Kapitel 13

Der Schatz im Staffelberg

Dummerweise streikte an dem Tag, den sie sich für die Schatzsuche ausgesucht hatten, Ragnars Motorrad, und die Werkstatt meinte, es würde einige Tage dauern, das Ersatzteil zu besorgen. Sie konnten nur abwarten. Weitere Ausritte mit Devera und Ragnar lenkten Lena immerhin zeitweise ab, und inzwischen fühlte sie sich auf dem Rücken der braunen Stute so sicher, dass es ihr Spaß machte, auf den weichen Waldwegen zu galoppieren.

»Was hältst du von einem Wettrennen?«, fragte Ragnar an diesem Abend. Noch immer war es warm, aber die größte Hitze des Tages hatte nachgelassen. Lena war froh, ihre Schicht im Altenheim beendet zu haben, und genoss die entspannende Ruhe im Wald.

»Wettrennen?«, wiederholte sie kritisch. Vor ihnen erstreckte sich eine sanft ansteigende, frischgemähte Wiese.

»Ja, wer gewinnt, gibt dem anderen im Biergarten an der Burg etwas zu trinken aus. So ein … Fahrrad, oder wie ihr das nennt.«

»Radler«, korrigierte sie ihn mit einem hellen Lachen.

»Zuerst dachte ich ja, es wäre ein seltsamer Brauch, Bier mit Limonade zu mischen, aber mittlerweile finde ich es erfrischend.«

»Also gut.« Lena nahm all ihren Mut zusammen, denn auf offener Strecke war sie bisher noch nie galoppiert.

Sie stellten ihre Pferde nebeneinander auf. Der Schimmelwallach – inzwischen konnte Ragnar ihn wieder mit Sattel reiten – tänzelte und bockte auf der Stelle. Vielleicht spürte er, was sie vorhatten. Auch Devera war heute unruhiger als sonst. Sie kaute eifrig auf dem Gebiss herum, schüttelte den Kopf, schnaubte und vibrierte regelrecht unter Lenas Schenkeln.

»Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir lieber doch nicht …« Bevor sie ihren Satz beenden konnte, hatte Ragnar ihr jedoch schon zugenickt und ließ die Zügel schießen.

»Das ist unfair!«, rief sie empört und drückte instinktiv ihre Beine an Deveras Flanken.

Wie ein Katapult schoss die Stute nach vorne. Lena blieb der Atem weg, und sie hatte gar keine Zeit mehr, Angst zu verspüren. Comet war ihnen schon mehrere Längen voraus, aber auch die Stute zog kräftig an. Mächtig arbeiteten die Muskeln des Pferdes unter ihr. Der Wind zerrte an ihren Haaren, kühlte ihr Gesicht. Noch hielt sie Devera zurück, spürte den steten Zug an den Zügeln, energisch, jedoch nicht so, dass sie das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Sie wusste, die Stute wollte schneller laufen, den Schimmel einholen, denn der Abstand zu Ragnar auf Comet vergrößerte sich stetig. Sie sah, wie sich Ragnar kurz umdrehte, und glaubte, ein siegessicheres Grinsen zu erahnen. Auf einmal packte sie die Abenteuerlust. Sie beugte sich nach vorne, gab der Stute mehr Zügel. »Komm, denen zeigen wir’s!«

Mit kräftigen Sprüngen legte Devera an Tempo zu, die schwarze Mähne peitschte Lena ins Gesicht, und plötzlich durchfuhr sie ein nie gekannter Adrenalinschub. Sie stieß einen Freudenschrei aus, der vom Wind mitgerissen wurde, dann gab sie sich völlig dem Geschwindigkeitsrausch hin. In diesem Moment war sie eins mit dem Pferd. Bäume und Büsche rasten an ihr vorbei, der Boden bebte unter den Galoppsprüngen, und Lena hatte beinahe das Gefühl zu fliegen. Schon waren sie Comets Hinterteil ganz nah, und kurz darauf war sie mit Ragnar auf gleicher Höhe. Allein sein verdutzter Gesichtsausdruck war es wert, ihre Angst überwunden zu haben, dann duckte auch er sich weiter über den Hals. Weiße Schaumflocken lösten sich aus Comets Maul, er hatte die Nüstern weit gebläht, und noch einmal verlängerten sich seine Sprünge. Auf dem trockenen Boden donnerten die Hufe der Pferde, doch da erreichten sie schon das Ende der Wiese. Da Lena befürchtete, sie könnten geradewegs in das nächste Waldstück schießen, parierte sie die Stute zum Trab und anschließend zum Schritt durch, während Ragnar weiter auf die Bäume zuraste. Sie hielt die Luft an, denn das Pferd widersetzte sich, riss den Kopf hoch, und nur im letzten Moment gelang es Ragnar, eine Kurve nach rechts zu drehen. Ganz allmählich wurde der Wallach langsamer, und als Ragnar elegant zu ihr getrabt kam, liefen Ströme von Schweiß an seinem Pferd hinab. Doch Comet schien nicht genug zu haben. Er galoppierte auf der Stelle, wehrte sich gegen den Zügel und warf den Kopf in die Höhe. Energisch brachte Ragnar ihn zur Räson und stellte ihn neben Lenas Stute. Den nächsten Bocksprung des Wallachs ignorierte er gekonnt und versetzte dem Pferd lediglich mit der flachen Hand einen Klaps zwischen die Ohren, als dieses sich auf die Hinterbeine stellen wollte.

»Hat es dir Spaß gemacht?«, fragte er.

»Und wie!«, rief sie mit strahlendem Lachen. »Ich glaube, das war so ziemlich das Schönste, was ich jemals erlebt habe.« Begeistert klopfte sie der Stute den feuchten Hals. »Das ist viel besser, als die ganze Zeit im Kreis zu reiten und sich Regines Kommandoton gefallen zu lassen.«

»Dem kann ich nur zustimmen.« Mit einem triumphierenden Grinsen hob er seine Augenbrauen. »Ich habe übrigens gewonnen!«

»Das würde dir so passen!«, protestierte sie. »Du bist viel zu früh losgeritten.«

»Sonst würdest du noch immer an der gleichen Stelle stehen«, behauptete er herablassend.

»Gar nicht wahr!«

»Außerdem bist du ohnehin leichter als ich, mein Vorsprung war nur gerechtfertigt.«

»Comet hat viel längere Beine, und du reitest besser als ich und …«

Empört beobachtete sie ihn, wie er sich betont lässig mit einer Hand auf den Oberschenkel abstützte und sie kopfschüttelnd betrachtete. Den tänzelnden Comet schien er überhaupt nicht zu bemerken, hielt die Zügel lediglich mit einer Hand und saß jeden seiner zornigen Sprünge mit Leichtigkeit aus. »Es ist herrlich, wie du dich aufregen kannst.« Abermals holte Lena zu einer Entgegnung Luft, aber er zwinkerte ihr zu. »Schon gut, ich bezahle das Radfahrerbier, mein Vorsprung war in der Tat unfair.«

»Hm.« Sie nickte grimmig, dann ritten sie im Schritt zurück zum Reitstall, trotzdem schwitzten die beiden Pferde noch, als sie ankamen.

»Wir sollten ihnen eine Dusche gönnen«, schlug Ragnar vor.

