Kapitel 25

Elvancor

Wie verteidigte man sich gegen eine Schattenkreatur, einen Geist, ein körperloses Wesen? Starr vor Angst torkelte Lena gegen den Zaun.

»Fürchte dich nicht.« Die Stimme klang anders als beim letzten Mal. Wärmer, dunkler und vielleicht eine Spur weniger Furcht einflößend, trotzdem hatte Lena den Eindruck, keine Luft mehr zu bekommen.

»Was willst du von mir?«, flüsterte sie.

Der Mann schlug die Kapuze zurück, und im fahlen Schein der weit entfernten Straßenlaterne erkannte Lena zunächst lediglich helle Haare.

»Ich bin Ragnars Großvater. Ich möchte mit dir sprechen.«

»Sein Großvater?« Lena wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah. Was wollte dieser Everon ihr jetzt einreden?

Als der Mann jedoch in den Lichtstrahl der Laterne trat, konnte Lena die Gesichtszüge ausmachen; sie wirkten anders als bei Everon, weniger schemenhaft, dennoch blieb sie vorsichtig.

»Ich … gehe jetzt zurück ins Haus«, sie bemühte sich, ihren Worten einen festen Klang zu verleihen, »und Sie verschwinden!«

»Lena, du musst wirklich keine Angst vor mir haben«, beschwor sie der Mann. »Schon seit einigen Tagen suche ich nach dir, denn diese Welt habe ich eine Weile nicht mehr gesehen, die Orte sind mir nicht mehr vertraut.«

Schritt für Schritt tastete sich Lena zurück.

»Ragnar bat mich, dich aufzusuchen, er machte sich große Sorgen um dich.«

»Ragnar ist tot.« Verzweifelt versuchte Lena, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Und vermutlich haben Sie ihn umgebracht.«

»Ja, sie haben ihn getötet.«

»Sie?«, wunderte sich Lena.

»Die Rodhakan.«

»Was zum Teufel sind …« Der Begriff kam ihr bekannt vor, aber sie wusste im Augenblick nicht, wann sie ihn schon einmal vernommen hatte, aber das war ihr im Moment auch egal. »Ich meinte Sie!« Lena deutete auf den Mann, der auf einmal verwirrt zurückzuckte.

»Ich?«

»Natürlich, Sie!«

»Ich verstehe nicht …«

Beinahe hätte Lena laut losgelacht. Sie stand hier in der Dunkelheit und diskutierte mit einem äußerst eigenartigen Wesen über eine völlig normale Anredeform.

»Dann eben du.« Erneut zeigte sie auf ihn.

»Nein, ich war es nicht!« Seine Stimme klang ausgesprochen empört. »Es waren Rodhakan, Schattenwesen. Einer von ihnen hat die Gestalt eines Mitglieds meines Volkes angenommen – er ist sehr mächtig.«

»Ich weiß nicht, was das soll«, entgegnete Lena ungeduldig. »Sie sind kein normaler Mensch und erzählen mir, Sie wären Ragnars Großvater. Aber der ist doch auch schon längst tot und sah garantiert nicht so aus wie Sie – ähm du

»Ich bin Maredd von den Tuavinn«, erklärte der Fremde mit stolzer Stimme.

»Natürlich, Maredd, Frau Winters ominöser Verehrer, das ist ja völlig abgefahren.«

»Mein Erscheinen verwirrt dich, das war mir bewusst«, redete der vermeintliche Maredd auf sie ein, »aber ich musste den richtigen Zeitpunkt abwarten. Amelia und Ragnar beschworen mich schon seit langer Zeit, dich nach Elvancor zu holen. Doch erst als du mit dem Amulett in der Höhle …«

»Das Amulett!«, stieß Lena hervor und riss die Augen weit auf. Ihre Hand fuhr zu dem Schmuckstück. Woher konnte der Kerl davon wissen?

»Die Rodhakan hätten dich beinahe gefangen«, erklärte er weiter. »Sie spürten die Präsenz des magischen Knotens genau wie ich, nur waren sie näher bei dir. Ich eilte dir zu Hilfe, und das Licht, das sie vertrieb …«

»Das warst du?«, beendete Lena den Satz, woraufhin der Mann freundlich nickte.

