Kapitel 16
Rätsel
Du, Ragnar.« Schon am nächsten Nachmittag nach der Arbeit war Lena nach Burggaillenreuth geradelt.
»Was ist?« Ragnar stand mit einer langen Peitsche in der Mitte des Sandplatzes und ließ eine junge Stute an der Longe laufen.
»Versteh das jetzt bitte nicht falsch.«
Er lachte leise auf und blickte kurz zu ihr, bevor er sich erneut dem Pferd zuwandte. »Wenn du mir nicht endlich sagst, was los ist, kann ich nicht entscheiden, ob ich es falsch verstehen könnte. Schon seit einer halben Stunde redest du irgendwelchen Blödsinn und zappelst auf der Stelle herum.«
Ertappt runzelte Lena die Stirn, dann fasste sie sich ein Herz. »Meine Mutter hat mich letzte Nacht erwischt.«
»Das tut mir leid. Hast du großen Ärger bekommen?«
»Da ich nachweislich nach Pferd gerochen habe und damit nicht in einer ach so furchtbaren Disko oder Bar gewesen sein kann, hat sich die Schelte in Grenzen gehalten.« Lena schnitt eine Grimasse. »Nur bestehen meine Eltern jetzt darauf, dich kennen zu lernen. Also ich meine … das hat jetzt nichts zu bedeuten oder so … und …«
»Das kann ich verstehen«, erwiderte er zu ihrer Verwunderung gelassen.
»Echt?«
»Natürlich. Du bist ihre Tochter, noch nicht sehr alt, und sie machen sich Gedanken darüber, mit wem du deine Zeit verbringst.«
»Na, wenn du das so siehst«, rief sie erleichtert, »du bist Freitag zum Essen eingeladen.«
»Das ist sehr nett.«
Auf einmal kam Lena ein Gedanke, und sie sog die Luft scharf ein. »Oh, Shit, und was ist mit deiner Häuserphobie?«
Wieder drehte er sich kurz zu ihr und grinste. »Für einen Abend werde ich es aushalten. Außerdem mag ich das Haus deiner Großmutter. Es ist ein altes Haus und besitzt eine Seele. Keine Angst, ich kann mich beherrschen.«
»Na gut.« Insgeheim hegte sie noch Zweifel und hoffte inständig, er würde sich ihren Eltern gegenüber nicht so aufführen wie damals im Altenheim.
»Gut, dann sehen wir uns Freitag um neunzehn Uhr?«
»Ich werde da sein.«
Während des ganzen Freitagnachmittags war Lena nervös und ihrer Mutter keine große Hilfe in der Küche. Sie hoffte, dass weder ihre Eltern peinliche Fragen stellen würden, noch dass Ragnar in irgendeiner Weise ausrastete, denn dann würde es schwierig werden, weiterhin mit ihm auf Schatzsuche zu gehen.
Oma Gisela war noch auf einer Kräuterführung, daher kochte Lenas Mutter das Abendessen. Lena bereitete den Salat vor, wobei ihr Blick in regelmäßigen Abständen aus dem Fenster schweifte.
Kurz vor halb sieben kam Lenas Vater von der Arbeit nach Hause. Seufzend ließ er sich auf die Bank in der Küche plumpsen. »So ein Stress. Zum Glück ist endlich Wochenende. Was gibt es denn?« Neugierig reckte er seinen Kopf.
»Kotelett, Kartoffeln und Speckbohnen.«
»Hm, lecker«, war sein Kommentar, verzog dann jedoch kritisch seinen Mund. »Aber ob das unserem Gast aus Island schmeckt? Die essen doch Walfleisch und vergammelten Fisch, das habe ich erst kürzlich im Fernsehen gesehen.«
»Papa, bitte keine peinlichen Weisheiten aus dem Fernsehen«, stöhnte Lena.
»Aber wenn es doch so ist?«
»Also bisher habe ich noch keine vergammelten Walteile in seinem Kühlschrank gefunden«, stellte Lena richtig.
»Keine Sorge«, flötete Lenas Mutter. »Wir werden keine Vorurteile gegen deinen Freund haben, nur weil er aus einem anderen Land kommt.«
»Er ist aber nicht mein Freund«, erwiderte Lena, »jedenfalls nicht so, wie ihr denkt.«
»Du weißt doch gar nicht, was wir denken.« Aufreizend langsam goss sich ihr Vater ein Bier ein, und Lena ahnte, dass dieser Abend ein Desaster werden würde.
Um neunzehn Uhr klingelte es, und Lena hastete zur Tür. »Wenigstens ist der Junge pünktlich«, bemerkte ihr Vater.
Der Tisch war gedeckt, das Essen stand fertig auf dem Herd.
Ragnar trug ein hellgraues Hemd und eine schwarze Jeans. In den Händen hielt er einen Blumenstrauß und eine Flasche Cognac. »Ich hoffe, dein Vater mag das.«
»Ja, klar.«
Erleichtert bemerkte sie, wie ihre Eltern sich zufrieden zunickten, und Lenas Mutter bedankte sich überschwänglich für den Strauß. »Von meinem Mann habe ich schon seit Jahren keinen mehr bekommen«, meinte sie spitz. Aber ihr Ehegatte tat lediglich so, als würde er die Aufschrift des Cognacs sehr genau studieren, und reagierte nicht.
Ragnar setzte sich auf den Stuhl neben Lena, und auch wenn er höflich lächelte, nahm sie seine Anspannung wahr.
»Wenn Oma Gisela mal wieder nicht pünktlich ist, fangen wir eben an.« Mit einer säuerlichen Miene rührte Manuela in den Bohnen herum.
»Von mir aus können wir gerne noch warten«, erklärte Ragnar.
»Na gut, zehn Minuten warten wir noch, aber sonst verkocht ja alles.«
Lenas Vater wandte sich an Ragnar. »Ein Bier, junger Mann?«
»Nein danke, ich bin mit dem Motorrad hier.«
»Sehr vernünftig«, lobte er, goss sich selbst ein Glas voll ein, dann musterte er Ragnar kritisch. »Welche Ausbildung haben Sie denn?«
»Papa!«, ächzte Lena, doch Ragnar antwortete bereits.
»Nach der Schule habe ich auf der Farm eines Nachbarn Pferde ausgebildet und Touristen auf Trekkingtouren begleitet.«
»Das ist aber kein richtiger Ausbildungsberuf«, erfolgte postwendend der kritische Kommentar vom Herd.