Sie sattelten ab und führten die beiden zum gepflasterten Waschplatz. Ragnar wusch seinem Pferd als Erstes den Schweiß aus dem Fell, was dem Wallach, nachdem er sich kurz gegen den Wasserstrahl gewehrt hatte, auch zu gefallen schien.

»Du bist dran«, forderte Ragnar sie nach einer Weile auf.

Lena zupfte an Deveras Strick und band sie neben Comet an dem hölzernen Balken an, dann streckte sie die Hand aus.

Ein empörter Schrei entwich ihrer Kehle, als sie der kalte Wasserstrahl traf, denn anders als erwartet, gab ihr Ragnar nicht den Schlauch, sondern spritzte sie von oben bis unten nass.

»Hör auf! Lass das«, quietschte sie, aber er hielt weiter mit dem Wasserstrahl auf sie. »Ragnar, du Vollidiot, ich bin klitschnass!«

»Das hatte ich beabsichtigt.« Endlich drehte er das Wasser aus und betrachtete sie sichtlich zufrieden. »Das Wetter ist warm, du wirst bald trocken sein.«

Lena, mit tropfenden Haaren und Kleidern, riss ihm den Wasserschlauch aus der Hand, drehte das Wasser an und begann, Devera abzuduschen. Wohlweislich hielt er sich außer Reichweite des Strahls auf und grinste vor sich hin.

»Na warte«, knurrte sie.

Während Lena das Pferd abwusch, trockneten ihre Kleider tatsächlich nach und nach. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Ragnar, der inzwischen Sättel und Zaumzeug aufräumte. Nachdem er im Gebäude verschwunden war, rannte sie zur Wassertonne, in der sich brackiges, mit Algen durchsetztes Regenwasser befand. »Sehr schön«, kicherte sie vor sich hin, schlich neben die Tür und wartete, bis sie Schritte hörte.

Mit einer schwungvollen Bewegung klatschte sie dem Ahnungslosen den Inhalt des Eimers mitten ins Gesicht. Sie vernahm ein ersticktes Luftschnappen, ihr Opfer drehte sich zu ihr. Aus seinen Haaren strömte Wasser, Algen klebten am Ohr und der Nase, und er hatte die Augen weit aufgerissen – nur bedauerlicherweise handelte es sich nicht um Ragnar, sondern um einen etwa fünfzigjährigen Mann.

»Ich … oh … Verzeihung.«

»Was fällt dir eigentlich ein?« Der Mann wischte sich das Wasser aus den Augen. Lena konnte sich daran erinnern, dass es sich um Herrn Gruber, den Reitstallbesitzer handelte. Sie hatte den mittelgroßen, kräftigen Mann als sehr gelassen und gutmütig in Erinnerung, aber jetzt lief er dunkelrot an, als er sich ungeduldig die Algen aus den Haaren zog.

Am liebsten wäre Lena im nächsten Mauseloch verschwunden, und sie rang nach Worten.

»Ich vermute, der Anschlag hat mir gegolten.« Aufreizend cool lehnte Ragnar an einer der Boxenwände. Wie es aussah, hatte er sich von der anderen Seite genähert.

»Ja«, bestätigte Lena eilig, »tut mir ehrlich leid, ich wollte das nicht.« Verschämt zupfte sie Herrn Gruber einen vergammelten Strohhalm vom Hemd.

»Davon kann ich mir auch nichts kaufen«, blaffte er sie an und stapfte dann davon. Er drehte sich noch einmal um. »Lass die Pferde heute Abend auf der Koppel, das ist für sie angenehmer bei diesen Temperaturen.«

»In Ordnung«, stimmte Ragnar zu, bevor er zu Lena ging.

»O Mann, so was kann auch nur mir passieren!« Sie sah ihn vorwurfsvoll an, doch Ragnar hob abwehrend seine Hände vor die Brust.

»Was kann ich dafür, wenn du nicht richtig hinsiehst? Komm, wir führen die Pferde zur Koppel, dann gehen wir in den Bierhof.«

»Biergarten heißt das«, brummte sie und sah dann ängstlich zu Ragnar auf. »Denkst du, er lässt mich jetzt nicht mehr in den Stall?«

»Kann schon sein. Würde dich das denn stören?«

»Ja«, jammerte sie, »es macht mir nämlich inzwischen Spaß, Devera zu reiten.«

»Na komm«, er schob sie energisch weiter. »Wir bringen ihm später ein oder zwei Flaschen Bier mit, dann wird er dir verzeihen. Georg ist normalerweise sehr nett.«

»Denkst du wirklich?«

»Sicher.« Er sah sie von oben bis unten an. »Soll ich dir ein T-Shirt leihen?«

»Pah.« Lena fuhr sich durch die Haare. »Ich habe auch meinen Stolz.«

»Wie du meinst.«

Zunächst brachten sie die Pferde auf die Koppel, anschließend gingen sie Seite an Seite das kurze Stück die Dorfstraße entlang bis zum Biergarten. Zahlreiche Tische, von denen jedoch nicht einmal die Hälfte besetzt war, luden unter dem dichten Blätterdach der knorrigen Bäume zum Verweilen ein. Einige der alten Linden waren miteinander verwachsen und umschlangen sich wie Liebende. Lena und Ragnar setzten sich an einen freien Tisch und bestellten ihre Getränke. Sie unterhielten sich über ihren Ausritt, lachten noch einmal, als Ragnar sie an Herrn Grubers verdutztes Gesicht erinnerte, und spekulierten dann, was der Besuch des Staffelbergs wohl bringen mochte.

Unvermittelt deutete Lena grinsend auf einen älteren Mann, der auffallend gerade und seinen Stock schwingend die geteerte Auffahrt entlangkam. »Der General«, erklärte sie.

»So sieht er auch aus.«

»Er ist der Opa meiner besten Freundin und war früher beim Militär.«

Nun setzte er sich umständlich auf einen Stuhl, sah sich mit stolz gerecktem Kinn um und trommelte schon nach wenigen Minuten mit den Fingern auf den Tisch.

»Oje!« Lena kicherte los. »Jetzt darf sich die arme Bedienung sicher was anhören.«

Und tatsächlich erklang kurz darauf Herrn Krauses kräftige Stimme. »Wird man hier auch noch bedient?«

Die junge Bedienung, Lena hatte sie noch nie hier gesehen, kam langsam angeschlendert.

»Bin doch schon da«, nuschelte sie.

»Hat man euch jungen Leuten nicht beigebracht, in ordentlichen deutschen Sätzen zu sprechen?«, erfolgte postwendend die Zurechtweisung, während er über seine Brille hinweg das Mädchen kritisch musterte. »Ich möchte ein alkoholfreies Bier, zwei Paar Bratwürste, gut durchgebraten, und in zwanzig Minuten eine Tasse Kaffee – bei exakt neunzig Grad gebrüht!«

Lena sah, wie die Bedienung stutzte, dann schrieb sie verdattert das Bestellte auf und ging kopfschüttelnd ins Innere der Gastwirtschaft.

»Der weiß aber ganz genau, was er will.«

Lena lachte zustimmend, dann duckte sie sich unter den Tisch, als der General in ihre Richtung sah.

»Was tust du dort unten, Lena?«

»Ich wollte uns nur einen Vortrag über Kinder und Alkoholmissbrauch ersparen«, erklärte sie.