Inzwischen stand er direkt neben ihr, und Lena bemerkte, dass sie ihm nicht einmal bis zur Schulter reichte.

»Aber Ragnar und Frau Winter, ich meine Amelia …«, stammelte sie und sah ihm völlig verwirrt in die dunkelgrauen Augen, in denen, so wie in Ragnars, kleine silberne Punkte tanzten.

»In deiner Welt sind sie gestorben, doch in Elvancor leben sie.«

»Elvancor – Sie wollen mir erzählen, Sie sind Maredd aus Elvancor!« Ein hysterisches Lachen entstieg Lenas Kehle.

Kurz stutzte er – vermutlich weil sie ihn erneut siezte, dann verneigte er sich. »Das bin ich in der Tat. Könnten wir das Gespräch möglicherweise im Inneren deiner Behausung fortführen – ich spüre, die Rodhakan könnten in der Nähe sein.«

»Oh, ja … also.« Lena war völlig durcheinander, und auch wenn das eine oder andere dafür sprach, dass das hier tatsächlich Maredd war, so wusste sie doch nicht, wie sie ihren Eltern diesen seltsam gekleideten, silberhaarigen Mann erklären sollte, der, wie sie nun bei näherem Hinsehen erkannte, sogar ein Schwert an seiner Seite trug. Dieses umklammerte er gerade und sah sich nervös um.

»Okay, von mir aus«, gab sie nach. »Kommen Sie … Ich meine, komm einfach zur Rückseite des Hauses, ich lasse dich durch das Fenster herein.«

»Ist das dieser Tage in diesem Land Tradition?« Fragend legte er den Kopf schief, und gegen ihren Willen musste Lena kichern.

»So in etwa.« Völlig aufgelöst ging sie ins Haus zurück. Was Maredd da erzählte, klang absurd – sie hatte ja sogar Ragnars Leiche gesehen. Wie konnte er da in einem anderen Land existieren? Trotzdem schlug ihr Herz schneller.

»Hast du den Müll nach Heiligenstadt gebracht?«, brummelte ihr Vater.

»Nein, ich … habe nur frische Luft geschnappt«, erklärte sie.

»Also, wir gehen jetzt ins Bett.« Mitleidig streichelte ihre Mutter ihr über die Haare. »Versuch, auch ein bisschen zu schlafen – trotz dieser furchtbaren Geschichte.«

»Ja, gute Nacht.«

Sofort hastete Lena in ihr Zimmer, öffnete das Fenster und die geschlossenen Fensterläden. Keinen Atemzug später sprang Maredd herein. Elegant und leise wie eine Raubkatze. Jetzt konnte Lena ihn genauer betrachten. Er hatte ein schmales, markantes Gesicht mit einer leicht gebogenen Nase, hohen Wangenknochen und diesen ungewöhnlichen Augen, die denen von Ragnar so verblüffend glichen.

»Was ist mit Ragnar? Wie kannst du sagen, er würde leben?«, fragte sie sofort.

Geschmeidig ließ sich Maredd auf Lenas Schreibtischstuhl nieder, drehte sich ein paarmal hin und her, wobei ein verwunderter Ausdruck auf sein Gesicht trat, dann legte er seinen Umhang ab und stellte das Schwert an die Wand. Er trug ein dunkelgrünes, bis zum Hals geschnürtes Hemd, eng anliegende, graue Hosen, die muskulöse Beine bedeckten, und hohe Stiefel aus abgewetztem Leder.

»Lena, mit wem sprichst du denn da?«, erklang die Stimme von ihrer Mutter vor der Tür.

Eilig legte Lena einen Finger an ihre Lippen. »Ich habe noch kurz mit Katrin telefoniert.«

»Gut, aber geh jetzt schlafen, Lena, das ist wichtig für dich.«

»Ja, Mama, gute Nacht.«

»Soll ich meine Stimme dämpfen?«, bot Maredd an. »Ich vermute, deine Mutter wäre über den nächtlichen Besuch eines Tuavinn-Kriegers in deinem Zimmer nicht sehr erfreut.«

»Nein, eher nicht.«

Also sprach Maredd ganz leise. »Wir Tuavinn sind ein Volk aus einem magischen Land. Amelia erzählte dir bereits einiges, auch wenn du ihr damals vermutlich keinen Glauben geschenkt hast.«

»Ich glaube im Moment auch nicht, hier mit dir zu sitzen«, grummelte sie.