Lena straffte die Schultern, nur Ragnar blieb gelassen. »Nein, aber diese Tätigkeit bereitet mir Freude und befriedigt mich. Das war mir wichtiger. Meiner Meinung nach gibt es leider viel zu wenige Menschen, die das tun, was ihnen Spaß macht, und nicht nur ihre Zeit bis zur Rente absitzen.«
»Eine gute Ausbildung ist wichtig für einen jungen Menschen«, belehrte Lenas Vater ihn.
Lena war mehr als froh, dass sie unterbrochen wurden, denn Oma Gisela wirbelte herein. Ihr langer Rock in Batikfarben wehte hinter ihr her. Das graue Haar hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. »Schön, dass du hier bist«, begrüßte sie Ragnar herzlich.
»Ich freue mich ebenfalls, Sie zu sehen, Frau Langfeld.«
»Hatten wir nicht ausgemacht, uns zu duzen? Sonst komme ich mir so alt vor«, lachte Lenas Großmutter, dann fiel ihr Blick auf ein Päckchen auf der Fensterbank, und ihre Augen begannen zu strahlen. »Na endlich, das werden die Kräuter und die Globuli für Frau Baumann sein«, freute sie sich und wollte das Päckchen schon öffnen.
»Jetzt essen wir aber zuerst«, protestierte ihre Schwiegertochter. »Unser Gast ist sicher hungrig.«
Oma Gisela zuckte mit den Schultern, bevor sie sich schließlich setzte.
Manuela brachte die Fleischplatte, doch Ragnar hob abwehrend eine Hand. »Danke, aber ich esse nur sehr selten Fleisch.«
Dies überraschte Lena, denn beim Grillen war ihr das gar nicht aufgefallen – andererseits hatte sie an dem Abend auch nur Augen für Timo gehabt.
»Ein Mann, der kein Fleisch isst, ist kein Mann«, erklärte ihr Vater und griff selbst beherzt zu.
»Gelegentlich esse ich schon Fleisch. Nur muss ich wissen, dass die Tiere ein gutes Leben hatten und nicht zusammengepfercht in dunklen Ställen ihr Dasein fristeten.«
»Bravo«, lobte Oma Gisela und fuchtelte dann in Richtung ihres Sohnes. »Siehst du, Dieter, Ragnar hat eine gesunde Einstellung zum Essen!«
Lenas Vater schnaubte nur und kaute bedächtig.
Oma Gisela dagegen nickte Ragnar beruhigend zu. »Dieses Fleisch stammt von einem Biobauern aus dem Nachbardorf. Ich kann dir versichern, die Tiere dort werden artgerecht gehalten. Ich achte darauf, dass meine Familie anständige Produkte isst, nur stoße ich damit meist auf wenig Verständnis.«
»Papperlapapp«, knurrte ihr Sohn.
Ragnar nahm sich nun doch ein Stück Fleisch und nickte nach dem ersten Bissen begeistert. »Es schmeckt ausgezeichnet.«
Das Essen verlief recht entspannt, was vor allem Oma Gisela zu verdanken war, denn sie befragte Ragnar über unverfängliche Dinge wie die schönsten Sehenswürdigkeiten in Island und das raue Klima.
Als Lenas Mutter den Nachtisch servierte, war Lena erleichtert, denn möglicherweise würde der Abend doch halbwegs glimpflich enden.
Da Ragnar auch das Schokoladen-Nuss-Soufflee von Lenas Mutter lobte, entspannte sich deren Gesicht zusehends. Oma Gisela konnte es offenbar nicht mehr abwarten, ihr Paket zu öffnen, und riss zwischen zwei Bissen Nachspeise die Verpackung auf.
»Ah! Eine Alantwurzel!« Oma Gisela spähte in eine kleine bräunliche Tüte. »Die wird bei Atemwegsbeschwerden verwendet.«
»Möchtest du noch Kaffee, Mutter?«, erkundigte sich Lenas Vater.
»Ja, sehr gerne«, erwiderte sie zerstreut und hielt dann strahlend ein Fläschchen mit weißen Kügelchen in die Höhe. »Na endlich, Taxus baccata C3, damit werde ich hoffentlich Frau Baumanns Verdauungsprobleme in den Griff bekommen. Ich sage euch, die arme Frau hat Blähungen …«
»Gisela, könntest du uns mit den Einzelheiten über die peristaltischen Schwierigkeiten deiner Patienten bitte bis nach dem Essen verschonen?«
Kichernd bemerkte Lena, wie sich der Mund ihrer Mutter angeekelt verzog. Sie wusste, dass sie in dieser Beziehung recht empfindlich war. Ragnar dagegen grinste nur vor sich hin und schien sich über Oma Gisela zu amüsieren.
»Ja, ja, kein Problem. Ich werde Frau Baumann gleich etwas abfüllen.« Sie beugte sich hinüber zum Küchenschrank, holte ein Röhrchen hervor und öffnete den Verschluss der kleinen Flasche.
Lenas Vater kam mit der Kaffeekanne, doch völlig unvermittelt flog diese in hohem Bogen durch die Luft. Er selbst fluchte und fing sich gerade noch – offenbar war er über eine Teppichfalte gestolpert. Die heiße Brühe ergoss sich über Oma Giselas Hand, sie ließ vor Schreck das Fläschchen mit den Globuli fallen, und unzählige Kügelchen hüpften über den Tisch. Lenas Mutter sog hörbar die Luft ein.
»Dieter, kannst du nicht aufpassen?« Oma Gisela rieb sich den Arm, doch viel mehr schien sie der Verlust der Medizin zu stören, denn sie schimpfte leise: »Jetzt kann ich wieder bis Mitte nächster Woche warten!«
»Hihi, wenigstens bekommen wir jetzt alle keine Verdauungsbeschwerden«, ulkte Lena, denn die Kügelchen waren auch in die Nachspeiseteller gehüpft.
»Die Globuli schaden euch nicht«, versicherte Oma Gisela, denn ihre Schwiegertochter pulte mit einem Löffel kritisch in ihrer Schüssel herum.
Lena und Ragnar halfen Oma Gisela, die Kügelchen vom Tisch einzusammeln. »Kannst du die nicht trotzdem verwenden?«, wollte Lena wissen.
»Für mich selbst würde ich sie schon nehmen, nur einer Patientin kann ich doch nichts geben, was schon über unseren Tisch gerollt ist.« Sie linste in die Flasche und stellte erleichtert fest: »Na, ein paar sind noch drinnen geblieben.«
Lenas Vater hatte inzwischen den verschütteten Kaffee aufgewischt, sodass sie sich endlich dem Rest der Nachspeise widmen konnten. Ihre Mutter erzählte gerade von ihrer Arbeit, als Lena bemerkte, dass Ragnar eine Hand in die Tischkante krallte. Seine Gesichtsfarbe war urplötzlich seltsam fahl geworden, kleine Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn.
