Kapitel 24

Das Ende der Welt

Tot aufgefunden.

In einer Art Endlosschleife hallten die Worte in Lenas Innerem wider.

Tot aufgefunden.

Die Worte des Polizisten drangen nur ganz verzerrt an ihre Ohren.

Tot aufgefunden, Ragnar!

Lena konnte sich nicht rühren, nichts antworten. Sie starrte Kommissar Rupprecht stumm an und bemerkte abstruserweise, dass aus seinem rechten Nasenloch eine Vielzahl an grauen Haaren wucherte. Erst als ihre Großmutter sie am Arm fasste und »Lena, sieh mich an« sagte, wachte sie aus ihrer Erstarrung auf. Ihr Blick fiel auf das erschütterte Gesicht ihrer Großmutter.

Tot aufgefunden!

»Wie gesagt«, Kommissar Rupprecht räusperte sich erneut. »Ihre Nummer war die letzte, die er gewählt hat.«

»Die letzte«, wiederholte Lena mit rauer Stimme und blickte zu dem Polizisten auf. Ihr dämmerte, dass er das, was er nun erklärte, schon einmal gesagt haben musste.

»Der Todeszeitpunkt liegt vier bis fünf Tage zurück«, berichtete er in kühlem, geschäftsmäßigem Tonfall. »Den zweiten Mann konnten wir bereits eindeutig identifizieren. Es handelt sich um einen der Männer, die seit längerer Zeit vermisst wurden.«

»Noch ein Mann?«, brachte Lena mühsam hervor. Wie es aussah, hatte sie auch das überhört, denn die Miene des Polizisten wurde immer säuerlicher.

»Ein unterernährter Mann wurde im Klingloch, in diesem tiefen Schacht am linken Eingang der Höhle, gefunden. Wie die beiden Tode zusammenhängen, ist uns noch nicht klar. Also, Fräulein Winter, sind Sie bereit, ihn zu identifizieren?«

»Identifizieren?«

»Wie wir bereits erwähnten, ist der Gesuchte vor einigen Tagen …«, schaltete sich der Glatzkopf nun ein, wurde jedoch umgehend von Lenas Großmutter unterbrochen.

»Sehen Sie denn nicht, dass meine Enkelin unter Schock steht?«, fuhr sie Kommissar Klein an, woraufhin dieser sich verlegen über die Stirn fuhr.

»Nein … ich … habe das schon verstanden«, versicherte Lena, obwohl sie das Gefühl hatte, die Worte würden nur ganz verzögert und tonlos aus ihrem Mund kommen. Sie bekam auch lediglich am Rande mit, wie ihre Eltern eintrafen, die Beamten mit ihnen sprachen, und selbst Oma Giselas Arm, der tröstend um ihre Schultern lag, spürte sie nicht wirklich.

Alles war mit einem Schlag seltsam grau und leer. Ragnar ist nicht tot, sicher ist alles ein Missverständnis. Wenn ich mit den Polizisten mitfahre, kann ich es aufklären.

»Ich tue es«, hörte sie sich selbst sagen.

»Lena …« Plötzlich tauchte das blasse Gesicht ihres Vaters vor ihr auf. »Ich fahre mit dir, in Ordnung?«

Sie ließ sich von ihm in die Höhe ziehen, folgte ihm mechanisch nach draußen.

»Es tut mir leid, meine Kleine«¸ bemerkte ihr Vater mitfühlend, als sie in seinem Auto saßen. Seine Hand legte sich kurz auf die ihre.

Ragnar lebt, er ist nicht tot, er hat sicher alles nur vorgetäuscht, redete sie sich ein.

Während der Fahrt versuchte ihr Vater, mit ihr zu sprechen, aber sie nahm überhaupt nicht wahr, was er sagte, und schließlich gab er auf.

Die Kriminalbeamten warteten vor einem schmucklosen Betonklotz und führten sie durch sterile, hallende Gänge.

»Ein Seelsorger steht bereit, wenn Ihnen alles zu viel wird«, versicherte Kommissar Rupprecht.

»Aha.«

Gemeinsam mit dem Polizisten betrat Lena einen kalten, gekachelten Raum. In der Mitte befand sich ein Tisch, über den ein weißes Tuch gelegt war. Lenas Vater fasste sie an den Schultern, dann sah der Kommissar sie auffordernd an. »Sind Sie so weit?«

Konnte man für so etwas überhaupt bereit sein? Dennoch nickte Lena, schloss jedoch kurz die Augen.

»Fräulein Langfeld.« Der Kommissar tippte sie an, und Lena hob ihre Augenlider.

Nein!, schrie alles in ihrem Inneren. Das konnte nicht Ragnar sein, nicht der Ragnar, den sie gekannt hatte, der junge Mann, der mit ihr durch den Wald galoppiert war, mit dem sie auf Schatzsuche gegangen war und in die Sterne geblickt hatte. Hier lag ein blasser, lebloser Körper, die Augen geschlossen, an der Schläfe eine Platzwunde, und auch das grau melierte Haar wies verklebtes Blut auf.

»Das ist nicht Ragnar«, stieß sie plötzlich hervor, und sowohl ihr Vater als auch der Kommissar blickten sie verdutzt an.

»Nicht?«, fragte Kommissar Rupprecht skeptisch nach, während ihr Vater ihr unbeholfen über den Kopf streichelte.