Doch Maredd ließ sich nicht beirren. »Amelia ist meine Anam Cara, meiner Seele verbunden, und als sie ihren Körper verließ, spürte ich das durch die Schleier zwischen den Welten hindurch. Im Moment des Todes wird eine große Menge an Magie freigesetzt oder Energie, wie du es nennen würdest. Mir war es möglich, zu ihr zu reisen und sie nach Elvancor zu holen. Dort erfuhr Amelia auch, dass Ragnar von meinem Blute ist.«

»Moment, Moment«, unterbrach Lena und hob die Hand. »Woher wusstest du das, und wie kann Ragnar dein Enkel sein? Ich meine, gut, er hat deine Augen, aber Amelia hat mir erzählt, ihr Sohn Lucas wäre erst elf Monate nach eurem letzten Treffen auf die Welt gekommen.«

Ein Schmunzeln huschte über Maredds ernstes, würdevolles Gesicht. Lena überlegte, wie alt er sein mochte – er musste uralt sein, sah jedoch nicht danach aus. Sofern man das Alter dieses Mannes überhaupt schätzen konnte, hätte sie ihn für Ende vierzig gehalten.

»Ein Kind elf Monate auszutragen, ist für eine Tuavinn-Frau keine lange Zeit. Zwölf bis dreizehn Monate, sofern man die Zeit berechnen möchte, so wie ihr, ist die Regel.«

»Wow!«, stieß Lena hervor. »Kein Mensch ist so lange schwanger!«

»Wir sind auch keine Menschen«, stellte Maredd klar, woraufhin Lena zurückzuckte. »Den Menschen äußerlich zwar ähnlich ist unser Volk doch mit Magie vertraut und benötigt eine längere Zeitspanne, um sich zu entwickeln.«

»Also willst du mir sagen, du hast Amelia Winter, die hier tot ist, mit in dein Land genommen, und da lebt sie, genau wie Ragnar?«

»Ja, das versuche ich, dir zu erklären, aber die Zeit drängt, denn die Rodhakan erstarken in meinem Land.« Sein Kopf drehte sich zum Fenster. »Durch das Amulett wird der Pfad nach Elvancor passierbar sein. Wenn du mich begleitest, wirst du es selbst sehen, und ich erspare mir weitere Worte.«

»Hm, ich weiß nicht recht.« Abgesehen davon, dass es ohnehin verrückt war, mit diesem seltsamen Mann hier in ihrem Zimmer zu sitzen, wusste Lena nicht, was sie denken sollte. Selbstverständlich reizte es sie, das magische Elvancor zu sehen, und sie sehnte sich so sehr nach Ragnar. Aber richtig glauben konnte sie all diese Geschichten um Elvancor nicht.

»Du zweifelst, das verwundert mich nicht.« Lena zuckte zurück, als Maredd zu ihr trat und ihr eine Hand auf die Brust legte. »Mein Amulett wird dir auch in deinem jetzigen Körper Zutritt gewähren, und wenn du hierher zurückkehrst, wird für die deinen nicht einmal ein Tag vergangen sein.«

»Wie nett, dass ich meinen Körper behalten darf«, entgegnete sie zynisch, dachte fieberhaft nach und kam einfach zu keinem Ergebnis. »Und was ist mit diesen Rodhakan?«

»Wenn ich bei dir bin, werden sie dir kein Leid zufügen«, versprach er. »Zudem handelt es sich um noch recht schwache Kreaturen, lediglich einer von ihnen kam in Gestalt eines der unsrigen in diese Welt und verfügt über eine gewisse Macht.«

»Meine Familie«, unruhig sah sie sich um, »sicher sind auch sie in Gefahr.«

»Nein«, Maredd schmunzelte, »diese Behausung ist geschützt, und auch weite Gebiete eurer Wälder. Zudem werden wir einige unserer Krieger herschicken, um die Rodhakan zu jagen, das verspreche ich dir. Nur müssen wir uns sputen, denn im Augenblick ist der Zeitpunkt günstig, nach Elvancor und zurück zu reisen. Die Linien der Macht sind stark.«

