Kapitel 19
Heimlichkeiten
Lena schloss die Augen, war sich absolut sicher, jeden Moment Georg Winters wütendes Gesicht zu sehen, sah sich und Ragnar schon von der Polizei abgeführt, als Diebe und Einbrecher angeklagt. Als sie spürte, wie sich Ragnars Arme tröstend um sie legten, drückte sie sich dankbar an ihn.
»Jetzt ist das verdammte Mineralwasser schon wieder leer«, erklang die bärbeißige Stimme von Ragnars Onkel. Erneut tapsende Schritte, dann die Tür.
Einige Atemzüge lang warteten sie ab, schließlich spähte Ragnar vorsichtig über den Rand des Sofas. »Er ist fort.«
»Sollen wir schnell verschwinden?«, schlug Lena vor.
»Zu riskant, er hat das Licht angelassen und kommt sicher zurück.«
Zu Lenas Entsetzen richtete er sich nun ganz auf und blickte sich um.
»Da drüben!«, rief er auf einmal aufgeregt. Und tatsächlich – neben der großen Terrassentür, halb versteckt hinter einer überdimensionalen Plastikpalme hing das Bild von einer in sanftes Morgenlicht getauchten Waldlandschaft. Doch schon mussten sie sich wieder verstecken, denn aus dem Gang ertönte ein Husten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lena Ragnar an, der beruhigend ihre Hand drückte. Sie hoffte inständig, Georg Winter möge sich nur ein Glas Wasser einschenken und danach wieder ins Bett gehen. Doch diesen Gefallen tat er ihnen nicht. Nachdem sie gluckernde Geräusche gehört hatten, schlurfte er in ihre Richtung. Auch Ragnar spannte sich nun an, seine Lippen waren aufeinandergepresst, an seiner rechten Wange zuckte ein Muskel.
Ein Plumpsen und eine Erschütterung zeigten an, dass sich der massige Mann auf das Sofa hatte fallen lassen. Kurz darauf ging der Fernseher an. Georg Winter trank lautstark und rülpste anschließend. Ragnar verdrehte die Augen.
Und jetzt?, formte Lena lautlos mit den Lippen.
Er zuckte mit den Schultern, lehnte sich bedächtig gegen die Rückwand und verschränkte die Arme vor der Brust. Letztendlich blieb ihnen tatsächlich nichts anderes übrig, als abzuwarten. Zunächst sah sich Georg Winter die Wiederholung einer stumpfsinnigen Talkshow an, dann zappte er weiter, und als stöhnende weibliche Geräusche aus dem Fernseher ertönten, verzog Lena den Mund. Ragnar schüttelte den Kopf, zog jedoch eilig seine Beine ein, als von der Tür her ein Geräusch erklang.
»Georg, was tust du denn um diese Zeit im Wohnzimmer?« Die Tonlage der Frau war unangenehm schrill, und auf der Stelle verstummte das Gestöhne aus dem Fernseher.
»Ich komme schon, Irma!«
Unter lautem Gerumpel erhob sich Georg Winter vom Sofa und eilte zur Tür. Lena konnte seine klobigen, von Hornhaut bedeckten Füße erkennen, die in ausgetretenen Latschen steckten. Ein geblümter Morgenmantel reichte bis zu seinen bleichen, haarigen Waden.
Er öffnete die Tür, sodass Irmas Gezeter nun deutlicher hereindrang. »Mitten in der Nacht im Haus herumgeistern!«
»Ich hatte Durst und dachte, ich hätte ein Geräusch gehört«, verteidigte sich Georg Winter mit beinahe schon weinerlicher Stimme.
»Und das Geräusch kam wohl aus dem Fernseher«, keifte seine Frau.
»Nein, aber …«
»Jetzt sieh zu, dass du ins Bett kommst.«
»Ja, Irma.«
Lena presste eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen, und auch Ragnar grinste verdächtig. Als sich die Stimmen entfernten und das Licht ausging, kicherten sie beide unterdrückt los. »Na, da weiß man aber, wer hier die Hosen anhat«, gluckste Lena.
»Jaaa, Irma«, machte Ragnar seinen Onkel mit übertrieben weinerlicher Stimme nach, und Lena drückte lachend ihr Gesicht an seine Schulter.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, sah sie ihn fragend an. »Und jetzt?«
»Wir nehmen das Bild mit und verschwinden durch die Balkontür.«
»Okay.«
Langsam, die Tür nicht aus dem Blick lassend, erhob sich Lena. Als Ragnar begann, Schränke zu öffnen und die Sachen zu durchwühlen, fasste sie ihn entsetzt an der Schulter. »Was soll das denn?«
»Wenn nur das Bild fehlt, weiß er sofort, dass ich es war.«
Nach kurzem Nachdenken musste Lena ihm zustimmen, aber sie wollte dennoch nichts stehlen. Allerdings versicherte er ihr: »Ich nehme nichts für mich.« Er hielt ein Besteckset mit silbernen Löffeln und eine goldene Uhr in die Höhe. »Die Sachen werfe ich als anonyme Spende bei einer Hilfsorganisation ein.«
»Von mir aus«, gab Lena nach, dann nahm sie das Bild von der Wand und wartete ungeduldig an der Tür.
Nachdem Ragnar noch einige Sachen im Zimmer verteilt hatte, eilte er zu ihr. Beinahe geräuschlos öffneten sie die Schiebetür, schlüpften hinaus und schoben sie wieder zu. Ein ohrenbetäubendes Alarmgeräusch ertönte. Gleichzeitig zuckten sie zusammen.
