Kapitel 3

Frau Winters Geschichten

Noch Tage nach dem Vorfall zwischen Georg Winter und seinem Neffen musste Lena an diese seltsame Begegnung denken. Im Gegensatz zu seinem Onkel kam Ragnar beinahe jeden Tag zu seiner Großmutter und kümmerte sich um sie. Zu gern hätte sie ihn gefragt, wo er wohnte und ob er hier Urlaub machte, aber irgendwie scheute sie sich, den eigenartigen jungen Mann anzusprechen, denn nach wie vor verhielt er sich gelegentlich äußerst barsch.

Frau Winter schien die Aufmerksamkeit gutzutun, und sie erzählte Lena häufig von ihrem »lieben Jungen«. Auch wenn Lena Ragnar alles andere als lieb fand, freute sie sich doch für die alte Dame. Nachdem deren Fuß endlich verheilt war, ging Frau Winter auch wieder kurze Stücke allein, nur in den Park ließ sie sich lieber von ihrem Enkel begleiten, denn sie war noch recht unsicher auf den Beinen.

»Ich bin gespannt, wann Maredd endlich zu mir kommt«, seufzte sie am heutigen Morgen, als Lena ihr das Frühstück aufs Zimmer brachte.

In den letzten Tagen hatte sie kaum von ihrem ominösen Verehrer geredet, aber jetzt zeigte ihr Gesicht wieder diesen verträumten Ausdruck, und sie blickte wehmütig in die Ferne.

»Na ja, ich würde eher auf Ihren Enkel zählen, wenn ich ehrlich bin«, meinte Lena pragmatisch.

Kurz stutzte Frau Winter, dann lächelte sie. »Ragnar – er ist seinem Vater so ähnlich.«

»Echt?«

»Ja, meine beiden Söhne Lucas und Georg sind charakterlich völlig verschieden.« Ihre Stimme nahm einen traurigen Unterton an. »Die beiden haben sich nie gut verstanden. Das mag auch am Altersunterschied von beinahe zehn Jahren liegen.«

Na ja, wenn dieser Lucas sich nicht mit Georg verstanden hat, spricht das eindeutig für ihn, dachte Lena.

»Ich war schon vierzig, musst du wissen, als Lucas auf die Welt kam.«

»Hm, ist doch nicht so schlimm.«

»Heutzutage nicht.« Frau Winter schmunzelte. »Aber zu meiner Zeit war das beinahe ein Skandal! Fritz war alles andere als begeistert.«

»Fritz? Ich dachte, Ihr Mann hieß Maredd?«

»Nein, nein.« Frau Winter flüsterte nun und sah sich verstohlen um, so als würde jemand sie belauschen. »Maredd ist mein Geliebter.«

Ein breites Grinsen überzog Lenas Gesicht. Tadelnd wedelte sie mit ihrem Zeigefinger. »Sie sind mir ja eine! Dann ist Lucas am Ende von diesem Maredd?«

»Nein, leider nicht.« Für einen Moment schloss Frau Winter die Augen. »Ich hätte es mir sehr gewünscht, ein Kind von Maredd zu haben. Etwas, das mich für alle Zeit mit ihm verbindet, aber das kann nicht sein.«

»Weshalb nicht?«

»Lucas kam elf Monate nach meiner letzten Begegnung mit Maredd zur Welt.«

»Okay, dann geht das – sofern ich in Bio aufgepasst habe –wohl kaum«, stimmte Lena zu.

Bedächtig strich Frau Winter Butter auf ihr Brötchen, wobei ein tiefes Seufzen ihrer Kehle entstieg. »Trotzdem ähnelte Lucas Maredd in vielen Dingen, und vielleicht ist auf magische Weise ein Teil von ihm auf Lucas übergegangen. In Elvancor geschieht einiges, was hier kaum denkbar wäre!«

»Elvancor?«

Erneut blickte sich die alte Dame um und senkte ihre Stimme. »Maredds Land, in das er mich entführt hat.«

»Und wo soll das liegen? Hört sich irgendwie … keine Ahnung«, Lena zuckte mit den Schultern, »vielleicht nach einem Land in Südamerika an oder so.«