Für Lena war das alles unbegreiflich. »Aber wie sind die Rodhakan überhaupt hierhergekommen?«

»Es war Ragnars Schuld, auch wenn er damals nicht wusste, was er tat und es auch nicht beabsichtigt hatte. Er ist etwas ganz Besonderes«, fuhr sein Großvater fort. »Nur selten kommt es vor, dass Tuavinn Kinder bekommen, und noch seltener vereinigen sich Mensch und Tuavinn. Doch soweit uns bekannt ist, hat noch niemals ein Mischwesen aus Tuavinn und Mensch, so wie unser Sohn Lucas es war, einen Nachkommen zeugen oder zur Welt bringen können. Ragnar ist ein einzigartiges magisches Wesen. Seine seltsame Gabe ist vermutlich auch der Grund, dass er überall einen Pfad nach Elvancor schaffen kann, denn normalerweise ist es uns nur an bestimmten Kraftorten möglich, über die Schwelle zu treten.« Energisch fasste er sie an der Schulter. »Lena, er brennt darauf, dir alles zu erklären, doch wenn du noch lange zögerst, werden sich Amelia und Ragnar sorgen.«

»Amelia, Ragnar?« Verwirrt schüttelte Lena den Kopf.

»Sie unterliegen nicht mehr eurer Vorstellung von Zeit und werden warten.« Er sah sie von der Seite her an. »Ragnar hat sich zu Anfang viele Gedanken um dich gemacht, und obwohl ihn seine Ausbildung sehr vereinnahmt hat, spricht er häufig von dir.«

»Es sind doch nur ein paar Tage her, wie kann er denn …« Lena unterbrach sich selbst, denn sie erinnerte sich daran, dass Frau Winter damals erzählt hatte, sie wäre lange Zeit fort gewesen und hier sei lediglich ein Tag vergangen.

So als hätte Maredd ihre Gedanken gelesen, lächelte er. »Elvancor liegt jenseits eurer Zeitrechnung. Ragnar hat viel gelernt.«

»Gut, ich komme mit.« So unglaublich Maredds Erzählungen klangen, Lena musste wissen, ob sie der Wahrheit entsprachen, sonst würde die Ungewissheit sie ein Leben lang plagen. Und Ragnar – ein Kribbeln machte sich in ihr breit –, ihn noch einmal zu sehen, war jedes Risiko wert.

»Das erfreut mein Herz.« Schon war Maredd beim Fenster, sprang hinaus und hielt Lena seine Hand hin. »Wir müssen uns beeilen.«

An der Seite des hochgewachsenen Kriegers hastete Lena durch den Wald. Zu ihrer eigenen Überraschung fürchtete sie sich nicht einmal vor diesem Everon, denn Maredd strahlte eine große Ruhe und Überlegenheit aus. Hin und wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken, sie könnte das alles nur träumen, aber Maredd war ebenso real wie das raschelnde Laub unter ihren Füßen.

»Amelia hat gesagt, nicht immer wäre der Weg nach Elvancor passierbar«, fiel Lena plötzlich ein.

Ganz kurz legte sich Maredds Hand auf das Amulett an ihrer Brust. »Das ist richtig, und auch ich musste mich in Geduld üben. Aber vor langer Zeit haben Menschen und Tuavinn ihre Kräfte vereint und diese Schmuckstücke erschaffen. An Orten wie der Esperhöhle entfalten sie ihre Magie, verbinden die Kraftlinien beider Reiche miteinander und machen den Übertritt möglich. Gleich wird sich der Pfad nach Elvancor öffnen.«

Sie konnte ihm kaum folgen, so schnell rannte er den Berg hinauf und auf die in tiefer Dunkelheit liegende Esperhöhle zu. Schon tauchte der hohe Felsen vor ihnen auf, doch vor dem Eingang hatten sich drei Gestalten aufgebaut.

Lena hielt den Atem an.

»Bleib dicht hinter mir.«

Etwas anderes hätte sie auch nicht im Sinn gehabt. Everon, in den langen Umhang gekleidet, der große Fuchs und ein Wesen, das wegen seiner Konturlosigkeit nur vage an einen Menschen erinnerte, stellten sich Maredd in den Weg.