»Lauf!« Schon spurtete Ragnar los, und Lena folgte ihm, so schnell sie konnte.
Sie hörte Stimmen durch das geöffnete Fenster im ersten Stock, jemand knipste das Licht an. Lena rannte um ihr Leben. Ragnar war bereits im Gebüsch verschwunden, und sie blickte hektisch über die Schulter – was ihr zum Verhängnis wurde. Sie stolperte, ruderte mit den Armen, schlug auf dem Boden auf, wobei sie im Fallen in das grinsende Gesicht eines Gartenzwerges blickte. Sofort stand Ragnar vor ihr und zog sie in die Höhe. Dabei schnappte er sich das heruntergefallene Bild.
»Schnell, komm.«
Sie schlugen sich in die Büsche, hasteten durch den Nachbargarten und verschwanden im Wald. Erst nach einem knappen Kilometer blieben sie stehen. Lena schnappte nach Luft, lehnte sich an einen Baum und sah Ragnar ängstlich an. »Denkst du, das reicht?«
Er drückte ihr das Bild in die Hand. »Du wartest hier, ich hole das Motorrad.«
Erschrocken hielt sie ihn am Arm fest. »Nein, die Polizei ist sicher schon auf dem Weg.«
»Möchtest du vielleicht nach Hause laufen?«, erkundigte er sich.
Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern.
»Jemand könnte mein Motorrad entdecken, und es ist doch recht auffällig«, fügte er hinzu.
»Ja, das stimmt schon«, gab Lena widerwillig zu. »Ragnar, sei vorsichtig.«
Im spärlichen Licht des Mondes und der Sterne erkannte sie, wie er nickte. »Ich beeile mich.«
»Das hoffe ich«, murmelte sie ihm hinterher und kauerte sich an dem Baumstamm zusammen.
Ganz allein im Wald, die Polizei, die sie möglicherweise schon suchte, im Nacken, hatte Lena wirklich Angst. Auch musste sie an Ragnars seltsame Warnung von vor ein paar Tagen denken.
Die Schatten sind manchmal dichter, als sie es sein sollten.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Jedes Knacken, jedes Rascheln ließ sie zusammenzucken. Ragnar, bitte komm schnell, flehte sie stumm und wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn an ihrer Seite zu haben. Minuten wurden zu Stunden, und Lena war schon drauf und dran, zurück ins Dorf zu laufen – Polizei hin oder her. Kannte Ragnar überhaupt den Weg zu ihr zurück? Andererseits fand er sich in der Regel im Wald ungewöhnlich gut zurecht. Stets hatte sie das Gefühl, schemenhafte Gestalten würden herumhuschen, aber wenn sie genauer hinsah, stellten sich diese als Trugbild heraus. Mal war es ein knorriger Baum, ein moosbewachsener Stein, mal ein zu groß geratener Farnwedel, der ihr vorgaukelte, ein geheimnisvolles Wesen des nächtlichen Waldes zu sein. Lenas zitternde Hand tastete nach ihrem Handy. Tröstend leuchtete das Display auf, und sie wollte gerade Ragnar anrufen, als sie seinen leisen Ruf hörte.
»Lena, ich bin hier, nicht erschrecken.«
Für eine Sekunde schloss sie dankbar die Augen, dann drehte sie den Kopf und erkannte seine Silhouette zwischen zwei Laubbäumen. Selten in ihrem Leben war Lena derart erleichtert gewesen. Am liebsten hätte sie sich direkt in seine Arme geworfen, traute sich jedoch nicht.
Nur Augenblicke später war er bei ihr und nahm sie an der Hand, was einen beruhigenden Effekt hatte. »Komm mit, das Motorrad steht nicht weit entfernt.
»Hast du Polizei gesehen?«, erkundigte sich Lena atemlos.
»Nein, bisher nicht.«
Zielsicher führte Ragnar sie durch den dichten Wald, bis sie einen Schotterweg erreichten. Unwillkürlich fragte sie sich, wie er sie gefunden hatte, aber dann stiegen sie eilig auf das Motorrad. Erst am Dorfeingang hielt er an. »Ich begleite dich zu deinem Haus.«
Zu gern hätte Lena das Angebot angenommen, doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, bring besser das Bild weg und versteck es gut. Wir sehen uns … morgen?«
»Ja, komm gut nach Hause.« Er klappte sein Visier herunter und fuhr los, während Lena nach Hause lief, in ihr Zimmer kletterte und sich dann auf ihr Bett fallen ließ.
Erst jetzt bemerkte sie, wie angespannt sie gewesen sein musste, denn ihre Muskeln zuckten. Trotzdem breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie hatten das Bild gefunden, und sie war mehr als gespannt, ob sie morgen bei Tageslicht das geheime Zeichen darauf entdecken würden.
Ein penetrantes Piepsen drang an Lenas Ohr, und sie zog sich mit einem Knurren die Decke über den Kopf, denn sie wollte nur eins – weiterschlafen. Doch rasch holte sie die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder ein. Der Einbruch. Die Flucht durch den Wald. Das Bild!
Lena fuhr auf und strich sich die wirren Haare aus dem Gesicht. Sie bemerkte, dass sie sich letzte Nacht nicht einmal ausgezogen hatte. Dann schaltete sie eilig den Wecker ihres Mobiltelefons aus und überprüfte die eingegangenen SMS. Bei zweien handelte es sich um Werbung, und Lena drückte die Nachrichten eilig weg.
Als sie dann eine SMS von Ragnar entdeckte, schlug ihr Herz schneller. Doch leider wurden ihre Hoffnungen enttäuscht, denn er schrieb, er hätte kein Zeichen finden können.