»… stellt euch nur vor, und dann kam der Chef und wollte noch bis halb fünf zwei Berichte fertig gestellt haben …«
»Ragnar«, wandte sich Lena flüsternd an ihn, »ist es deine Häuserphobie?«
Doch er schüttelte hastig den Kopf. »Nein, ich weiß nicht … Mir geht’s nicht gut.«
»… das ist doch eine Unverschämtheit, so kurz vor Feierabend«, ereiferte sich Manuela unbeirrt.
»Dafür gibt er dir aber auch oft genug frei, wenn du ihn darum bittest«, wandte Oma Gisela ein, woraufhin eine angeregte Diskussion zwischen den beiden Frauen aufloderte.
»Möchtest du vielleicht lieber kurz rausgehen?«, erkundigte sich Lena besorgt.
Ragnar nickte hastig, dann erhob er sich ruckartig – offensichtlich zu ruckartig –, denn er torkelte gegen die Kommode an der Wand und riss dabei zwei der kleinen Porzellanfiguren von Lenas Mutter herunter. Lena konnte ihn gerade noch rechtzeitig am Arm packen, bevor er stürzte. Schlagartig verstummten die Gespräche, und alle starrten auf Ragnar, der nach Luft schnappend an der Wand lehnte.
»Ich weiß nicht, ich glaube, er muss mal kurz raus. Alles klar, Ragnar?«
Er nickte zwar, schwankte jedoch beträchtlich, als sie aus dem Zimmer gingen. Hinter sich hörte Lena ihre Mutter keifen: »Na, der wird doch nicht am Ende auch so ein Junkie sein!«
»Jetzt sei nicht albern, Manuela«, erfolgte Oma Giselas Zurechtweisung, dann erklangen Schritte hinter ihnen.
Lena schaffte es kaum noch, Ragnar auf den Beinen zu halten. Er stützte sich an der Wand ab, atmete schwer und hustete krampfhaft.
»Was hast du denn?« Lena wusste sich nicht mehr zu helfen und war heilfroh, als Oma Gisela endlich neben ihr stand.
»Komm, wir bringen ihn in dein Zimmer.«
»Er wollte eigentlich an die frische Luft.«
»Wenn er im Garten zusammenklappt, ist es umso schlimmer. Wir können das Fenster aufmachen.« Beherzt griff Oma Gisela Ragnar am Arm, und mit vereinten Kräften gelang es ihnen, ihn zu Lenas Bett zu schaffen.
Stöhnend legte er sich darauf nieder und krümmte sich zusammen.
»Ragnar, was ist los?« Oma Gisela rüttelte ihn an der Schulter. »Bist du auf irgendetwas allergisch? Nüsse, Gewürze, Milch?«
Er schüttelte zwar den Kopf, aber Lena wurde himmelangst, als sie sah, wie schwer er Luft bekam.
»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte Oma Gisela bestimmt.
»Nein!« Mühsam richtete sich Ragnar auf, die Augen weit aufgerissen. »Es geht … schon … wieder.«
»So siehst du aber nicht aus.« Sie wandte sich an Lena. »Bleib bei ihm, ich vermute, er hat einen allergischen Schock, vielleicht hat er eine Allergie, von der er vorher gar nichts wusste.«
Lena nickte verstört, streichelte Ragnar unbeholfen am Arm und spürte, wie sehr er zitterte.
»Keinen … Krankenwagen … bitte«, keuchte er.
»Ragnar, wir müssen doch etwas tun.«
Offenbar war er zu schwach, um weiterzuprotestieren, denn sein Kopf sank auf die Kissen.
Lenas Großmutter kam erneut herein und sagte: »Es wird leider etwas dauern.« Sie setzte sich neben ihn und tätschelte seine Wange. »Ragnar, das hier ist Histaminum. Sofern deine Beschwerden von einer Allergie herrühren, kann das helfen. Lass die Kügelchen auf der Zunge zergehen.«
»Meinst du wirklich, das bringt was?«, fragte Lena zweifelnd.
»Wir sollten es auf jeden Fall versuchen.« Oma Gisela beobachtete Ragnar dabei, wie er mit zitternder Hand die Globuli nahm, und hielt ihm anschließend ein Glas Wasser hin.
Allein das schien ihn ungemein anzustrengen, aber Lena erkannte nach einigen Minuten, dass er wieder etwas leichter atmete. Auch Oma Giselas besorgte Miene entspannte sich.
»Lena, ich gehe zur Hauptstraße und warte auf den Krankenwagen, sonst suchen die bei unserem chaotischen Hausnummernsystem ewig. Ruf mich an, falls es ihm schlechter geht, ich nehme mein Handy mit.«
»Ja, ist gut«, stimmte Lena zögernd zu. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn ihre Oma hiergeblieben wäre. So konnte sie nur neben Ragnar ausharren und seine Hand halten. Sein Puls raste, und noch immer hob und senkte sich seine Brust nur mühsam. Trotzdem setzte er sich nach einer Weile auf.
»Ich gehe jetzt nach Hause.«
Verdutzt sah Lena ihn an. »Das kannst du nicht.«
»Doch, es muss sein.« Mühsam schwang er seine Beine aus dem Bett, stützte dann jedoch den Kopf in die Hände und stöhnte leise.
»Du brauchst einen Arzt, das musst du doch einsehen.«
»Ich kann in kein Krankenhaus gehen, das halte ich nicht aus. Außerdem … nein.«
Er wollte aufstehen, sackte jedoch wieder zurück.
»Na siehst du!«
»Ich muss hier weg.«
Erschüttert von der tiefen Verzweiflung in seinen Augen, streichelte Lena ihm tröstend über den Rücken.
»In deinem Zustand kannst du unmöglich Motorrad fahren.«
»Dann laufe ich. Wenn ich erst draußen bin, wird es besser.«
Das bezweifelte sie stark, trotzdem spürte sie, wie ernst es ihm war.
»Du musst dich zumindest hier von einem Arzt untersuchen lassen«, beschwor sie ihn.
Doch er schüttelte stur den Kopf. »Bestell den Krankenwagen ab.« Dann sah Ragnar sie flehend an. »Wenn wir Freunde sind, dann hilf mir bitte, hier wegzukommen. Ich kann zu keinem Arzt gehen.«
»Ich … verdammt, was soll ich denn tun?« Lena überlegte hin und her, aber sie traute Ragnar tatsächlich zu, nach Hause zu laufen – zur Not auch auf allen vieren. Nur ihre Großmutter würde sich kaum dazu überreden lassen, den Krankenwagen wieder fortzuschicken.
