Kapitel 17

Gefahr in den Wäldern

Obwohl Lenas Eltern, nach einem vermittelnden Gespräch mit Oma Gisela, ihr keine offenen Vorwürfe mehr machten, so spürte sie doch die anklagenden Blicke und fühlte sich unbehaglich zuhause. Schon nach einer Stunde rief sie bei Ragnar an, und dieser versicherte ihr, wenn auch mit müder Stimme, es gehe ihm gut. Gegen Abend klopfte ihre Oma abermals an ihre Tür.

»Ich möchte mein Auto holen. Begleitest du mich?«

»Fährt Papa dich?«

»Nein.« Oma Gisela legte den Kopf schief. »Ich dachte, wir laufen durch den Wald. Vermutlich würdest du gerne noch einmal nach ihm sehen.«

»Ja, da hast du Recht.« Lena lächelte zustimmend. Dann zog sie ihre Turnschuhe an und begleitete Oma Gisela auf den schmalen Pfaden durch den Wald.

»Das haben wir schon lange nicht mehr getan.«

»Was meinst du?« Gedankenverloren war Lena neben ihrer Großmutter hergewandert.

»Gemeinsam im Wald spazieren gehen. Als kleines Mädchen hast du mich immer gerne beim Kräutersammeln begleitet.«

»Ja, wohl wahr«, gab Lena zu, dann grinste sie. »Ist schon lange her.«

Oma Gisela wandte sich ihr zu, dann betrachtete sie Lena eindringlich. »Ich finde es schön, dass du dank Ragnar wieder mehr in der Natur unternimmst.«

»Das Reiten macht mir jetzt richtig Spaß und …« Weiter kam Lena nicht, denn ihre Großmutter hielt sie am Arm fest und starrte angestrengt ins dichte Unterholz.

»Was ist?«, wollte sie wissen, aber ihre Oma legte einen Finger an die Lippen.

Plötzlich überkam Lena ein seltsames Gefühl. Die feinen Härchen an ihrem Unterarm stellten sich auf, ihr Puls beschleunigte sich.

»Sollen wir nicht besser weitergehen?«, flüsterte Lena.

Doch die Augen ihrer Großmutter hafteten auf dem Dickicht, dann bückte sie sich und griff nach einem Stock. Kurz darauf nuschelte sie ein paar Worte, die Lena nicht verstand, und ritzte dabei irgendetwas in den Boden.

Lena vernahm ein Knurren, sah eine Bewegung – und genau in diesem Moment verflog das mulmige Gefühl.

Auch Oma Gisela entspannte sich.

»Was hast du denn gemacht?« Lena blickte auf den Boden und betrachtete den Kreis, der von zwei senkrechten Linien durchkreuzt wurde.

»Ein Schutzzeichen – es wehrt das Böse ab.«

»Was?«, lachte Lena. »Ist das wieder dein Hexenhumbug?«

»Nenn es Humbug, wenn du meinst, aber schon die Druiden wussten um die Kraft gewisser magischer Symbole.« Noch einmal wanderte der Blick der alten Frau in den Wald. »Du hast doch auch gespürt, dass dort etwas war, oder willst du das bestreiten?«

»Wahrscheinlich ein Reh. Oder dieser seltsame Fuchs, den ich neulich gesehen habe.«

»Was war mit dem Fuchs?«

»Ich weiß nicht.« Bei der Erinnerung daran erschauderte sie. »Er war seltsam. Ich habe schon überlegt, ob er vielleicht Tollwut hatte.«

»Dann sollten wir besser den Jäger anrufen«, murmelte ihre Großmutter, »obwohl schon seit Jahren keine Fälle von Tollwut mehr aufgetreten sind.« Sanft schob sie ihre Enkelin weiter. »Komm jetzt, sonst wird es dunkel. Außerdem habe ich heute noch einiges zu tun.«

Während sie durch den Wald gingen, wurden die Schatten länger. Düsternis senkte sich über die Bäume und Büsche, und Lena war heilfroh, als sie endlich Ragnars Hütte erreichten. Vor ihrer Oma hatte sie es nicht eingestehen wollen, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, war zurückgekehrt. Doch sie war kein kleines Kind mehr, und an ihre eigenartige Gabe, Geister zu sehen, wollte sie gleich gar nicht denken, daher verdrängte sie eilig alle Gedanken daran.

»Ragnar? Bist du da?« Lena klopfte an die Tür, bekam aber keine Antwort. »Vielleicht schläft er.«

»Wir sollten besser nachsehen.« Oma Gisela fackelte nicht lange und blickte zum Fenster hinein, das zu den Weiden zeigte.