»Verdammt!« Voller Zorn schlug sie mit einer Hand auf die Matratze. »Dann war also alles umsonst.«
Um den letzten Schlaf abzuschütteln, stieg Lena unter die Dusche und begab sich anschließend zum Frühstückstisch. Es war erst kurz nach sieben, Lenas Eltern waren noch nicht aus dem Haus. Ihr Vater blätterte in der Zeitung und schüttelte den Kopf.
»Stellt euch nur vor, letzte Nacht wurde in Gößweinstein eingebrochen.«
Lena bemühte sich um ein teilnahmsloses Gesicht, während ihre Mutter schimpfte: »Sieh mal einer an, da denkt man, man lebt in einer friedlichen Gegend, und dann verschwinden Menschen, und ganz in der Nähe wird eingebrochen.« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Wir sollten unsere Schlösser kontrollieren.«
Betont gelangweilt rührte Lena in ihrem Müsli herum, während ihr Vater fortfuhr: »Man hat der armen Familie nicht nur Schmuck und Besteck gestohlen, sondern auch über zwanzigtausend Euro!«
»So ein Drecksack!«, stieß Lena hervor und wurde knallrot, als ihre Familie sie verwundert ansah. »Ähm, ich meine den Dieb.«
»Na, wen denn sonst?« Ihr Vater wiegte den Kopf hin und her und regte sich anschließend über irgendwelche Grundstücke auf, die nun zu Bauland werden sollten. Lena hingegen ärgerte sich maßlos über Ragnars Onkel. Dieser wollte nun vermutlich die Versicherung betrügen und hatte angegeben, ihm wäre Geld gestohlen worden. Eigentlich hatte Lena Frühschicht, aber sie rief im St. Elisabeth an und bettelte bei Schwester Margareta, zwei Stunden später anfangen zu dürfen. Glücklicherweise war diese heute in gnädiger Stimmung, und so radelte Lena auf schnellstem Wege zu Ragnar.
Als sie am Reitstall eintraf, striegelte Ragnar gerade eines der Pferde. Bedauernd hob er die Arme, als er sie sah. »Leider war alles umsonst.«
Völlig außer Atem ließ sich Lena auf die Bank neben dem Putzplatz plumpsen. »Hast du das von deinem Onkel gelesen?«
»Nein, was meinst du?«
»Der Mistkerl …« Lena senkte die Stimme für den Fall, dass jemand zuhörte. »Er hat behauptet, ihm wären zwanzigtausend Euro geklaut worden. Ist das nicht der Hammer?«
Zornig zogen sich Ragnars Augenbrauen zusammen. »Wir hätten tatsächlich nach Geld suchen sollen.«
»Auf dem Bild war überhaupt kein Hinweis?«, jammerte Lena.
»Nein, leider nicht.« Ragnar fuhr mit dem Striegeln fort. »Möglicherweise hat er noch ein weiteres Bild in seinem Haus.«
»Du willst doch nicht im Ernst nochmal dort einbrechen?«, zischte sie entsetzt, aber zu ihrer Beruhigung schüttelte er den Kopf.
»Das wäre im Augenblick zu riskant.«
»Also war alles für die Katz«, stöhnte Lena und streckte ihre Beine aus.
»Katz?«, stutzte er, und gegen ihren Willen musste Lena lachen, denn genau in diesem Moment lief die getigerte Stallkatze vorbei, verfolgt von Ragnars Blick.
Aber dann schmunzelte auch er. »Ich kann mich erinnern, das hat mein Vater auch immer gesagt. Tja, es sieht so aus, als wäre unser kleines Abenteuer umsonst gewesen.«
»Hast du wirklich genau nachgeschaut?«, erkundigte sich Lena.
»Sicher, aber sieh dir das Bild ruhig an. Die Tür ist offen, es steht neben dem Bett.«
Das ließ sich Lena nicht zweimal sagen, denn sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie sich völlig sinnlos in Gefahr gebracht hatten. Das Bild lehnte, lediglich mit einer Decke verhüllt, an der Wand.
Kritisch betrachtete sie das Ölgemälde. Es zeigte einen bewaldeten Berg und eine kleine Kapelle in allen Einzelheiten. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, eines der verschlungenen Zeichen konnte sie nirgends ausmachen.
Kurz darauf hörte sie Schritte hinter sich. Ragnar ging zur Spüle und wusch sich die Hände, dann zuckte er die Achseln. »Du hast auch nichts finden können, vermute ich.«
»Nein, aber du solltest das Bild trotzdem verstecken«, meinte Lena gereizt.
»Nach allem, was du mir erzählt hast, vermute ich, dass Onkel Georg keine große Anstrengung unternehmen wird, den Dieb zu finden.«
»Der hat echt Nerven«, stimmte Lena zu. Dann deutete sie auf den linken Rand des Bildes, wo ganz klein eine Herde Rehe abgebildet war. »Wahrscheinlich hat er es nur behalten, weil ein Hirsch darauf zu sehen ist.«
»Das mag sein«, erwiderte Ragnar lachend.
Er reichte Lena ein Glas Wasser, was sie gerne annahm, anschließend kramte er in seinem Schrank herum und förderte dann das unvollständige Amulett zu Tage.
Ein leichtes Schaudern überzog Lenas Körper, als sie es betrachtete, die feinen Härchen ihrer Unterarme richteten sich wie elektrisiert auf.
»Jetzt werden wir sein Geheimnis wohl nicht enträtseln«, vermutete Ragnar.