»Südamerika«, Frau Winter lachte herzlich. »Nein, nein, Elvancor befindet sich auf keinem uns bekannten Kontinent.« Verschwörerisch beugte sie sich zu Lena vor. »Es ist ein Land, das außerhalb von allem liegt, was wir uns vorstellen können. Es liegt sogar jenseits der Zeit. Du kannst dort unter Umständen ein Jahr oder mehr verbringen, und wenn du hierher zurückkehrst, bist du nicht gealtert, und hier ist höchstens ein einziger Tag verstrichen.«

»Ah, ja«, meinte Lena und bemühte sich, nicht zu schmunzeln. Sicher lebte Frau Winter in ihrer eigenen, ihrer Vorstellungskraft entsprungenen Welt, und Lena wollte diese nicht zerstören.

Die alte Dame dagegen stand auf, ging zur Wand und deutete auf eines der Bilder. Ein Wasserfall, der bis in den Himmel ragte, ergoss sich in ein erblühtes Tal. Verschwommen konnte man Gestalten auf Pferden ausmachen, außerdem fremdartige Blumen und Bäume mit Blättern, die ein ganzes Haus verdecken konnten.

»Dort waren wir sehr glücklich.« Versonnen strich Frau Winter über die schemenhaft dargestellten Reiter.

»Sie wollen also behaupten, das ist dieses merkwürdige Elvancor?«, erkundigte sich Lena, wobei sie ihre Augenbrauen kritisch in die Höhe zog und in Richtung des Bildes nickte.

»Das behaupte ich nicht nur, so ist es. Aber nicht jeder kann nach Elvancor reisen«, stellte sie dann im Brustton der Überzeugung klar. »Maredd verliebte sich in mich und gab mir einen magischen Schlüssel zu seinem Reich – ein Amulett aus Silber und Bronze. Es bestand aus zwei identischen Teilen, die sich ineinanderfügten und dadurch ihre Magie freigaben. Verschlungene Knoten, die ein Eigenleben zu führen schienen, wenn man länger darauf sah.«

»Sehr cool, kann ich mir diesen Schlüssel mal ausleihen?«

»Bedauerlicherweise hat er den zweiten Teil des Amuletts bei unserer letzten Begegnung wieder an sich genommen«, bemerkte Frau Winter traurig, dann wanderte ihr Blick erneut über die Bilder – größtenteils Fantasiebilder, aber auch Gemälde, welche die Umgebung rund um Gößweinstein, ihren letzten Wohnort, darstellten. Da sah man die Ruine Neideck, das Wiesenttal mit seinem verschlungenen Bachlauf und den Mühlen. Außerdem jede Menge Bilder von Wäldern und den ungewöhnlichen Steinformationen, die für diese Gegend typisch waren.

»Das ist natürlich blöd.« Lena bückte sich und verdrehte heimlich die Augen. Manche Bewohner hier hatten wirklich eine blühende Fantasie. Lena überlegte, wie viele der Senioren wohl fernab der Realität sein mochten und ob dies ein Fluch oder gar eine Gnade war, die das Leben alternden Menschen erwies.

»Aber er wird mich trotzdem holen«, behauptete Frau Winter überzeugt. »Nur der Tag und die Gegebenheiten müssen stimmen.«

»Was denn für Gegebenheiten?« Eigentlich nervte Lena dieses konfuse Gerede inzwischen. Sie mochte Frau Winter, aber die abstrusen Einfälle der sonderbaren Dame waren ihr nicht ganz geheuer. Gleichzeitig ging eine gewisse Faszination von Frau Winters Geschichten aus. Allerdings wurden sie unterbrochen, denn Schwester Margareta kam, um den Blutdruck zu messen. »Zack, zack, Lena, die anderen wollen auch frühstücken!«

»Ja, schon klar.« Entschuldigend hob sie die Schultern und machte sich dann an die Arbeit.

Da zwei Schwestern und eine Pflegeschülerin aus dem Urlaub zurückkamen, wurde die Arbeit für Lena in der nächsten Zeit deutlich entspannter. Die Festangestellten übernahmen einen Großteil der ungeliebten Pflegeaufgaben, und Lena konnte nun öfters die alten Leute im Rollstuhl durch den Park schieben oder ihnen bei schlechtem Wetter auf dem Zimmer Gesellschaft leisten.