Das belustigte Ragnar sichtlich. »In diesem Getränk ist aber kaum Alkohol, außerdem sind wir keine Kinder mehr.« Einer seiner Mundwinkel zuckte. »Zumindest ich nicht!«

»Na hör mal, ich bin schon achtzehn«, plusterte sie sich auf, aber Ragnar lachte bereits.

»Zu schön, wie schnell du in die Luft gehst!«

»Blödmann«, brummte sie gutmütig und bewarf ihn mit einem kleinen Ast, der auf dem Tisch gelandet war.

Noch eine ganze Weile erzählte Lena Geschichten über General Krause, die Ragnar offenbar interessant und lustig fand. Die Zeit verging wie im Fluge. Aber mit einem Mal fing Ragnar an, unruhig auf seinem Stuhl zu zappeln. Er sah immer wieder zum Eingang und wirkte plötzlich zerstreut.

»Hast du heute noch was vor?«, erkundigte sich Lena. »Wir können auch gehen.«

»Nein, ich habe nichts vor«, versicherte er ihr. »Es ist nur … Ach, ich weiß auch nicht. Lass uns bezahlen.« Ragnar winkte dem Kellner und übernahm zu ihrer Überraschung nicht nur ihre Getränke, sondern auch den Eisbecher, den sie sich gegönnt hatte. Lena bestellte noch zwei Flaschen Bier – die zur Besänftigung von Herrn Gruber dienen sollten –, dann machten sie sich auf den Weg.

Ragnar schlug ein rasches Tempo an, und Lena kam ordentlich ins Schwitzen. »Was rennst du denn so?«

»Ich habe ein ungutes Gefühl«, antwortete er düster und beschleunigte noch einmal seine Schritte.

»Toll, nur weil du …« Sie kam nicht weiter, denn Herr Gruber kam ihnen schon entgegengerannt.

»Gut, dass du kommst. Die braune Stute – sie ist krank!« Fahrig strich er sich durch die Haare, trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Vielleicht eine Kolik. Ich rufe gleich den Tierarzt an.«

Schon hetzte Ragnar los, und Lena drückte dem aufgelösten Mann die zwei Bierflaschen in die Hand. »Sorry für die Dusche.« Und mit diesen Worten eilte sie Ragnar hinterher.

Wie schon viele Male zuvor gelang es ihr nicht, ihn einzuholen. Er kniete bereits auf der Koppel neben Devera, als Lena ankam. Die braune Stute lag auf dem Boden, war schweißgebadet, ihr Atem ging hektisch, und es sah so aus, als würden sich ihre Muskeln immer wieder verkrampfen. »Was fehlt ihr denn?«, fragte Lena erschrocken, aber Ragnar machte ihr mit einer abwehrenden Geste klar, dass er jetzt nicht antworten wollte.

Seine Miene war ernst und angespannt, wie er da am Boden saß, eine Hand streichelte den Hals, und er sprach ganz leise und beruhigend auf Isländisch mit dem Pferd. Noch einige Male versuchte Devera, sich aufzurichten, hob den Kopf, schlug mit den Beinen aus und sackte dann wieder zurück. Das Pferd tat Lena unendlich leid. Zu gerne hätte sie etwas getan, um ihr zu helfen.

»Hast du sie unterwegs irgendwo fressen lassen?«, wollte Ragnar plötzlich wissen.

»Nein, weshalb?«

»Ich denke, es ist eine Vergiftung«, erklärte er und sah sie durchdringend an.

»Ich habe sie wirklich nirgends fressen lassen«, beteuerte Lena und kniete sich neben ihn.

Kurz darauf kam Herr Gruber keuchend angerannt. »Der … Tierarzt … kommt nicht vor einer Stunde.«

»Verdammt!« Ragnars Miene wurde noch finsterer. »Ich vermute, Devera hat eine Vergiftung. Vielleicht kannst du sehen, ob du etwas auf der Koppel findest, dann hat es der Tierarzt leichter. Lena kann dir helfen.«

Im Gegensatz zu Lena schien der ältere Mann sogar erleichtert zu sein, nicht hierbleiben zu müssen. »Gute Idee.« Schon ging er los und suchte mit den Augen den Boden ab.

»Ich möchte hier warten«, sagte Lena entschieden, dann streichelte auch sie der Stute über den Kopf.

Zunächst schien es, als wolle Ragnar widersprechen, aber dann nickte er.

Während die Abenddämmerung hereinbrach, saßen sie neben dem Pferd, das immer wieder Krämpfe hatte und schwer atmete.

»Warum kommt denn der verfluchte Tierarzt nicht?«, regte sich Lena nach einer guten Dreiviertelstunde auf, als es Devera noch schlechter zu gehen schien. Sie verdrehte die Augen und schlug um sich.

Ratlos hob Ragnar die Schultern, legte eine Hand auf den Kopf, die andere auf ihren Hals. Kurz darauf drehte er sich zu Lena um und sagte mit leiser Stimme: »Sie stirbt.«

»Was?« Entsetzt sprang Lena auf. »Das kann doch nicht sein. Der Tierarzt wird kommen und dann …«

»Nein. Es wird nichts mehr nützen.«

»Das kannst du doch überhaupt nicht wissen!«

»Ich weiß es. Geh jetzt, Lena.«

Fassungslos sah sie zu Ragnar hinab, der die Augen schloss und beruhigende Worte ins Ohr der Stute murmelte.

»Ich will aber nicht gehen«, protestierte sie, denn das Pferd war ihr in den letzten Wochen ans Herz gewachsen.

»Verschwinde!«, fuhr Ragnar sie an, und sie wich unwillkürlich zurück. Sein Blick war hart und kalt, sein Mund verkniffen.

Tränen schossen in ihre Augen, und obwohl sie sein plötzlich so abweisendes Verhalten nicht verstand, entfernte sie sich. Aus der Ferne beobachtete sie Ragnar, der sich wieder zu Devera hinabbeugte. Nun kam auch Herr Gruber angelaufen, ein Büschel mit Ästen in der Hand. »Ich möchte nur wissen, welcher verfluchte Idiot seine Gartenabfälle auf die Koppel geworfen hat«, polterte er los und wedelte mit den grünen Zweigen vor Lenas Nase herum. »Buchsbaum ist verdammt giftig.«

»Ragnar hat gemeint, Devera schafft es nicht«, sagte sie mit weinerlicher Stimme.

»Ich befürchte, er hat Recht.« Herr Gruber fuhr sich über sein rundliches Gesicht. »Verdammt, Devera ist bei mir eingestellt, das gibt Ärger. Ich muss ihre Besitzerin anrufen.« Damit eilte er davon und ließ Lena ratlos zurück.

Während die ersten Sterne am Himmel zu glänzen begannen, stand sie auf der Koppel und kam sich mit einem Mal entsetzlich verlassen vor. Daher ging sie langsam wieder in Ragnars Richtung. Aus der Ferne hörte sie, wie er leise und liebevoll mit dem Pferd sprach. Nun lag die Stute bewegungslos da, nur am hektischen Heben und Senken ihrer Flanken erkannte Lena, dass sie noch lebte.

