Kapitel 2

Ragnarök

Am nächsten Morgen beim Frühstück kam Oma Gisela noch einmal auf das bevorstehende Sommerfest zu sprechen. »Ich habe gestern nur Spaß gemacht. Eigentlich tun mir die armen Leute im St. Elisabeth leid.« Sie seufzte schwer. »Ich hoffe, ich bleibe noch einige Jahre fit und dass es mir dann vergönnt ist, friedlich in meinem eigenen Bett einzuschlafen.«

»Ach Oma, du wirst sicher mit hundert noch in deinem Garten rumwuseln und eher Papa im Rollstuhl spazieren schieben als er dich.«

Das brachte ihre Großmutter zum Lachen. »Möglich wär’s, dein Vater ist mit den Jahren ganz schön behäbig geworden.« Sie machte eine eindeutige Geste vor dem Bauch. »Aber jetzt zurück zu eurem Sommerfest. Wie wäre es, wenn du die alten Leute nach Liedern aus ihrer Jugend fragst. Vielleicht könnt ihr ein paar Texte einstudieren. Oder ihr kocht gemeinsam Gerichte aus ihrer Heimat. Oft haben die alten Leute ein erstaunlich gutes Gedächtnis, was Dinge aus vergangener Zeit angeht.«

»Super Idee, Oma«, freute sich Lena. Da sie mal wieder spät dran war, schnappte sie sich ihr Marmeladenbrötchen und machte sich auf den Weg zum Seniorenheim. Zum Glück schaffte sie es pünktlich, half bei der Ausgabe des Frühstücks, bezog Betten frisch und verteilte gemeinsam mit Maike Medikamente auf den Zimmern. Die rundliche Pflegerin war eine der wenigen angenehmen Seiten dieser Arbeit, wie Lena fand. Offenbar hatte das zwei Jahre ältere Mädchen im Gegensatz zu Lena keinerlei Probleme mit vollen Windeln, verschmutzter Wäsche oder überquellenden Nachttöpfen. Eigentlich war Maike immer gut gelaunt, hatte für jeden Bewohner ein freundliches Wort und war jedem gegenüber hilfsbereit. Lena hingegen konnte sich mit vielen Aufgaben nicht anfreunden. Hätte sie lediglich die alten Leute im Rollstuhl durch die Gegend schieben oder ihnen Essen bringen sollen, wäre das in ihren Augen noch akzeptabel gewesen, aber insbesondere die pflegerischen Aufgaben lösten häufig eine kaum niederzuzwingende Übelkeit bei ihr aus.

Doch dankenswerterweise lenkte Maike sie ab, scherzte mit dem vergesslichen Herrn Schmidt, der zum hundertsten Mal seinen Geldbeutel suchte, und ließ sich auch von der dementen Frau Reichelt nicht beirren.

»Unter meinem Bett befindet sich ein Dieb!«, behauptete die Achtzigjährige steif und fest und weigerte sich hartnäckig, dieses zu verlassen.

Maike nahm lediglich einen Besen, kehrte demonstrativ unter Frau Reichelts Bett und meinte schließlich: »Sehen Sie, dem haben wir’s aber gegeben.«

Daraufhin nickte die korpulente Seniorin, erhob sich ächzend und stapfte aus dem Zimmer. »Jetzt werde ich Kartoffeln ernten«, verkündete sie im Brustton der Überzeugung.

Kichernd presste Lena eine Hand vor den Mund. »Kartoffeln! Wahrscheinlich gräbt sie gleich den ganzen Park um.«

»Du wirst lachen«, stimmte Maike zu, »das hat sie tatsächlich schon versucht. Hat dem Gärtner einen Rechen geklaut und wollte damit den Boden umgraben.«

»O Mann, manche sind hier echt krass drauf!« Nachdem Frau Reichelts Bett frischbezogen war, machte sie sich gemeinsam mit Maike auf den Weg zum nächsten Zimmer.

Ein lautstarker Streit ließ sie innehalten. An der offenen Tür stand, mit dem Rücken zu ihnen, ein schlanker Mann mit kurzem, grau meliertem Haar und schrie auf Schwester Gunda ein. Gunda war für ihr heiteres Wesen und ihren Hang zum Esoterischen bekannt. Um ihren Hals hingen stets zahlreiche Amulette und Ketten, und während der Pausen legte sie interessierten Kollegen häufig die Karten oder erstellte Horoskope. Jetzt war sie jedoch sichtlich aufgebracht, ihr Gesicht hatte beinahe die Farbe ihres feuerrot gefärbten Lockenschopfes angenommen, und sie musterte den Mann kopfschüttelnd.