Doch da kam Ragnar langsam den Weg herauf und stutzte kurz, als er sie entdeckte. Dennoch erhellte ein leichtes Lächeln sein noch immer blasses, schmales Gesicht.

»Heute hatte ich gar nicht mehr mit Besuch gerechnet.«

Oma Gisela betrachtete ihn eingehend. »Ich bin froh, dich wieder auf den Beinen zu sehen.«

»Und ich erst«, seufzte Lena, dann sah sie ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Ich hoffe, du hast dich nicht von dieser Sklaventreiberin Regine zum Arbeiten überreden lassen.«

»Nein«, versicherte er, »du hast mich ja würdig vertreten. Ich war nur ein Stück spazieren. Wenn ich draußen in der Natur bin, erhole ich mich am besten.« Sein Blick suchte den Waldrand ab, dann fügte er kaum hörbar hinzu: »Meistens jedenfalls.«

»Lena, die freiwillig den Stall ausmistet – es geschehen Zeichen und Wunder«, war Oma Giselas Kommentar, woraufhin Lena verlegen auf ihre Füße starrte.

»Wir wollten nur das Auto abholen«, erklärte sie rasch.

»Ach so.« Ragnar holte Lenas Smartphone aus seiner Hosentasche. »Du kannst es zurückhaben.«

»Nein, behalte es nur, ich habe ja noch eins.«

»So, jetzt falle ich aber völlig vom Glauben ab«, lachte Oma Gisela. »Lena, ich hoffe, du bist nicht auch noch krank, oder die richtige Lena wurde von Aliens entführt, und vor uns steht lediglich ein Klon!«

Als ihre Großmutter ihr eine Hand auf die Stirn legte, schob Lena sie ungeduldig zur Seite. »Was soll das denn?«

»Na ja, dein heiliges Smartphone! Ich dachte nicht, dich jemals wieder ohne das Ding zu sehen.«

Während Ragnar leise lachte, eilte Lena zu der orangefarbenen Ente. »Du hast doch gesagt, du hast noch was zu tun, Oma, also komm.«

»Bis bald, Lena.« Ragnar hob die Hand zum Gruß, und Lena winkte zurück, dann wartete sie auf ihre Großmutter, die noch einige Worte mit Ragnar wechselte. Lena hoffte, sie würde nicht weitere Peinlichkeiten von sich geben.

»Er kommt übermorgen zu mir, dann werde ich mal sehen, ob ich einen Grund für seinen seltsamen Zusammenbruch finde«, erklärte Oma Gisela, nachdem sie sich hinters Steuer gesetzt hatte.

Am übernächsten Nachmittag kam Lena von der Arbeit nach Hause und fand Oma Gisela in der Küche vor.

»Viele Grüße von Ragnar. Er hat gefragt, ob du später noch mit ihm ausreiten möchtest.«

»Oh, danke.« Lena nahm sich ein Glas Wasser. »Hast du ihn behandelt?«

Oma Gisela nickte mit ernstem Gesicht. »Bedauerlicherweise konnte ich nicht herausfinden, was ihm fehlt, aber ich habe ihm ein paar Kräuter mitgegeben, denn irgendetwas hat ihn massiv geschwächt.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch niemals zuvor habe ich allerdings jemanden mit einer derart starken Aura getroffen – das ist ungewöhnlich. Dennoch … Ich habe auch etwas Düsteres an ihm gespürt, ein Geheimnis oder etwas, das ihn sehr beschäftigt und belastet. Ich weiß auch nicht …«

»Du mit deiner Aura!«, rief Lena.

Ihre Großmutter behauptete, die Aura der Menschen sehen zu können, jenen Schild, der angeblich jeden umgab und der mal stärker, mal schwächer ausgeprägt war. Sie war auch der unumstößlichen Meinung, Lena verfüge über eine starke Aura, die jedoch noch nicht voll ausgebildet sei. Auch wenn Lena die Heilerfolge ihrer Großmutter schon häufig miterlebt hatte, so glaubte sie nicht wirklich an diese Sache mit der Aura.

Doch Oma Gisela war nicht beleidigt – das war sie nie, wenn jemand ihre Arbeit infrage stellte.

»Mein Schatz, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …«

»Ja, ja, ich weiß.« Lena schnitt sich eine dicke Scheibe Brot ab und belegte sie mit Käse. »Dann geh ich mal ausreiten.«

»Lena, tu mir den Gefallen und nimm die Straße«, bat ihre Großmutter.