Panische Angst schnürte Lena die Kehle zu, aber Maredd zog lediglich sein Schwert, stürzte vorwärts. Einer der Schatten schnellte herbei, dann der nächste. Mit ungeheuer raschen und geschmeidigen Schlägen hieb Maredd auf die Schattenwesen ein. Nur wenig Licht fiel durch die Bäume, und so konnte Lena kaum etwas erkennen, aber sie hörte verzweifelte Schreie, dann ein Jaulen und alsbald ergriff Maredd sie an der Hand. »Komm.«

Er zog sie mit in die Höhle, und da glaubte Lena auf dem Boden ganz feine, leuchtende Striche zu sehen. Außerdem wurde das Amulett um ihren Hals warm, und als sie es unter ihrem Pullover hervorholte, bemerkte sie staunend, dass ein sanftes Leuchten davon ausging. Zudem bewegten sich die einzelnen Silberstränge, so unmöglich das in Lenas Augen auch erschien.

»Was ist das?«, fragte sie atemlos.

»Die Kraftlinien, die euren Planeten und auch alle anderen überziehen«, erklärte Maredd rasch. »Auf ihnen ist es möglich, in andere Welten und auch nach Elvancor zu reisen. Das Amulett ebnet uns den Weg in mein Land.«

Maredd fasste Lenas Hand fester, führte sie ins Zentrum eines Kreises, der aus sich verdichtenden und ineinander verschlungenen Linien bestand wie die des Amuletts, und drückte sie an sich.

»Maredd«, rief Lena kläglich, denn sie spürte ein eigenartiges Kribbeln am ganzen Körper, außerdem schwebte ein Schatten von der Decke herab, der Everons Gestalt annahm.

»Sie können uns nichts mehr anhaben«, versicherte Maredd ihr. Ein weißes Licht umhüllte sie, Maredd lächelte beruhigend, dann wirbelte alles um sie herum. Die feinen silbernen Linien, die Höhle, Lena fühlte sich durch einen Tunnel gezogen – endlos wie es ihr schien –, dann sah sie ein warmes, gelbrotes Leuchten, bevor alles in ihrem Kopf zu explodieren schien.

Verdammt, ich glaube, jetzt bin ich tot.

Ein lautes Rauschen weckte Lena, und als sie die Augen öffnete, blendete sie gleißendes Tageslicht.

Sanft streichelte eine Hand über ihre Haare, und als sie noch einmal vorsichtig blinzelte, stand Maredd vor ihr. »Den meisten Menschen geht es wie dir, wenn sie das erste Mal nach Elvancor kommen«, sagte er tröstend und hielt ihr eine Hand hin.

Verwirrt rappelte sich Lena auf, dann sah sie sich um. Sie befanden sich in einem grünen Tal, von unfassbar hohen Bergen umgeben, deren Gipfel im Nebel verschwanden. Das Rauschen stammte von einem Wasserfall, der tatsächlich direkt aus den Wolken stürzte. Tosend bahnte er sich seinen Weg über rund geschliffene Steine, und das Licht, das zu ihrer Linken besonders hell durch den Nebel drang, brach sich in den unzähligen Wassertropfen.

»Ist das …«

»Elvancor«, ergänzte Maredd mit Stolz in der Stimme.

Die steilen Berge aus hellgrauem Gestein, in die sich teilweise Bäume, Büsche, Moos und Blumen krallten, boten einen atemberaubenden Anblick. Lena wurde schwindlig, als sie in die Höhe blickte.

Ganz unvermittelt löste sich aus den schimmernden Gischttropfen des Wasserfalls eine Gestalt.

»Maredd, ein Rodhakan!«, entfuhr es Lena, und sie brachte sich eilig hinter seinem Rücken in Sicherheit.

Doch der Krieger blieb gelassen und verbeugte sich vor der Nebelgestalt, die bei näherem Hinsehen die Form einer Frau annahm.