Als Lena ein Auto hörte, drehte sie sich um, in der Hoffnung, der Tierarzt könnte gekommen sein, doch das Auto fuhr weiter. Dafür nahm sie aus den Augenwinkeln plötzlich ein Aufblitzen wahr. Zunächst glaubte sie, ein Gewitter wäre aufgezogen, aber am Himmel befand sich kaum eine Wolke. Außerdem war es kein gleißendes, unangenehmes Licht, sondern ein weiches, warmes Leuchten. Es kam genau aus Ragnars und Deveras Richtung. Lena rieb sich die Augen, doch da war es auch schon wieder verschwunden.

Wenngleich sie befürchtete, Ragnar könnte sie anfahren, trat sie näher. »Hast du das gesehen? Dieses …«

Sie sprach nicht weiter, denn er erhob sich, sein Gesicht seltsam bleich, Tränen hatten Spuren auf seinen Wangen hinterlassen, und er schwankte, als er endlich stand.

»Ragnar?« Lenas Blick wanderte von ihm zu dem Pferd, das bewegungslos auf der Erde lag.

»Sie ist gegangen.« Seine Stimme war heiser, irgendwie kraftlos, und Lena fasste ihn am Arm. »Was ist mit dir?«

»Nichts.« Damit torkelte er los. »Ich melde mich in ein paar Tagen bei dir.« Langsam entfernte er sich über die Wiese. Lena blieb fassungslos zurück. Gerade erst hatte sie wieder Spaß am Reiten gefunden – und nun das. Sie kniete sich neben das Pferd und weinte leise.

»Er hat es wieder getan.« Lange hatten sie auf einen Augenblick wie diesen gewartet, und jetzt war es geschehen.

Noch wirkte sein Gegenüber verwirrt, sein Blick wanderte rastlos über die Umgebung, die für ihn ungewohnt war. Er zog sich tiefer in den Schatten der Bäume zurück.

»Gibt es weitere wie ihn?«

»Das ist ungewiss, das letzte Mal sah das Land anders aus. Wir müssen unsere Brüder finden und uns beraten.«

»Wird er unsere Sache unterstützen?«, zischte der Zweite; seine Gestalt war nur schemenhaft im Zwielicht des Abends zu erkennen.

»Geduld, zunächst müssen wir an Kraft gewinnen.« Der Erste schauderte. »Hier sind die alten Mächte zu stark. Lass uns gehen.«

Die beiden wandten sich ab und verschmolzen mit den Schatten.

Lena war traurig, hatte während der letzten Nacht kaum schlafen können und das Gefühl, mit Deveras Tod einen guten Freund verloren zu haben. Schon am nächsten Abend fuhr sie nach der Arbeit mit dem Fahrrad zum Reitstall, denn sie wollte sich erkundigen, wie es Ragnar ging, da er so furchtbar erschöpft ausgesehen hatte.

Doch sie traf nur auf Regine, die ein schwitzendes Pferd vom Reitplatz führte.

»Ist Ragnar hier?«, fragte Lena vorsichtig.

Postwendend verzerrte sich Regines hageres Gesicht. »Der Irre hat sich krankgemeldet.«

»Oh!« So wie Ragnar gestern davongewankt war, wunderte sie das nicht, aber als Regine mit biestiger Stimme fortfuhr, blieb ihr doch der Mund vor Staunen offen stehen.

»Der hat doch glatt das ganze Holz, das Georg am Waldrand aufgeschichtet hatte, gestohlen und damit das Pferd verbrannt. Ich wusste ja immer, dass er nicht alle hat! Der Abdecker war schon bestellt und dann das …«

»Er hat was?«, hakte Lena nach.

»Er hat das Pferd verbrannt«, wiederholte Regine ungeduldig. »Der Kerl kann froh sein, dass Georg Gruber bei der Feuerwehr ist und die Sache geradegebogen hat, sonst hätte er eine Anzeige bekommen. Eigentlich hätte er’s ja verdient.« Damit zog sie ihr Pferd weiter.

Am Morgen hatte Lena noch die Feuerwehrsirene gehört, sich jedoch keine weiteren Gedanken gemacht. Darauf, dass Ragnar Devera verbrannt haben könnte, wäre sie aber im Leben nicht gekommen. Kopfschüttelnd ging sie zu seiner Hütte und klopfte an die Tür.

»Ragnar, bist du da?«, rief sie, als niemand öffnete.

Die Fensterläden waren geschlossen, vielleicht schlief er ja auch, aber sie wollte zu gern wissen, wie es ihm ging und was er sich bei der ganzen Aktion gedacht hatte. Da er jedoch nicht antwortete, gab sie schließlich auf.

Auf dem Rückweg zur Straße kam ihr Herr Gruber entgegen. Sie lächelte vorsichtig und murmelte einen Gruß.

»Wenn du deinen Freund siehst, dann mach ihm bitte noch einmal deutlich klar, dass es in Deutschland verboten ist, ein so großes Tier auf eigenem Grund zu bestatten.« Er runzelte seine Stirn. »Das gilt auch für eine Feuerbestattung.«

Gegen ihren Willen musste Lena grinsen. »Ja, in Ordnung.« Sie räusperte sich. »Herr Gruber, also die Sache mit dem Wassereimer …«

Er winkte ab. »Schon vergessen.« Dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Ragnar hat mir erzählt, wie gern du das Pferd hattest.«

»Ja, das stimmt.« Betrübt senkte sie den Blick. »Wissen Sie zufällig, wo Ragnar ist?«

»Er hat Regine gesagt, er wäre krank. Vermutlich ist er beim Arzt.«

»Ja, das könnte natürlich sein.« Lena schwang sich auf ihr Fahrrad und trampelte nach Hause.

Auch in den folgenden zwei Tagen traf sie Ragnar nicht an, und er meldete sich nicht bei ihr. Langsam machte sie sich wirklich Sorgen. Doch eines schwülheißen Nachmittags wartete er nach der Arbeit am Tor auf sie.

»Hallo.«

»Hi!« Lena betrachtete ihn von oben bis unten. »Geht’s dir wieder gut?«

»Ja.«

»Wo warst du denn die ganze Zeit?«, wollte sie wissen.

Seine Miene verschloss sich. »Ich war einige Tage fort.«

»Und wo?«

»Hier und da.«

Lena verdrehte die Augen, hatte aber im Moment keine Lust, sich mit ihm zu streiten. »Es ist traurig, dass Devera nicht mehr hier ist.«

»Das ist es«, stimmte er nachdenklich zu. »Ich kann versuchen, ein anderes Pferd zu finden, das du bewegen kannst. Viele Besitzer haben zu wenig Zeit für ihre Tiere.«

»Das wäre aber nicht das Gleiche«, meinte Lena traurig.