»Weshalb das denn? Durch den Wald ist es viel kürzer, und inzwischen kenne ich den Weg ja.«

»Es wäre mir lieber«, druckste Oma Gisela herum, dann räusperte sie sich. »Du hast doch selbst gesagt, du hättest möglicherweise einen tollwütigen Fuchs gesehen.«

»Hm, na ja, stimmt schon.« Lena zuckte mit den Schultern, dann ging sie in ihr Zimmer, zog sich um und packte anschließend ihr Fahrrad. Sie war schon auf dem Weg zur Hauptstraße, aber dann bog sie doch rechts in den Feldweg ein.

Blödsinn, der dämliche Fuchs wird mir schon nicht über den Weg laufen, dachte sie und strampelte los.

Im Wald war es kühl und ruhig. Eine Gruppe Wanderer kam ihr entgegen, die Lena freundlich grüßte. Plötzlich klingelte ihr Handy – Ragnar war am anderen Ende.

»Ja, ich bin gleich da, vielleicht noch fünf Minuten«, keuchte sie, hörte für einen Moment zu und meinte dann: »Super, wenn du schon sattelst, können wir sofort los.«

Sie trat in die Pedale und kam gerade rechtzeitig, als Ragnar Comet den Sattel auflegte. Erfreut stellte sie fest, dass Ragnar wieder gesund und munter aussah. Nach einem kurzen Plausch stiegen sie auf und ritten in der warmen Nachmittagssonne erst ein Stück durch den Wald, dann über die abgeernteten Felder der Jurahochebene. Lena erfreute sich an dem raschen Galopp, als ihre Pferde über das Stoppelfeld jagten. Sie feuerte den kleinen Fuchswallach an und hatte am Ende sogar eine Länge Vorsprung zu Ragnar und seinem Pferd.

»Diesmal kannst du aber nicht leugnen, dass wir schneller waren«, lachte sie.

»Nein.« Er zwinkerte ihr zu, dann ließen sie die Pferde in gemächlichem Schritt verschnaufen.

Auf einer grasbewachsenen Lichtung hielt Ragnar an. »Falls es dir nichts ausmacht, zehn Minuten zu laufen, könnten wir die Pferde gleich auf die Weide bringen. Sie sollen hierbleiben und das letzte Gras abfressen.«

Ein Blick auf die Uhr zeigte Lena, dass es erst halb sechs war. »Ja, das können wir machen.«

Sie stiegen ab, und kaum hatten sie die beiden Pferde von Sattel und Zaumzeug befreit, begannen die Tiere genüsslich das noch immer saftige Spätsommergras zu rupfen. Ragnar legte sich ins Gras und lehnte seinen Kopf gegen den Sattel.

Er klopfte mit der flachen Hand auf den Boden, woraufhin sich Lena neben ihm auf die Erde setzte. Sein Blick schweifte über den von weißen Schäfchenwolken bedeckten Himmel. »Sieh mal, die eine ähnelt einem Drachen.«

Lena kniff die Augen zusammen, dann erkannte sie, was er meinte. Mit etwas gutem Willen konnte man tatsächlich einen großen Kopf mit Hörnern und einem geöffneten Maul in den Wolkenformationen ausmachen.

»Hast du das von deiner isländischen Großmutter?«, fragte sie.

»Was meinst du?«

»Na, diese Fantasie. Ich glaube, ich kenne niemanden außer dir, der Drachen in Wolken sieht.«

»Ich bin eben nicht wie jeder.«

»Nein, wirklich nicht«, stimmte sie lachend zu, dann drehte sie sich zu ihm. »Da wir gerade bei deiner Oma sind, vor lauter Aufregung haben wir gar nicht mehr richtig nach dem Schatz gesucht.«

»Das stimmt.« Nun wandte er ihr seinen Kopf zu. »Möglicherweise haben wir aber etwas sehr viel Wertvolleres gefunden.«

»Was denn?«, wunderte sich Lena.

»Freundschaft.« Ragnar sah ihr ganz tief in die Augen.

Auf einmal spürte Lena ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Inneren. Ein warmes, nie da gewesenes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie betrachtete Ragnar, der neben ihr im Gras lag, zu ihr herübersah, in einem Mundwinkel einen langen Grashalm, das rechte Bein angewinkelt auf das linke gelegt. Ja, im Laufe der letzten Zeit waren sie tatsächlich Freunde geworden, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, sich ein Leben ohne ihn inzwischen gar nicht mehr vorstellen zu können.