Ihr Abiturzeugnis hatte Lena endlich in der Tasche. Zur Zeugnisübergabe und Abiturfeier war sie nicht gegangen, obwohl ihre Großmutter sie dazu gedrängt hatte. Vielleicht hatte Oma Gisela sogar Recht, und sie hatte eine einmalige Gelegenheit verpasst, von ihrer Schulzeit Abschied zu nehmen, doch sie hatte den Fragen und Lästereien ihrer früheren Schulkameraden aus dem Weg gehen wollen und sich das Zeugnis zuschicken lassen.

An einem düsteren, gewittrigen Julitag saß Lena an Frau Winters Bett. Da die alte Dame nicht mehr sehr gut sah, hatte Lena ihr aus der Zeitung vorgelesen. Nun erhellten Blitze den Raum, und kurz darauf war entferntes Donnergrollen zu hören. Ein starker Wind erhob sich, und prompt drohte eine Sturmböe den Vorhang aus der Schiene zu reißen. Eilig sprang Lena auf und schloss das geöffnete Fenster.

»Puh, könnte schlimm werden«, bemerkte Lena. Die Gewitter in der Fränkischen Schweiz hatten es häufig in sich, nicht selten tobten sie sich heftig in der hügeligen Landschaft aus.

»Damals, in Elvancor, haben Maredd und ich auch ein verheerendes Gewitter erlebt. Die Berge von Avarinn wurden erleuchtet, als stünden sie in Flammen.«

Also mal wieder Elvancor, dachte Lena zynisch. Aber weil sie heute keine wichtigen Aufgaben mehr zu verrichten hatte und ohnehin bald Feierabend war, beschloss sie, sich etwas von Frau Winter erzählen zu lassen.

»Und, was haben Sie und Ihr Geliebter da getrieben – in diesen Bergen?«

»Maredd und ich waren auf einem Erkundungsritt«, erzählte sie aufgeregt. »Wir sollten feststellen, ob die Rodhakan erneut versuchten, die magischen Plätze in Besitz zu nehmen, an denen Maredd und sein Volk, die Wächter von Elvancor, in die uns bekannte Welt übertreten.«

»Was bitte sind Rodhakan? Und weshalb bewacht Maredds Volk irgendwelche Übergänge?«

»Rodhakan sind finstere Schattenkreaturen«, erklärte Frau Winter mit düsterer Stimme.

Ein Blitz erhellte das Zimmer, die Reiter auf Frau Winters Bild von Elvancor leuchteten kurz gespenstisch auf, so als würden sie für den Bruchteil einer Sekunde zum Leben erwachen. Plötzlich schlug Lenas Herz schneller.

»Sie bestehen aus waberndem Nebel«, fuhr Frau Winter leise und mit zusammengekniffenen Augen fort, »doch können sie für kurze Zeit feste Gestalt annehmen. Man sagt, sie nähren sich von der Angst ihrer Opfer und erlangen dadurch Stärke.«

Ein heftiger Donnerschlag unterstrich Frau Winters unheimliche Erzählungen, und Lena zuckte zusammen. Unwillkürlich stellten sich die Härchen an ihren Unterarmen auf. Draußen war es auf einmal stockfinster, und sie dachte voller Unbehagen daran, bald allein mit dem Fahrrad nach Hause fahren zu müssen. Geschichten von irgendwelchen Schattenkreaturen trugen wenig zu einer entspannten nächtlichen Heimreise bei, auch wenn Lena eigentlich zu alt für Schauermärchen war. Doch irgendetwas zog sie in den Bann. War es die eigenartige Gewitterstimmung und der Kampf von Blitz und Donner um die Vorherrschaft am Himmel? War es Frau Winters Stimme, die so leise, aber auch bestimmt und ein wenig düster klang?