Lena seufzte tief, dann stützte sie ihren Kopf in die Hände. »Kein entschlüsseltes Geheimnis, kein Schatz, und ich liege meinen Eltern immer noch auf der Tasche. So ein Mist.«
»Nimm es nicht so schwer.« Er setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich denke, deine Eltern haben dir schon längst verziehen.«
»Das glaube ich kaum. Vor allem nicht nach der Sache mit dem Krankenwagen.«
Alarmiert blickte Ragnar sie an. »Was war mit dem Krankenwagen?«
»Ach nichts«, wiegelte sie ab, aber Ragnar fasste sie energisch an den Schultern.
»Sag’s mir.«
»Na ja, weil wir einfach verschwunden sind, waren die Sanitäter natürlich stinksauer und haben gesagt, sie würden eine Rechnung schicken.«
»Verdammt, daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Mach dir keine Gedanken, Oma hat den Einsatz bezahlt.«
»Nein, das möchte ich nicht«, protestierte Ragnar. »Sie wollte mir schließlich nur helfen, und jetzt kann ich sie dafür nicht bezahlen lassen.« Er sprang auf und suchte etwas in der Kommode unter dem Fenster. Kurz darauf hielt er einige Geldscheine in der Hand. »Was hat es gekostet?«
»Ragnar …«
»Was hat es gekostet?«, wiederholte er mit energischer Stimme und angespanntem Gesicht.
»Knapp dreihundert Euro.«
Er zählte die Geldscheine ab und hielt sie Lena anschließend hin. »Das sind zweihundertsechzig, den Rest gebe ich dir in ein paar Tagen, wenn ich wieder Geld bekomme.«
»Dann bist du ja völlig pleite!«
»Ich komme zurecht.«
»Am Ende hast du nichts, um etwas zu essen zu kaufen.«
»Der Kühlschrank ist voll.« Auf einmal zuckte Ragnars rechter Mundwinkel, und er sah auf das Bild seiner Großmutter. »Notfalls kann ich mir ja einen Hirsch schießen.«
»Das bringst du auch noch fertig«, stöhnte Lena. »Ragnar, der Wilderer vom Veldensteiner Forst.«
»Klingt das nicht gut?«
»Na ja«, meinte sie kritisch. »Ich befürchte, im Augenblick habe ich genug von Einbrüchen, Geistern und seltsamen Begegnungen im Wald.« Unwillkürlich senkte sie ihre Stimme. »Hast du in letzter Zeit noch etwas gespürt?«
»Nein.« Nun wurde auch Ragnar ernst. »Im Augenblick ist alles friedlich. Auch die Pferde sind wieder entspannter.«
»Das war schon eine verrückte Sache, oder?«
»Ja, da hast du Recht«, gab er zu und drückte ihr äußerst entschieden die Geldscheine in die Hand. »Gut, du gibst das Geld deiner Großmutter, und falls du Lust auf etwas weniger Aufregendes hast, dann können wir morgen Nacht Sternschnuppen beobachten.«
»Sternschnuppen?«, wunderte sich Lena.
»Ja, die Dinger, die vom Himmel fallen.«
»Ich weiß, was Sternschnuppen sind«, schimpfte sie.
»Hast du noch niemals zuvor welche beobachtet?«, erkundigte sich Ragnar ungläubig.
»Ähm, nein, nicht so direkt.«
»Die Meteorschauer vor ungefähr drei Wochen waren auf jeden Fall beeindruckend, aber selbst jetzt, Anfang September, sollten noch einige Sternschnuppen zu sehen sein, habe ich kürzlich in einer Zeitung gelesen. Aber gut, wenn du keine Lust hast …«
»Doch«, versicherte sie ihm eilig. »Ich befürchte nur, meine Eltern werden mir das nicht glauben und denken, ich würde auf eine Feier oder in eine Disko gehen. Na ja, vielleicht behaupte ich einfach, ich würde bei Katrin schlafen.«
»Denkst du, es ist gut, wenn du sie anlügst?«
»Nein, eigentlich nicht«, gab sie seufzend zu. »Andererseits ist es momentan einfach schwer, ihnen irgendetwas recht zu machen. Und auf dich sind sie auch nicht allzu gut zu sprechen.«
»Das kann ich sogar verstehen.«
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr sprang Lena auf. »Ich muss jetzt los, sonst bekomme ich Ärger im Altenheim.«
»Soll ich dich fahren?«
»Nein, nicht nötig.« Mit einem bedauernden Blick auf das Bild ging sie zur Tür. »Ragnar, versteck das Ding besser, nur für den Fall, dass dein Onkel dich doch verdächtigt.«
»Du willst mich nur nicht im Gefängnis besuchen, gib es zu«, meinte er augenzwinkernd.
»Wer sagt denn, dass ich dich überhaupt besuchen würde?«, entgegnete sie frech und eilte zu ihrem Fahrrad.
Sie hatte es an die Wand von Ragnars Hütte gelehnt, und als er jetzt mit hinauskam, fuhren ihre Finger über seltsame Zeichen an seiner Wand, die sie zuvor noch nie bemerkt hatte. Eines sah aus wie ineinander verwobene Dreiecke, ein anderes glich einer Spirale, und als Lena den Kopf neigte, erkannte sie einen Strich mit einer Art Dreieck oder Dorn an der rechten Seite. Die eingeritzten Symbole wirkten recht frisch.
»Waren diese Zeichen schon immer hier?«, fragte sie.
Kurz stutzte er, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, erst seit ein paar Tagen. Vermutlich waren es Kinder. Andererseits …« Er zögerte, dann sah er Lena auffordernd an. »Musst du nicht fahren?«
»Oh, stimmt.« Im Angesicht vom drohenden Zorn Frau Käpplers waren die seltsamen Zeichen rasch vergessen, und Lena jagte mit ihrem Mountainbike über die Straße in Richtung Gößweinstein.