»Ja«, antwortete sie. »Am Anfang haben wir nur miteinander gestritten, aber jetzt macht es Spaß, etwas mit dir zu unternehmen.«

»Unsere Gabe verbindet uns.«

Auf der Stelle verfinsterte sich Lenas Gesicht. »Die Geister.«

»Daran ist nichts Schlimmes«, versicherte er ihr erneut.

»Hm.« Eigentlich wollte sie lieber überhaupt nicht mehr daran denken, aber sie wurde ohnehin für einen Moment abgelenkt, denn die beiden Pferde hatten mit dem Grasen innegehalten, die Köpfe erhoben und blickten in eine ganz bestimmte Richtung.

»Was haben sie denn?«

»Die meisten Pferde können ebenfalls Geister sehen.«

»Tatsächlich?«, staunte Lena, dann fügte sie unbehaglich hinzu: »Und dort drüben ist einer?«

Ragnar nickte. »Der Geist eines Bären.«

»Wirklich?« Zögernd nahm Lena Ragnars ausgestreckte Hand, denn ein Geisterbär wirkte auf sie seltsamerweise weniger bedrohlich als ein Mensch.

Sie spürte ein Kribbeln, als sie Ragnar berührte, dann sah sie das Tier. Groß, majestätisch stand er einige hundert Meter von ihnen entfernt, von einem Schimmern umgeben, mit annähernd festen Konturen. Vor Überraschung blieb Lena der Mund offen stehen, dann wandte sich das Tier ab und verschwand im Wald. Sahib und Comet senkten ihre Köpfe und fraßen weiter.

Beinahe empfand Lena Bedauern, als Ragnar ihre Hand losließ, denn sie hatte sich warm, kräftig und irgendwie beruhigend angefühlt.

»Du musst keine Angst vor ihnen haben.«

»Wenn du dabei bist, nicht«, rutschte es ihr heraus, dann biss sie sich auf die Lippe.

Doch Ragnar lächelte nur und sprang behände auf. »Komm, sonst wird es dunkel.«

Tatsächlich brauchten sie nicht einmal zehn Minuten bis zum Reitstall, trotzdem beschleunigte Lena ihre Schritte. Sie hatte das Gefühl, ständig ein Kribbeln in ihrem Nacken zu spüren. Möglicherweise waren Geister in der Nähe, und sie scheute sich, Ragnar danach zu fragen, da er sie ja für harmlos hielt. Im Reitstall brachten sie Sättel und Zaumzeug in die Sattelkammer, und Lena ging zu ihrem Fahrrad zurück.

»Ich fahre dich mit dem Motorrad nach Hause«, bot Ragnar an.

»Das ist nett, aber ich brauche morgen das Rad, sonst komme ich nicht in die Arbeit.« Ihr Blick schweifte in den Himmel. »Wenn ich mich beeile, schaffe ich’s, bevor es ganz dunkel ist.«

»Dann komme ich mit dir.«

»Das musst du nicht, ich finde den Weg.«

»Nein.« Plötzlich war seine Miene sehr ernst, und Lena musterte ihn verwirrt. »Ich möchte nicht, dass du allein durch den Wald fährst.«

»Na hör mal«, lachte sie. »Neulich erzählst du mir noch, wie toll es im Wald ist, und jetzt …«

»Etwas hat sich verändert.« Seine Stimme klang dunkel, sein Blick wanderte zum Waldrand.

Unwillkürlich lief ein Schaudern über Lenas Rückgrat. »Wie meinst du das?«

»Noch vor kurzer Zeit empfand ich diese Wälder als friedlich und sicher. Aber jetzt …« Offensichtlich suchte er nach Worten, zuckte jedoch nur mit den Schultern. »Ich weiß nicht, aber manchmal spüre ich etwas Kaltes, Böses, das ich nicht einordnen kann. Manche Schatten sind dichter, als sie es sein sollten.«

Unvermittelt wurde Lena bewusst, dass er soeben das ausgesprochen hatte, was auch sie hin und wieder fühlte, jedoch nicht wahrhaben wollte. »Und was soll das sein?«

»Das kann ich dir leider nicht sagen. Komm jetzt.«

Mit einem Mal war Lena heilfroh, Ragnar an ihrer Seite zu wissen. Nicht einmal über die Straße, die ebenfalls ein Stück durch den Wald führte, hätte sie jetzt allein nach Hause fahren wollen. Im Wald war es deutlich düsterer als draußen auf den Koppeln. Immer wieder warf Lena verstohlene Blicke über die Schulter, während sie ihr Fahrrad neben sich herschob. Irgendwann legte Ragnar stumm seine Hand auf die ihre. Dankbar lächelte sie ihm zu. Selbst wenn es vermutlich albern war und jeglicher Logik entbehrte – jetzt fühlte sie sich beschützt, und wenigstens würde sie herumspukende Geister sehen, so sie sich hier im Wald aufhielten. Unbehelligt kamen sie am Haus von Lenas Großmutter an.