»Die Rodhakan wollen die alleinige Herrschaft in Elvancor und auch in unserer Welt«, erzählte sie weiter. »Sie streben danach, die Übergänge zu kontrollieren und das Volk der Tuavinn zu besiegen. Ihre Umarmung ist für alle Menschen tödlich, sobald sie feste Gestalt angenommen haben. Nur die Tuavinn sind von einem uralten Zauber umgeben, der sie beschützt, und ihre bloße Anwesenheit kann einen Rodhakan schwächen, wenn auch nicht töten.«

»Wow«, entfuhr es Lena fasziniert. »Und wie kann man diese Typen dann besiegen?«

»Maredd und sein Volk kämpfen mit Waffen aus einer seltenen Gesteinsart, geschmiedet in den glühenden Feuern, die unter den Bergen von Avarinn lodern, gehärtet im eiskalten Wasser der Himmelsfälle. Ihre Schwerter und Pfeilspitzen werden in schweißtreibender Arbeit hergestellt, und diese Waffen sind das einzige Mittel gegen die Rodhakan.« Sie deutete auf jenes Bild, das Lena schon länger aufgefallen war. Eine urtümliche Berglandschaft war dort zu sehen und Wasserfälle, die sich wild schäumend aus den Wolken zu ergießen schienen.

»Das sieht toll aus!« Lena ertappte sich selbst dabei, völlig in Frau Winters Geschichte versunken zu sein, denn so wie die alte Frau das alles erzählte, klang es, als habe sie alles tatsächlich erlebt.

»Maredd brachte mir bei, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht.« Frau Winter lachte hell auf. »Mit dem Schwert konnte ich nicht viel anfangen, aber Bogenschießen, das war lange Zeit eine Leidenschaft von mir.«

»Und Sie haben auch gegen diese … Rodhakan … gekämpft«, erkundigte sich Lena, jetzt wieder skeptisch.

Doch die alte Dame nickte nachdrücklich. »Das habe ich, und es gelang uns sogar, einige der Waffen zu erobern, mit denen sie Maredds Volk töten. Und ein Schatz … ja ein Schatz«, murmelte sie vor sich hin und runzelte dabei angestrengt die Stirn. »Ich glaube, ich kann mich daran erinnern, wir brachten etwas sehr Wertvolles mit hierher.«

»Einen Schatz?« Lena horchte auf.

»Ja, und wir haben ihn gut versteckt.«

»Warum das denn?«

»Ich weiß es nicht mehr, Lena.«

»Okay, und wo soll dieser Schatz sein?«

Einige Sekunden lang sah Frau Winter Lena an, dann zuckte sie mit den Schultern. »Zu meinem eigenen Schutz hat Maredd mein Gedächtnis gelöscht, nur für den Fall, dass sich auch hier Rodhakan herumtreiben oder gar aus unserer Welt kommen, wie einige vermuten, auch wenn Maredd diese Ansicht nicht teilt.«

»Ach, das Gedächtnis löschen kann er also auch.« Lena schürzte ihre Unterlippe. »Scheint ja ein echter Supermann zu sein.« Sie wurde unterbrochen, da ihr Handy klingelte und sie wie aus weiter Ferne in die Realität zurückrief. »Sorry, ich muss mal eben rangehen«, sagte sie entschuldigend.

Ihre Freundin Katrin war dran.

»Hey, Lena, arbeitest du noch?«

»Ja.« Ein Blick auf die Uhr sagte Lena indes, dass sie schon seit einer Viertelstunde Feierabend hatte. Da es aber draußen inzwischen in Strömen goss, würde sie wohl mit dem Heimfahren noch eine Weile warten müssen.

»Hast du Lust, morgen Abend zu mir zu kommen?«, erkundigte sich Katrin. »Wir könnten eine DVD anschauen.«

»Eigentlich gern«, seufzte Lena, »aber Oma ist morgen bei einem ihrer Kräuterseminare, und wenn ich Papa bitte, mich zu fahren, kann ich mir wieder stundenlange Vorhaltungen anhören, von wegen, ich könnte ja auch allein fahren, hätte mir nur alles versaut.«

»Du hast dir schon ein derbes Ding geleistet«, tadelte Katrin sie.

