kam. Erstaunt bemerkte Lena, dass er auf dem blanken Pferderücken saß. Dennoch schien er keinerlei Probleme zu haben, das Gleichgewicht zu halten.
»Denkst du, du kannst mich beeindrucken, wenn du ohne Sattel reitest?«, fragte sie und fügte ein stummes »Angeber« hinzu.
»Ich glaube kaum, dass ich das nötig habe. Comet hat Satteldruck, daher kann ich keinen Sattel auflegen.« Er lenkte das Pferd neben Devera, dann deutete er hinter sich. Nun erkannte Lena eine kleine kahle Stelle auf dem Rücken des Schimmels.
»Ups.« Lena spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Sie räusperte sich. »Wollen wir?«
Seite an Seite ritten sie auf den nahen Wald zu, und insgeheim bewunderte Lena die Tatsache, wie sicher und selbstverständlich Ragnar auf dem Pferd saß und auch nicht in die Bredouille kam, als das Pferd vor einem Baumstamm, im hohen Gras halb verborgen, scheute und einen gewaltigen Satz nach vorne machte. Zunächst hielt Lena die Luft an, aber Devera ließ sich nicht beeindrucken und trottete voran.
»Puh, ich hätte voll den Abgang gemacht«, entfuhr es ihr.
Zunächst traf sie Ragnars verständnisloser Blick, dann schien er jedoch den Sinn ihrer Worte erraten zu haben. Ungerührt hob er die Schultern. »Als Kind bin ich in Island immer ohne Sattel geritten. Allerdings waren unsere Pferde auch deutlich kleiner. Wenn ich von Comets Rücken falle, wäre es mit Sicherheit schmerzhafter.«
»Stimmt«, erinnerte sich Lena, »hier im Stall gab es auch mal einen Isländer, ich glaube, er hieß Loki.«
Lena war sehr froh, dass Devera Comets Hüpfer nicht zum Anlass genommen hatte, sie auf den Boden zu befördern, und langsam begann sie, Zutrauen zu der Stute zu fassen.
Eine halbe Stunde lang ritten sie die weichen Waldwege ab, und als sie den Reitstall wieder erreichten, war Lena äußerst stolz auf sich.
»Jetzt müssen wir uns beeilen«, meinte sie. »Meine Oma kommt gleich.«
»Wir bringen nur noch die Pferde auf die Weide, so viel Zeit muss sein.«
»Aye, aye, Käpt’n«, lachte Lena.
Als sie an Ragnars Holzhütte ankamen, sah Lena die orangefarbene Ente ihrer Großmutter bereits davor stehen, und kurz darauf tauchte auch Oma Gisela aus dem nächsten Gebüsch auf. In ihren langen Haaren hingen Blätter und kleine Äste, ihre rechte Hand umklammerte ein Sträußchen großblättriger Wildkräuter.
»Seht nur, ich habe Frauenmantel gefunden«, strahlte sie.
»Oma!« Lena verdrehte die Augen. »Du bist echt peinlich.«
»Ich weiß nicht, was an Kräutern peinlich sein soll«, entgegnete Oma Gisela gelassen. »Frauenmantel ist ein wirksames Heilkraut, und gerade habe ich eine Patientin, der es helfen könnte.«
»Die Kräuter an sich sind vielleicht nicht peinlich.« Lena rümpfte ihre Nase. »Aber du siehst aus wie ein … Waldschrat.«
»Wald… ?« Anscheinend war dieser Begriff Ragnar nicht geläufig.
»Ein Waldschrat ist ein Naturgeist«, erklärte Oma Gisela. »Manche sagen, er wäre ein Hüter des Waldes, andere halten ihn für ein blutrünstiges Monster, das sich verwandeln kann und harmlosen Wanderern auflauert und sie verschlingt.« Dann deutete sie schmunzelnd auf Lena und Ragnar. »Du, meine liebe Enkeltochter, siehst aus, als hätte dich ein Pferd geküsst, und dein Freund hat deutlich mehr Haare an seinen Beinen und seinem Hinterteil, als es sich für einen jungen Mann seiner Evolutionsstufe gehört. Würde ich ihn nur von hinten sehen, könnte ich ihn glatt für einen isländischen Troll halten.«
Während Lena sich über die Wange strich und anschließend den Schmutz auf ihren Fingern begutachtete, lachte Ragnar lauthals los.
»Trolle zeigen sich aber nicht jedem«, meinte er dann.