Für einen Augenblick legte er seine Hand auf ihren Arm. »Das wäre es nicht.« Anschließend zuckte er mit den Schultern. »Aber unser Leben muss weitergehen. Das Motorrad ist repariert, wir können also zum Staffelberg fahren, falls du noch Lust hast.«

»Ja, natürlich!« Auf einmal durchfuhr Lena eine gewisse Aufregung, dann räusperte sie sich. »Ragnar, ich soll dir von Herrn Gruber ausrichten, dass man hier keine Tiere …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie ungeduldig, dann schüttelte er den Kopf. »Nur finde ich es grausam, Tiere, die wie Freunde für einen waren, einer Tierverwertungsgesellschaft zu geben. Zuhause in Island haben wir unsere Tiere immer begraben.«

»Das finde ich auch schöner«, stimmte Lena zu, »allerdings gibt es hier weniger Platz als in Island, befürchte ich.«

Aber Ragnar schüttelte stur den Kopf. »Ein verbranntes Tier nimmt keinen Platz weg.«

Unwillkürlich breitete sich ein Grinsen auf Lenas Gesicht aus. »Du hast tatsächlich das Holz von Herrn Gruber gestohlen?«

Wie es den Anschein hatte, war er sich keiner Schuld bewusst. »Da lag ein riesiger Haufen Holz am Waldrand, ich dachte, wenn ich etwas davon nehme, stört das niemanden. Also habe ich mir den Traktor des Reitstalls ausgeliehen und für Devera in der Morgendämmerung eine Feuerbestattung arrangiert.«

»Eigentlich ist das ja cool«, meinte Lena. »Nur ist es eben nicht erlaubt.«

»Aber es war richtig«, beharrte er. »Oder hast du noch niemals etwas Unerlaubtes getan?«

»Doch – leider«, gab sie zu, dann schwang sie sich auf ihr Fahrrad. »Ich werde aus dir zwar nicht klug, aber ich bin froh, dass Devera eine würdige Bestattung bekommen hat. Kannst du mich übermorgen so gegen einundzwanzig Uhr am Ortsschild abholen?«

»So spät?«

»Ich behaupte einfach, ich würde früh ins Bett gehen. Ansonsten müssten wir noch ein paar Tage warten, weil ich immer so blöden Schichtdienst habe.«

»Wenn du willst. Bis dann, Lena.«

Am Abend vor ihrem geplanten Ausflug zum Staffelberg konnte Lena kaum still sitzen.

Oma Gisela war seit gestern von ihrem Kurzurlaub zurück und hatte Lasagne zum Abendessen gekocht. Lena ließ es sich schmecken, nur ihr Vater musste seinen Unwillen mal wieder kundtun. »Ein anständiges Schnitzel wäre mir lieber.«

»Eine unanständige Lasagne mit Gemüse aus ökologischem Anbau ist aber besser für dich.« Sie klopfte auf den deutlich gewölbten Bauch ihres Sohnes, der beleidigt vor sich hin grummelte.

Lenas Mutter schien es dagegen zu schmecken, denn sie nahm sich bereits das zweite Stück. »Ich habe in der Mittagspause Frau Messingschlager, die Oma von der kleinen Chantal, im Einkaufszentrum getroffen.«

»Lass mich raten, sie hatte ein Brötchen mit einem dicken, fetten Stück Leberkäse in der Hand«, entgegnete Oma Gisela trocken.

Lena gluckste verhalten, denn sie konnte die kugelrunde Frau Messingschlager mit dem immer roten Kopf und den altmodischen Ringellocken förmlich vor sich sehen, wie sie eines der riesigen Leberkäsbrötchen verschlang, die es im Einkaufszentrum gab.

»Na ja«, meinte Lenas Mutter und klang dabei beinahe entschuldigend, »die kosten schließlich nur einen Euro, und man wird davon satt.«

»Das mag sein, aber gesunde Ernährung sieht anders aus.«

»Haste mal ’nen Euro«, spottete Lena, während sich Oma Gisela provokativ eine neue Portion frischen Gartensalat auf ihren Teller lud.

»Wie auch immer«, fuhr Manuela mit beleidigter Miene fort. »Was ich erzählen wollte: Sie hielt eines dieser Bayernlose in der Hand und wurde urplötzlich ganz bleich.«

»Kann ich mir bei ihr kaum vorstellen«, grummelte Oma Gisela, »ihr Blutdruck ist sicher jenseits von Gut und Böse. Aber lieber stopft sie sich mit Medikamenten voll, als ihren Lebensstil zu ändern.«

»Nun lass Manuela doch mal erzählen«, schimpfte Lenas Vater.

»Schon gut, schon gut. Was war denn nun mit dem Bayernlos?«

»Stellt euch nur vor, sie hat tatsächlich fünfzigtausend Euro gewonnen«, rief Lenas Mutter aus.

»Das ist ja der Hammer!« Lena riss die Augen weit auf.

»Die arme Frau war völlig überfordert«, meinte ihre Mutter. »Sie sah regelrecht verstört aus und sagte, sie wisse gar nicht, was sie mit so viel Geld anfangen solle.«

»Na ja.« Oma Gisela räumte die leere Lasagneschüssel weg. »Im Zweifelsfall kann sie sich ja jetzt fünfzigtausend Leberkäsbrötchen kaufen.«

Lena prustete los, wobei sich ein paar Reste Lasagne aus ihrem Mund verabschiedeten und über den Tisch verteilten.

»Lena!«, rügte ihre Mutter sie postwendend. »Halt dir doch bitte wenigstens die Hand vor den Mund.«

»Sorry, Mama«, gluckste sie. »Aber fünfzigtausend Leberkäsbrötchen? Ich pack’s nicht!« Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Wie viele Jahre könnte sie denn dann Leberkäse essen? Ich frage mich, ob sie überhaupt so alt wird.«

»Lass mich mal überlegen.« Oma Gisela legte einen Finger an ihre Nase. »Wenn sie pro Tag zwei Brötchen isst, sind das siebenhundertdreißig im Jahr … Nein, sie müsste schon mindestens drei pro Tag essen, ich gehe davon aus, das wäre kein Problem. Also, drei mal dreihundertfünfundsechzig …«

»Ihr seid albern!«, schimpfte Manuela und widmete sich erneut ihrem Essen.

Belustigt stellte Lena fest, dass ihre Mutter sogar beleidigt kauen konnte. Ihre Mundwinkel hingen herab, und sie bedachte Lena und ihre Schwiegermutter mit strafenden Blicken.

»Also ich wüsste ganz genau, was ich mit fünfzigtausend Euro anfangen würde«, betonte Lena.

»Unseren Kredit für das neue Auto abbezahlen.« Einmal mehr sah ihr Vater sie vorwurfsvoll an.

»Ja, ja, das wäre unter Garantie das Allererste!«

»Ich würde endlich unseren Hausbau abschließen«, verkündete Manuela, wobei sie ihrer Schwiegermutter einen schrägen Blick zuwarf. »Dann müssten wir Gisela nicht mehr auf die Nerven fallen.«

»Ach, ihr fallt mir eigentlich nicht auf die Nerven«, sagte sie gedehnt. »Andersherum mag das aber durchaus der Fall sein.«

Lenas Vater räusperte sich. »Wie auch immer, dieser leidige Hausbau sollte in der Tat endlich abgeschlossen werden.« Gereizt fuhr er sich über seine Halbglatze. »Ich muss nochmal beim Anwalt nachfragen.« Dann seufzte er tief. »Fünfzigtausend Euro wären in der Tat eine große Hilfe.«

»Aber nein, die Queen of Leberkäs muss sie ja gewinnen«, kicherte Lena, dann dachte sie an den Schatz, den sie möglicherweise bald finden würde. Wenn es genügend ist, bezahle ich meinen Eltern den restlichen Hausausbau, auch wenn ich garantiert nicht hier wohnen bleiben werde!

Nach dem Essen setzte sich Lena noch mit vor den Fernseher, aber von dem Actionfilm bekam sie kaum etwas mit. Um kurz vor neun gähnte sie lautstark. »Ich geh mal ins Bett, die letzten Nachtschichten haben ganz schön geschlaucht.«

»Ja, gute Nacht, Lena.« Ihre Mutter lächelte, und auch ihr Vater nickte ihr zu.

