Kapitel 1

Sozialstunden

Zack, zack! Fürs Träumen werden wir hier nicht bezahlt«, riss Schwester Margaretas Stimme Lena aus ihren Gedanken. Gerade hatte sie frischgewaschene Bettlaken zusammengelegt und sich – zugegebenermaßen – dabei mehr Zeit als nötig gelassen.

»Ich werde überhaupt nicht bezahlt«, grummelte Lena missmutig.

»Das wird schon seinen Grund haben.« Die resolute Mittfünfzigerin zog ihre Augenbrauen in die Höhe. »Also los, Frau Winter in Zimmer neun wartet auf ihr Essen.«

Resigniert legte Lena die letzten Laken in den Schrank und schlurfte durch die hallenden Gänge des Seniorenheims St. Elisabeth zur Küche, um das Mittagessen für die betagten Bewohner zu holen. Da Lena und ihr Exfreund das Auto ihres Vaters zu Schrott gefahren hatte, war sie zu Sozialstunden im Altersheim verdonnert worden und schuftete nun bereits seit zwei endlosen Wochen hier. »Toll, eigentlich sollte Kevin sich hier zum Affen machen«, schimpfte sie leise vor sich hin und betrachtete kurz ihr Spiegelbild in der Glastür. Kritisch zog sie ihre Stupsnase kraus, denn ihr herzförmiges Gesicht zeigte tatsächlich alles andere als hübsche Sommerbräune. Außerdem war der blaue Kittel auch nicht gerade kleidsam, und man kam darunter ordentlich ins Schwitzen. »Aber nein, der hohe Herr liegt wahrscheinlich im Schwimmbad, während ich hier als Bleichgesicht den ganzen Sommer lang mein Dasein friste.« Gereizt fuhr sich Lena durch ihre schulterlangen, hellbraunen Haare mit den roten Strähnen, dann zupfte sie an dem verhassten Kleidungsstück herum, das um ihre schlanke Taille schlackerte. Mit ihren knapp eins sechzig war es schwierig gewesen, überhaupt etwas Passendes zu finden. Die meisten Schwestern oder Praktikanten, die hier arbeiteten, waren allesamt größer – und meist wesentlich kräftiger als die zierliche Lena.

Eine hochgewachsene Gestalt näherte sich energischen Schrittes der Glastür und ließ Lena hastig weitergehen, denn mit Frau Käppler, der Stationsleiterin, war noch weniger gut Kirschen essen, wenn man den Tag verbummelte, als mit der gutmütigen Margareta. Und tatsächlich verzog sich Frau Käpplers ohnehin schon schmaler Mund zu einem Strich, ihr spitzes Kinn reckte sich nach vorne, und sie stemmte die Hände in die Hüften. Ihre unangenehm schrille Stimme hallte durch den Gang.

»Hatte ich nicht ausdrücklich gesagt, ich wünsche, dass du dieses … Ding aus deinem Gesicht entfernst?« So als handelte es sich um ein widerwärtiges Geschwür, deutete sie auf das Piercing an Lenas Augenbraue.

»Sorry, hab ich vergessen«, nuschelte Lena, nahm das Schmuckstück heraus und wollte sich eilig davonmachen.

»Warte!«

Mit dem Rücken zu Frau Käppler verdrehte sie die Augen, aber als sie sich umwandte, zauberte sie ein höfliches Lächeln auf ihr Gesicht. Doch selbstverständlich ließ sich die Stationsleiterin nicht davon beeindrucken. Einer Oberlehrerin gleich streckte sie ihren dünnen rechten Finger aus. »Wir sind ein ordentliches Haus, bekannt dafür, einen hohen Standard zu bieten …«

Wie oft hatte Lena derartige Worte in den letzten Tagen schon gehört! Sie lehnte sich an die Wand und ließ Frau Käpplers Redeschwall über sich ergehen, ohne ihm zuzuhören.