»Lena, ich habe ihn doch auch ein paar Mal gesehen und …«

Mit einer heftigen Bewegung riss sie sich von ihm los, und jäh brach alles aus ihr heraus. »Nein! Er kann es nicht sein, Ragnar hasst Betonbauten und enge Räume. Er ist es nicht!« Damit stürzte Lena aus dem Raum, rannte tränenblind den Gang entlang, die Treppe hinauf, rammte irgendeinen Angestellten, hörte nicht auf die empörten Rufe und verließ das Gebäude. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, und selbst draußen auf der Straße wurde es nicht besser. Lena lief einfach weiter, immer weiter, nur fort von hier. Doch den Stimmen in ihrem Kopf konnte sie nicht entfliehen. Ragnar ist tot, er ist tot, du wirst ihn niemals wiedersehen.

Irgendwann bemerkte Lena zu ihrer Rechten ein verwildertes Grundstück mit einem halb verfallenen Haus. Sie öffnete das knarrende, verrostete Tor und schlug sich in die Büsche. Unter einem Baum sackte sie keuchend und zitternd zusammen. Einem nicht enden wollenden Strom gleich flossen die Tränen über ihre Wangen.

Ragnar hatte sie nicht im Stich gelassen, nicht betrogen – wie hatte sie jemals so von ihm denken können? Verzweifelt schlang sie die Arme um ihre Knie und versteckte ihr Gesicht, wollte nichts mehr sehen und hören. Aber vor ihrem inneren Auge tauchte die Esperhöhle auf.

War er schon tot gewesen, als sie dort angekommen war, oder hatte er am Ende irgendwo verletzt zwischen den Steinen gelegen? Hätte sie ihm noch helfen können? Warum zum Teufel hatte sie nicht auf ihr Gefühl gehört und war wie ein Feigling davongelaufen? Lena machte sich die schwersten Vorwürfe, konnte sich überhaupt nicht beruhigen, und als pausenlos ihr Telefon klingelte, schaltete sie es einfach aus.

»Ragnar, es tut mir leid, es tut mir so leid«, flüsterte sie wieder und wieder, sah sein Gesicht vor sich, wie er sie anlächelte. Häufig war er so abweisend und zynisch gewesen, aber er hatte auch andere Seiten gehabt, und die hatte sie an ihm geliebt.

Was war an der Esperhöhle geschehen? Sicher, es gab dort tiefe Schächte, die Steine waren möglicherweise vom Regen glitschig gewesen, aber Ragnar war doch geschickt beim Klettern und durch und durch ein Naturmensch gewesen. Lena musste Gewissheit haben, erhob sich mit zitternden Beinen und ging zurück zum Gebäude der Gerichtsmedizin. Unterwegs wurde sie von vielen Leuten auffällig angestarrt. Ganz bestimmt sah sie furchtbar aus, aber das war ihr egal.

Vor dem Gebäude schritt ihr Vater hektisch auf und ab und telefonierte dabei gestenreich. Nachdem auch er sie erkannt hatte, kam er sofort auf sie zu.

»Lena, Schatz, wo warst du denn die ganze Zeit?« Er setzte dazu an, sie in seine Arme zu schließen, aber Lena wollte jetzt keinen Trost und hob abwehrend die Hände vor sich.

»Ich will wissen, wie es passiert ist«, sagte sie tonlos.

Ihr Vater öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und geleitete sie ins Innere. Kurz darauf standen sie in Kommissar Rupprechts Büro.

»Wie geht es Ihnen, Fräulein Langfeld?«, erkundigte sich der Kommissar, auch wenn er ungeduldig auf die Uhr blickte.

»Wie bitte soll es mir gehen?«, zischte sie wütend. »Mein bester Freund ist tot.«

»Lena!« Peinlich berührt zuckte ihr Vater mit den Schultern und wandte sich dann in entschuldigendem Tonfall an den Kommissar. »Sicher verstehen Sie, das ist eine furchtbare Situation, und so gut hat meine Tochter den jungen Mann auch gar nicht gekannt …«

»Ich habe ihn gut gekannt«, entgegnete Lena scharf, obwohl ihr Vater ihr ein Zeichen machte zu schweigen. »Ragnar war mein Freund, und er war kein Mörder, es war Notwehr bei seinem Stiefvater, und dem alten Mann hat er auch nur geholfen.«

»Wie Sie meinen.« Kommissar Rupprecht blickte zweifelnd drein. »Nun gut, ob es Mord war oder nicht, werden wir nun nicht mehr aufklären. Also, Fräulein Langfeld, können Sie bestätigen, dass es sich bei dem Toten um Ragnar Winter handelt?«

»Ja«, antwortete sie widerstrebend. »Wie … und wo …?«

Der Beamte kratzte sich am Kopf. »Wir vermuten, er wollte sich in der Höhle vor der Polizei verstecken, ist unglücklich gestürzt und seinen inneren Verletzungen erlegen. Wanderer fanden seine Leiche in der rechten Höhle, deren Dach bereits vor Hunderten von Jahren eingestürzt ist. Der junge Mann hatte keine Personalien bei sich, lediglich an dem Fahndungsfoto haben wir ihn erkannt.« Jetzt klang der Polizist direkt vorwurfsvoll. »Sein Onkel war nicht zuhause anzutreffen, und die Nachbarn berichteten, er sei verreist. Herrn Winters Familie in Island konnten wir bisher ebenfalls nicht erreichen.« Erwartungsvoll reckte er das Kinn vor. »Wissen Sie zufällig, wo sich seine Mutter aufhält?«

»Nein.« Lena dachte über das nach, was der Polizist gesagt hatte. Die rechte Höhle, verdammt, warum bin ich nur nicht weitergegangen, vielleicht hat er noch gelebt.