»Ach, ich denke, mir schon.«
»Und welche Art von … Waldschrat … sind Sie?«, stieg er auf Oma Giselas Blödeleien ein. »Ein guter Geist oder ein verwandeltes Ungeheuer?«
»Das wirst du feststellen, wenn du mir allein des Nachts begegnest.« Sie formte die Hand zu einer Kralle und verdrehte die Augen, dann machte sie eine einladende Handbewegung. »Komm, Lena, lass uns fahren.«
»Oma, würdest du dir noch kurz ein paar Bilder ansehen?«, bat Lena. »Wir würden gerne wissen, ob du die Orte kennst.«
»Natürlich.«
»Dann folgen Sie mir doch bitte in meine Trollhöhle.« Ragnar ging voran, und Oma Gisela stieß Lena in die Seite.
»Ich weiß gar nicht, was du hast, der ist doch nett und hat Humor.«
»Hm.« Kritisch runzelte Lena die Stirn. »Vermutlich nur bei Leuten, die über sechzig sind.«
»Denkst du, ich hätte Chancen bei ihm?« Oma Gisela klimperte übertrieben mit den Wimpern und fuhr sich durch die Haare.
»Oma«, stöhnte Lena, »du bist unmöglich!«
»Ja, und stolz darauf!« Lachend schob sie ihre Enkeltochter an den Schultern durch die Tür.
Lena zeigte ihrer Oma Frau Winters Bilder, und diese beäugte sie interessiert. »Deine Großmutter konnte sehr gut malen«, sagte sie zu Ragnar.
»Danke, das finde ich ebenfalls, nur leider wurde sie niemals berühmt.«
»Vielleicht war ihr das auch gar nicht wichtig.« Oma Gisela deutete auf das Bild mit der Ruine. »Das ist die Neideck.«
»Das wissen wir. Aber dieses hier zum Beispiel, wo könnte das sein?« Lena hielt das Bild, auf dem Ragnar die Markierung gefunden hatte, in die Höhe.
»Hm.« Oma Gisela legte einen Finger an die Nase. »Es gibt viele Orte in der Region, die so aussehen könnten. Weshalb wollt ihr das denn wissen?«
Ertappt sahen sich Lena und Ragnar an. Der junge Mann rang sichtlich nach Worten, aber Lena ergriff zuerst das Wort. »Ragnar möchte die Orte besuchen, die seine Oma gemalt hat – quasi als Abschiedsritual.«
»Genau!«, stieß er eine Spur zu heftig hervor.
Doch Oma Gisela war offenbar ganz in ihre Überlegungen vertieft und meinte nur: »Sehr schön, ein netter Gedanke.« Sie drehte das Bild in der Hand hin und her, runzelte die Stirn, machte kurz »Ah!«, schüttelte dann jedoch wieder den Kopf. Schließlich seufzte sie. »Ich bin mir nicht vollkommen sicher, aber wenn ich mir die Steine so ansehe, könnte es sich um den Keltenwall handeln. Und der ist gar nicht weit von hier entfernt.«
»Keltenwall?«, hakte Ragnar nach.
»Na ja, das ist dort hinten im Wald«, erklärte Lena zögernd und fuchtelte wild in Richtung Fenster.
»Der Weg hinter der Burg führt direkt dorthin. Früher befand sich dort eine keltische Siedlung. Ihr werdet auch einige Hinweisschilder finden.«
Nun überzog Ragnars Gesicht ein ausgesprochen breites Grinsen. »Dort, wo wir uns das erste Mal außerhalb vom Altenheim getroffen haben?«
»Genau«, grummelte Lena.
Sie hätte ihn auf der Stelle erwürgen können, als er sich an ihre Oma wandte und ganz ernsthaft erwähnte: »Sie trug damals keine Hose.«
Oma Gisela stutzte kurz, dann kicherte sie. »Bitte, junger Mann, keine Details! Lena ist alt genug, um zu wissen, was sie tut – meistens zumindest.«
»Oma, wir haben nicht …«, protestierte Lena empört und warf Ragnar ihren giftigsten Blick zu.
»Mein Schatz, du kannst tun und lassen, was du willst. Wie du weißt, bin ich ein Kind der Hippiezeit, und bei uns war freie Liebe ein Gesetz. Wenn ich daran denke, wie wir in Woodstock auf der Wiese im Sternenlicht …«
»Jetzt möchte ich aber keine Details hören«, unterbrach Lena sie, wobei sie das Gesicht verzog.
Ragnar dagegen hatte nebenbei Gläser geholt und stellte sie nun zusammen mit einem Krug Wasser auf den Tisch. »Woodstock – ich würde gerne erfahren, wie es dort war.«
»Siehst du, Lena!«
»Toll, da haben sich ja zwei gefunden«, stöhnte sie.