Als sich hinter Frau Käppler die alte Frau Meister näherte, nickte sie dieser kurz zu. Frau Meister war einer der wenigen Lichtblicke in dieser Einrichtung. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern war sie geistig vollkommen fit, und Lena hatte sich schon häufig mit ihr unterhalten. Plötzlich entfuhr Frau Käppler ein spitzer Schrei, und Lena presste eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Die alte Dame war der Stationsleiterin mit ihrem Rollator in die Hacken gefahren.

»Oh, verzeihen Sie, das war keine Absicht.« Allerdings zwinkerte die kleine Frau mit den weißen Locken Lena verschwörerisch zu.

Frau Käpplers biestiges Gesicht verzog sich noch mehr, während sie sich ihr rechtes Bein rieb. »Haben Sie nicht gesehen, dass ich hier stehe?«

Frau Meister blinzelte unschuldig. »Meine Brille, ich muss sie verlegt haben. Obendrein sind die Bremsen meines Rollators nicht mehr die besten!«

»Lena, du suchst auf der Stelle Frau Meisters Brille!« Mit gestrafften Schultern fegte sie davon.

»Dürre, garstige Spinne«, brummte Frau Meister ihr hinterher, dann lächelte sie Lena an. »Ich hoffe, es war dir recht, dass ich dich vor weiteren Lobeshymnen über diese ach so tolle Seniorenresidenz bewahrt habe.«

»Ja, vielen Dank, die Käppler hätte mir sicher wieder ’ne halbe Stunde ein Ohr abgekaut.« Lena zuckte mit ihren Schultern. »Also, dann suchen wir mal Ihre Brille.« Schon wandte sie sich um, aber Frau Meisters Stimme ließ sie innehalten.

»Ups, da hat sich das dumme Ding doch glatt in meiner Tasche versteckt.« Mit einem äußerst listigen Lächeln zog Frau Meister ihre Brille aus ihrer geblümten Kittelschürze.

Breit grinsend schüttelte Lena den Kopf. »Sie sind echt cool drauf«, lachte sie.

»Bin ich das?« Die alte Frau kicherte leise, dann schlurfte sie weiter ihres Weges, während Lena sich daranmachte, Frau Winters Mittagessen abzuholen.

Zimmer neun bewohnte derzeit lediglich die über neunzig Jahre alte Amelia Winter, da vor drei Tagen ihre Zimmergenossin gestorben war. Frau Winter lag im Bett, denn sie war vor Kurzem gestürzt und hatte sich einen Knöchel angebrochen, der aber inzwischen beinahe wieder geheilt war. Wache, graublaue Augen blickten Lena freundlich an, als diese den Wagen mit dem Essen in das kleine Zimmer steuerte.

»Sorry, hat etwas gedauert, ich bin aufgehalten worden«, entschuldigte sich Lena.

»Das macht nichts, wenn ich etwas habe, dann ist es Zeit«, entgegnete die Seniorin mit weicher, freundlicher Stimme, während sie sich aufsetzte. Frau Winter war recht groß, und auch wenn sie jetzt dünn und ausgemergelt wirkte, glaubte Lena zu erahnen, dass Amelia Winter durchaus einmal attraktiv gewesen sein mochte. Ihr schmales Gesicht zeigte natürlich aufgrund ihres Alters ein paar Falten, wenn auch erstaunlich wenige. Insgesamt wirkte es harmonisch und freundlich, und Frau Winter lächelte gerne, was sie äußerst sympathisch machte.

Lena stellte ihr den Teller mit Hühnchen und zerkochtem Gemüse hin. Pfui Teufel, wie kann man den armen Leuten nur so etwas zumuten, dachte Lena, aber Frau Winter beschwerte sich nicht, sondern aß stumm und bedächtig, während Lena ihre Kissen aufschüttelte. Einmal mehr wanderte Lenas Blick zu den geschmackvollen Landschaftsbildern in Öl. Früher war Frau Winter Malerin gewesen, und einige ihrer Kunstwerke hatte sie mit ins Altersheim genommen, wo sie nun die kargen Wände schmückten und dem Zimmer im Vergleich zu den anderen ein beinahe wohnliches Ambiente gaben.