»Offensichtlich haben Sie die Kollegen belogen«, fuhr Kommissar Rupprecht mit strengem Blick fort. »Sie wissen, dass es strafbar ist, einen Verbrecher zu schützen?«

»Sie können mich ja verhaften«, entgegnete Lena lahm, denn im Augenblick war auch in ihr alles tot.

»Herr Kommissar«, versicherte ihr Vater dagegen eindringlich. »Meine Tochter hat diesen Ragnar nicht mehr gesehen und ihm schon gar nicht geholfen. Wenn der junge Mann sie anruft, kann sie doch auch nichts dafür!«

»Nun gut, wir werden das prüfen.« Erneut blickte Herr Rupprecht zur Uhr, sicher hatte er Feierabend. »Halten Sie sich bitte für weitere Fragen bereit, und falls Ihnen noch etwas zur Familie von Herrn Winter einfällt, melden Sie sich bei uns.«

»Natürlich wird sie das.« Lenas Vaters nahm die Visitenkarte des Polizisten entgegen und schob Lena eilig aus dem Raum.

»Lena, so furchtbar das alles für dich sein muss, jetzt musst du an dich denken«, beschwor er sie auf dem Weg zum Auto, aber Lena hörte gar nicht richtig zu.

Auch auf der Fahrt nach Hause starrte sie lediglich aus dem Fenster.

Ragnar – hat er an jenem schicksalhaften Tag allein und verletzt in der kalten Höhle gelegen? Hat er Schmerzen gehabt und vielleicht verzweifelt auf mich gewartet? Warum bin ich nur so dumm und feige gewesen und habe nicht genauer nachgesehen?

Zuhause herrschte große Aufregung, alle bemühten sich, Lena zu trösten, aber sie wollte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Schließlich meinte Oma Gisela, sie solle erst einmal schlafen, brachte ihr noch eine Tasse Tee und streichelte ihr über die Wange.

»Lena, es ist entsetzlich, wenn ein so junger Mensch stirbt«, sagte sie leise, »und ich will dir jetzt auch nicht mit sinnlosen Weisheiten wie ›Das Leben geht weiter‹, oder sonst etwas kommen, denn ich weiß, es wird dich nicht trösten.«

Damit hatte Oma Gisela nur allzu Recht, und Lena begnügte sich mit einem halbherzigen, schiefen Lächeln. Bevor sie ging, streichelte Oma Gisela ihr noch einmal über die Wange. »Eines möchte ich dir nur sagen, ich bin mir sicher, wir sehen die, die wir lieben, eines Tages wieder, wo auch immer dieser Ort liegen mag oder wie man ihn nennt.«

Damit verließ sie das Zimmer, und Lena rollte sich zusammen, weinte um Ragnar, den sie aufrichtig geliebt hatte und den sie nun mehr vermisste als jemals zuvor einen Menschen. Jetzt war er zu ihrem ganz persönlichen Weltuntergang geworden.

Natürlich bestand niemand darauf, dass Lena am nächsten Tag zur Arbeit ging. Mehrmals hörte sie, wie sich am Morgen die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, aber sie stellte sich schlafend, auch wenn sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Schließlich stand sie aber dennoch auf, suchte im Schrank nach frischen Kleidern und stutzte, als sie ein schwarzes Kapuzenshirt entdeckte. Auch wenn sie gedacht hatte, keine Tränen mehr zu haben, kullerten jetzt trotzdem ein paar Tropfen ihre Wange hinab, während sie den Pullover an sich drückte. Schon längst hatte sie ihn Ragnar zurückgeben wollen. Er roch sogar noch nach ihm. Nach Wald, Erde, Pferden und der ihm eigenen Note. Jetzt war er das Letzte, was ihr von ihm geblieben war. Sie streifte sich das Kleidungsstück über den Kopf und erinnerte sich an etwas. Der Pullover war gar nicht das einzige Erinnerungsstück – der unvollständige Anhänger lag noch in ihrem Nachttischkästchen, und Frau Winters Kette hing um ihren Hals. Lena zog das Schmuckstück hervor und betrachtete es wütend. Hätte Ragnar das letzte Bild nicht gefunden, wäre er möglicherweise noch am Leben. Schon wollte sie das verdammte Ding in den Abfalleimer werfen, zögerte jedoch. Die gemeinsame Suche hatte sie zusammengeschweißt, Ragnars guten Kern zum Vorschein gebracht, und so ließ sie die Kette mit dem Amulett unter Ragnars Pullover verschwinden. Das unvollständige Gegenstück steckte sie gedankenverloren in ihre Hosentasche. Dann schlang sie die Arme um sich, glaubte für einen Moment, seine Umarmung zu spüren, schüttelte dann aber den Kopf. Nein, es war vorbei – für immer.