»Jetzt fang du nicht auch noch an!«

»Nee, keine Panik. Aber ich muss morgen sowieso für Mama einkaufen und kann dich im Altersheim abholen, wenn du Feierabend hast. Später fahr ich dich dann nach Hause.«

»Okay, super, dann warte ich vor dem Eingang.«

»Bis morgen!«

Mit Vorfreude legte Lena auf, denn die ein Jahr ältere Katrin zählte seit ihrem Übertritt ins Gymnasium zu ihren besten Freunden.

»Also, Frau Winter, ich muss dann mal gehen.« Überraschenderweise spürte Lena leises Bedauern darüber, nicht mehr von Frau Winters fantastischen Geschichten zu hören.

»Auch wenn du nicht an Elvancor glaubst«, sagte sie mit einem traurigen Unterton in der Stimme, »darf ich dir an einem anderen Tag wieder davon erzählen?«

»Ja, gerne.« Diesmal war Lenas Lächeln nicht gespielt. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

Ganz langsam ließ sich Frau Winter in ihre Kissen sinken, ihre Augenlider sackten herunter. Offenbar hatte sie das lange Erzählen angestrengt. »Heute wird Maredd noch nicht kommen«, murmelte sie, dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. »Aber bald werde ich ihn wiedersehen.« Tiefe Atemzüge kündeten davon, dass sie eingeschlafen war.

»Na ja, vielleicht ist es ganz gut, wenn sie diesen Traum hat«, sagte Lena leise zu sich selbst, verließ dann eilig den Raum. Zum Glück hatte der Regen aufgehört, bis Lena sich umgezogen und von den Kollegen verabschiedet hatte, aber die Wolken am Himmel verhießen nichts Gutes. Dummerweise hatte sie keine Regenjacke dabei, doch wenn sie ordentlich in die Pedale trat, würde sie vielleicht noch trocken nach Hause kommen.

Ein tiefergelegter, knallroter Golf vor der Eingangstür ließ sie stutzen, und kurz darauf stieg ein muskulöser Mann Anfang zwanzig mit Muskelshirt und ausgewaschener Jeans aus.

»Hi Kevin.« Wenig begeistert schob Lena ihr Fahrrad weiter, denn auf ihren Exfreund hatte sie im Moment ganz sicher keine Lust.

»Soll ich dich nach Hause fahren?« Er zeigte sein charmantestes Lächeln, worauf sie früher immer hereingefallen war, aber diese Zeiten waren vorbei.

»Nein danke, kein Bedarf«, giftete sie.

»Ach komm schon, du wirst mir doch nicht mehr böse sein. Mit Susi habe ich schon längst wieder Schluss gemacht.«

»Was für ein Glück für sie!« Energisch schob Lena ihr Fahrrad an und schwang sich in den Sattel, dann strampelte sie los.

Doch wie nicht anders zu erwarten, ließ sich Kevin davon nicht abhalten und fuhr neben sie. »Jetzt komm schon, gib mir noch ’ne Chance«, bettelte er. Seine blauen Augen blickten sie flehend durch das geöffnete Fenster der Beifahrertür an.

»Vergiss es.«

»Aber lass mich dich doch zumindest mitnehmen. Es fängt wieder stärker zu regnen an.«

Dummerweise hatte er Recht, denn ein neuer Schauer prasselte herab. Dennoch zog Lena nur ihre Schultern ein und fuhr verbissen weiter.

»Lena, sei doch nicht dumm. Nur weil ich dich mitnehme, heißt das nicht, dass wir wieder zusammen sind.«

Ein plötzlicher Blitz ließ Lena zusammenzucken, und der Donner, der unmittelbar darauf folgte, zeigte an, wie nah das Gewitter war.

»Steig ein, oder willst du vom Blitz erschlagen werden?«

Einen Moment lang überlegte Lena, was besser war, aber schließlich hielt sie an. Eilig lud Kevin ihr Fahrrad in den Kofferraum, und Lena ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. Kurz darauf stieg auch Kevin ein. Er fuhr sich durch die kurz geschorenen, dunkelblonden Haare, dann grinste er einnehmend. »Ist doch schon deutlich besser.«

»Kann sein.«

Einmal mehr konnte er es sich nicht verkneifen, den Motor aufheulen zu lassen und mit quietschenden Reifen loszufahren – das war typisch für ihn. Inzwischen war es Lena schleierhaft, wie sie sich auf diesen Angeber hatte einlassen können, doch leider war sie vor einem knappen Jahr auf ihn reingefallen.