Die Arbeit im St. Elisabeth ging ihr heute leicht von der Hand. Sie war dazu abkommandiert worden, mit einigen der agileren Senioren die Beete hinter dem Heim von Unkraut zu befreien. Frau Meister führte das Regiment. Zwar konnte sie sich nicht mehr bücken, aber sie fand doch beinahe jedes Kräutlein, das nicht am richtigen Ort war. Die erste Septemberwoche war vorüber, und die Sonne schien nicht mehr so stark. Trotzdem war die Luft angenehm warm, sodass Lena sich bald die ungeliebte Kittelschürze auszog, selbst wenn Frau Käppler deshalb schimpfen würde. Während sie die letzten reifen Tomaten aberntete, dachte sie an Ragnar, und auf einmal freute sie sich darauf, mit ihm Sternschnuppen zu beobachten. Vielleicht konnten sie vorher ein abendliches Picknick machen und …
»Sag mal, Lena, bist du vielleicht in unseren attraktiven jungen Pfleger verliebt?«, riss sie Frau Meister aus ihren Tagträumen.
»Pfleger? Verliebt?« Verdattert blickte Lena auf und entdeckte Timo, der einen alten Mann mit dem Rollstuhl zum Haus schob. Offenbar hatte sie genau in seine Richtung geblickt, und er winkte ihr auch freudig zu.
»Nein«, lachte Lena. »Bei ihm habe ich keine Chancen.«
»Man soll niemals nie sagen«, wurde sie postwendend von der alten Dame belehrt. »Du bist ein hübsches Mädchen. Ich habe schon länger beobachtet, wie du ihn ansiehst, und ich habe den Eindruck, er mag dich ebenfalls.«
»Eine Zeit lang war ich in ihn verliebt, das stimmt schon, aber das ist jetzt vorbei.«
»Na, so wie du eben geschaut hast, möchte ich das bezweifeln.«
Ich habe an jemanden ganz anderen gedacht, sagte sie zu sich, und plötzlich spürte Lena, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Verdammt, ich kann mich doch nicht in Ragnar verliebt haben!
Eilig versuchte Lena, diesen völlig absurden Gedanken abzuschütteln. Ragnar war ein seltsamer Kerl und so ganz anders, als sie sich ihren nächsten Freund gewünscht hätte.
»Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahetreten«, sagte Frau Meister beschwichtigend.
»Nein, keine Angst, ich …« Sie sah die kleine, energische Frau fragend an. »Waren Sie schon einmal in jemanden verliebt, der völlig daneben war?«
Frau Meister kicherte verhalten. »Ja, tatsächlich.«
»Und, ist etwas aus dieser Liebschaft geworden?«
»Nein, leider nicht«, seufzte sie. »Rudolf war ein Weltenbummler, überall und nirgends zuhause, und bedauerlicherweise war ich zu feige, um ihm zu folgen. Wer weiß, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich mit ihm gegangen wäre.« Eine schmale, von Altersflecken übersäte Hand legte sich auf Lenas Unterarm. »Manchmal muss man etwas riskieren, um glücklich zu werden, glaube ich.«
»Puh.« Verwirrt fuhr sich Lena durch die Haare. Bisher hatte sie es sich nicht eingestehen wollen, aber eigentlich dachte sie ständig an Ragnar. Außerdem kam ihr jeder Tag ohne ihn irgendwie leer vor. Doch empfand er das Gleiche? Sicher, er fragte sie häufig, ob sie etwas mit ihm unternehmen wollte, aber war da mehr? Lena glaubte es nicht, und schließlich hatte er ja vor einiger Zeit einmal sehr genau beschrieben, wie er sich seine Traumfrau vorstellte. Und davon war sie meilenweit entfernt. Diese Erkenntnis frustrierte sie derart, dass sie sich den Rest des Tages kaum mehr konzentrieren konnte. Auch Timo fiel dies offenbar auf, denn er stupste sie auf die Nase, als sie sich im Aufenthaltsraum umzog und ihren Rucksack nahm.
»Hey, was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Ach, irgendwie ist alles so kompliziert.« Sie lehnte sich gegen die Tür und sah ihn unglücklich an. »Warum verliebe ich mich immer in die Falschen?«
»Ist dein neuer Schwarm am Ende schon wieder vom anderen Ufer?«, fragte er erschrocken.
»Nein«, lachte Lena, »nur … eben auch nicht ganz einfach.«
»Einfache Männer sind doch langweilig.« Freundschaftlich legte er ihr einen Arm um die Schultern. »Bist du denn sicher, dass er der Falsche ist?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Dann versuch doch, es herauszufinden.«
»Hm, du hast ja Recht.« Lena zuckte mit den Schultern und legte Timo eine Hand auf den Arm. »Ich muss dann mal los. Mach’s gut, Timo.«
Eilig verließ sie das Altenheim und radelte nach Hause.
Ein wohl bekanntes Motorrad ließ Lenas Herz höher schlagen, und sie nahm sich vor, Ragnar endlich auf den Zahn zu fühlen. Schließlich war es ja möglich, dass sich auch seine Gefühle geändert hatten. Hastig betrachtete sie sich im Fenster, zupfte die Haare zurecht und schloss dann die Tür auf.
»Lena, kommst du bitte in die Küche?«, rief ihre Oma postwendend.
In der Erwartung, Ragnar vorzufinden, trat sie ein, wurde jedoch enttäuscht.