Ihre Familie betrachtete sie mit besorgten Gesichtern, selbst Ramona war gekommen, und alle bemühten sich, sie aufzumuntern. Das war lieb gemeint, aber Lena wollte eigentlich nur allein sein. Als ihre Schwester anbot, mit ihr in die Stadt zu fahren, hob sie abwehrend eine Hand.

»Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann fahr mich bitte zum Reitstall.«

Perplex sah ihre Schwester sie an. »Willst du jetzt reiten gehen?«

»Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee«, schaltete sich Oma Gisela ein. »Pferde sind empfindsame Wesen, manchem Menschen können sie Trost spenden.«

»Na, von mir aus.« Ramona schien an den Worten ihrer Großmutter zu zweifeln, dennoch fuhr sie Lena hinüber ins Nachbardorf.

»Danke, ich laufe später nach Hause.«

»Laufen?« Ihre Schwester sprach dieses Wort entsetzt aus, und Lena grinste traurig, als sie daran dachte, dass sie selbst vor einiger Zeit noch genauso über Spaziergänge gedacht hatte.

»Ja, durch den Wald ist es gar nicht so weit.«

»Wenn du meinst. Mach’s gut, Lena, und Kopf hoch.« Damit fuhr Ramona wieder davon, und Lena schlenderte zu den Pferdekoppeln.

Auf halbem Weg kam ihr Herr Gruber entgegen, hielt verwirrt inne und schien zu überlegen, was er nun tun sollte. Dann kam er auf Lena zu und fasste sie an der Schulter. »Schlimme Sache mit Ragnar.«

»Ja.« Lena blickte zu Boden, wollte nicht schon wieder in Tränen ausbrechen und schluckte sie tapfer hinunter.

»Also, was man so von ihm hört, kann ich kaum glauben«, bemerkte der Reitstallbesitzer. »Uns gegenüber hat er sich immer sehr korrekt verhalten, seine Arbeit gewissenhaft erledigt.« Er fuhr sich durch seine kurzen Haare. »Jetzt habe ich ebenfalls ziemlichen Ärger am Hals, weil er hier schwarzgearbeitet hat. War mir ganz recht, du weißt schon, die Lohnnebenkosten …« Dann unterbrach er sich selbst. »Na ja, du hast jetzt sicher ganz andere Sorgen. Tut mir auf jeden Fall leid für dich, Lena. Falls du weiterhin hier reiten möchtest, ist das kein Problem.« Eilig ging er weiter, und Lena schlüpfte durch den Koppelzaun zu Sahib und Comet. Die beiden Pferde kamen gleich neugierig näher, und der kleine Araber rieb seinen Kopf an ihrer Schulter. »Ihr vermisst ihn sicher auch, nicht wahr?«, flüsterte sie, vergrub ihr Gesicht in Sahibs langer Mähne und dachte an die vielen schönen gemeinsamen Ausritte. Nie wieder würde es so werden wie mit Ragnar, aber vielleicht war sie es ihm schuldig, sich jetzt um die Pferde zu kümmern und die Reiterei nicht aufzugeben. Sosehr sie auch versuchte, es niederzukämpfen, immer wieder stieg das Bild vor ihrem geistigen Auge auf, wie er kalt und leblos in der Gerichtsmedizin gelegen hatte. Irgendwie kam es ihr noch immer völlig irreal vor, denn sie hatte ihn einfach ganz anders in Erinnerung. Dieser tote Körper hatte nichts mit ihm gemein.

Ich muss mich von ihm verabschieden, dachte sie. Nicht bei einer Beerdigung, sofern ich überhaupt mitbekomme, wann die stattfindet, sondern dort, wo er gestorben ist. Noch einmal streichelte sie über die beiden weichen Pferdenasen, dann ging sie in Richtung Wald davon. Sie musste zur Esperhöhle.

»Ihr habt es verdorben, nun ist er uns nicht mehr von Nutzen.« Drohend hatte sich Everon vor seinen Brüdern aufgebaut, dem menschlich erscheinenden Schatten und dem in Fuchsgestalt.

Die duckten sich, senkten ihre Köpfe und wichen vor ihm zurück.

»Wir dachten, der richtige Zeitpunkt sei gekommen«, rechtfertigte Luvett sich.

»Ich befahl euch zu warten.« Die mächtigste der Schattenkreaturen schritt bedächtig vor der Höhle auf und ab. »Der Mensch ist nun für uns verloren, dafür haben wir wieder einen von ihnen in dieser Gegend.«

»Wir könnten verschwinden«, wagte derjenige, der die Gestalt des Bauern angenommen hatte, zu sagen, aber Everon fuhr wütend herum.

»Du weißt, sie können uns finden, und in diesem Land sind unseresgleichen nur wenige. Wir müssen uns schützen und unsere Rückkehr sichern. Vielleicht wird es eines Tages erneut einen wie ihn geben.«

»Aber wie sollen wir uns schützen, Herr?«, jaulte Luvett.

»Denk nach, Fuchsgesicht.«

Luvetts listige Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, dann verzog sich sein Fuchsmaul zu einem Grinsen. »Das Mädchen!«

Langsam schritt Lena durch den Wald, fand zu ihrer Überraschung sogar eine Spur von Frieden und Trost zwischen den Bäumen, die im Wind wogten. Der Herbst hatte endgültig Einzug gehalten, mehr und mehr Blätter lagen auf dem Boden, bildeten eine dichte, weiche Schicht und dämpften ihre Schritte. Fröstelnd versteckte sie ihre Hände in Ragnars Pullover, wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn wiederzusehen, die Zeit zurückdrehen zu können und ihn noch ein einziges Mal zu umarmen.