Dieser gebärdete sich tatsächlich äußerst unverschämt und schrie: »Gibt es in diesem Saftladen nicht einmal einen Rollstuhl? Sie verlangen horrende Summen für die Pflege. Soll ich meine Großmutter am Ende die Treppe hinuntertragen?«

Lena fiel auf, dass er mit einem leichten Akzent sprach, den sie nicht sofort zuordnen konnte.

»Junger Mann«, Gundas Stimme blieb trotz allem gelassen, »ich sagte bereits, in spätestens einer Viertelstunde wird unser Pfleger mit Herrn Koch zurück sein, dann können Sie den Rollstuhl haben.«

Hektisch riss der Mann am Kragen seines T-Shirts herum, so als trüge er eine Krawatte, die ihm die Luft abdrückte. »Dann komme ich verflucht nochmal in fünfzehn Minuten zurück.« Er drehte auf dem Absatz um, und als er an Lena vorbeirauschte, erkannte sie voller Erstaunen, dass er trotz der zahlreichen grauen Strähnen in seinem dunklen Haar ein ausgesprochen jugendliches und glattes Gesicht hatte. Sie schätzte ihn auf allerhöchstens fünfundzwanzig. Sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen war vor Wut verzerrt, und an seinem Hals hatten sich rote Flecken gebildet. Sekunden später war er an der Tür und stieß diese so heftig auf, dass sie gegen die Wand krachte.

»Wow, wer war das denn?« Lena verzog das Gesicht.

»Einer von Frau Winters Enkeln«, erklärte Gunda. »Mit einer netten Familie ist sie nicht gerade gesegnet, ihr Sohn Georg ist auch nicht besser.«

»Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, gab Lena zurück, doch Gunda schüttelte den Kopf.

»Ragnar ist nicht Georgs Sohn.«

»Ragnar?«

»Na, der junge Heißsporn. Er ist von ihrem jüngeren Sohn Lucas, der mit einer Isländerin verheiratet war.«

»Daher der seltsame Name.«

Gunda fuhr sich durch ihre roten Haare. »Gott sei Dank heißt er mit Nachnamen Winter und nicht Rök.«

»Was? Warum?« Lena verstand den Witz nicht, wohingegen Maike leise lachte, aber sie wurde sogleich von Gunda belehrt.

»Ragnarök – das Ende der Welt in der nordischen Mythologie.«

»Okay, würde allerdings gut zu dem Typen passen«, bemerkte Lena amüsiert.

»So, jetzt aber genug geschwatzt.« Schwester Margareta kam aus dem Aufenthaltsraum und klatschte in die Hände. »Maike, du machst in Zimmer zwölf weiter, Gunda, sei so gut und richte die Medikamentenausgabe zum Mittagessen her. Lena, du kannst Herrn Krause schon mal hinausschieben. Der Fahrdienst ist überfällig, und Herr Krause hat einen dringenden Arzttermin.« Lena nickte, nahm den betagten Herrn Krause in Empfang, der kaum sprach, aber stets freundlich lächelte, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, dann schob sie den Rollstuhl in Richtung Ausgang. Die Sommerhitze schlug ihr ins Gesicht, aber glücklicherweise sorgte eine angenehme Brise für ein wenig Abkühlung. Sehnsüchtig dachte Lena daran, dass ihre Freunde jetzt vermutlich Eis aßen oder sich im Schwimmbad abkühlten.

Ihr Blick fiel auf Frau Winters Enkel, wie er, das Gesicht schweißüberströmt, an einem Baum lehnte und die Augen geschlossen hielt.

Wenn der aus Island kommt, ist ihm hier sicher zu warm, vielleicht ist er deshalb so ausgerastet, dachte sie und musterte ihn verstohlen.

Auch wenn sein Verhalten ihn äußerst unsympathisch erscheinen ließ, musste sie feststellen, dass er trotz seiner eigenartigen Haare auf den zweiten Blick nicht einmal schlecht aussah. Für Lenas Geschmack war er zu klein, nur knapp einen Kopf größer als sie, dafür aber schlank und durchtrainiert. Sein Gesicht war relativ schmal mit einer geraden, wohl geformten Nase.