»So, und jetzt musst du allein nach Hause laufen«, sagte sie von einer plötzlichen Unruhe ergriffen.

Ihre Großmutter war noch nicht da, und auch wenn das Auto von Lenas Vater vor der Tür stand, wollte sie ihn nicht fragen, ob er Ragnar zurückfuhr, denn das Thema Ragnar war noch immer ein kritischer Punkt, obwohl Oma Gisela mehr als ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte.

»Mir geschieht nichts«, versicherte er ihr.

»Weil du ein Kerl bist?«, schnaubte Lena, aber er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, deshalb nicht. Aber ich bin ein Teil der Natur.«

»Bin ich das etwa nicht?«

»Doch«, gab er zögernd zu, »nur … ich kann es dir nicht erklären, aber ich glaube, vor mir weichen die Schatten zurück.«

Verwirrt hob Lena ihre Augenbrauen, denn was er da erzählte, klang doch mal wieder reichlich abstrus.

Er umarmte sie kurz und lief dann zurück in den Wald.

»Ragnar!«, rief sie ihm hinterher, und er blieb kurz stehen. »Ruf mich an, wenn du zuhause bist.«

Mit erhobener Hand verschwand er zwischen den Bäumen.

Voller Ungeduld wartete Lena darauf, dass Ragnar sich meldete, denn seitdem er die Sache mit den verdichteten Schatten ausgesprochen hatte, war sie von einer seltsamen Unruhe ergriffen, die sie nicht mehr loslassen wollte.

»Lena, sei so gut und bring noch die Polster von den Gartenstühlen rein. Der Wetterbericht hat ein Gewitter vorhergesagt«, bat ihre Mutter, als Lena in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser zu holen.

»Ja, mach ich.« Sie trat hinaus in den Garten, wo sich die knorrigen Obstbäume schemenhaft abzeichneten, raffte eilig Kissen und Auflagen von der Holzbank und den Liegestühlen zusammen und brachte diese in die Garage. Ein Piepsen ertönte aus ihrer Hosentasche, und sie zog ihr Handy hervor. Erleichtert lehnte sie sich gegen die Wand, als sie feststellte, dass Ragnar eine SMS geschickt hatte.

Binn gudd zuhause ankomen. Gut Naacht Ragnar.

Über die vielen Rechtschreibfehler musste sie schmunzeln. Wie es aussah, sprach er deutlich besser Deutsch, als er in der ihm fremden Sprache schreiben konnte. Aber vermutlich war das kein Wunder, denn sicher hatte sein Vater hauptsächlich mit ihm in seiner Muttersprache gesprochen und ihm weniger Rechtschreibung beigebracht.

»Ragnar«, seufzte Lena und drückte das Handy kurz an sich, dann trat sie aus der Garage. Jetzt würde sie sicher besser schlafen, da sie wusste, dass er sicher angekommen war.

Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, als sie auf einmal einen Schatten neben der Garage entdeckte.

»Lena, was ist denn?« Oma Gisela trat in den Schein der kleinen Lampe, die lediglich einen Lichtkreis von ein oder zwei Metern bot.

»Oma!«, stöhnte Lena auf. »Was kriechst du denn hier in der Dunkelheit herum?«

»Ich krieche nicht, mein liebes Kind«, stellte sie richtig, dann musterte sie ihre Enkelin eindringlich. »Wie du sehr wohl weißt, bin ich häufig nachts unterwegs … zum Kräutersammeln zum Beispiel.«

Nur ganz allmählich beruhigte sich Lenas rasender Herzschlag. »Und, hast du welche gefunden?«

»Was soll ich gefunden haben?« Lena musste grinsen, als ihre Oma sie verwirrt blinzelnd ansah.

»Na, deine Kräuter?«

»Kräuter – ja natürlich«, antwortete sie zerstreut und kramte in ihrem Bündel herum. »Komm jetzt, Lena, es ist schon spät.«