»Lena, bitte!«
Noch niemals zuvor hatte sie ihn derart panisch gesehen. »Okay, ich hoffe, ich mache jetzt keinen Fehler, aber ich fahre dich nach Hause.« Wenn das herauskam, würde sie einen Riesenärger bekommen, aber sie konnte Ragnar jetzt nicht im Stich lassen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte fasste Lena Ragnar unter den Armen und schaffte es, ihn auf die Füße zu bekommen. Bis sie sich zur Tür vorgearbeitet hatten, war sein Gesicht vor Anstrengung verzerrt.
»Komm, du musst nur bis zur Garage gehen.« Sie fasste ihn um die Hüfte, dann torkelten sie langsam zur Hintertür. Lena konnte hören, wie sich ihre Eltern im Wohnzimmer aufgeregt unterhielten, und hoffte, die beiden würden nichts mitbekommen.
Nach einigen quälenden Minuten hatten sie endlich die Garage erreicht. Ragnar lehnte sich gegen die Wand, und Lena öffnete das Holztor. Zum Glück hatte Oma Gisela immer einen Ersatzschlüssel unter der alten Gießkanne versteckt, und so drehte Lena nach einem tiefen Durchatmen den Schlüssel um und fuhr hinaus. Sie ließ den Motor laufen, rannte ums Auto herum und packte Ragnar, der schon halb zu Boden gesackt war, unter den Armen.
»Verdammt, was tue ich hier eigentlich?«, murmelte sie vor sich hin. »Wahrscheinlich bringe ich ihn gerade um.«
Doch er presste mühsam hervor: »Nein, du rettest mir das Leben.«
Zweifelnd hob Lena die Augenbrauen, dann half sie ihm auf den Beifahrersitz. Aus der Ferne hörte sie schon das Martinshorn und fuhr einen Umweg, um dem Rettungswagen und ihrer Oma nicht zu begegnen. Ständig wanderte ihr Blick zu Ragnar, der zusammengesunken auf dem Sitz saß und seinen Kopf gegen die Tür gelehnt hatte. Was fehlte ihm auf einmal? Und war es wirklich richtig, ihn wegzubringen? Natürlich war ihr Handeln alles andere als vernünftig, aber irgendwie spürte sie, dass er tatsächlich panische Angst vor dem Krankenhaus hatte. Die kurze Fahrt kam ihr wie eine Ewigkeit vor, und nachdem sie endlich vor seiner Hütte angehalten hatten, gelang es ihr kaum, Ragnar aus dem Auto zu hieven.
Draußen auf den Weiden hoben die Pferde ihre Köpfe. Eines der Tiere stieß alarmiert die Luft durch die Nüstern, und auch die anderen hielten mit dem Grasen inne, spitzten die Ohren und lauschten. Etwas war dort, eine Bedrohung, etwas, das sie noch nie zuvor gespürt hatten. Panik brach aus, die Tiere stoben in die unterschiedlichsten Richtungen davon – nur fort von diesen Kreaturen, die sich langsam der Hütte näherten.
»Heute können wir zuschlagen, heute ist er schwach.« Das bösartige Wispern durchschnitt die laue Abendluft, und ein Greifvogel flog hektisch flatternd davon, nachtaktive Tiere suchten eilig das Weite, selbst Würmer und Spinnen verkrochen sich.
»Sie ist bei ihm«, wandte Everon ein.
»Dennoch, wir sollten es versuchen«, schlug Zarod, sein Bruder aus dem Norden, vor. »Heute wird er sich nicht wehren können.«
»Und das Mädchen, darf ich …«, hechelte Luvett.
»Vor Menschen wie ihr müssen wir uns in Acht nehmen«, wies Everon ihn scharf zurecht.
Schritt für Schritt tasteten sich die Schatten voran, begierig auf das, was der junge Mann ihnen ermöglichen mochte. Doch mit einem Mal schrie Zarod in höchster Pein auf, ein Schrei, den kaum ein Mensch vernehmen konnte, so hoch und schrill war er. Everon und Luvett hielten inne, starrten auf die Gestalt in dem Umhang. Gewaltig, düster, einen Bogen in der Hand. Ihr Bruder tat seinen letzten Atemzug, stöhnte und löste sich dann in nichts auf.
Luvett duckte sich, nahm jedoch aus dem Augenwinkel heraus wahr, wie Everon nach dem Speer griff, den er schon seit Tagen bei sich trug. Everon schleuderte ihn direkt in die Richtung ihres Widersachers, dieser versuchte auszuweichen, aber dann traf der Speer ihn doch in die Brust, der eilig abgeschossene Pfeil verfehlte Everon. Der Mann ging zu Boden.
»Sind weitere von ihnen hier?«, jaulte Luvett, sein Kopf zuckte von rechts nach links.
»Ich weiß es nicht, aber wir müssen uns zurückziehen.«
Einen Moment lang war Lena abgelenkt gewesen, hatte gemeint, Schatten im Wald hinter der Hütte zu sehen, einen Schrei zu vernehmen, und noch immer spürte sie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken, aber dann konzentrierte sie sich wieder auf Ragnar, der am ganzen Körper bebte.
»Wo ist dein Schlüssel?«
»Hosentasche.« Er rang nach Luft, schaffte es irgendwie, den Schlüssel hervorzukramen und gab ihn Lena. Nachdem sie Ragnar endlich hineinbugsiert hatte, presste er plötzlich eine Hand vor den Mund.
»Ragnar?«
Ohne zu antworten, stolperte er ins Bad. Eine Weile hörte sie würgende Geräusche und wusste nicht, was sie tun sollte. Kurz darauf vernahm sie laufendes Wasser, dann kam Ragnar zum Glück aus dem Badezimmer geschwankt.
»Jetzt ist es besser«, behauptete er und ließ sich auf sein Bett fallen.
Lena hegte große Zweifel an seiner Aussage, denn er sah völlig erschöpft aus und war kreidebleich im Gesicht.
Er rollte sich zusammen und schloss die Augen. »Fahr nach Hause, ich schlafe jetzt«, murmelte er. »Und danke.«
»Ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen«, protestierte Lena.
»Ich komme zurecht.«
»Nein, ich bleibe.« Entschlossen setzte sie sich neben ihn auf das schmale Bett, und diesmal widersprach er auch nicht mehr.