Bald hatte sie die Abzweigung zur Höhle erreicht und zögerte. Sollte sie das wirklich tun, oder würde es sie nicht noch mehr quälen, den Ort zu sehen, an dem er einsam und allein gestorben war? Lena schluckte schwer, dann ging sie entschlossen weiter. Bald schon ragten die düsteren Felsen vor ihr auf.

Lena begann zu zittern, wäre am liebsten umgedreht, und doch zwang sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vor der Höhle waren polizeiliche Absperrungen zu sehen, Hinweisschilder verboten den Zutritt. Lena kümmerte sich nicht darum und schlüpfte zwischen den Bändern hindurch. Düster und kühl war es in der Höhle, unheimlich hallten ihre Schritte von den Wänden wider, und der Kloß in ihrer Kehle wuchs an. Der Weg hinab zu der Stelle, an der die Polizei Ragnar gefunden hatte, war rutschig von Laub und Tropfwasser. Licht fiel durch die eingestürzte Höhlendecke, und die tanzenden Schatten verliehen der Szenerie etwas Unwirkliches. Lena glitt aus und dachte sich, es wäre doch eine Ironie des Schicksals, wenn sie jetzt mit dem Kopf gegen einen der Felsen knallen würde, womöglich noch gegen denselben, der Ragnars Leben beendet hatte. Doch schon fing sie sich und tastete sich langsam voran. Der Boden war von vielen Schuhen zerwühlt, und Lena musste schlucken, als sie an einem der Steine getrocknetes Blut entdeckte. Ihre bebenden Finger berührten die Stelle, und sie flüsterte: »Bitte verzeih mir, ich hätte bei dir sein müssen.«

Eigentlich wollte sie schon wieder umdrehen und nach Hause gehen, aber da erweckte ein Schimmern ihre Aufmerksamkeit. War es ein Sonnenstrahl gewesen, der sich zwischen Bäumen und Felsen hierherverirrt hatte? Noch einmal blitzte es auf, und Lena schob Blätter und Äste beiseite. Halb in die Erde getreten, von Laub verborgen, lag ein Stück Metall. Sie zog es heraus, befreite es von feuchter Erde und betrachtete dann das Schmuckstück. Ganz eindeutig handelte es sich dabei um das letzte Teil des Anhängers von Ragnars Großmutter. Eine Weile starrte Lena auf die bronzefarbene Triskele, fuhr mit der Hand über das kühle Metall. »Du hast es also gefunden.«

Sie holte den unvollständigen Anhänger aus ihrer Hosentasche und steckte den Mittelteil zwischen die Silberschlingen. Wieder erschien dieses kurze Aufblitzen, erfüllte sogar einen Moment lang die Höhle. Aus einem Impuls heraus holte Lena nun das Gegenstück hervor, jenes Amulett, das sie bei Frau Winter gefunden hatte.

Zusammengefügt entfalten sie ihre Magie, erinnerte sie sich an die Worte der alten Dame.

Voller Ehrfurcht legte Lena die beiden Hälften aufeinander und wartete atemlos. Zunächst geschah nichts, aber nachdem sie die Hälften ein klein wenig bewegt hatte, spürte sie, wie ein pulsierendes Kribbeln über ihre Haut lief. Das gesamte Schmuckstück fühlte sich auf einmal ungewöhnlich warm an, war in ein helles Licht getaucht. Die silbernen Knoten wirbelten durcheinander, umschlangen sich wie Liebende – und nun waren sie miteinander verbunden, so als wäre es niemals etwas anderes als ein einziges Schmuckstück gewesen.

Ich wünschte, Ragnar hätte das sehen können, schoss es Lena durch den Kopf. Ob auch der Schatz hier ist? Allerdings interessierte sie der mögliche Reichtum nicht mehr. Traurig strich sie über das Amulett. Es würde sie immer an Ragnar erinnern, und auf eine seltsame Weise fühlte sie sich dadurch mit ihm verbunden – wo auch immer seine Seele jetzt sein mochte.

Eine Bewegung oben am eingebrochenen Dach der Höhle ließ Lena zusammenzucken. Irgendetwas war blitzschnell vorbeigehuscht. Ein Vogel?

Lenas Herz begann schneller zu klopfen, und da war es wieder – diese eigenartige Empfindung, beobachtet zu werden, der kalte Hauch in ihrem Nacken, die Angst.

Irrten hier Geister umher? Dunkel erinnerte Lena sich an Erzählungen ihrer Großmutter – über die Opferdarbietungen der keltischen Krieger hier in dieser Höhle. Oder war es am Ende erneut der unheimliche Fuchs?

»Hallo, ist da jemand?«, rief sie mit zaghafter Stimme, in der Hoffnung, es könnte sich nur um ein paar Wanderer handeln.

Doch niemand antwortete. Plötzlich hatte Lena das Gefühl, Schatten würden über den Rand der Höhle kriechen. Langsam, aber unaufhaltsam schoben sie sich vor die in den Fels gekrallten Bäume, verschluckten das wenige einfallende Licht. Auf dem Boden bildeten sich nun auch noch seltsame, verschlungene Linien, zuerst undeutlich, dann immer stärker, und krochen vom Fels aus auf sie zu.