»Leider habe ich jetzt keine Zeit mehr, Ragnar, aber du bist herzlich eingeladen, uns einmal zuhause zu besuchen.« Sie stutzte kurz. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich du sage.«
»Selbstverständlich.«
»Ich heiße Gisela.« Sie streckte ihm ihre Hand hin, und er ergriff sie lächelnd. Anschließend stießen sie mit einem Glas Wasser an.
»Ragnar.«
»Ragnarök – der Weltuntergang«, grummelte Lena.
»Wie bitte?«
»Nichts. Also, komm jetzt, Oma, bevor du ihn mit deinen Bettgeschichten langweilst.«
»Ein Bett hatten wir eigentlich eher selten«, lachte sie, woraufhin Lena leise aufheulte und sich die Haare raufte.
Ragnar schien sich jedoch köstlich zu amüsieren. Bevor sie gingen, fragte er zu Lena gewandt: »Übermorgen hätte ich Zeit, da könnten wir mit den Pferden zum Keltenwall reiten.«
»Übermorgen?« Lena dachte kurz nach. »Mist, da muss ich arbeiten, aber Mittwoch hätte ich Zeit.«
»Gut, ich hole dich ab.«
»Dein Freund ist nett«, stellte Oma Gisela im Auto fest.
»Er ist nicht …«, protestierte Lena auf der Stelle, aber ihre Großmutter unterbrach sie.
»Gut, dein rein platonischer Freund ist nett.«
Es war das erste Mal, dass Lena darüber nachdachte, was Ragnar eigentlich für sie war. Noch vor wenigen Tagen hätte sie ihn ganz sicher nicht als Freund bezeichnet, auch nicht als platonischen. Doch inzwischen hatten sie einiges miteinander erlebt, er hatte ihr geholfen, ihre Angst vor Pferden zu überwinden, und sie sahen sich jetzt regelmäßig. Möglicherweise waren sie doch so etwas wie Freunde geworden, auch wenn er sich teilweise noch immer äußerst seltsam verhielt.
»Ja, er ist ganz okay – meistens jedenfalls«, gab sie zu.
Zuhause setzte sich Lena an den Computer und recherchierte über den Keltenwall. Als kleines Mädchen war sie ab und zu mit ihrer Oma dort spazieren gegangen, daran konnte sie sich noch erinnern. Doch genauere Informationen über diesen Ort hatte sie nicht mehr im Kopf, obwohl sie noch wusste, dass Oma Gisela immer gerne über die Geschichte dieser Gegend erzählt hatte, über Ritter, Räuber und, soweit sich Lena noch entsinnen konnte, sogar über ein altes Volk, bei dem es Zauberer und weise Frauen gegeben hatte. Heute glaubte Lena, Oma Gisela hatte von den Kelten und ihren Druidinnen und Druiden gesprochen. Nicht weit entfernt von ihnen gab es auch einen Ort, der Druidenhain genannt wurde. Dort veranstaltete ihre Großmutter gelegentlich Führungen und war dann meist ganz in ihrem Element. Und dies obwohl Lenas Vater stets bekräftigte, es gebe keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass es sich tatsächlich um eine Druidenschule gehandelt hatte, wie seine Mutter behauptete.
Insgeheim musste sich Lena eingestehen, dass sie sehnlichst auf den folgenden Mittwoch wartete. Würden sie auch den dritten Teil des Anhängers finden? Außerdem musste sie unbedingt noch aus Ragnar herauskitzeln, weshalb er die ersten beiden Stücke so problemlos gefunden hatte.
Eigentlich hatte sie gedacht, er würde sie mit dem Motorrad abholen, aber kurz nach elf hörte sie Hufgetrappel, und Ragnar ritt auf dem Schimmelwallach Comet auf das Haus zu, Devera führte er am Zügel mit sich.
»Heute ist offenbar mal wieder das altmodische Transportmittel dran«, stellte Lena grinsend fest.
»Möglicherweise altmodisch, aber sicher zuverlässiger und weniger umweltverschmutzend als die meisten modernen Transportmittel«, konterte Ragnar.
»Kann sein, aber in den Urlaub reiten kann man mit einem Pferd eher nicht.« Langsam näherte sich Lena der Stute, streichelte sie am Hals und kicherte, als Devera an ihrem Ohr herumschnupperte.
»Man kann Wanderritte machen, in Island sind die bei Touristen äußerst beliebt.«
»Ja, du hast gewonnen«, stöhnte sie, dann zog sie sich hoch, wobei sie hoffte, sie würde nicht samt Sattel wieder vom Pferd rutschen, bevor sie dessen Rücken erklommen hatte.