Während der Fahrt erzählte Kevin lauter belangloses Zeug, aber als sie vor dem Haus ihrer Oma anhielten, beugte er sich zu ihr hinüber. »Darf ich noch mit reinkommen?«

»Nein!«

»Hey Süße, eine kleine Belohnung habe ich mir aber schon verdient.«

»Ich bin nicht deine Süße, und du hast mich quasi genötigt mitzufahren.«

»Du machst es einem echt schwer«, stöhnte er.

Als sie die Tür öffnen wollte, hielt er sie am Handgelenk fest. Zornig runzelte Lena die Stirn. Unvermittelt setzte Kevin seinen flehendsten Dackelblick auf. »Du, Lenchen, ich hätte eine Bitte an dich.«

»Welche?«, erkundigte sie sich, dann fügte sie hinzu: »Und nenn mich nicht Lenchen. Denn wenn du so anfängst, hast du meistens Mist gebaut.«

Verlegen hob er seine breiten Schultern. »Na ja, ich stecke ein bisschen in Schwierigkeiten. Da wollte ich dich fragen, ob du mir so zwei oder drei Hunnis leihen kannst?«

Für einen Moment starrte sie ihn nur an, dann spürte sie, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Sag mal, hast du sie noch alle?«

»Wär auch nur für zwei oder drei Wochen.«

»Weißt du eigentlich, wie viele Schulden ich wegen dir Arsch bei meinem Vater habe?«, brach es aus ihr heraus. »Ich blöde Kuh habe nach dem Crash die Schuld auf mich genommen. Nur deinetwegen habe ich keinen Führerschein mehr, schufte in diesem verfluchten Altenheim, um die bescheuerte Feuerwehrtür abzubezahlen, und du wagst es, mich anzupumpen?«

Heute ärgerte sie sich darüber, für ihren Exfreund in die Bresche gesprungen zu sein, denn der hatte auf dem Weg von einer Party nach Hause den Wagen zu Schrott gefahren und sie angefleht, die Schuld auf sich zu nehmen, da er auf seinen Führerschein angewiesen war und ohnehin schon zwei Vorstrafen wegen Schlägereien hatte. Doch das kaputte Auto war nicht alles gewesen, denn Kevin war mit Karacho in die Glastür vom Feuerwehrhaus des Nachbardorfes gekracht. Den entstandenen Schaden durfte jetzt sie mit monatelangen Sozialstunden abstottern, denn der liebe Kevin hatte bisher keinen einzigen Cent aufgetrieben, auch wenn er ihr hoch und heilig versprochen hatte, ihr alles zurückzubezahlen.

Gedankt hatte Kevin ihr ohnehin nicht und nur zwei Wochen nach dem Unfall wegen einer anderen mit ihr Schluss gemacht. Schon mehrfach war Lena der Gedanke gekommen, alles aufzuklären, aber vermutlich wären ihre Eltern angesichts ihrer Dummheit nur noch mehr ausgerastet.

Sichtlich erschrocken von ihrem Ausbruch, hob Kevin jetzt schützend die Hände vor sich. »Ist ja schon gut, ich dachte nur …«

»Nein, du denkst eben nicht!« Sie riss die Tür auf und knallte sie dann lautstark von außen zu. »Der Kerl ist völlig gaga!«, regte sie sich auf und riss ihr Fahrrad förmlich aus dem Kofferraum. Als Kevin langsam davonfuhr, warf sie ihm noch einen vernichtenden Blick hinterher. »So ein Vollidiot!«

»Holla, immer langsam mit den jungen Pferden!« In Gedanken und vor sich hin schimpfend, war Lena mit ihrer Oma zusammengestoßen, die in diesem Moment um die Hausecke trat.