»Ragnar, bitte hilf mir«, flüsterte sie, umklammerte unwillkürlich das Amulett. Vielleicht war er ja ein Geist, befand sich auf eine ihr unerklärliche Weise noch hier.

Jeder Muskel in Lenas Körper war angespannt, sie wollte fortlaufen, fühlte sich jedoch wie gelähmt und starrte zuerst auf den Boden, dann auf die sich verdichtenden Schatten.

Gesichter schälten sich aus dem Dunst heraus, Arme griffen nach ihr, und Lena war nicht fähig, sich zu rühren.

Das ist das Ende, dachte sie und hätte jetzt gerne die Augen geschlossen, war jedoch nicht einmal dazu in der Lage.

Dann spürte sie auch noch irgendetwas in ihrem Rücken, eine gewisse Präsenz, die sie nicht erfassen konnte, doch endlich gelang es ihr, wenigstens den Kopf zu drehen. Hinter ihr war nichts – nichts, was sie sehen konnte.

Ragnar, bist du das?

Eiskalte Schauer jagten über ihren Rücken, doch seltsamerweise verharrten die Schatten vor ihr.

Lena vernahm ein seltsames Zischen, ein Gemurmel. Wäre es nicht so verrückt gewesen, sie hätte glauben können, die Wesen hinter ihr wollten ihr helfen. Doch dann kristallisierte sich ein schmales, von silbernem Haar umrahmtes Gesicht aus den Schatten heraus. Die Gestalt manifestierte sich zu einem hochgewachsenen Mann mit ausgeprägten Wangenknochen, der einen langen Mantel trug und eine Hand nach Lena ausstreckte.

Nun wich sie doch zurück, ignorierte das Gefühl, irgendetwas Körperloses in ihrem Rücken zu berühren.

»Wehr dich nicht, komm mit uns«, sagte der Mann mit dem Mantel, und wie aus dem Nichts stand der seltsame Schattenfuchs neben ihm.

Hatten möglicherweise diese Kreaturen Ragnar umgebracht? War es am Ende gar kein Unfall gewesen?

»Komm mit uns, sonst wirst du ihm folgen.«

Es war, als hätte das Wesen ihre Gedanken gelesen, und Lenas Kehle schnürte sich mehr und mehr zu.

Irgendetwas schob sich vor sie, erneut die Ahnung, von kalten Händen berührt zu werden, aber das Wesen in dem Umhang machte eine Handbewegung, und die imaginäre Wand vor ihr verflüchtigte sich. Jetzt fühlte sich Lena völlig schutzlos, konnte nur zusehen, wie die Gestalt auf sie zukam. »Ich bin Everon, und wenn du dich fügst, wird dir kein Leid geschehen.«

Eine innere Stimme sagte Lena, dass das ein leeres Versprechen war.

»Was … wollt ihr von mir?« Sie bemerkte, wie sich der Fuchs seitlich an sie heranzuschleichen versuchte, vermutlich wollte er ihr den Rückzug abschneiden.

»Du sollst unser …« Weiter kam die Schattenkreatur nicht. Ein gleißendes Licht fuhr in die Höhle, so hell und intensiv, dass es in den Augen wehtat. Für einen Moment war Lena geblendet, sie hörte verzerrte Schreie, Zischen und Rascheln. Was auch immer es war, es hatte diesen Everon abgelenkt, und so nutzte sie die Gelegenheit und floh. Sie stürzte den Abhang hinauf, eilte aus der Höhle, rannte den Berg hinab und sah sich nicht um, wagte es nicht, denn sie hatte panische Angst, verfolgt zu werden. Ihre Füße flogen regelrecht über den Boden. Weiter, weiter, nur nicht stehen bleiben.

Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihre Lungen fingen zu stechen an, aber sie wollte nicht einmal eine Sekunde lang verharren. Schon glaubte sie, etwas hinter sich zu spüren, den kalten Hauch, den hechelnden Atem des mysteriösen Fuchses.

Völlig kopflos lief sie die Dorfstraße entlang, stürzte in den Garten und fummelte hektisch nach ihrem Haustürschlüssel. Ein Blick über die Schulter ließ ihre Panik etwas abflachen, denn es waren keine Verfolger auszumachen, und eigenartigerweise fühlte sie sich auch heute hier halbwegs sicher, selbst wenn diese Sicherheit vermutlich trügerisch war. Als die Tür plötzlich aufging, schrie Lena erschrocken auf. Ihr Vater starrte sie verwirrt von oben bis unten an. »Lena? Was ist denn mit dir los?«

»Ich … nichts … bin, ähm, ich war nur joggen«, japste sie.

»Joggen? Heute drehen offenbar alle durch«, brummelte er vor sich hin.

»Weshalb alle?« Lenas Blick schweifte unruhig durch den Garten. Zwischen den hintersten Bäumen glaubte sie ein Huschen zu sehen und drängte ihren Vater hinein.