Ragnars kritischen Blick interpretierte sie richtig und rechtfertigte sich postwendend: »Sorry, aber ich bin halt nicht eins achtzig, und ein Zwerg ist Devera auch nicht gerade.«
»Dann muss ich dir Zwerg wohl demnächst ein Zwergenpony besorgen.«
Für einen Augenblick war Lena sprachlos und saß bewegungslos auf dem Pferd. »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ausgesprochen unverschämt bist?«
»Ja.« Er wendete Comet und trabte zu Lenas Ärger mit einer Eleganz voran, die ihresgleichen suchte. Sie selbst wäre am liebsten zurückgeblieben und hätte ihn zappeln lassen, befürchtete jedoch, Devera könnte andere Pläne haben und sauer werden, wenn ihr Freund ohne sie im Wald verschwand.
Also trabte sie mit angespannter Miene hinterher, und als Ragnar sein Pferd zum Schritt durchparierte, funkelte sie ihn wütend an.
»Weshalb bist du eigentlich manchmal so ekelhaft?«
»Du kannst es wohl nicht ausstehen, wenn man sich über deine Größe lustig macht?«
»Nein, ja, verdammt, du machst mich wahnsinnig, und am liebsten würde ich wieder nach Hause gehen.«
»Dann suche ich den Schatz eben allein.« Für sein Grinsen hätte sie ihn gerne dorthin getreten, wo es richtig wehtat.
»Das könnte dir so passen«, schnaubte sie. »Und darf ich dich daran erinnern, dass du ohne meine Ortskenntnisse ziemlich dumm ausgesehen hättest?«
»Lena!« Lachend schüttelte Ragnar den Kopf. »Es ist herrlich, wenn du dich so aufregst. Du erinnerst mich an die kleine Schwester meines besten Freundes in Island. Wir nannten sie immer geit.«
»Und was bedeutet das?«
»Ziege.«
»Ich hasse dich, Ragnar Winter!« Ohne weitere Worte ließ Lena Devera angaloppieren und zog an Ragnar vorbei. Mit einiger Befriedigung sah sie aus dem Augenwinkel, dass Comet das offenbar gar nicht lustig fand. Der Wallach bockte auf der Stelle, und beinahe wäre Ragnar abgeworfen worden, denn er ritt erneut ohne Sattel. Am Ende rettete er sich mit einem beherzten Griff in die Mähne. Über Deveras Hals gebeugt, genoss Lena den Galopp, den Wind in ihren Haaren, das Gefühl von Freiheit.
»Du bist ganz schön mutig dafür, dass du noch vor ein paar Tagen allein bei dem Gedanken daran, in den Sattel zu steigen, gezittert hast«, bemerkte er, nachdem Lena Devera durchpariert und er aufgeholt hatte.
»Na ja, ich glaube, eigentlich reite ich ganz gerne«, gab sie zu, und den Ärger über Ragnar hatte der Wind größtenteils mit sich gerissen. Er war ein seltsamer Typ, aber wenn sie weiterhin gemeinsam auf Schatzsuche gehen wollten, musste sie ihn wohl so nehmen, wie er war. Jetzt deutete sie auf den sanft ansteigenden Waldweg. »Wollen wir nochmal?«
»Nur zu.«
Also galoppierte Lena langsam voran, und kurz darauf hatten sie die Anhöhe erreicht, die als Keltenwall bekannt war. Diese Siedlung musste in früherer Zeit von einer Mauer umgeben gewesen sein, aber inzwischen war nichts mehr davon zu sehen, auch keine Überreste von Behausungen. Doch laut einer Infotafel war diese Siedlung einst von einer beeindruckenden Mauer mit einem für diese Zeit sehr ausgeklügelten Torsystem geschützt worden. Sie stiegen ab und führten die Pferde zu einer Buche, deren Stamm in der Mitte gegabelt war.
»Hier können wir sie anbinden.« Aus dem Rucksack auf seinem Rücken holte Ragnar zwei Stricke und Halfter. Nachdem die Pferde sicher angebunden waren, sahen sie sich auf dem flachen, von Bäumen bewachsenen Areal um.
»Und, wo müssen wir suchen?«, fragte Lena herausfordernd.
»Das weiß ich nicht.«
»Keine wundersame Eingebung?«, spottete sie.
»Psst.« Ragnar hob eine Hand, und Lena beobachtete, wie er den Kopf schief legte und offenbar auf etwas lauschte.
»Was ist?«
»Jetzt sei doch mal still!«, knurrte er.