»Sorry, Oma.«

»Du ziehst ja ein Gesicht! Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen an diesem schönen Tag? Das Gewitter hat sich beinahe verzogen, die Luft ist klar und rein.« Sie deutete in den Himmel. »Und die Sonne kommt nun auch wieder heraus.«

Noch einmal sah Lena zu der Stelle, wo Kevin eben noch mit seinem Protzauto gestanden hatte. »Männer!«

»Davon kann ich ein Lied singen!«

Wie Lena wusste, war ihre Großmutter seit über zwanzig Jahren geschieden. Ihren Opa Manfred hatte Lena nur ein paarmal zu Gesicht bekommen.

»Man sollte sie allesamt zum Mond schießen«, bemerkte Lena düster.

Tröstend legte ihre Oma ihr einen Arm um die Schultern. Die beiden waren ungefähr gleich groß, und Lena hatte ihre zierliche Figur vermutlich ihrer Großmutter zu verdanken, denn die übrigen Mitglieder ihrer Familie waren eher kräftig gebaut. »Ja, an einem Tag möchte man sie zum Mond schießen, am nächsten taucht dann derjenige auf, der deine Seele zum Singen bringt.«

»Pah, so was wie die große Liebe gibt es nicht – höchstens im Kino.«

»Das würde ich nicht sagen.«

Lena sah ihre Oma kritisch an. »Du bist doch das beste Beispiel, Opa Manfred hat dich wegen einer zwanzig Jahre jüngeren Tussi verlassen und kümmert sich jetzt lieber um deren Kinder als um uns.«

»Tja, Manfred war eine Niete im großen Lostopf des Lebens«, räumte Gisela ein, »aber das heißt nicht, dass ich nicht eines Tages doch noch meinen Hauptgewinn ziehe. Und mal abgesehen von Manfred hatte ich durchaus einige prickelnde Beziehungen! Wenn ich da nur an Woodstock denke!«

So wie immer, wenn ihre Großmutter von der Hippiezeit sprach, bekam sie einen ganz verträumten Blick. Lena musste grinsen. Völlig unschuldig an der Scheidung war Oma Gisela ganz sicher nicht, denn wie sie nur zu gut wusste, war Lenas Onkel Carsten das Resultat einer leidenschaftlichen Woodstock-Liebe, und damals war ihre Großmutter schon mit Opa Manfred verheiratet gewesen.

»In deinem Alter willst du dich nochmal verlieben?« Lena zog ihre Stupsnase kraus, woraufhin ihre Oma sie spaßhaft kniff.

»Liebe ist keine Frage des Alters.«

»Na, ich weiß nicht«, entgegnete sie altklug. »Ich glaube, mit dem Alter sieht man seine verflossene Liebe doch eher verklärt. Ich sage nur – Frau Winter!«

»Komm, Lena, hilf mir, Salat und Tomaten fürs Abendessen zu holen, dann kannst du mir von Frau Winter erzählen.«

Eigentlich hatte sich Lena auf eine Dusche und ein oder zwei Stunden Internetsurfen gefreut, aber jetzt folgte sie ihrer Oma doch in den hinteren Teil des Gartens, wo diese ihre heiß geliebten Gemüsebeete angelegt hatte. Sie berichtete von Frau Winters Fantastereien und dem ominösen Land, das angeblich nur sie kannte.

Abwägend wiegte Oma Gisela den Kopf. »Vermutlich mischt sich bei ihr Wahrheit mit Einbildung. Du sagst, sie war früher Malerin?«

Lena nickte bestätigend.

»Maler sind sehr fantasievolle Menschen. Wahrscheinlich hat sie tatsächlich mal einen Mann namens Maredd gekannt und hat sich den Rest ausgedacht. Mit über neunzig ist das nicht ungewöhnlich.«

»Irgendwie wäre es ja schon romantisch«, überlegte Lena, während sie sich an den Stamm eines knorrigen Apfelbaumes lehnte. »Stell dir mal vor, er käme tatsächlich aus dem geheimnisvollen Land und würde sie holen.«

»Und du sagst, wir Alten wären sentimental und verklärt«, lachte Oma Gisela.

»Schon gut! Ich bin Realist«, meinte Lena, dann ging sie ins Haus, um sich endlich trockene Sachen anzuziehen.