»Wo ist er denn?«
»Guten Tag, Lena.«
»Ja, hallo Oma«, grüßte sie geistesabwesend und blickte sich um.
»Ragnar ist nicht mehr hier.«
»Aber sein Motorrad steht doch noch draußen«, wunderte sie sich.
»Er kam zu mir, weil er sich wegen des Krankenwagens entschuldigen wollte.«
»Oh, Mist, ich habe ja die Kohle!« Rasch zog sie die Geldscheine aus ihrer Hosentasche.
»Offenbar war es Ragnar sehr peinlich. Er hat mich gebeten, das restliche Geld in ein paar Tagen zurückzahlen zu können.«
»Das hat ihn wirklich beschäftigt«, stimmte Lena zu.
»Auf jeden Fall habe ich vorgeschlagen, er könne unsere Hecken zurückschneiden, dann wäre die Sache für mich erledigt.« Oma Gisela setzte sich an den Küchentisch. »Er hat eine ganze Weile fleißig gearbeitet, aber als ich ihm etwas zu trinken bringen wollte, kniete er auf dem Boden und hat nach Luft gerungen. Seine Hände waren knallrot und von Pusteln übersät.«
Erschrocken riss Lena die Augen auf, aber ihre Großmutter versicherte ihr sogleich: »Es geht ihm schon wieder gut, und ich gehe inzwischen davon aus, dass er auf einen unserer Sträucher oder Büsche im Garten allergisch ist. Möglicherweise war es auch ein Insekt.«
»Puh.« Lena stieß scharf die Luft aus, dann schenkte sie sich ein Glas Wasser ein. »Bist du sicher, dass er in Ordnung ist?«
»Ja, Lena, ich habe ihn nur vorsichtshalber nach Hause gefahren.« Oma Gisela nickte beruhigend, dann zwinkerte sie ihr zu. »Du hast ihn sehr gern, nicht wahr.«
»Wir sind gute Freunde«, murmelte Lena, wobei sie in ihr Wasserglas starrte.
»Er hat mir von euren Plänen erzählt. Sternschnuppen beobachten – das ist doch sehr romantisch!«
»Oma!«, stöhnte Lena, aber ihre Großmutter lachte nur.
»Ich habe nichts dagegen. Deine Eltern wollten ohnehin morgen zu deiner Tante nach Bayreuth fahren und dort übernachten.«
»Ach wirklich?«, freute sich Lena, dann räusperte sie sich. »Ja, mal sehen.«
Nachdem Oma Gisela ihr noch einmal kurz über die Wange gestreichelt hatte, verließ sie den Raum.
»Du machst mich echt fertig, Ragnar«, ächzte Lena, blickte zögernd auf ihr Handy und rief schließlich doch bei ihm an.
Es dauerte eine Weile, bis er dranging. »Ja?«
»Hey, was machst du denn für Sachen?«, erkundigte sie sich.
»Ich befürchte, ich hinterlasse keinen guten Eindruck bei deiner Familie.«
»Meine Eltern waren doch gar nicht hier, und Oma Gisela mag dich. Ist es sehr schlimm mit deinen Händen?«
»Nein, es ist auszuhalten. Deine Großmutter hat mir eine kühlende Salbe gegeben, die hilft.«
»Gut.« Nichtsdestotrotz befürchtete Lena, er würde es auch nicht zugeben, wenn das Gegenteil der Fall wäre.
Für einen Moment entstand eine Gesprächspause, dann bat Lena leise: »Ruf an, falls es schlimmer wird. Oma Gisela hilft dir gerne.«
»Ja, Lena, ich gehe jetzt schlafen.«
Auch nachdem sie aufgelegt hatte, musste sie noch lange an ihn denken.
Da Lena nicht in den Seniorenstift musste, hatte sie eigentlich am nächsten Morgen ausschlafen wollen. Träge zog sie sich die Decke wieder über den Kopf, nachdem sie auf die Uhr geblickt hatte. Es war erst halb acht. Doch plötzlich kam ihr Ragnar wieder in den Sinn. Mit seinen Händen konnte er vermutlich kaum arbeiten. Ein paar Minuten lang wälzte sie sich hin und her und stand schließlich auf.
Drei überraschte Augenpaare blickten sie an, als sie in die Küche kam.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Lenas Mutter.
»Ich konnte nicht mehr schlafen.« Lena nahm sich eine Tasse Kaffee und durchforstete den Kühlschrank.
»Es geschehen Zeichen und Wunder!«, staunte ihr Vater.
»Darf ich ein paar Sachen mitnehmen?«, erkundigte sich Lena und hielt eine Stange Salami und ein Stück Käse in die Höhe.
»Was willst du denn damit?«
»Picknick machen.«
»Du willst picknicken? Und das um diese Zeit?« Lenas Vater blickte verwirrt hinter seiner Zeitung hervor.
»Nein, jetzt noch nicht, aber später.« Lena warf ihrer Großmutter einen verschwörerischen Blick zu. »Ich fahre zu Ragnar und helfe ihm beim Ausmisten.«
»Langsam zweifle ich daran, noch meine Tochter vor mir zu haben«, bemerkte Manuela. »Du verzichtest freiwillig aufs Ausschlafen, hilfst bei der Stallarbeit und willst auch noch ein Picknick machen? Wo ist unsere aufgestylte Diskoqueen, die ständig hinter dem PC sitzt und Wald und Wiesen lediglich aus diesen eigenartigen Computerspielen kennt?«
»Also, mir gefällt die neue Lena ausgesprochen gut.« Oma Gisela erhob sich und drückte sie kurz an sich.