Entnervt ließ sich Lena auf einem flachen Felsen nieder. Während Ragnar einfach nur dastand und vor sich hin starrte, blickte sie hinauf in die sich leise im Wind wiegenden Baumkronen. Hier und da spitzte der blaue Himmel hervor. Lena ließ sich nach hinten auf das weiche Moos sinken. Das Spiel von Licht und Schatten lullte sie nach und nach ein, sodass sie schläfrig wurde. Schimmernde kleine Lichtpunkte blitzten zwischen den grünen Blättern auf, und die Wolken formten sich zu bizarren Gebilden. Langsam wurden ihre Augenlider schwer.
»Lena?« Eine leise Stimme drang an ihr Ohr, und sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Ragnar stand über sie gebeugt da.
Hastig fuhr Lena auf, strich sich die Haare glatt und fragte dann benebelt: »Hast du etwas gefunden?«
Zu ihrer Überraschung schüttelte Ragnar den Kopf. »Nein, wir müssen bei Nacht zurückkommen.«
»Bei Nacht?« Lena streckte sich und schaute dann verwirrt zu ihm auf. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich weiß es eben.« Erneut ließ er sie einfach stehen und ging mit langen Schritten zu den Pferden.
»Der Typ macht mich wahnsinnig.« Lena lief ihm hinterher und hielt ihn an der Schulter fest. »Ich lass mich doch nicht von dir verarschen. Jetzt sag mir, woher du weißt, wo die Amulettstücke versteckt sind.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Oder wusstest du es schon die ganze Zeit und machst völlig umsonst ein Geheimnis um die Kette deiner Oma?«
»Weshalb sollte ich das tun?«
Lena stutzte, dann hob sie ratlos die Hände gen Himmel. »Keine Ahnung. Vielleicht, weil du dich wichtigmachen willst, oder weil du keine Freunde hier hast, was weiß ich.«
»Mir liegt nichts daran, mich wichtigzumachen«, stellte er mit ruhiger Stimme klar, »und großen Wert auf Freunde lege ich momentan ebenfalls nicht.«
»Wie nett!«
»Lena!« Er fasste sie an der Schulter, und als er sie jetzt ansah, waren jegliche Arroganz und Spott aus seinem Gesicht verschwunden. »Ich kann es dir nicht sagen. Aber bitte glaub mir, ich wusste wirklich nicht, wo die Schmuckteile versteckt sind, und ich brauche dich dafür.«
»Ich werde garantiert nicht bei Nacht mit dir an diesen Ort zurückkehren, wenn du mir nicht verrätst, was los ist.« Dieses Mal führte sie die braune Stute zu einem Stein, der ihr das Aufsteigen deutlich erleichterte.
»Natürlich kann ich auch allein hierher zurückkehren«, meinte er. »Aber ich dachte, du wolltest dabei sein, wenn wir die Teile des Amuletts und den Schatz finden.«
»Inzwischen zweifle ich daran, ob es diesen Schatz überhaupt gibt.« Jetzt war Lena richtiggehend sauer. »Und wenn, dann weißt du vermutlich ohnehin schon, wo er ist.«
»Nein!« Er fuhr sich durch seine Haare, schloss kurz die Augen, öffnete den Mund und machte ihn dann sofort wieder zu.
Lena begnügte sich mit einem Schnauben, und sie legten den Rückweg schweigend zurück. Am Haus ihrer Großmutter drückte Lena Ragnar die Zügel ihres Pferdes in die Hand. Nach einem gemurmelten »Ciao« stapfte sie zum Haus. Zwar kostete es sie große Überwindung, aber sie drehte sich nicht um. Erst im Haus sah sie aus dem Fenster. Offensichtlich hatte Ragnar noch eine ganze Weile gewartet, denn erst jetzt wendete er die Pferde und ritt auf der Straße zurück.
Während des restlichen Tages ging Lena Ragnars eigenartiges Verhalten nicht aus dem Kopf, und so war sie ganz froh, als ihre Cousine Julia gegen Abend vorbeikam. Ihre drei Monate alte Tochter hatte sie auf dem Arm, und Leonie sah sich mit neugierigen Augen im Garten um, wo Lena mit ihrer Familie beim Abendessen saß.