»Hell scheine das Licht der Ewigkeit, Maredd. Ich begrüße deine Rückkehr.« Sie kam – oder floss – näher heran. Ihr Gesicht wirkte zeitlos, ebenmäßig, von blassblauer Farbe, die Augen schimmerten wie bläuliche Wasserperlen, und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem einnehmenden Lächeln. Trotzdem wusste Lena nicht, was sie von der Frau halten sollte, und bekam kein Wort heraus. »Dieses Menschenkind ist nur zu Gast in unserem Reich. Ich heiße sie willkommen.«

»Ihr Name ist Lena. Sag, Herrin des Wassers, droht uns Gefahr?«

Die Frau mit dem Haar, das einem schimmernden, silberblauen Fluss glich, schüttelte ihren Kopf. »Dein Volk konnte die meisten Rodhakan aus den Bergen vertreiben.«

Die angespannten Schultern des Kriegers lockerten sich. »Mein Herz ist erfüllt von großer Freude.« Sanft, aber bestimmt schob er Lena nach vorne. »Lena kam her, um Ragnar zu finden. Ist dir sein Aufenthaltsort bekannt?«

»Nein, doch ist es mir möglich, es herauszufinden.« Die Frauengestalt schwebte zum Wasserfall, verschmolz darin und kehrte zu Lenas grenzenlosem Erstaunen nur wenige Augenblick später zurück.

»Ragnar und einige deiner Brüder befinden sich am Fuße der Berge von Avarinn, am Rande der Ebenen in der Nähe des Himmelsflusses.«

»Das Glück ist uns hold.« Lächelnd wandte sich Maredd an Lena. »Wir werden ihn bald sehen.« Dann verneigte er sich erneut vor der Wasserfrau. »Sagt, Herrin, würdet Ihr uns die Ehre erweisen?«

»Die Wege des Wassers begrüßen Euch.«

»Komm, Lena, wir werden Ragnar in wenigen Augenblicken sehen.«

Verdutzt sah Lena den großen Krieger an. »Aber wir sind hier mitten in den Bergen. Ich denke, er wäre auf irgendeiner Ebene.«

»Die Herrin des Wassers gewährt uns die Ehre, durch die Himmelswasser zu reisen.«

»Sollen wir etwa da durchschwimmen?«, erkundigte sie sich entsetzt und deutete auf den Wasserfall. Wild sprudelnd bahnte sich der gewaltige Fluss seinen Weg durch die urtümliche Berglandschaft und war mit Sicherheit eiskalt.

»Schwimmen wäre nicht die richtige Bezeichnung«, meinte Maredd mit einem Schmunzeln, während die Herrin des Wassers ihre durchscheinende Hand nach Lena ausstreckte. Diese schien keine feste Form zu haben, so wie ihr gesamter Körper. Fließendes Wasser strömte unablässig durch sie hindurch und bildete trotz allem die Gestalt dieser alterslos schönen Frau.

»Vertrau mir, Lena, ich habe dich sicher hierhergebracht.«

»Okay«, antwortete sie zögernd, schritt an Maredds Seite auf die Herrin des Wassers zu und hielt die Luft an, als diese sie beide umarmte.

Urplötzlich wuchs sie zu einem gewaltigen Strudel an, Lena sah nur noch hellblaues Wasser um sich herumwirbeln. Vage bekam sie mit, wie sie regelrecht in den Wasserfall hineingesogen wurden. In unfassbarer Geschwindigkeit rasten sie in die Tiefe. Selbst ein Schrei blieb ihr im Halse stecken, sie glaubte, ertrinken zu müssen, und lediglich Maredds feste Umarmung bewahrte sie davor, völlig in Panik zu geraten. Wasserwirbel tanzten durch die tosenden Fluten, und Lena meinte, sogar Gesichter darin zu erkennen, aber dann war der Spuk jäh vorüber. Auch wenn sich noch immer alles um sie drehte, stand sie auf einmal auf festem Grund. Maredd hielt sie nach wie vor fest, ohne seinen eisernen Griff wäre sie vermutlich gestürzt. Die Wasserfrau verneigte sich vor ihnen und tauchte dann unvermittelt in einen breiten Fluss ein, der sich durch sanfte, grüne Hügel zog. Langsam drehte sich Lena im Kreis. Die Berge waren nun ein gutes Stück von ihnen entfernt, sie befanden sich in einem lieblichen Tal. Der reißende Wasserfall war verschwunden, und obwohl der Fluss noch eine beträchtliche Strömung aufwies, so konnte man ihn doch nicht mit dem tosenden Bergfluss vergleichen.