Oma Gisela saß in ihrem Sessel und strickte an einer Jacke für die kleine Leonie. »Schlaf gut und träum nicht von fünfzigtausend Leberkässemmeln!«

Kichernd ging Lena nach oben. Sie schaltete ihre Stereoanlage und den Timer an, damit ihre Eltern keinen Verdacht schöpften. In etwa einer Stunde würde die Musik aufhören und allen Unwissenden vorgaukeln, Lena würde schlafen. Sie stopfte einen Pullover in ihren Rucksack, schnappte sich eine Jacke und öffnete das Fenster zum Garten. Dann schwang sie sich über das Fenstersims und schlich durch die Bäume zum Tor. Sie hatte Ragnar extra gebeten, sich mit ihr am Ortsschild zu treffen, damit ihre Eltern nicht beim Geräusch des Motorrads misstrauisch wurden. Der Abend war mild, und Lena überlegte schon, ob sie ihre Jacke wieder ausziehen sollte, aber da vernahm sie das knatternde Geräusch von Ragnars altem Motorrad. Er hielt an, hob die Hand zum Gruß und holte den Ersatzhelm unter der Sitzbank hervor. Dann fuhren sie über die nächtlichen Straßen zum Staffelberg. Sie genoss die Fahrt durch die laue Nacht, und in freudiger Erwartung schaute sie zumeist gespannt über Ragnars Schulter hinweg, in der Hoffnung, ihr Ziel bald zu Gesicht zu bekommen. Nur ganz schemenhaft konnte man schließlich das Hochplateau gegen den Nachthimmel erkennen. Wenigstens war der Weg ausgeschildert. Schnell fanden sie den Parkplatz und machten sich an den Aufstieg. Fernab der großen Städte beleuchteten die Sterne und der Mond ihren Weg ausreichend, nur in den finsteren Waldstücken hätte sich Lena eine Taschenlampe gewünscht. Die Bäume wogten im leichten Wind, die leisen Tritte ihrer Füße waren in der Stille zu vernehmen, und Lena war froh über Ragnars Anwesenheit, denn allein hätte sie sich bestimmt gefürchtet. Neidisch stellte sie fest, dass Ragnar deutlich seltener stolperte, auch war er weniger außer Atem als sie.

»Wie machst du das? Bist du Marathonläufer oder so was?«, keuchte sie.

»Nein, offenbar bin ich nur besser in Form als du.«

»Charmant wie immer«, grummelte Lena. Sie war sehr erleichtert, als sie endlich das Hochplateau erreicht hatten. »Puh, der Bergrücken ist ziemlich weitläufig. Wo sollen wir denn anfangen?«

»Komm einfach mit.« Ragnar ging voran, und da er ja schon häufiger diese seltsamen Eingebungen gehabt hatte, folgte sie ihm.

»Offenbar sind wir nicht die einzigen Verrückten, die mitten in der Nacht hier oben herumlaufen«, sagte Lena nach einer Weile, denn auf einer mondbeschienenen Wiese waren drei Zelte aufgebaut, und eine Gruppe von Leuten saß ums Lagerfeuer. Einer spielte leise auf der Gitarre.

»Nicht alle jungen Menschen in deiner Gegend scheinen überfüllte Diskotheken zu bevorzugen.«

»Davon verstehst du nichts.«

»Du musst es ja wissen«, entgegnete Ragnar provokativ.

»Wo sonst willst du denn jemanden kennen lernen?«

»Möchtest du mir ernsthaft erzählen, es wäre nur möglich, in einem lauten, überfüllten Raum einen Partner zu finden?«

»Nein … na ja … keine Ahnung«, rang Lena gereizt nach Worten. »Aber sicher wird mir mein Zukünftiger nicht hier in der Wildnis über den Weg laufen.«

»Wildnis?« Ragnar lachte leise auf. »Du warst noch niemals an einem richtig urtümlichen Ort, nicht wahr?«

Lena wollte etwas entgegnen, aber Ragnar hielt abrupt an, blieb stehen und starrte zu einer Baumgruppe.

»Was ist denn jetzt wieder?«

»Psst.« Ragnar fasste Lena an der Hand und zog sie mit sich.

Nach ein paar Schritten sah auch sie, weshalb er stehen geblieben war. Lena vermutete, dass die Feuer durch das Gebüsch verdeckt gewesen waren, aber gleichzeitig wunderte es sie, den flackernden Lichtschein nicht früher wahrgenommen zu haben. Zwanzig bis dreißig Menschen standen oder saßen um drei Feuerstellen herum, einer schlug rhythmisch auf eine Trommel und führte dabei einen bizarren Tanz auf.

»Was sind das denn für Freaks?«, lachte sie. »Sieh mal, was die für komische Sachen tragen.«

Ragnar versteifte sich und betrachtete Lena stumm, wobei sich das Sternenlicht in seinen seltsamen dunklen Augen fing und die kleinen Pünktchen zum Leuchten brachte. »Du siehst sie?« Seine Stimme klang ungläubig.

»Na klar«, erwiderte Lena, »ich habe doch keine Tomaten auf den Augen. Sind das am Ende wieder solche LARP-Typen? Würde mich nicht wundern bei den komischen Kutten, die die tragen.«

Noch immer stand Ragnar bewegungslos da, hielt ihre Hand fest, als hätte er sie vergessen.

»Hallo, hast du die Sprache verloren?« Sie machte sich von ihm los und wedelte ihm vor den Augen herum. »Kennst du die etwa …« Sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn als sie wieder zu der Stelle hinsah, wo zuvor die eigenartigen Gestalten gewesen waren, befand sich jetzt nur noch die mondbeschienene Wiese. Ein leises Keuchen entfuhr ihr. »Wo sind die denn so plötzlich hin?«, fragte sie mit dünner Stimme. Sie stolperte einige Schritte nach vorne und kniff die Augen zusammen. Ihr Gehirn suchte vergeblich nach einer rationalen Erklärung, denn selbst wenn die Leute allesamt fortgelaufen waren, die Feuer hätten noch brennen müssen.

»Du hast sie gesehen«, wiederholte Ragnar. »Und jetzt nicht mehr?«

»Nein, verdammt, was ist denn hier los?« Lena spürte, wie Panik in ihr aufstieg.

Ragnar trat näher zu ihr heran, nahm vorsichtig ihre Hand in seine und deutete mit der anderen nach vorne.

Lena torkelte zurück, als wie von Geisterhand erneut die Männer und Frauen in langen Gewändern oder weiten Hosen auftauchten. Die Haare hingen ihnen zottelig über den Rücken, einige trugen Bemalungen im Gesicht.

Hektisch machte sie sich von Ragnar los und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was geht hier vor?«

»Jetzt siehst du sie nicht mehr?«

»Nein!« Schützend schlang Lena die Arme um sich und wich langsam vor Ragnar zurück.

»Lena, hab keine Angst, das sind nur die Geister der Verstorbenen aus einer anderen Zeit«, erklärte er mit beinahe sanfter Stimme.