»Hast du Lust, mit mir ein Eis essen zu gehen?«, erkundigte sich Julia. »Mir fällt zuhause echt die Decke auf den Kopf.« Julia verzog das Gesicht. »Marco ist wie immer beim Fußball, und ich kann keine vollen Windeln mehr sehen. Außerdem scheint unsere liebe Tochter nicht im Babyhandbuch gelesen zu haben, dass man in ihrem Alter ungefähr sechzehn Stunden schläft.«
Lena lachte auf, dann streichelte sie dem kleinen Mädchen über den weichen Flaum am Kopf. »Klar hab ich Lust.« Sie sah ihren Vater herausfordernd an. »Nur leider habe ich Hausarrest – und das mit achtzehn!«
»Du weißt genau, weshalb, und Hausarrest hast du auch nicht«, stellte Dieter richtig. »Wir haben nur ausgemacht, dass du nicht in die Disko oder auf ominöse Feiern gehst und nur nach Absprache später als zweiundzwanzig Uhr nach Hause kommst. Wenn du mit deiner Cousine ein Eis essen gehst, haben wir nichts dagegen.«
Lenas Mutter nickte zustimmend, nur als Julia ulkte: »Gut, und mit Leonie werden wir kaum einen Joint rauchen«, verzog sie das Gesicht.
»Ihr könnt die Kleine auch hierlassen«, bot Oma Gisela an. Sie zwinkerte Julia zu. »Sicher bist du froh, mal ein paar Stunden babyfrei zu haben.«
»Oh, würdest du das ehrlich für mich tun?«, freute sich Julia, dann kramte sie in ihrem Rucksack herum. »Windeln, ihr Fläschchen und das Milchpulver habe ich dabei.«
»Also los, ihr beiden Hübschen!« Oma Gisela nahm Julia die kleine Leonie ab. »Macht euch einen schönen Abend.«
In Julias Kombi fuhren sie nach Gößweinstein und setzten sich vor der Eisdiele auf die bunten Plastikstühle. »Hörst du das?«, fragte Julia.
»Was?«
»Kein Babygeschrei!«
Lena kicherte. »Ist es so schlimm?«
»Na ja, manchmal schon, obwohl ich die kleine Maus um nichts in der Welt wieder hergeben würde. Aber anstrengend ist es schon. Und, was gibt es in deinem Leben so Neues?«
»Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« Da Lena sich mit ihrer Cousine gut verstand und ihr Ragnar noch immer im Kopf herumspukte, erzählte sie ihr alles. Angefangen von den Geschichten seiner Großmutter bis hin zu seinem seltsamen Verhalten, nur die magisch zusammengefügten Schmuckstücke ließ sie aus – das erschien ihr dann doch zu verrückt.
»Und ihr geht tatsächlich auf Schatzsuche?«, fragte Julia am Ende nach, wobei sie sich verblüfft über den Tisch beugte.
»Sicher hältst du das für kindisch.« Verlegen rührte Lena in den geschmolzenen Resten ihres Nussbechers herum.
»Nein, gar nicht«, protestierte Julia, und ihre grünen Augen funkelten. »Ich finde das klasse. Am liebsten käme ich mit.«
»Ich kann dir nicht mal sagen, ob ich überhaupt weiter mitsuchen möchte.«
»Natürlich machst du weiter!«, drängte Julia, dann zwinkerte sie Lena zu. »Und dieser Ragnar ist doch wirklich interessant.«
»Interessant?« Lena knallte ihren Eislöffel auf den Tisch. »Eher unverschämt, arrogant und undurchsichtig.«
Genüsslich ließ sich Julia nach hinten sinken. »Ach komm schon, solche Typen reizen einen doch mehr als irgendwelche Langweiler, die am liebsten den Abend mit ihrer Bierflasche vor dem Fernseher verbringen oder mit ihren Fußballkumpeln abhängen.«
»Redest du jetzt von Marco?«
»Hm.« Sie zog ihre Stirn kraus. »Seitdem wir zusammen wohnen, unternehmen wir kaum noch etwas gemeinsam, und seit die Kleine da ist, ist es noch schlimmer geworden.«
»Wenn, dann ertrage ich den Kerl nur wegen dieser Edelsteine, sofern sie tatsächlich existieren«, stellte Lena klar. »Ansonsten will ich nichts von Ragnar!« Plötzlich richtete sie sich ruckartig auf und zupfte ihr T-Shirt zurecht. »Von ihm allerdings schon«, seufzte sie sehnsüchtig. In diesem Augenblick kam Timo mit einem jungen Mann vom Fahrdienst die Straße entlanggeschlendert. Die beiden unterhielten sich angeregt und bemerkten Lena offensichtlich gar nicht. Vermutlich hatten sie Feierabend und wollten noch zusammen ein Bier trinken gehen.