Zahlreiche Dinge schossen Lena durch den Kopf, denn sie mochte sich gar nicht ausmalen, welcher Ärger auf sie zukam. Trotzdem galt ihre Hauptsorge Ragnar. Inständig hoffte sie, er würde bald wieder gesund werden. Er zog sich die Bettdecke bis unters Kinn, und als Lena ihre Hand auf seine legte, bemerkte sie, wie kalt diese war. »Frierst du?«
Er nickte nur.
»Hast du irgendwo noch eine Decke?«, fragte sie, und als er antwortete, klapperten seine Zähne so heftig, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
»Im Schrank.«
Lena stand auf, ging zu dem schmalen Holzschrank und fand im untersten Fach eine blaue Wolldecke. Nachdem sie ihm diese übergelegt hatte, schlief er kurze Zeit später ein. Aber es war offensichtlich kein erholsamer Schlaf, denn er warf sich unruhig hin und her, redete wirres Zeug, und nach einer Weile setzte auch noch heftiger Schüttelfrost ein.
Lena rüttelte ihn an der Schulter, denn langsam bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. »Ragnar, hörst du mich?«
Nur zögernd hoben sich seine Augenlider. Mit verschleiertem Blick sah er sie an. Für einen Moment hatte sie den Eindruck, er würde sie gar nicht erkennen. Dann kam ein undeutliches »Lena« über seine Lippen.
Vorsichtig wischte sie ihm mit einem Tuch die verschwitzte Stirn ab. »Soll ich nicht doch besser einen Arzt rufen?«
»Nein, bitte nicht.« Ragnar ergriff ihre Hand, hielt sie fest und drehte sich auf die Seite.
Glücklicherweise dauerte es nicht lange, und der Schüttelfrost ließ nach, dann war er wieder eingeschlafen. Inzwischen kletterte der Zeiger der Wanduhr auf Mitternacht zu. Lena beobachtete Ragnar im Schlaf, und auch wenn er hin und wieder leise aufstöhnte und ihre Hand eisern umklammert hielt, so schien doch das Schlimmste vorüber zu sein. Sie selbst verspürte inzwischen eine bleierne Müdigkeit, zwang sich jedoch, wach zu bleiben.
Gavin spürte, wie das Gift mehr und mehr seinen Körper durchdrang, wie ihn die Lebenskraft unweigerlich verließ. Die Verletzung durch den Speer hätte er überlebt, nicht aber dieses Gift. Also sind sie wirklich hier, können uns auch hier besiegen, dachte er. Mühsam rappelte er sich auf und schleppte sich durch den Wald zu den ihm fremden Behausungen. Jeder seiner Schritte war eine Qual, und als er endlich das Haus erreichte, das er gesucht hatte, kam es ihm so vor, als wäre eine endlose Zeit vergangen. Kraftlos klopfte er an das Fenster, stöhnte auf, ließ sich auf die kalte Erde sinken. Schließlich tauchte ein menschliches Gesicht vor ihm auf. »Wächter«, keuchte er, »die Schatten, ihr müsst euch schützen … die Hütte am Wald … bei den Pferden … der …«
Das Leben wich aus seinem Körper, die letzten Worte kamen nicht mehr über seine Lippen. Voller Trauer dachte er an seine Heimat, die er nun nie mehr wiedersehen würde, und an den, der mit seiner Seele verbunden war.
Lena strich Ragnar eine Haarsträhne aus der Stirn und traute sich nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Hin und wieder sank ihr Kopf auf die Brust, und als plötzlich ein Hahn krähte, schoss sie erschrocken hoch. Draußen war es inzwischen hell geworden. Ragnar lag ruhig und gleichmäßig atmend unter seinen Decken. Völlig steif von der unbequemen Position, in der sie eingenickt war, schüttelte Lena ihre Arme aus. Zudem konnte sie kaum aufstehen, weil ihr rechtes Bein ganz taub war. Sie stützte sich am Tisch ab, aber das Bein knickte einfach weg, und als sie sich festhalten wollte, fiel ein Glas scheppernd zu Boden.
Ragnar regte sich, blinzelte und murmelte mit heiserer Stimme: »Lena?«
»Tut mir leid, schlaf weiter.«
Für einen Moment sackten seine Augenlider nach unten, aber schließlich hob er den Kopf. »Was tust du hier?«, fragte er verwundert.
Um wieder ein Gefühl in ihren Unterschenkel zu bekommen, klopfte sie auf diesem herum. »Ich habe dich gestern nach Hause gebracht, kannst du dich nicht erinnern?«
»Bist du etwa die ganze Nacht hiergeblieben?«
»Na hör mal, ich konnte dich doch nicht allein lassen. Wenn jetzt wieder irgendein blöder Spruch kommt …«
Hastig streckte er die Hand in die Höhe und ließ sich mit gequältem Gesichtsausdruck wieder zurücksinken, schloss kurz die Augen und sagte dann: »Nein, Lena. Es war sehr lieb von dir, dass du bei mir geblieben bist.«
»Wie fühlst du dich?« Lena betrachtete ihn besorgt.
»Als wäre ein Lastwagen über mich gerollt«, meinte er mit verzogenem Gesicht.
»Ragnar.« Sie setzte sich zu ihm ans Bett. »Weshalb wolltest du keinen Arzt? Ich denke immer noch, es wäre besser, jemand würde dich untersuchen. Du siehst echt übel aus.«
»Vielen Dank«, grummelte er, drehte sich auf die Seite und sah sie mit großen Augen an, die tief in den Höhlen lagen.
»Sie hätten mich untersucht, wochenlang im Krankenhaus behalten – und du weißt, wie schlimm es für mich ist, in diesen Betonbunkern eingesperrt zu sein.«
»Wer sagt denn, dass du wochenlang …«
Ragnar unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. »Ich habe schon seit meiner Kindheit einen Herzfehler.«
»Ja bist du denn wahnsinnig?«, fuhr sie ihn erschrocken an. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich niemals hierhergebracht. Verdammt, wenn du hier gestorben wärst …«
»Deshalb habe ich auch nichts gesagt«, er fasste sie beruhigend am Arm, »und jetzt lass mich doch bitte ausreden.«
Kopfschüttelnd betrachtete sie ihn, nickte schließlich jedoch.