Beschwingten Schrittes näherte sich nun Timo, was Lena schlagartig von diesem seltsamen Ragnar ablenkte. Der junge Pfleger kam mit einer Cola in der Hand auf sie zu. »Willst du?«

Leicht errötend nickte Lena, dann runzelte Timo die Stirn.

»Geht’s dem nicht gut?« Er deutete auf Frau Winters Enkel, der sich, die Augen noch immer geschlossen, am Stamm der alten Buche auf den Boden sinken ließ.

»Das ist Frau Winters Enkel – der Weltuntergang«, flüsterte sie und kicherte dann.

Fragend hob Timo eine seiner blonden Augenbrauen, und Lena nutzte sein Interesse gleich, in der Hoffnung, ein bisschen länger mit ihm plaudern zu können. Sie erzählte ihm, was sich soeben auf der Station abgespielt hatte.

»Okay«, erwiderte Timo gedehnt. »Ich hatte Frau Winters Enkel noch gar nicht gesehen.«

»Da hast du auch nicht allzu viel verpasst, der spinnt total.« Lena nickte dem Fahrer zu, woraufhin dieser Herrn Krause in den Transporter lud, dann ging sie an Timos Seite zurück zum Haus.

»Was machst du eigentlich nach Feierabend?«, fragte Lena, wobei sie sich um einen möglichst unverbindlichen Tonfall bemühte.

Sie bemerkte, dass Timos attraktives, äußerst männliches Gesicht ein leichtes Schmunzeln zeigte. »Dies und das, mit Freunden weggehen, grillen oder ins Schwimmbad.«

»Hm.« Plötzlich war es Lena peinlich, überhaupt davon angefangen zu haben, denn Timo ging nicht weiter darauf ein, sondern entschuldigte sich mit der Ausrede, in die Wäscherei zu müssen.

Sehnsüchtig sah sie seiner sportlichen Erscheinung hinterher – und wurde prompt von Maike erwischt.

»Du also auch«, erwähnte sie säuerlich.

»Was – ich auch?«

»Du stehst auf ihn.« Maikes Blick wanderte über Lena. »Lass dir aber gesagt sein, dass andere ältere Rechte haben.«

»Du vielleicht?«, fragte Lena spöttisch und fuhr sich demonstrativ über ihre schlanke Taille, woraufhin Maike knallrot anlief. Sie war auf Dauerdiät, bekam jedoch kaum ein Pfund herunter, ganz im Gegensatz zu Lena, die essen konnte, was sie wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. »Mir hat er wenigstens schon eine Cola ausgegeben.«

»Bild dir nur nichts ein!« Maike fuhr sich durch ihre schwarzen Haare. »Er ist eben freundlich und gibt öfters mal was aus.«

Da Lena keinen Stress mit Maike wollte, lenkte sie sogleich wieder ein. »Lass mal gut sein, falls er sich für dich entscheidet, werde ich euch nicht in die Quere kommen. Von Typen habe ich im Augenblick ohnehin die Schnauze voll«, meinte sie und schnitt eine Grimasse.

Auf der Stelle entspannten sich Maikes Schultern, auch wenn sie noch ein wenig misstrauisch wirkte. »Timo ist sowieso zu alt für dich«, grummelte sie.

»Du bist auch nicht viel älter als ich.«

Schon wieder holte Maike empört Luft, aber Lena klopfte ihr lachend auf die Schulter. »Ehrlich gesagt, habe ich den Eindruck, er will nichts mit einer Kollegin anfangen.«

»Da hast du leider Recht«, seufzte Maike. »Er trennt Beruf und Freizeit strikt, und auch wenn er schon fast drei Jahre hier arbeitet, ist er noch mit keiner der Pflegeschülerinnen eine Beziehung eingegangen.«

»Vielleicht steht er ja auf die olle Käppler«, scherzte Lena, woraufhin Maikes rote Wangen sich zunächst aufblähten, ehe sie losprustete – und schon war der kleine Streit vergessen.