Von Julias aufmerksamem Blick verfolgt, bogen die beiden in eine Seitenstraße ab. »Na ja, nicht schlecht«, meinte ihre Cousine gedehnt, dann hob sie ihre Augenbrauen. »Aber Ragnar – allein der Name klingt doch schon mystisch und aufregend! Am Ende ist er ein Vampir oder ein Werwolf!«
»Du hast wohl zu viele Filme in letzter Zeit gesehen«, lachte Lena. »Nee, Ragnar ist überhaupt nicht mein Typ.«
»Leider habe ich ihn ja noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ich finde, du solltest dir das nochmal überlegen.« Julia schnitt eine Grimasse. »Auf jeden Fall wird er besser sein als diese Pappnase von Kevin. Ich weiß echt nicht, was du an dem gefunden hast.«
»Kevin«, stöhnte Lena. »Wenn ich diesen Namen schon höre! Aber jetzt Themenwechsel – der Kerl ist es nicht wert, den Abend mit Gedanken an ihn zu verschwenden.«
Kurz nach halb elf kamen die beiden beim Fachwerkhaus von Oma Gisela an. »Vielen Dank, das hat richtig gutgetan«, bedankte sich Julia bei Lenas Großmutter. Diese reichte ihr die schlafende Leonie. »Die Kleine war recht brav, ich habe sie erst vor einer halben Stunde gefüttert, vielleicht hast du ja Glück und sie schläft noch ein wenig länger.«
Eilig packte Julia ihre Sachen zusammen, dann umarmte sie Lena. »Mach’s gut und viel Spaß bei … na, du weißt schon.«
Lenas Eltern saßen noch vor dem Fernseher, und sie spitzte kurz ins Zimmer. »Ich bin zurück und weder betrunken noch zugedröhnt!«
»Lena!« Ihre Mutter schüttelte den Kopf, dann winkte sie ihre Tochter herein. »Wir machen uns doch nur Sorgen um dich«, sagte sie sanft. »Ich hoffe, du verstehst das.«
»Ja, schon.« Sie zog ihre Stirn kraus. »Mir ist ja klar, dass ich Mist gebaut habe.«
»Wenigstens siehst du es ein«, brummte ihr Vater, wobei er den Blick nicht vom Bildschirm löste.
Natürlich verstand Lena ihre Eltern ein Stück weit, obwohl sie vermutete, dass die beiden in ihrer Jugend auch irgendwann einmal über die Stränge geschlagen hatten.
»Mein Gott, soll ich denn den Rest meines Lebens den reuigen Sünder spielen? Könnt ihr es nicht einfach mal gut sein lassen?«
»Natürlich werden wir das irgendwann.« Lenas Mutter nahm sie in den Arm, während ihr Vater grummelte: »Wenn du mein Auto abbezahlt hast, können wir darüber reden.«
Schon seit über zwei Wochen hatte Lena nichts mehr von Ragnar gehört, und sie war auch zu stolz, um zu ihm zu fahren. Seine Geheimniskrämerei wurmte sie, und als sie eines Tages im Internet surfte, um mehr über die Orte herauszufinden, an denen sie die ersten Teile des Amuletts gefunden hatten, stolperte sie über einen Link zu den Grotten in der Nähe der Ruine Neideck.
Geheimnisvoll sahen diese Höhlen mitten im Wald aus, und Lena betrachtete die Bilder.
»Das eine Teil des Amuletts haben wir an der Burgruine gefunden, das zweite am Keltenwall«, sagte sie laut zu sich und stützte dabei ihren Kopf in die Hände. »Das liegt alles gar nicht so weit auseinander. Wer weiß, vielleicht ist ja in den Grotten noch ein Teil versteckt.« Dieser Gedanke machte sie ganz kribbelig, und sie entschloss sich schließlich, einfach nachzusehen. »Na warte, Ragnar. Wenn ich den dritten Teil finde, wirst du blöd schauen.« Es war schon kurz nach acht, aber jetzt Anfang August blieb es ja noch lange hell. Schnell suchte Lena eine alte Wanderkarte ihrer Eltern heraus und stellte begeistert fest, dass es gar nicht so weit war, wenn sie durch den Wald fuhr. Zum Glück waren ihre Eltern bei Freunden zum Essen eingeladen, und Oma Gisela war auch nirgends zu sehen. Daher kritzelte Lena eilig eine Nachricht auf einen Zettel und schnappte sich ihr Fahrrad. Auf der Karte hatte der Weg einfach ausgesehen, und Lena fand sogar die Wanderwegmarkierung zur Ruine Neideck. Trotzdem war es wie überall in der Fränkischen Schweiz – es ging bergauf und bergab, und Lena kam ganz schön ins Schwitzen.