»Ich habe einen Herzfehler, aber der beeinträchtigt mich in keiner Weise.« Er lachte leise auf. »Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, ich bin ausdauernder und gesünder als die meisten Menschen, die ich kenne. Nur glaubt mir das kein Arzt. Ich bin eine Art medizinisches Wunder, denn man hat meinen Eltern, als ich klein war, prophezeit, dass ich vermutlich nicht sehr alt werden würde. Mein Vater hatte das gleiche Problem, doch auch er führte ein normales Leben. In meinem Blut ist deutlich mehr Sauerstoff und Eisen, als es normalerweise der Fall sein sollte, trotzdem kann ich ganz normal leben.«
»Und was war das gestern Abend?«, fragte Lena unsicher.
»Das weiß ich nicht«, räumte Ragnar ein. »Es hat mir selbst Angst gemacht, aber möglicherweise hat deine Großmutter Recht, und ich habe irgendetwas nicht vertragen.«
»Bist du sicher, dass du nicht … keine Ahnung … einen Herzinfarkt oder so was hattest?«
»Nein, ganz sicher nicht.« Er lächelte beruhigend.
»Aber dieser Herzfehler – das ist doch seltsam.«
Ragnar nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Sie runzelte die Stirn, als sie seinen Herzschlag spürte. Bum – Bum – Bumbumbumm. Sein Herz schlug sehr viel stärker, kräftiger und in diesem ungewöhnlichen Takt. Lena sah ihn mit großen Augen an, aber er versicherte: »Mir geht es gut, und ich bin normalerweise sogar deutlich weniger krank als andere Menschen.«
»Puh, ich weiß nicht.«
Lena nahm ihre Hand weg, und nun versuchte er noch einmal, sich zu erheben. »Wie spät ist es?«
»Kurz vor sieben.«
»Gut, dann habe ich noch eine halbe Stunde Zeit.«
»Für was?«
»Ins Bad zu gehen, dann muss ich arbeiten.«
»Ragnar!« Entsetzt schüttelte Lena den Kopf. »Du warst gestern halb tot und bist nicht einmal in der Lage, aufrecht stehen zu bleiben. Da kannst du doch nicht zwanzig Pferdeboxen ausmisten.«
»Es muss aber gehen.« Er schwankte auf die Badtür zu, keuchte jedoch schon nach den wenigen Schritten, als hätte er einen Marathon hinter sich.
»Du kannst unmöglich …« Ohne auf Lena zu hören, schloss er die Tür hinter sich, und sie warf ihm ein Kissen hinterher.
»Der Typ macht mich wahnsinnig!«
In dem kleinen Kühlschrank fand sie ein paar Scheiben Käse, Wurst und ein halbes Glas Marmelade, doch offenbar hatte er kein Brot im Haus. Sie hörte, wie das Wasser aufgedreht wurde, dann ein lautes Poltern. »Ist alles in Ordnung?« Sie lauschte an der Tür und vernahm ein halbherziges: »Hm.«
»Soll ich dir helfen?«
»Nein!«
Sie verdrehte die Augen, und als ein paar Minuten später Ragnar, lediglich mit einem Handtuch bekleidet, aus dem Bad kam, prangte eine beachtliche Beule an seiner linken Schläfe.
»Autsch.« Mitleidig verzog sie das Gesicht, dann stemmte sie die Hände in die Hüften. »Ich nehme an, du siehst jetzt ein, dass du dich krankmelden musst.«
»Ich bin nur ausgerutscht.« Er torkelte zum Bett zurück und ließ sich auf der Bettkante nieder.
»Du bist nichts als ein sturer Idiot«, regte sie sich auf. »Ich gehe jetzt zu Herrn Gruber und erkläre ihm, dass du nicht arbeiten kannst.«
»Nein, Lena, warte. Heute ist nicht mein freier Tag.«
»Selbst ein Blinder mit Krückstock sieht, dass du nicht blaumachst.«
»Blau?« Ragnar rieb sich die Schläfen.
»Na ja, dass du eben nicht die Arbeit schwänzt.« Sie sah ihn von der Seite an. »Brauchst du eine Kopfschmerztablette?«
»Wäre nicht schlecht. Nur leider habe ich keine hier.«
Sie trat zu ihm und fasste ihn energisch an den Schultern. »Ich versuche, irgendwo im Dorf Brot aufzutreiben, dann melde ich dich bei Herrn Gruber krank.«
»Lena, ich habe keinen Vertrag. Wenn ich nicht arbeite, bekomme ich kein Geld, und vielleicht entlässt er mich.«
»Oh, Shit, du arbeitest schwarz.« Sie blies die Backen auf. »Egal, ich spreche mit Herrn Gruber. Er ist doch ganz nett, sicher entlässt er dich nicht gleich. Und auf jeden Fall musst du etwas essen.«
»Ich bin nicht hungrig.« Sichtlich erschöpft legte er sich auf die Seite.
»Keine Widerrede, du musst wieder zu Kräften kommen.« Drohend wedelte sie mit dem Finger. »Du bewegst dich nicht von der Stelle, bis ich wieder zurück bin.«
Vom Bett her kam lediglich ein undeutliches Murmeln, und auch wenn Lena sicher war, dass er nicht weit kommen würde, wusste man bei Ragnar ja nie. Daher nahm sie den Schlüssel, der neben der Tür hing, und schloss ihn kurzerhand ein. Dann rannte sie zum nahegelegenen Gasthof und kaufte einen Laib Brot, außerdem konnte ihr der Gastwirt mit einer Kopfschmerztablette aushelfen. Zurück auf dem Reiterhof suchte Lena nach Herrn Gruber, doch zu ihrem Bedauern war lediglich Regine anwesend.
»Hast du Herrn Gruber gesehen?«
»Der ist heute nicht da«, blaffte die Reitlehrerin sie an. Dann hob sie arrogant den Kopf. »Heute habe ich die Verantwortung.«
»Mist.« Lena runzelte die Stirn. »Ragnar ist krank, er kann nicht arbeiten.«
Regines Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Und wer soll dann bitte die Ställe ausmisten?«
»Keine Ahnung. Dann werden sie heute eben nicht ausgemistet«, sagte Lena leichthin.
»Du hast sie wohl nicht alle!«, schrie Regine sie an. »Die Leute zahlen hier schließlich, und nur weil der faule Kerl sich einen schönen Tag machen will …«
»Er will sich aber keinen schönen Tag machen!« Lena trat auf die gut einen Kopf größere Frau zu, und diese wich unwillkürlich zurück. Vermutlich spürte selbst sie, dass Lena jetzt der Kragen platzte. »Ragnar kann nicht arbeiten – er ist krank!«
Nach einem Moment der Verwunderung stemmte Regine die Hände in die Hüften. »Dann sollte er besser schnell gesund werden, denn wenn er nicht in die Gänge kommt, zeige ich ihn an. Vermutlich hat er nicht mal eine Aufenthaltsgenehmigung.«
Lena überlegte, ob man als Isländer überhaupt eine Aufenthaltsgenehmigung benötigte, war sich aber nicht völlig sicher, um Regine Paroli zu bieten. Trotzdem ließ sie sich nicht einschüchtern. »Herr Gruber bekommt allerdings ebenfalls Ärger, wenn er die Leute illegal beschäftigt.«
»Du kleine, unverschämte …«, plusterte sich Regine auf.