Bald hatte Ragnar Winter bei sämtlichen Angestellten von St. Elisabeth seinen Spitznamen weg: der Weltuntergang – denn auch in den folgenden Tagen sorgte er für Wirbel, fiel durch sein unbeherrschtes Verhalten auf und hatte an allem etwas auszusetzen. Andererseits bemerkte Lena einige Verhaltensweisen an ihm, die sie verwirrten. Wenn sie Ragnar draußen im Park mit seiner Großmutter sah, verhielt er sich völlig anders. Bei gutem Wetter schob er die alte Dame stundenlang durch die Gegend, las ihr aus der Zeitung vor oder spielte mit ihr Karten. Es war so, als bestünde er aus zwei unterschiedlichen Personen. Der unbeherrschte Kotzbrocken, der sich maßlos über zu spät gewechselte Bettlaken oder enge Räume aufregte, und der liebevolle junge Mann, der sich aufopferungsvoll um seine Großmutter kümmerte. Wenn sie ihn im Park traf, nickte er ihr gelegentlich sogar freundlich zu, dennoch war er Lena unheimlich. Während der Pausen hatte sie mit den Kollegen sogar schon darüber diskutiert, ob er möglicherweise schizophren sei.

An einem sonnigen, durch ein nächtliches Gewitter angenehm abgekühlten Junitag war Lena gerade auf dem Weg zum Tor des Seniorenheims, um eine Lieferung frisches Obst und Gemüse in Empfang zu nehmen. Rasche Schritte hinter ihr ließen sie herumfahren. Unwillkürlich fuhr sie sich durch die Haare, als sie Timo erblickte, der auf sie zugejoggt kam.

»Ich soll dir helfen«, keuchte er.

»Das ist toll.« Zu ihrem Ärger spürte Lena, wie sie knallrot anlief, und als Timo sie urplötzlich hinter einen Busch zog und ihr einen Finger auf die Lippen drückte, drohte ihr Herz auszusetzen.

»Pass auf«, flüsterte er melodramatisch.

»Was ist?«, hauchte Lena. Wollte er sie am Ende küssen?

Doch ihre Hoffnung zerschlug sich schlagartig. »Der Weltuntergang naht!« Mit einem breiten Grinsen deutete Timo zum Seniorenstift, von dem Ragnar Winter mit seiner Großmutter im Rollstuhl in ihre Richtung kam.

»Idiot!« Lena befreite sich aus Timos Umarmung und schlug ihm auf die Schulter.

Der junge Pfleger ließ sich jedoch nicht beirren und deutete auf die Straße. Dort quälte sich ein beleibter Mann mit schütterem, dunkelblondem Haar aus seinem dunkelblauen Mercedes. »Das ist sogar ein doppelter Weltuntergang, würde ich mal sagen«, stellte er fest.

»Weshalb?« Lena zog sich ihren Kittel glatt.

Timo deutete zu dem Mann in Anzug und Krawatte, der sich nun durch das klemmende Tor quetschte, wobei er ein äußerst unleidliches Gesicht machte.

»Was machst du denn hier?«, bellte er Ragnar und dessen Großmutter schon von Weitem an.

»Das ist Frau Winters ältester Sohn Georg«, erklärte Timo. »Er ist ein hohes Tier bei Siemens in Erlangen.«

»Sehr beeindruckend«, meinte Lena zynisch. Sie blieb stehen und beobachtete, wie Georg Winter auf seinen Neffen zutrat, die speckigen Schultern gespannt, das Gesicht verkniffen.

»Ich besuche meine Großmutter«, bemerkte der junge Mann gelassen.

»Du hast sie jahrelang nicht besucht. Willst bestimmt nur an ihr Erbe!«

»Guten Tag, Georg.« Frau Winter lächelte ihren Sohn freundlich an.

Dieser stutzte kurz, nickte dann und wandte sich erneut an Ragnar. »Also, was hat dich aus deinem unzivilisierten, kalten Norwegen hergetrieben?«

»Island«, stellte Ragnar richtig, und Lena bemerkte, wie sich sein Gesicht anspannte.

»Das ist doch alles das Gleiche«, knurrte Georg Winter, ließ sich ächzend auf einer Parkbank nieder, wischte sich mit einem Taschentuch über die hohe Stirn und lockerte seine Krawatte.

»Ich muss mich nicht dafür rechtfertigen, hier zu sein. Früher haben wir Großmutter jedes Jahr ein- bis zweimal besucht.« Ragnars Hand legte sich auf die schmalen Schultern der alten Frau.

»Das ist schon ewig her«, keuchte sein Onkel, als hätte er nicht nur fünfzig Meter vom Tor bis hierher zurückgelegt, sondern einen Marathon hinter sich. »Seit dein Vater tot ist, hast du dich nicht mehr blicken lassen.«

»Es ist etwas schwierig, als Kind allein in ein Flugzeug zu steigen und herzufliegen«, schoss Ragnar zurück.