»Bald kommt mein Geliebter und holt mich«, sagte Frau Winter unvermittelt.

»Ja, klar.« Wie so viele alte Leute war auch Amelia Winters Gedächtnis nicht mehr das beste, und Maike, eine der Altenpflegerinnen, hatte Lena schon vorgewarnt, dass besonders die alte Frau aus Zimmer neun häufig von ihrem geheimnisvollen Geliebten sprach und fest daran glaubte, er würde zu ihr kommen.

»Maredd ist ein wundervoller Mann«, sinnierte die alte Dame, »ein stolzer Krieger, anerkannt bei seinem Volk.«

Der Typ müsste ja dann schon an die hundert sein, dachte Lena bei sich, vermutlich ist er im Zweiten Weltkrieg gefallen und die Winter denkt, er lebt noch immer. Laut erwiderte Lena: »Na, und wenn er dann kommt, sollten Sie auch schick sein. Ich kämme Ihnen gleich mal die Haare.«

Frau Winter widersprach nicht, blieb auf der Bettkante sitzen und ließ sich von Lena das noch immer kräftige, graue Haar bürsten. Dabei erzählte sie mit leiser Stimme weiter von diesem Maredd. »Er war so charmant und hat mir den Hof gemacht, als ich noch ein junges Mädchen war. Wahrscheinlich reitet er jetzt über die endlosen grünen Weiten seines Landes.«

Okay, die hat ihre sieben Sinne genauso wenig beisammen wie alle anderen hier, dachte Lena. Aber zumindest war Frau Winter stets freundlich, wurde nie ausfallend oder ungeduldig, und im Grunde genommen schadete ihr wirres Gerede ja auch niemandem.

Kurz nach fünf war Lenas Schicht dann endlich vorüber. Erleichtert zog sie sich ihr Top und einen kurzen Jeansrock an, schob sich das Piercing wieder in die Augenbraue und hastete auf den Ausgang zu, um den Rest dieses heißen Junitages noch zu genießen.

»Hoppla!« In Gedanken an ein Eis oder eine kühle Apfelschorle zuhause in Omas Garten war sie durch die Tür gerannt, ohne sich umzusehen. Auf der Stelle errötete sie, denn vor ihr stand Timo, der hier als Altenpfleger arbeitete. Mit über eins achtzig Körpergröße, sonnengebräunter Haut und blonden Haaren, die ihm über die Schulter reichten, war er der Schwarm aller Altenpflegeschülerinnen. Außerdem besaß er unverschämt schöne blaue Augen, die nun Lena musterten.

»Du hast es aber eilig.«

»Na ja, so eilig auch wieder nicht«, entgegnete sie lässig und fuhr sich rasch durch die Haare. Sie hätte nichts dagegen, noch ein paar Worte mit Timo zu wechseln. Aber dieser zwinkerte ihr zu und öffnete die Tür. »Genieß deinen Feierabend bei diesem schönen Wetter.«

»Ja, klar.« Schon war Timo verschwunden, verfolgt von Lenas sehnsüchtigem Blick. Sie schwang sich auf ihr Mountainbike und strampelte los.