Doch Lena fiel ihr ins Wort. »Wenn du jemand Unverschämten sehen willst, dann schau mal in den Spiegel!«
Regine lief knallrot an, schnappte nach Luft, dann holte sie demonstrativ ihr Handy hervor. »Gut, wenn du nicht anders willst.«
Wie kann man nur so garstig sein?, dachte Lena. Laut rief sie: »Warte!«
Zufrieden zog Regine ihre dünnen Augenbrauen nach oben.
»Ich miste für ihn die Ställe aus«, sagte Lena resigniert.
»Du?« Regines abschätzender Blick traf sie. »Na, von mir aus. Aber streng dich an.« Damit stolzierte sie davon.
»Dämliche Ziege«, knurrte Lena ihr hinterher, dann beeilte sie sich, zu Ragnar zurückzugehen. Sie schloss die Tür auf und rechnete schon damit, von ihm angefahren zu werden, weil sie ihn eingesperrt hatte, aber er schlief tief und fest. Offenbar hatte er es gerade noch geschafft, sich eine frische Jeans anzuziehen, das T-Shirt lag noch neben ihm. Interessiert betrachtete sie seinen muskulösen Oberkörper und die wenigen dunklen Haare auf der Brust. Sein Gesichtsausdruck war erschöpft, aber entspannt, und als sie sah, dass er an den Unterarmen Gänsehaut hatte, deckte sie ihn vorsichtig zu.
»Du bist schon ein verrückter Typ«, seufzte sie leise, legte das Brot auf den Tisch und ging dann hinaus, um mit dem Ausmisten zu beginnen.
Lena benötigte den ganzen Vormittag dazu. Zwischendrin sah sie immer wieder nach Ragnar, aber der schlief weiterhin und wachte nicht auf, wenn sie hereinkam. Am Ende spürte sie jeden einzelnen Muskel an den Oberarmen.
Ein Blick auf ihr Smartphone zeigte eine ganze Reihe von Anrufen an, meist von ihren Eltern und ihrer Oma. Voller Unbehagen dachte sie daran, dass sie eigentlich schon längst hätte zuhause sein müssen.
Als Lena wieder in die Holzhütte trat, war Ragnar anscheinend soeben aufgewacht. Er streckte sich. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Fühlst du dich besser?«, fragte sie, statt eine Antwort zu geben, und hielt ihm ein belegtes Brot hin.
Widerwillig nahm er es in die Hand. »Jetzt sag schon, wie spät es ist.« Mühsam drehte er sich um und erschrak, als er die Uhr erblickte. »Verdammt, ich …«
»Bleib liegen«, befahl Lena und drückte ihm eine Hand auf die Brust, denn er hatte sich ruckartig aufgesetzt. »Ich habe deine Arbeit erledigt«, beruhigte sie ihn und zog hastig ihre Hand zurück.
»Wirklich?« Er stieß die Luft heftig durch die Nase aus, lehnte sich an die Wand und beäugte Lena ein wenig verblüfft. »Vielen Dank, das ist sehr nett von dir.«
»Ja, ja, heute hatte ich meinen guten Tag.« Energisch deutete sie auf das Brot. »Jetzt iss.«
Mit einem Seufzen biss er in sein spätes Frühstück, kaute zunächst lustlos darauf herum, ließ sich dann jedoch noch zu einer weiteren Scheibe und einer Tasse Tee überreden.
Als Lena bemerkte, wie sein Gesicht endlich eine halbwegs gesunde Farbe annahm, war sie mehr als erleichtert.
»Meinst du, ich kann dich allein lassen? Ich müsste dringend nach Hause.«
»Natürlich kannst du das.« Plötzlich riss er erschrocken die Augen auf. »Verdammt, Lena, du bist mit dem Auto deiner Großmutter gefahren und hast gar keinen Führerschein. Ich hoffe, du bekommst keinen allzu großen Ärger.«
Auch wenn sie inzwischen einen dicken Klumpen in ihrem Magen spürte, winkte sie ab. »Das wird schon nicht so schlimm. Aber Ragnar«, sie blickte ihm eindringlich in die Augen, »ich weiß, du magst keine Handys. Bitte nimm trotzdem meins und gib mir Bescheid, sollte es dir später wieder nicht gut gehen. Dort drüben auf der Fensterbank hast du Empfang.« Lena legte ihr Smartphone auf die genannte Stelle. »Zuhause habe ich noch ein altes Handy, ich habe die Nummer eingespeichert.«
Zu ihrer Erleichterung nickte er zustimmend, erhob sich und kam mit wackeligen Schritten auf sie zu. »Ich bin dir wirklich dankbar. Es ist schön, gute Freunde zu haben.« Überraschenderweise umarmte er sie, und sie erwiderte diese Umarmung gerührt.
»Pass auf dich auf, und bitte ruf mich später noch einmal an.«
Ragnar zwinkerte ihr zu. »Falls dich deine Eltern in einen Kerker sperren, werde ich mit Comet kommen und dich befreien.«
»Mein Ritter auf seinem weißen Pferd.« Lena verbeugte sich übertrieben, dann drohte sie ihm spaßhaft mit dem Finger. »Aber erst morgen. Heute bleibst du im Bett.«
»Sehr wohl!« Er neigte den Kopf und öffnete ihr die Tür.
Bevor Lena hinaustrat, zögerte sie, betrachtete Ragnar abermals voller Sorge, aber er drückte ihre Hand.
»Du hast viel für mich getan, doch jetzt komme ich allein zurecht.«
»Okay.« Lena war beinahe zur Tür hinaus, als sie sich noch einmal umdrehte. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Welchen?«
»Wenn du schon zu keinem Arzt willst, würdest du dich dann von meiner Oma untersuchen lassen?«
»Weshalb von deiner Oma?«, erkundigte er sich skeptisch.
»Sie ist eine Art Naturheilerin und hat schon vielen Menschen geholfen.«
Ein paar Sekunden lang sah Ragnar sie stumm an, schließlich neigte er den Kopf. »Gut, ich denke, das würde mir nicht schaden.«
»Das freut mich.«
Da Lena nicht noch einmal ohne Führerschein fahren wollte, joggte sie los, um Katrin zu fragen, ob diese sie nach Hause fahren konnte.