Georg Winter winkte nur ab. »Erbschleicher seid ihr, allesamt!«

»Ich bin noch am Leben, Georg, falls dir das entgangen sein sollte«, stellte Frau Winter mit sanfter Stimme fest, was ihren Sohn jedoch nicht zu beeindrucken schien.

Dieser fuhr fort: »Ich bin es, der seit Jahren dieses teure Heim bezahlt. Ich muss alles für meine Mutter regeln, und jetzt kommst du daher und …«

»Sprich nicht, als wäre Großmutter nicht hier!«

Gespannt hatte Lena das Streitgespräch verfolgt und bog nun die Äste des Busches zurück, um besser sehen zu können. Ausnahmsweise musste Lena diesem Ragnar zustimmen, denn Frau Winters Sohn legte ein äußerst unverschämtes Benehmen an den Tag.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, du Rotzlöffel«, regte sich sein Onkel nun auf. »Ein Habenichts, das bist du, genau wie dein Vater. Ihr habt doch in eurem Leben alle noch nichts geleistet! Schmarotzer und Tagediebe!«

Ragnar trat hinter dem Rollstuhl hervor und stellte sich direkt vor seinen Onkel, der sich daraufhin schwerfällig erhob. Beide Männer waren ungefähr gleich groß, Georg Winter jedoch annähernd doppelt so breit wie sein schlanker Neffe. »Beleidige nicht meinen Vater«, verlangte Ragnar eisig.

»Ha, dein Vater. In der Weltgeschichte rumgondeln und dem Steuerzahler auf der Tasche liegen, das konnte er«, giftete er.

»Niemals haben meine Eltern Geld vom Staat bekommen«, stellte Ragnar richtig, was sein Onkel aber nur mit einer abfälligen Handbewegung abtat. »Es kann ja nicht jeder seinem Vorgesetzten in den Hintern kriechen und als scheintoter …«, er zögerte kurz, so als würde er nach dem richtigen Wort suchen, »… Bürozombie durch die Gegend wandeln.«

Lena entfuhr ein Kichern, und sie duckte sich eilig hinter dem Strauch, damit Herr Winter sie nicht entdeckte. Timo zwinkerte ihr grinsend zu.

»Dieser Ragnar wird mir ja fast schon sympathisch«, flüsterte er ihr zu. »Mein Onkel kennt Frau Winters Sohn und meint, der würde sich tatsächlich bei sämtlichen Vorgesetzten anbiedern.«

Jetzt war Georg Winters runder Kopf knallrot angelaufen, und er erinnerte an einen Krebs auf dem Trockenen, wie er so mit seinen Händen herumfuchtelte und offensichtlich kurz davor stand, einen Herzinfarkt zu bekommen. Hektisch schnappte er nach Luft. »Ich lasse mich doch nicht von einem wie dir beleidigen. Schließlich bin ich ein angesehener Vorstandsvorsitzender! So weit wirst du es nie bringen …«

»Will ich auch gar nicht.« Ragnar wandte sich zu seiner Großmutter um. »Möchtest du weitergeschoben werden oder bei deinem liebenswerten Sohn bleiben?«

Die alte Frau zögerte, sah von einem zum anderen, dann drückte sie Ragnars Hand. »Geh jetzt besser und komm morgen wieder.«

Für einen Moment schien Ragnar zu zögern, dann nickte er. »Gut. Ich wünsche dir einen schönen Tag und bitte einen der Pfleger, dich zurückzubringen, falls das unter der Würde des Herrn Vorstand ist.«

»Du kleiner Mistkerl«, ereiferte sich Georg Winter, aber da war Ragnar schon zum Ausgang geeilt, sprang mit einem bewundernswert geschmeidigen Sprung über das Tor und war verschwunden. Noch eine ganze Weile hörte Lena den unangenehmen Mann vor sich hin schimpfen, dann war er mit seiner Mutter im Park verschwunden.

»Wie kann eine so nette alte Dame eine derart bescheuerte Familie haben?«, wunderte sich Lena kopfschüttelnd.

Timo zuckte jedoch nur die Schultern und ging zum Tor, wo Kisten mit Äpfeln, Bananen und Gemüse standen.