»Wer weiß, wie lange diese erstaunliche Phase anhält«, brummte Dieter.
»Euch kann man auch nichts recht machen«, beschwerte sich Lena, dann packte sie die Sachen in ihren Rucksack und machte sich auf den Weg.
Als sie den Wald erreichte, zögerte sie zunächst und überlegte, ob sie tatsächlich da hindurchfahren sollte. Leise wogten die Bäume in der Morgenbrise, Vögel trällerten ihre Lieder. »Ich bin doch kein Angsthase«, flüsterte sie schließlich, musste schmunzeln und radelte los. Alles war ruhig und friedlich, die Erde roch nach dem Regen der letzten Nacht. Hin und wieder hatte sie das Gefühl, Augen im Rücken zu spüren, tat das jedoch als Einbildung ab. Vielleicht waren es ja auch Geister, so wie der Bär, den sie mit Ragnar gesehen hatte. Lena trat in die Pedale und erreichte rasch den Reitstall.
Ragnar brachte gerade ein Pferd auf die Weide und sah sie erstaunt an, als sie neben ihm hielt. »Wir waren doch erst für abends verabredet, oder täusche ich mich?«
»Ich dachte, ich helfe dir. Mit deinen Händen kannst du sicher kaum arbeiten.«
»Mit Handschuhen geht es«, versicherte er ihr.
»Soll ich wieder fahren?«, fragte sie enttäuscht.
»Nein, es ist nett von dir, dass du an mich denkst.«
Wenn du wüsstest, wie oft ich in letzter Zeit an dich gedacht habe. Laut sagte sie: »Gut, wo soll ich anfangen?«
»Die Boxen müssen ausgemistet und später Futter auf den Weiden verteilt werden.«
Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit, und Lena war froh, hergefahren zu sein, denn sie bemerkte, wie schwer es Ragnar fiel, die körperlich anstrengenden Tätigkeiten auszuführen.
»Zeig mal deine Hände«, verlangte sie, als sie eine Pause einlegten.
»Nein, das ist kein sonderlich schöner Anblick.«
»Das ist mir egal.«
Mit gerunzelter Stirn verschränkte er die Arme vor der Brust, aber Lena ruckte energisch an seinem Arm, sodass er schließlich mit zusammengekniffenen Lippen einen Handschuh auszog. Anschließend wickelte er den Verband ab.
Lena riss die Augen entsetzt auf, als sie seine knallrote, teilweise blutige und von Pusteln übersäte Hand sah. »Ach du Schande!«
»Ich weiß auch nicht, normalerweise heilt bei mir alles ausgesprochen schnell ab«, knurrte er missmutig.
»Wahrscheinlich bist du doch ein Vampir«, scherzte Lena. »Hast du am Ende Knoblauch oder Eisenkraut angefasst?«
»Wie bitte?«, fragte Ragnar verständnislos.
Kichernd musste sie an ihre Cousine denken, wollte Ragnar aber nicht verraten, dass sie mit ihr über ihn gesprochen hatte. Daher langte sie eilig in ihren Rucksack. »Oma hat mir noch eine andere Creme mitgegeben, vielleicht wirkt die besser.«
»Danke.« Er wollte die Salbe einstecken, aber Lena hielt seine Hand fest. »Ich kann sie auftragen, das ist sicher einfacher, als wenn du es selbst tust.«
Er nickte zustimmend, zuckte ein paarmal kurz zusammen, als sie die offenen Stellen berührte, aber nachdem sie den Verband wieder festgewickelt hatte, entspannte sich seine Miene. »Danke, jetzt brennt es deutlich weniger«, stellte er verwundert fest.
»Das freut mich.« Lena lächelte. »Oma ist eben doch die beste Kräuterhexe.«
Bis in den frühen Nachmittag hinein waren sie mit den Stallarbeiten beschäftigt. Anschließend sah Lena Ragnar zu, wie er einige Pferde ritt. Dies schien besser zu funktionieren, denn er führte die Zügel mit sanfter Hand, und Lena bewunderte auch heute seinen eleganten Reitstil. Auf Lena machte es den Eindruck, als wäre er eins mit der jungen Stute, die er einreiten musste, lenkte sie behutsam und redete leise mit ihr, wenn sie sich widersetzte oder unsicher wurde. Später mussten sie dann die Pferde wieder zurück in ihre Boxen führen, füttern und den Hof fegen. Am Ende war Lena ganz schön erledigt, aber Ragnars dankbares Lächeln war Lohn genug.
»Ich habe Brot, Käse, Wurst und Gurken sowie Tomaten aus unserem Garten mitgebracht«, erzählte sie. »Dann können wir draußen essen, während wir auf die Sternschnuppen warten.«
»Gute Idee«, freute sich Ragnar. Nachdem sie nacheinander unter die Dusche gestiegen waren, machten sie sich in der Dämmerung auf den Weg. Gemeinsam schlenderten sie durch den Wald und hielten an einer Lichtung an. Dort breitete Ragnar eine Decke aus, und sie ließen sich ihr wohlverdientes Abendessen schmecken. Eine ganze Weile unterhielten sie sich über ihre vergangene Schatzsuche und überlegten, was sie noch tun konnten, um das letzte Teil zu finden, und Ragnar erzählte sogar ein bisschen von seiner Kindheit in Island. Lena genoss es, neben ihm zu liegen und seiner angenehmen, ruhigen Stimme zu lauschen. Irgendwann leuchteten die ersten Sterne am Himmel, der Wald war in ein rötliches Zwielicht getaucht, und allmählich wurde es kühler.