Jetzt im Frühsommer war das Örtchen Gößweinstein, in dem sich das Altenheim St. Elisabeth befand, von vielen Touristen besucht, und überall spazierten Familien mit Kindern umher, oder Rentner flanierten von einem Café zum andern. Lena konnte das Kuhkaff, wie sie es nannte, schon lange nicht mehr leiden, genauso wenig wie den noch kleineren Ort Leutzdorf, wo sie mit ihrer Familie lebte. Eigentlich hätte sie bald schon auf einer Tour durch Italien und Frankreich sein und Städte wie Paris, Rom oder Florenz kennen lernen sollen. Diese Reise hatte ihre Familie ihr zum bestandenen Abitur versprochen, bevor sie zum nächsten Sommersemester nach Berlin gehen und Mediendesign studieren wollte. Doch nach der Sache mit dem Unfall war der Trip gestorben und das Geld in ein neues Auto für Papa geflossen. Natürlich reichte das Reisegeld nicht für Papas Audi, und so würde sie sich einen Job suchen müssen, sobald sie die Sozialstunden hinter sich gebracht hatte. Anstatt sich pulsierende Großstädte anzusehen und aufregende Bekanntschaften in fremden Ländern zu machen, hatte sie gleich nach den Prüfungen im Altenheim angefangen. Ein kleiner Trost war es, dass sie seit zwei Tagen wusste, dass sie ihr Abitur mit einem Schnitt von 2,0 bestanden hatte und ihr die mündlichen Prüfungen erspart blieben. Vor der Abschlussfeier hingegen graute ihr, denn sicher würden ihre Klassenkameraden peinliche Fragen zu ihrer geplatzten Reise stellen.

Auf dem Heimweg kam sie ordentlich ins Schwitzen, denn die Straße führte in etlichen Kurven bergauf und bergab. Brutus, der Hofhund von Bauer Messingschlager, kam am Dorfeingang laut kläffend aus seiner Hundehütte geschossen und wurde im letzten Moment von der langen Kette zurückgerissen, bevor er Lena beißen konnte.

»Im nächsten Frühling bin ich hier weg!«, keifte sie den Schäferhund an, so als wäre der an allem schuld. »Dann kann ich endlich Großstadtluft atmen statt Kuhscheiße.« Wie auf Kommando bog Bauer Messingschlager mit einem Wagen voller Mist aus seiner Hofeinfahrt, hob grüßend die Hand und holperte dann auf die Hauptstraße, nicht ohne ein Fuder stinkenden Mist auf der Straße zu verteilen. Naserümpfend trampelte Lena weiter und war gehörig außer Atem, als sie endlich das Fachwerkhaus ihrer Großmutter Gisela, ganz am Ende des Ortes, erreichte. Umrahmt von einem verwilderten Garten mit alten Obstbäumen stand das über zweihundert Jahre alte Gebäude auf einem großzügigen Grundstück. Ihre Eltern hatten sich vor drei Jahren ein eigenes, modernes Haus gebaut, das jedoch nach einem Baupfusch noch immer nicht bewohnbar war. Der Prozess gegen die Baufirma lief, und so lebten sie weiterhin bei Gisela Langfeld, der Mutter von Lenas Vater. So wie häufig um diese Zeit, wenn es kühler wurde, werkelte Oma Gisela draußen in ihrem Kräutergarten herum, die grauen Haare zu einem langen Zopf gebunden, mit einem weiten, naturfarbenen Rock und einer ärmellosen Bluse bekleidet. Viele der Nachbarn lästerten über Oma Gisela, wie Lena nur zu genau wusste, und sie war im Dorf als Kräuterhexe verschrien, was besonders Lenas Eltern sauer aufstieß. Lena hingegen fand ihre Oma cool, denn die war in früherer Zeit ein echter Hippie gewesen und hatte so einiges erlebt, wenngleich Lena vermutete, dass ihre Erzählungen aus der Flowerpower-Zeit nur der Gipfel des Eisberges waren. Mit weit über fünfzig hatte sie noch einmal eine Ausbildung gemacht und arbeitete seither als Heilpraktikerin, gab Seminare in Kräuterkunde, veranstaltete Heilkräuterführungen in der Umgebung und behandelte auch ihre eigene Familie homöopathisch, was nicht bei jedem große Begeisterungsstürme auslöste.