Zum Glück traf sie ihre Freundin auch an, und Katrin erklärte sich sofort dazu bereit. »Sag mal, du siehst aber verdammt fertig aus«, meinte sie unterwegs.
Erschöpft sank Lenas Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. »Das war vielleicht eine verrückte Nacht. Und jetzt erwartet mich eine Standpauke der besonderen Art.«
»Warst du heimlich weg?«, erkundigte sich ihre Freundin gespannt.
»Viel schlimmer.«
Sie waren schon am Haus von Lenas Oma angekommen.
»Du, ich erzähl’s dir ein anderes Mal – sofern ich den heutigen Tag überlebe.«
Lachend drückte Katrin ihre Schulter. »Es wird schon nicht so schlimm werden. Mach’s gut.«
Mit jedem Schritt, den Lena auf das niedrige Fachwerkhaus zuging, verdichtete sich der Klumpen in ihrem Magen. Sie hatte nicht einmal richtig aufgesperrt, als sich die Tür öffnete und ihre Mutter sie mit wütender Miene ins Haus zerrte.
»Was fällt dir eigentlich ein?«, schrie sie los, und für einen Moment glaubte Lena, ihre Mutter würde ihr eine Ohrfeige verpassen.
»Mama, ich …«
»Komm sofort in die Küche.« Energisch schob Manuela sie in den Nebenraum, wo ihr Vater und zu allem Unheil auch noch ihre Schwester wie das Jüngste Gericht hinter dem Küchentisch saßen. Auch das Gesicht von Oma Gisela war ungewohnt ernst.
»Wie geht es dem Jungen?«, fragte diese jedoch zunächst.
»Besser«, grummelte Lena und senkte den Blick.
»Weißt du eigentlich, was ein unnützer Krankenwageneinsatz kostet?«, polterte ihr Vater los. »Die halbe Nachbarschaft war heute hier und wollte wissen, was los war. Außerdem bist du ohne Führerschein gefahren – wenn dich jemand gesehen hat!«
»Wenn die Nachbarn dein einziges Problem sind …« Lena verschränkte die Arme vor der Brust, aber ihr Vater fuhr schon zornig fort.
»Ich musste die Sanitäter ganz schön beschwichtigen, und das Geld …«
»Verdammt, Papa!« Tränen schossen in Lenas Augen. Sie war furchtbar erschöpft von letzter Nacht und den Sorgen um Ragnar und hatte jetzt einfach keine Nerven mehr für Anschuldigungen. »Ich bezahle den verfluchten Krankenwagen.«
»Und von was bitte?«, erkundigte sich Ramona spitz.
»Notfalls mache ich halt noch ein paar Sozialstunden mehr im Altenheim«, schrie Lena, »darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Sie floh aus der Küche in ihr Zimmer, knallte die Tür zu und warf sich aufs Bett, dann heulte sie hemmungslos.
Als es kurze Zeit später klopfte, antwortete sie nicht, denn sie wollte niemanden sehen. Trotzdem öffnete ihre Oma die Tür einen Spalt breit. »Lena, darf ich reinkommen?«
Zwar konnte sie sich nicht zu einer Antwort durchringen, aber sie protestierte auch nicht.
Oma Gisela setzte sich neben sie auf das Bett und streichelte über ihre Haare. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Oma«, Lena schluchzte leise und drehte sich um, »ich kann dir das nicht wirklich erklären, aber Ragnar wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus, und er hat mich angefleht, ihn von hier wegzubringen. Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen, sonst hätte ich dein Auto niemals genommen. Aber ich konnte ihn doch nicht nach Hause laufen lassen. Das hätte er nicht geschafft.«
»Lena, mit einem allergischen Schock ist nicht zu spaßen«, entgegnete Oma Gisela.
Wenngleich Lena durchaus klar war, wie verrückt das alles klingen musste, erzählte sie ihrer Großmutter nun von Ragnars Problem, sich längere Zeit in geschlossenen Gebäuden aufzuhalten, und auch wenn ihre Oma zunächst skeptisch die Stirn runzelte, hörte sie dennoch zu und unterbrach sie auch nicht.
Am Ende fuhr sich ihre Großmutter durch die grauen Haare. »Also, so etwas habe ich noch nie gehört.«
»Ich denke mir das nicht aus. Ragnar ist … irgendwie anders.«
»Das habe ich auch schon bemerkt«, stimmte Oma Gisela zu, dann lächelte sie. »Aber ich mag ungewöhnliche Menschen.«
»Er hatte richtiggehend Panik, in ein Krankenhaus zu gehen.«
»Viele Menschen haben Angst davor, und ich kann das verstehen, aber gestern hätte ich ihn dennoch lieber unter ärztlicher Aufsicht gewusst.«
Auf einmal sprang Lena auf, kramte hektisch in ihrer Nachttischschublade und hängte ihr altes Handy ans Ladegerät. Erleichtert stellte sie fest, dass Ragnar noch nicht angerufen hatte. »Ich auch, doch ich habe erlebt, wie unwohl er sich zum Beispiel im Altenheim gefühlt hat. Das ist nicht gespielt.«
»Möglicherweise eine extreme Form von Klaustrophobie«, murmelte ihre Oma vor sich hin.
»Er hat zugestimmt, sich von dir untersuchen zu lassen«, erwähnte Lena. »Vielleicht kannst du herausfinden, ob er tatsächlich gegen irgendetwas allergisch ist.« Dann zögerte sie. »Nur leider hat er nicht so viel Geld, und …«
»Das ist nicht so schlimm«, winkte Oma Gisela ab. »Vielleicht findet Ragnar ja mal Zeit, mir im Garten zur Hand zu gehen. Dein lieber Vater weiß sich meist aus der Affäre zu ziehen, wenn es um Gartenarbeit geht.«
»Das wird Ragnar sicher tun«, freute sich Lena und nahm die Hand ihrer Großmutter in ihre. »Es tut mir ehrlich leid mit deinem Auto. Wenn ich eine andere Möglichkeit gehabt hätte, wäre ich nicht gefahren.«
»Ach Lena«, Oma Gisela nahm sie in den Arm. »Ich weiß nicht, warum, aber ich kann dir einfach nicht böse sein.« Sie nahm Lena bei den Schultern und sah ihr in die Augen. »Auf jeden Fall finde ich es schön, dass ihr so gute Freunde geworden seid.«
»Das finde ich auch«, stimmte Lena zu.