»Wir haben Glück, der Himmel ist wolkenfrei«, freute sich Ragnar. »Sieh nur, der große Wagen und dort drüben der Drache.«
»Wo denn?« Lena folgte seinem ausgestreckten Finger und fand mit der Zeit richtig Spaß daran, die unterschiedlichen Sternbilder zu erkennen. »Woher weißt du das alles eigentlich?«, erkundigte sie sich fasziniert.
»Mein Großvater hat sich dafür interessiert.« Auf einmal klang er traurig. »Am schönsten fand ich immer die Nordlichter im Sommer in Island. Man hatte das Gefühl, der Himmel würde in Flammen stehen.«
»Das würde ich auch gerne einmal sehen.« Inzwischen war es völlig dunkel, und Lena zog ihren Pullover enger um sich.
»Ist dir kalt?«
»Ich hätte mir noch eine Jacke mitnehmen sollen.«
»Komm her.« Einladend hob er einen Arm, und Lena hielt den Atem an, dann rutschte sie zu ihm herüber, schmiegte sich an ihn und genoss die Wärme, die er verströmte.
»Besser so?«
»Ja.« Selten in ihrem Leben hatte sich Lena derart geborgen und sicher gefühlt, und sie wusste mit einem Mal gar nicht mehr, was sie jemals an Ragnar auszusetzen gehabt hatte. Sie wünschte sich, sie könnten bis ans Ende aller Zeit hier auf dieser Wiese liegen bleiben. Einträchtig und stumm blickten sie in den Himmel, dann zischten tatsächlich einige Sternschnuppen über das Firmament.
Auch wenn Lena sich scheute, dieses Thema anzusprechen, wusste sie doch, dass sie es irgendwann tun musste. Sie wollte Gewissheit darüber haben, was sie Ragnar wirklich bedeutete.
»Sag mal, deine Freundin in Island – wie lange warst du mit ihr zusammen?«
Sie spürte, wie er sich anspannte, und mit einem Mal war seine Stimme wieder deutlich härter und unnahbarer. »Über ein Jahr.«
»So lange war ich noch nie mit jemandem zusammen.«
Jetzt drehte er den Kopf zu ihr und sah sie an. »Du bist ja auch noch jung.«
»Nur drei Jahre jünger als du.«
»Ja, das stimmt.«
»Wenn du dich wieder verlieben würdest … Ich meine, wie …«
Ein Lächeln überzog sein Gesicht, und Lenas Herz schlug schneller. Vielleicht sagt er mir jetzt auch, dass er sich in mich verliebt hat, hoffte sie.
»Eines Tages werden wir beide den oder die Richtige finden, da bin ich mir sicher.«
Schlagartig wurde Lena eiskalt, sie schluckte hart und konnte nur mit Mühe die aufsteigenden Tränen unterdrücken. Und als Ragnar weitersprach, wurde alles noch viel schlimmer.
»Falls ich mich noch einmal verliebe, muss ich mir ganz sicher sein. Ich befürchte, ich bin niemand für kurze Affären.«
»Nein, vermutlich nicht«, erwiderte sie lahm.
»Ich wünsche mir ein Mädchen, das die Natur mag, abenteuerlustig ist, Humor hat …«
Verdammt, Ragnar, das alles trifft doch inzwischen auf mich zu, dachte sie verzweifelt.
»… und ich möchte mich auch über ernsthafte Dinge mit ihr unterhalten können. Ganz wichtig ist natürlich Vertrauen«, sinnierte er weiter, während sein Blick in den Himmel gerichtet war.
»Können wir jetzt gehen? Mir ist echt kalt«, unterbrach Lena ihn. Ein dicker Kloß saß in ihrer Kehle.
»Oh, natürlich.« Er lachte leise auf. »Für euch Deutsche ist der Sommer schon zu Ende, in Island wären diese Temperaturen ausgesprochen angenehm.«
»Tut mir leid, dass ich nicht so hart bin wie Mädchen aus Island«, giftete sie ihn an.
»Was ist denn auf einmal los, Lena?«, erkundigte sich Ragnar.
»Nichts, ich will nur nach Hause.« Eilig raffte sie die Überreste des Picknicks zusammen, Ragnars irritierte Blicke ignorierte sie geflissentlich. Am Ende wanderten sie durch die Dunkelheit zurück.
Den ganzen Weg über kämpfte Lena mit den Tränen, und wenn Ragnar eine Frage an sie richtete, antwortete sie nur einsilbig. Am liebsten hätte sie sich von ihrer Großmutter abholen lassen, wollte diese aber nicht wecken und ließ sich daher doch von Ragnar nach Hause fahren. Traurig lehnte sie ihren Kopf an seinen Rücken, verabschiedete sich kurz und knapp von ihm, und nachdem sein Motorrad hinter der nächsten Biegung verschwunden war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
Ihre Gefühle waren ganz offensichtlich nur einseitig, und wenn sie es sich recht überlegte, hatte er ja sehr genaue Vorstellungen, wie seine Zukünftige sein sollte. Groß, blond, in seinem Alter – jedenfalls rein äußerlich war sie das genaue Gegenteil. Aber eigentlich hielt sie Ragnar mittlerweile nicht mehr für jemanden, der alles auf Äußerlichkeiten reduzierte. Ihre Freundschaft war ihr in der Tat viel wert, und auch sie hatte ja erst vor Kurzem bemerkt, wie viel er ihr tatsächlich bedeutete. Möglicherweise käme er ja ebenfalls noch darauf, dass sie ganz gut zusammenpassten. Lena legte sich auf ihr Bett, umarmte ihr Kissen und wünschte sich sehnlichst, Ragnar wäre bei ihr.