»Na, Feierabend?«, erkundigte sich ihre Großmutter, wischte sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht und deutete in den hinteren Teil des Gartens, wo Lenas Eltern bereits den Abendbrottisch unter dem knorrigen Apfelbaum deckten.

»Dem Knast entronnen, trifft es eher«, grollte Lena.

»Ach komm schon, so schlimm wird es nicht sein.« Oma Gisela legte ihr eine verschmutzte Hand auf den Rücken und schob sie vorwärts. »Ich habe einen schönen gemischten Salat mit Schinken und Käse gemacht.«

Das versöhnte Lena ein klein wenig, denn den Salat ihrer Oma mochte sie ganz besonders, und bei dieser Hitze konnte man ohnehin nichts anderes essen.

»Hallo Lena.« Kritisch, so wie immer in letzter Zeit, hoben sich die dünnen Augenbrauen ihres Vaters. Er fuhr sich über seine beginnende Halbglatze und musterte sie strafend. »Hast du ordentlich gearbeitet?«

Lena wusste genau, dass er nach wie vor sauer auf sie war. Auch Lenas Mutter blickte fragend über den Rand ihrer Brille hinweg. Manuela Langfeld war mit neunundvierzig vier Jahre jünger als ihr Mann Dieter, nur ein paar Zentimeter größer als Lena, hatte jedoch während der letzten Jahre ordentlich an Gewicht zugelegt. Ihre Haare trug sie kinnlang und, wie Lena fand, wenig vorteilhaft frisiert, denn ihr Gesicht wirkte durch die Locken nur noch breiter und die hängenden Wangen wurden viel zu sehr betont. Aber das nachlässige Styling ihrer Mutter war momentan ihr geringstes Problem.

»Ja, ja«, antwortete Lena genervt. »Die olle Käppler hatte nichts zu motzen.«

»Sprich nicht so respektlos von Frau Käppler«, kam postwendend die scharfe Zurechtweisung ihres Vaters. »Du solltest hier mal lieber ganz kleine Brötchen backen!«

»Also wirklich«, stieg ihre Mutter voll darauf ein, »Haschisch rauchen und dann auch noch Auto fahren. Ich weiß nicht, von wem du das hast.« Ihre Stimme nahm den wohl bekannten und gefürchteten Jammerton an. »Haben wir dir das etwa vorgelebt? Drogen! Meine Tochter! Was für eine Katastrophe!«

Stumm ließ Lena alles über sich ergehen, auch wenn sie diese Moralpredigt inzwischen auswendig kannte, aber jedes Widerwort wäre zwecklos gewesen.

»Lasst das Mädchen doch mal in Ruhe«, schaltete sich Oma Gisela nach einer Weile ein. Sie kam mit einem Krug voll Wasser aus dem Haus. »Wenn ich daran denke, was wir damals alles geraucht haben – da war ein Joint noch harmlos!«

»Ja, ja, sag ihr das auch noch«, keifte Manuela ihre Schwiegermutter an. »Am Ende hast du ihr das Zeug noch besorgt.«

»Jetzt mach mal halblang, Manuela«, protestierte Dieter, aber Oma Gisela winkte ohnehin schon ab.

»Ich will nicht gutheißen, was sie getan hat, vor allem hätte Lena nicht das Auto fahren dürfen, aber meine Güte, Manuela, du warst doch auch mal jung, da macht man eben Fehler – und letztendlich lernt man auch daraus!«