»Ach was – nur Geister?« Sie lachte hysterisch, dann fuchtelte sie abwehrend mit den Händen herum, als er auf sie zukam, und rannte kopflos davon. Das alles überforderte sie, sie hatte Angst, den Verstand zu verlieren. Im Augenblick wollte sie nur eins – fort von Ragnar, fort von diesem Ort und fort von irgendwelchen vermeintlichen Geistern. Lena war sich nicht sicher, ob sie den Weg allein zurückfinden würde, aber solange sie sich bergab hielt, musste sie ja zur Straße kommen. Zu einer richtigen, wirklich existierenden Straße, die sie zu menschlichen Behausungen und in die Realität zurückführte.

»Lena, warte!« Als sie Ragnars Stimme dicht hinter sich vernahm, beschleunigte sie ihre Schritte und schlug sich schließlich in der Hoffnung, ihn abzuhängen, ins Gebüsch. Dieser Plan ging gründlich schief. In der Dunkelheit stolperte sie über eine Wurzel, ruderte mit den Armen und prallte kurz darauf schmerzhaft auf dem Boden auf.

»Verdammte Scheiße!« Mühsam setzte sie sich auf, umklammerte ihr schmerzendes Knie und spürte bald, wie der Stoff ihrer Jeans feucht wurde. Wenige Augenblicke später war Ragnar neben ihr. Schemenhaft konnte sie seine Umrisse erkennen.

»Hast du dir wehgetan?«

»Lass mich in Ruhe!«

»Das alles muss dich verwirren …« Seine Hände legten sich auf ihre Schultern, aber sie drehte sich ruckartig weg.

»Fass mich nicht an, ich will nicht so ein … Zeug sehen.«

»Beruhige dich.«

»Du sollst mich nicht anfassen!«, schrie sie hysterisch und schlug blind nach ihm. Auch als sie Widerstand spürte, hörte sie nicht auf.

Doch Ragnar wich nicht zurück, sondern hielt sie fest und drückte sie schließlich an sich.

»Nicht weinen, hier sind keine Geister.« Noch eine ganze Weile tobte und schluchzte sie, dann brach ihr Widerstand, und sie versteckte ihr Gesicht an seiner Schulter, wollte nichts mehr sehen und hören. Auf einmal fühlte sich seine Anwesenheit gar nicht mehr so schlecht an. Zuvor war ihr kalt gewesen, nicht nur von der Nachtluft, sondern vor Angst, aber jetzt wärmte Ragnar sie, spendete ihr Trost, auch wenn er ihr noch immer nicht geheuer war.

Irgendwann hob sie mit tränennassem Gesicht den Kopf und sah zu ihm auf. »Kann man diese Gabe nicht einfach wieder abschalten?«

»Nein, ich befürchte nicht. Komm mit, du kannst doch nicht mitten auf diesem Abhang in den Dornen sitzen bleiben.«

Wenngleich Lena zu gern aus Prinzip widersprochen hätte, nickte sie und erhob sich langsam. Ihr Knie brannte wie Feuer, Hände und Arme waren vermutlich aufgeschürft, und als sie endlich auf der Ebene stand, fühlten sich ihre Beine seltsam zittrig an.

»Du hast dich verletzt.« Vorsichtig fuhr Ragnar über die Striemen an ihrem Arm.

»Nicht so schlimm«, behauptete sie. »Aber jetzt sag mir endlich, was mit dir los ist – und mit mir. Bevor ich dich kennen gelernt habe, konnte ich keine Geister sehen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Ragnar herausfordernd an.

Er fuhr sich durch die Haare und atmete tief ein, bevor er antwortete. »Weshalb du Geister sehen kannst, weiß ich nicht. Aber vermutlich liegt es an mir. Ich habe diese Gabe schon seit Langem … Und glaub mir, ich weiß, wie du dich jetzt fühlst.«

»Ach ja?« Sie schnaubte abfällig. »Vielleicht ist es im Troll- und Elfenland normal, Tote zu sehen, aber hier ganz sicher nicht.«

»Auch in Island ist das nicht normal«, stellte er mit einer gewissen Bitterkeit in der Stimme richtig. »Und nachdem ich es das erste Mal bemerkt habe, hat es mir Angst gemacht. Bislang habe ich auch kaum jemals jemandem davon erzählt, denn mir ist klar, wie verrückt das klingen muss.«

»Wenigstens das siehst du ein«, grummelte sie.

»Es ist eine seltene und unheimliche Gabe, aber die Geister tun dir nichts – jedenfalls mir haben sie bisher keinen Schaden zugefügt.«

Erneut traten Lena Tränen in die Augen. »Ich will sie aber gar nicht sehen. Ich pfeife auf den verdammten Schatz, ich möchte einfach nur ganz normal weiterleben.«

»Wie es aussieht, kannst du die Geister nur in meiner Anwesenheit sehen, also wird dich diese Gabe nicht weiter beeinträchtigen, solange du mich nicht berührst.«

»Aber dann sind sie trotzdem hier.« Schaudernd blickte sich Lena um, und plötzlich fühlte sie sich beobachtet.

»Nicht überall halten sich Geister auf. Und sie können auch von Nutzen sein.«

»Wie denn das?«

»Sicher erinnerst du dich an die Teile von Großmutters Anhänger.«

Lena nickte.

»Durch die Geister, die sich an den alten keltischen Stätten aufhalten, habe ich erfahren, wo sie sind.«

»Du kannst mit ihnen sprechen?«, fragte Lena entsetzt.

»Mit einigen. Manche von ihnen sind freundlich und hilfsbereit, andere nicht.«

»O Gott, ich kann nicht glauben, dass ich mich mit dir über so etwas unterhalte«, stöhnte sie. Auch wenn sie die Geister mit eigenen Augen gesehen hatte, so weigerte sich ihr Verstand, diese Beobachtung als real anzuerkennen.

»Dann waren überall, am Keltenwall, auf der Ruine und auf dem Walberla Geister?«

Mit einem Nicken bestätigte Ragnar dies. »Am Keltenwall musste ich auf den Geist eines Druiden warten, denn die anderen wussten nicht, ob sie mir sagen dürfen, wo sich der Teil des Schmuckstücks befindet, und dieser Druide zeigte sich nur nachts. Das war der Grund, weshalb ich dich damals gebeten habe, später zurückzukommen.«

»Also willst du mir erzählen, es wimmelt in unserer Welt nur so vor Geistern.«

»Wimmeln ist der falsche Begriff. Doch an manchen Orten halten sich die Seelen derer auf, die sich weigerten weiterzugehen.«

Lena verstand die Welt nicht mehr. »Und weshalb nicht?«

Ragnar hob die Schultern. »Das kann verschiedene Gründe haben. Manch einer war nicht bereit, sein irdisches Dasein aufzugeben, oder er wurde überraschend ermordet und konnte sich damit nicht abfinden. Andere wiederum sagten, sie könnten keine Wächter als ihre Nachfolger bestimmen, was auch immer sie damit meinten. Der Druide beispielsweise wurde zum Ende der Keltenzeit von einem feindlichen Germanen getötet. Er beschloss, am Ort seiner Vorfahren zu verharren und denen, die es hören wollen, von seinem Volk zu erzählen.«

»Na, da glaube ich aber kaum, dass er viel zu tun hatte in den letzten tausend Jahren.«

Ragnar schnitt eine Grimasse. »Zugegebenermaßen freute er sich über meine Gabe und meinte, sie sei selten geworden. Vielen Geistern ist es häufig gar nicht bewusst, dass sie nicht mehr leben. Sie existieren in einer Art anderen Dimension weiter und sind gefangen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits.«

»Das ist mir alles zu viel.« Lena schüttelte den Kopf. »Ich will nach Hause und nichts mehr von dem Mist wissen.«

»Möchtest du nicht den letzten Teil des Amuletts finden?« Ragnar klang enttäuscht, aber Lena war das egal.