»Was war das?«, stammelte sie. »Wie sind wir hierhergekommen? Und wer zum Teufel war diese Wasserfrau?«

Maredd lächelte sie gutmütig an. »Du wirst dich bald an die Wunder von Elvancor gewöhnen. Wir sind durch die Güte der Herrin des Wassers durch ihr Element gereist. Manchmal gewähren uns die Herren der Elemente die Gunst, auf raschen Wegen an unser Ziel zu gelangen.«

»Die Herren der Elemente? Was soll das sein? Das ging so schnell. Und wir … wir sind nicht einmal nass!« Staunend fuhr sich Lena durch die Haare.

»Man könnte die Herrin des Wassers am ehesten als einen Naturgeist bezeichnen«, überlegte Maredd. »In alten Tagen waren sie den Tuavinn stets in Freundschaft verbunden, doch heute kann man nicht immer auf ihre Hilfe zählen.«

Das alles verwirrte Lena ungemein. »Sie sah so menschlich aus«, murmelte sie.

»Nur, weil du ein Mensch bist«, entgegnete er lächelnd. »Ein Pferd, Drache oder eine Bergkatze würde sie als eine der ihren wahrnehmen.«

»Ach wirklich?« Das alles war so unglaublich, und eigentlich konnte sie nach wie vor nicht fassen, tatsächlich hier zu sein. Heimlich kniff sie sich in den Arm, aber dieses weite, grüne Land blieb. Ein sanfter Wind ließ das kniehohe Gras wogen, hoch oben am Himmel zogen große Vögel ihre Kreise, und schillernde Insekten, Libellen nicht unähnlich, flirrten über einem smaragdfarbenen See.

Unvermittelt legte Maredd seine Hände an die Lippen, hob seinen Kopf und stieß einen lauten Ruf aus, der Lena an den eines Raubvogels erinnerte. Der Schrei wurde aus der Luft erwidert, und schon schoss ein anmutiger weißer Vogel, dessen dunklere Flügel einen interessanten Kontrast bildeten, in die Tiefe.

»Bald werden sie hier sein.«

»Wer?«

»Ragnar und Etron. Graha begibt sich auf die Suche nach ihnen.« Auf Lenas fragenden Blick hin erklärte er: »Etron ist ein Tuavinn, und Graha, sein Bussard, wird ihn finden.«

»Du kannst mit einem Bussard sprechen?«, stellte Lena kritisch fest.

»Selbstverständlich. Hier in Elvancor versteht jeder den anderen.« Er deutete auf seine Brust. »Im Herzen.«

Eigentlich hätte sie nichts mehr wundern dürfen, aber sie staunte dennoch und konnte kaum verarbeiten, was sie da hörte. Maredd legte ihr einen Arm um die Schultern und nickte ihr zu. »Öffne dein Herz, Lena, dann wirst du verstehen.«

Das wollte sie nur allzu gerne, doch irgendetwas in ihr weigerte sich, Maredd zu glauben. Aber dann wurde sie abgelenkt, denn sie spürte ein Beben. Kleine Vögel flatterten hinter dem nächsten Hügel auf, Maredd hob sein markantes Gesicht, und ein Lächeln spielte um seinen Mund.

Das donnernde Geräusch wurde lauter, drei Reiter näherten sich auf einem braunen und zwei grauen Pferden, deren lange Mähnen im Wind wehten. Ein großer Vogel kreiste über ihren Köpfen und stieß einen durchdringenden Schrei aus.

Maredds Hand drückte ihre Schulter, und bei allen Wundern, die Lena bisher gesehen hatte, erschien ihr dieses nun als das größte. Noch konnte sie die Reiter nicht genau erkennen, aber der Reitstil des Linken war ihr mehr als vertraut, und sie schlug eine Hand vor den Mund.

»Ragnar«, flüsterte sie ergriffen, spürte, wie ihre Wangen feucht wurden, während Maredd ihr sanft über die Haare strich.

»Heute beginnt das größte Abenteuer deines Lebens, Lena.«