Dankbar lächelte Lena ihre Oma an und dachte nur: Wenn ihr wüsstet, dass alles ganz anders war. Resigniert ließ sie auch diese Strafpredigt über sich ergehen, wobei sie sich bemühte, ihre Ohren zu verschließen und die Lobhudeleien auf ihre ach so wohl geratene Schwester Ramona zu ignorieren. In den Augen von Lenas Eltern war Ramona offenbar die Vorzeigetochter schlechthin. Diese war vierzehn Jahre älter als Lena, seit langer Zeit verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Nach dem Abitur hatte sie eine Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin absolviert und bis zur Geburt des inzwischen sechsjährigen Maximilian gearbeitet. Angeblich hatte sich Ramona nie etwas zu Schulden kommen lassen. Keine falschen Freunde, keine exzessiven Partys, so wie Lena sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag im letzten Herbst gefeiert hatte, als ihre Eltern verreist waren – und vor allem keine Drogen. Eigentlich hatte Lena damit ebenfalls nichts am Hut, nur in jener verhängnisvollen Nacht auf der Party eines Freundes von Kevin hatte sie sich eben zu einem Joint überreden lassen. Dass sie sich im Anschluss daran geschworen hatte, in Zukunft die Finger davon zu lassen, nahmen ihr ihre Eltern selbstverständlich nicht ab.

Gerade bildete sich eine Sorgenfalte auf der Stirn ihres Vaters, und prompt fing er zu lamentieren an. »Mit einer drogenabhängigen Tochter kann ich mir das Amt als Bürgermeister vermutlich abschminken.«

»Ich bin doch nicht drogenabhängig!«, protestierte Lena empört.

»Die Nachbarn sehen das aber ganz anders«, keifte ihre Mutter. »Frau Neubauer hat mich vorhin schon ganz schräg angesehen, als ich sie beim Einkaufen getroffen habe.«

»Die Neubauer kann nicht anders, als schräg zu gucken«, warf Oma Gisela ein, dann klatschte sie in die Hände. »Und jetzt Schluss damit, ihr habt diese Sache mittlerweile oft genug durchgekaut. Lena, erzähl doch mal von deiner neuen Arbeit. Hast du dich inzwischen ein bisschen eingelebt?«

Froh, ihre Eltern von dem leidigen Thema abzubringen, berichtete sie von den Insassen des St. Elisabeth-Heims, und als sie von Frau Meister und deren Streich mit Frau Käppler erzählte, lachte ihre Großmutter herzlich.

Nur die Eltern teilten diese Art von Humor leider nicht und ließen sich lediglich zu einem säuerlichen Lächeln herab.

»Steht nicht demnächst das Sommerfest im St. Elisabeth an?«, erkundigte sich Lenas Mutter, zupfte an ihren dauergewellten Haaren herum und ließ sich im Stuhl zurücksinken.

»Jaaa«, antwortete Lena gedehnt. »Die Schwesternschülerinnen und ich sollen uns irgendwelche dämlichen Spiele ausdenken.«

»Das ist doch eine nette Aufgabe.« Schon wieder zogen sich die Augenbrauen ihres Vaters bedrohlich zusammen, und Lena verkniff sich einen spitzen Kommentar.

»Wenn du meinst.«

Oma Gisela, die selten still dasitzen konnte, war schon wieder dabei, Blumen zu gießen und ihre Heilkräuter von Unkraut zu befreien. »Ach, mir würde da schon was einfallen«, rief sie ihr zu.

»Echt?« Lena richtete sich kerzengerade auf, denn wenn ihrer Oma eine geniale Idee gekommen war, konnte sie diese bei der nächsten Dienstbesprechung als die ihre präsentieren.

»Aber sicher doch.« Oma Giselas von nur wenigen Falten bedecktes Gesicht verzog sich zu einem derart schelmischen Grinsen, dass sie direkt fünfzehn Jahre jünger erschien. »Rollatoren-Offroad-Parcours, Gebissprothesen-Weitwurf …«

Während Lena losprustete, entfuhr ihrem Vater ein empörtes »Mutter!«. Aber Oma Gisela kicherte nur vor sich hin und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Da nun ihre Großmutter als Objekt des Zorns herhielt, murmelte Lena eilig, sie würde duschen gehen, schmunzelte jedoch die ganze Zeit über vor sich hin – Oma Gisela war einfach eine Wucht.