»Na, deine Großmutter. Sie ist vorhin aus dem Haus gerannt und hat etwas von einem Notfall gefaselt.« Er schnaubte verächtlich. »Wahrscheinlich hatte irgendjemand eine Überdosis Kräuter genommen, haha.«

»Ja, kann schon sein«, antwortete Lena zerstreut, ging an ihrem Vater vorbei in ihr Zimmer und blickte zum Fenster hinaus. Noch immer klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Wer oder was in aller Welt war dieser Everon? Eine Art Geist? Ein Dämon? Schaudernd schlang sie die Arme um ihren Körper und schmiegte ihre Wange an Ragnars Pullover. Bestimmt hatten diese Schattenwesen ihn auf dem Gewissen. Was sollte sie tun? War sie hier im Haus sicher? Wen sollte sie um Hilfe bitten?

Gemeinsam mit Ragnar hätte ich bestimmt eine Lösung gefunden, und falls nicht, dann wären wir wenigstens zu zweit gewesen, dachte sie traurig. Er fehlte ihr unglaublich, und es tat so entsetzlich weh, ihn verloren zu haben. Außerdem hatte Lena Angst. Dieser Everon wollte sie – weshalb auch immer.

Ob ich mich doch Oma anvertrauen soll?, überlegte sie. Oder denkt sie, ich hätte Ragnars Tod nicht verkraftet und würde durchdrehen. Am Ende lassen sie mich einliefern.

Wie es aussah, musste sie allein mit dieser verfahrenen Situation fertigwerden.

Lena setzte sich an den Computer, suchte im Internet nach übersinnlichen Erscheinungen. Natürlich gab es Menschen, die Geister gesehen haben wollten, Fantasie- und Fabelgestalten, aber nichts traf auf diesen Everon zu. Während sie durch das Netz surfte, wanderte ihr Blick ständig zum Fenster. War es Einbildung, oder lauerten am Rande des Gartens Schatten? Würden sie näher kommen, vielleicht in der Nacht?

Beim Abendessen bekam Lena kaum einen Bissen herunter, und heute schloss sie sogar die Fensterläden, bevor sie schlafen ging. Sie machte sich auch Sorgen um ihre Oma, denn die war noch immer nicht zurück. Jedes Knacken, jedes Rascheln ließ sie zusammenzucken. Gott sei Dank vernahm sie um kurz nach zehn die vertraute, ruhige Stimme ihrer Großmutter im Gang und hatte jetzt eine Sorge weniger. Dennoch kreisten ihre Gedanken um Ragnar, und als sie nach einer halben Ewigkeit einschlief, träumte sie von ihm und wie er mit einem Schattenfuchs kämpfte, bis beide in die bodenlose Tiefe des Klinglochs in der Esperhöhle stürzten.

Für Lena war es sehr verlockend, das Angebot ihrer Eltern anzunehmen, sich noch einen weiteren Tag krankzumelden. Andererseits hatte sie das Gefühl, zuhause verrückt zu werden, und vor allem wollte sie nicht allein sein.

»Oma, wenn du mich ins Altenheim fährst, würde ich gerne arbeiten.« Nur mit dem Fahrrad allein durch den Wald fahren, das wollte sie nicht.

Auch ihre Großmutter sah übernächtigt aus und streichelte ihr mitleidig über die Wange. »Du bist tapfer, Lena. Natürlich fahre ich dich.«

Ich weiß nicht, ob ich tapfer bin, dachte sie bedrückt.

Beinahe bedauerte Lena ihren Entschluss, denn im Altenheim trafen sie entweder mitleidige oder neugierige Blicke. Obwohl alle Kollegen beteuerten, wie leid es ihnen doch tat, dass Lenas Freund ums Leben gekommen war, spürte sie die Sensationslust in vielen Augen.

Timo verhielt sich noch am vernünftigsten, hatte sie nur kurz umarmt und bemühte sich nun, sie während des Rundgangs durch die Zimmer aufzumuntern. Sie war froh über seine Anwesenheit, lenkte er sie doch von ihren Gedanken ab, die sich unaufhörlich um Everon und den Vorfall an der Höhle drehten. Selbst hier im Park fühlte Lena sich beobachtet, hinter jedem Busch, jedem Baum und jeder Hecke glaubte sie, ein Fuchsgesicht oder einen Kapuzenmann zu erkennen.

Gerade fuhr sie einen neuen Bewohner im Park spazieren. Herr Lonnert war ein hutzeliger, kleiner Mann mit einem verbissenen Gesicht und hatte bisher keinen Ton gesprochen. Kurz bevor sie wieder zum Altenheim einbogen, deutete er jedoch plötzlich zu den Brombeerbüschen und schrie: »Da, da ist er!«

»Was ist da?«, fragte sie erschrocken.

Seine knochige Hand fuchtelte noch immer in Richtung des Gebüsches, dann drehte er sich im Rollstuhl zu Lena um und sah zu ihr auf, seine wässrigen Augen weit aufgerissen. »Der Sensenmann! Er kommt uns alle holen! Ja, ja, er kommt uns alle holen!«

Voller Panik wich Lena zurück, starrte ins Gebüsch, während der alte Mann pausenlos vor sich hin brabbelte: »Der Sensenmann, der Sensenmann, er kommt uns alle holen.«

»Herr Lonnert, jetzt beruhigen Sie sich doch.« Maike trat aus dem Haus und verdrehte die Augen. »Das sagt er heute schon den ganzen Tag.«

»Ah.« Mehr brachte Lena nicht zu Stande und hatte ganz unvermittelt das Gefühl, Augen aus dem Gebüsch hervorblitzen zu sehen. Natürlich redeten die alten Leute häufig wirres Zeug, aber konnte es nicht sein, dass Herr Lonnert tatsächlich Everon, den Schattenmann, gesehen hatte? Schleunigst machte sie sich daran, ins Haus zu kommen.