»Ich hätte mich doch lieber fahren lassen sollen«, stöhnte sie, nachdem sie endlich die Markierung »Neideckgrotten 400 m« gefunden hatte. Da der Weg immer steiler wurde und schließlich in steinerne Stufen überging, ließ Lena ihr Fahrrad zurück. Atemlos erreichte sie eine große Öffnung im Fels. Kühle Luft schlug ihr entgegen, und sie ließ sich erst einmal auf einen der niedrigen Steine am Eingang sinken. Anders als bei den bekannteren und touristisch genutzten Höhlen der Gegend, wie der Binghöhle, der Teufelshöhle und wie sie alle hießen, gab es hier keine spektakulären Tropfsteine. Ruhig und kühl war es in der Grotte, und Lena entdeckte einen Gang, der weiter ins Innere des Berges führte.
Wo könnte ein Schmuckstück oder gar ein Schatz versteckt sein?, überlegte sie. Wenn, dann vermutlich weiter hinten, tiefer im Inneren der Höhle.
Also wagte sie sich hinein in die Dunkelheit. Schon nach wenigen Schritten überkam sie ein beklemmendes Gefühl. Hier war es stockdunkel, sie konnte die Hand nicht vor den Augen sehen. Eilig zog sie ihr Handy heraus, schaltete die eingebaute Taschenlampe ein. Doch auch dieser kleine Lichtstrahl vermochte die Finsternis nicht zu durchdringen. Der Gang wurde immer niedriger, sodass Lena sich ducken musste.
»Das war ohnehin eine Schnapsidee«, brummte sie vor sich hin. »Ich habe schließlich nicht so komische Eingebungen wie Ragnar. Verdammt, ich möchte nur wissen, was es damit auf sich hat.« Trotzdem leuchtete sie die Wände ab, suchte nach Nischen, in denen ein Teil des Amuletts versteckt sein könnte – doch vergeblich. Immer niedriger wurde der Gang, und dieses unangenehme Gefühl, Augen in ihrem Nacken zu spüren, verstärkte sich. Lag es an der Dunkelheit, an der Enge?
Sei keine verdammte Memme, Lena, ermahnte sie sich. Ragnar wäre hier ganz cool reingekrochen und hätte das verfluchte Schmuckteil gefunden!
Sosehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen – als ein Rascheln direkt vor ihr ertönte, ergriff sie die Flucht und hastete in Richtung Ausgang. Der Lichtstrahl, den sie nach kurzer Zeit sah, hatte etwas ungemein Beruhigendes. Doch da vernahm Lena Stimmen. Gedämpft und seltsam hohl hallten sie durch die Grotte.
»… ein wichtiger und machtvoller Ort, den schon unsere Vorfahren für sich nutzten. Regelmäßig komme ich hierher und führe das Ritual durch.«
Ritual?, fragte sich Lena, schlich langsam näher und entdeckte zwei Personen, die mit dem Rücken zu ihr standen. Außerdem schwebte ein seltsamer Geruch zu ihr herüber. Kräuter und Rauch, und Lena musste unwillkürlich grinsen, denn auch ihre Oma räucherte – sehr zum Leidwesen von Lenas Eltern – jeden Frühling das gesamte Haus aus, um, wie sie es nannte, den Winter und böse Geister zu vertreiben.
»Wie lange wirst du hier in der Gegend sein?«
»Nur heute, ich muss zurück«, antwortete eine zweite männliche Stimme. »Seltsame Dinge gehen während der letzten Jahre vor. Sogar unsere skandinavischen Freunde haben gesagt …« Die Stimmen entfernten sich, und Lena wagte sich vorsichtig zurück ins Tageslicht. In der Mitte der Höhlenöffnung qualmten noch einige Kräuter, sie glaubte seltsame Zeichen in den Boden eingeritzt zu sehen.
»Langsam habe ich echt den Eindruck, hier wimmelt es vor Spinnern«, brummte sie vor sich hin. Dann eilte sie aus der Grotte, spähte den Pfad hinab und erkannte zwei Gestalten, die sich entfernten. Der hintere Mann mit den leicht gewellten, braunen Haaren kam ihr vage bekannt vor, doch weil sie sein Gesicht nicht sah, konnte sie sich nicht sicher sein. Der Gang, die Statur – irgendwo hatte sie die schon einmal gesehen. Aber vielleicht täuschte sie sich ja auch.
»Okay, das war ja wohl die Pleite des Tages«, seufzte sie, machte sich selbst an den Abstieg und schwang sich auf ihr Fahrrad. Von den beiden Männern war nichts zu sehen, und so strampelte Lena missmutig den anstrengenden Weg zurück nach Hause.