»Nein, will ich nicht.«

»Ich habe meinen Rucksack zurückgelassen, den müssen wir noch holen, denn darin ist der Schlüssel fürs Motorrad.«

»Meinetwegen gehst du nochmal zu deinen Geistern zurück, aber ich warte hier.«

»In Ordnung.« Ragnar sah sie von der Seite her an. »Möchtest du wirklich allein hierbleiben?«

»Ja.« Sie zweifelte jedoch an ihrem Entschluss, als sie ihn langsam in die Richtung gehen sah, aus der sie vor Kurzem gekommen waren. Das Rauschen des Windes erschien ihr schlagartig bedrohlich, jedes Knacken ließ sie zusammenfahren. Aus den Augenwinkeln glaubte sie, Schatten zu sehen, und als sie einen kalten Hauch im Nacken spürte, befürchtete sie, ein Geist hätte sie berührt.

»Ragnar!« Lena spurtete los, suchte hektisch nach ihm, fand ihn im Dunkeln jedoch nicht gleich. Plötzlich empfand sie es weniger unheimlich, gemeinsam mit ihm den Verstorbenen einer vergangenen Epoche gegenüberzustehen, als hier völlig allein zu bleiben, möglicherweise von unsichtbaren Augen beobachtet. »Ragnar, warte!«, rief sie, so laut sie konnte.

»Hier bin ich.« Seine Stimme kam von rechts, und erst als sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie seine schemenhafte Gestalt neben einem Busch.

»Ich komme doch mit.«

Überraschenderweise verspottete er sie diesmal nicht. »Ist gut.«

»Vielleicht sind sie ja gar nicht mehr da«, meinte Lena hoffnungsvoll.

Vermutlich hätte sie die Stelle nicht einmal wiedergefunden, an der Ragnar seinen Rucksack zurückgelassen hatte, aber er steuerte zielsicher darauf zu.

»Sind die … Geister noch hier?«, fragte sie kläglich.

»Ja.«

Auch wenn Lena spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief und sie eine Gänsehaut bekam, so war ein Teil von ihr doch fasziniert und neugierig. Zögernd streckte sie ihre Hand nach Ragnar aus, und als sie ihn berührte, entdeckte sie wieder die kleine Gruppe an Menschen. Staunend sah sie Ragnar an, der ihre Hand fester umfasste. »Du musst dich nicht fürchten. Ich frage sie nach Großmutters Edelsteinen, dann gehen wir.«

»Ja, aber mach schnell.« Lenas Stimme war nur ein Flüstern, und sie war verunsichert, ob sie das alles vielleicht nur träumte.

Langsam ging Ragnar auf die seltsam gekleideten Männer und Frauen zu. Erst jetzt erkannte Lena, dass sie irgendwie verschwommen aussahen, so als hätten sie keine feste Form, aber trotzdem waren sie real. Ein hochgewachsener Mann mit gekalktem Haar, nacktem Oberkörper und einer sackartigen braunen Hose kam auf sie zu. An seiner Seite hing ein kurzes Schwert, Arme und Brust waren muskulös, ein langer Schnurrbart zierte sein Gesicht. Er beäugte zuerst Ragnar, dann sie. Sein Blick war fest, herrisch, die Kiefermuskeln angespannt.

»Warum sagst du denn nichts?«, hauchte Lena.

Doch Ragnar bedeutete ihr zu schweigen. Auch er starrte den Mann an. Nach einer Weile verbeugte sich dieser, dann wandte er sich ab und ging zu den anderen zurück.

»Was war das denn jetzt?«

»Wir haben telepathisch kommuniziert.«

»Ach?«

»Die Sprache der Kelten spreche ich nicht, aber wir konnten uns auch so verständigen.« Er hob die Arme und bemühte sich um keine weitere Erklärung – vielleicht hatte er selbst keine. »Von einem Schatz wusste er nichts, und Großmutters Schmuck scheint an keinem ihm bekannten Ort auf dem Berg versteckt zu sein. Auch die Legende entspricht offenbar nicht der Wahrheit, wenngleich sie eingeräumt haben, dass in vergangener Zeit eine Menge Waffen und Schmuckstücke vergraben oder in Felsspalten geworfen wurden – als Opfergabe an die Götter. Möglicherweise stammt daher der Mythos vom Schatz im Staffelberg.«

»Toll! Dann war die ganze Aktion völlig umsonst.«

»Es tut mir leid, Lena.«

Gereizt fuhr sie sich durch die Haare. »Ich will jetzt nur noch eins – nach Hause.«

»Das kann ich verstehen.« Ohne weiteren Einwand ging Ragnar voran, und Lena folgte ihm.

Sie fühlte sich beobachtet, ständig musste sie an die Geister denken, die möglicherweise hier umherschwirrten, und das Grauen drohte sie zu übermannen. Der Weg durch den Wald war der blanke Horror für sie, und bei jedem Knacken schreckte sie zusammen.

Als sie endlich bei Ragnars Motorrad angekommen waren, atmete Lena erleichtert auf. Beinahe schon panisch schwang sie sich hinter ihm auf den Sattel und war unendlich froh, diesen unheimlichen Ort zu verlassen. Dankbar lauschte sie dem brabbelnden Geräusch des Motors, das Geister und jenseitige Welten aus ihrer eigenen zu verbannen schien. Während der Fahrt drückte sie ihr Gesicht an Ragnars Rücken, wollte nichts mehr sehen und war direkt erstaunt, als er anhielt – sie waren schon an der Straße angekommen, die zu ihrem Haus führte.

Ragnar schaltete das Motorrad aus und klappte sein Visier hoch. »Ich dachte, ich fahre nicht bis zu eurer Haustür, damit du unentdeckt ins Haus kommen kannst.«

»Danke.« Eilig stieg Lena ab, nickte ihm kurz zu und wollte zum Tor gehen, doch er hielt sie am Arm fest. »Lena, geht es dir gut?«

»Ja«, behauptete sie und eilte die Straße hinauf. Sie spürte förmlich Ragnars Blick in ihrem Rücken, doch jetzt hatte sie keine Lust mehr, über diese eigenartige Gabe zu sprechen. Für heute hatte sie genug.

Unbemerkt gelangte sie ins Haus, legte sich ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Am liebsten hätte sie die vergangene Nacht aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Schlaflos warf sie sich hin und her, doch immer wieder tanzten schemenhafte Gestalten vor ihrem inneren Auge auf und ab. Als sie endlich einschlummerte, verfolgten sie die Geister auch noch in ihren Träumen. Sie sah Ragnar vor sich, wie er mit Schattenkreaturen rang, die ihn mehr und mehr auf einen bodenlosen Abgrund zutrieben. Sie wollte ihm zu Hilfe eilen und streckte ihm die Hand entgegen, wollte ihn festhalten. Doch es gelang ihr nicht, Ragnar riss sie nur mit in die Tiefe.