Nach Dienstschluss fuhr Timo Lena in seinem Auto nach Hause. Ihr Blick wanderte aus dem Fenster, suchte den Wald nach den Schattengestalten ab.

»Danke, Timo.« Lena hastete nach drinnen und fand ihre Eltern und Oma Gisela in der Küche vor, die laut miteinander diskutierten.

»Also, nein, was hier in der Gegend in letzter Zeit alles passiert …«, lamentierte ihre Mutter, doch Lenas Vater warf ihr einen scharfen Blick zu, woraufhin sie verstummte.

»Was ist denn los?«, wollte Lena wissen.

»Ach nichts, Schatz.« Lenas Mutter begann, hektisch den eigentlich sauberen Tisch abzuwischen.

»Jetzt sagt schon!«

»Die vermissten Menschen wurden gefesselt in einer Höhle am Eibengrat, in der Nähe von Plech, gefunden.«

»Am Eibengrat?«, wiederholte Oma Gisela, wobei sie ungläubig den Kopf schüttelte.

»Völlig verstört und unterernährt hat man sie in die Psychiatrie eingeliefert«, fuhr Lenas Vater fort.

»Puh, das ist heftig. Hat man denjenigen gefunden, der sie festgehalten hat?«

»Nein.« Besorgt zogen sich die Augenbrauen von Dieter zusammen. »Auf jeden Fall werden wir dich in nächster Zeit in die Arbeit fahren. Ich möchte nicht, dass du allein mit dem Fahrrad durch die Gegend fährst, Lena. Vor allem nicht jetzt, da es wieder früher dunkel wird.«

Das war Lena nur recht, aber sie verschluckte sich heftig, als ihre Mutter noch hinzufügte: »Aber was dieser Kerl mit den Füchsen angestellt hat, das möchte ich auch mal wissen.«

»Füchse?«, stieß sie hervor.

»In der Höhle fand man mehrere tote Füchse. Der Mann muss wirklich krank im Kopf sein.«

»Füchse.« Lena ließ sich auf der Bank nieder und musste an den Schattenfuchs denken.

Den ganzen Abend lang versuchte Lena, sich abzulenken, aber Ragnar und die Esperhöhle ließen sie einfach nicht los. Weder Computerspiele noch Fernsehen konnten sie auf andere Gedanken bringen, und Lena befürchtete, dass ihr eine weitere schlaflose Nacht bevorstand. Kurz vor zehn ging sie noch einmal in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen.

»Mein Gott, Dieter, jetzt hast du wieder den Müll nicht rausgebracht«, schimpfte Lenas Mutter, während ihr Vater sich den letzten Schluck Bier genehmigte.

»Mach ich morgen«, brummte er.

»Das sagst du jedes Mal«, keifte Manuela. »Das Ding läuft schon über. Also los jetzt.«

»Ich bin aber schon im Schlafanzug«, protestierte er.

Lena kam es unendlich überflüssig und banal vor, dass sich ihre Eltern über einen vollen Mülleimer zankten.

Falls ich jemals mit Ragnar zusammengekommen wäre, überlegte Lena, hätten wir uns dann auch irgendwann über solche Kleinigkeiten gestritten?

»Hört auf, ich bringe ihn raus«, bat sie leise, und ihre Eltern drehten sich mit schuldbewussten Gesichtern zu ihr.

»Nein, Schatz, das musst du nicht«, erwiderte ihre Mutter.

»Dauert doch nicht lange.« Lena schnappte sich den übervollen Mülleimer und ging hinaus. »Gute Nacht.«

»Das arme Kind, ich hoffe, sie kommt bald darüber hinweg«, hörte sie ihre Mutter noch leise sagen.

»Wenn es nur keinen weiteren Ärger mit der Polizei …«

Lena wollte nichts mehr hören, trat hinaus in den dunklen Garten und eilte auf die Mülltonnen zu, die sich vor dem Gartenzaun befanden. Rasch dahinziehende Wolken verdeckten immer wieder Mond und Sterne.

Hoffentlich war das keine dumme Idee, hier in der Dunkelheit herumzulaufen, schoss es Lena durch den Kopf, denn schon wieder fühlte sie sich beobachtet. Doch vielleicht waren es lediglich ihre überreizten Nerven, und schließlich waren es ja nur ein paar Meter bis zur Mülltonne. Trotzdem zitterten ihre Hände gehörig, als sie das Tor öffnete, zur Mülltonne hastete, und eilig den Inhalt darin entleerte. In der Hektik fiel die Hälfte daneben, und Lena bückte sich fluchend nach einer dicken Melonenschale.

Als sie aufsah, stand eine hochgewachsene Gestalt vor ihr, das Gesicht in den Tiefen eines Kapuzenumhangs versteckt, lange silberne Haare lugten darunter hervor, und Lena bekam keinen Ton über ihre Lippen. Ihre Hände krallten sich um den leeren Mülleimer. Everon hatte sie also gefunden.

»Lass … mich … in Ruhe.«

Doch die Gestalt trat näher.