Kapitel 6
Das Amulett
Am nächsten Tag hatte Lena Nachtschicht, die ihr stets verhasst war. Als sie allerdings mitbekam, dass Timo die Schicht mit ihr teilte, hob sich ihre Stimmung enorm.
Den halben Abend über saßen sie im Schwesternzimmer und unterhielten sich über Musik und Filme. Solange niemand nach ihnen klingelte und sie den Rundgang hinter sich gebracht hatten, blieb ihnen hierfür genügend Zeit. Erfreulicherweise war es recht ruhig. Schwester Gunda quälte sie auch nicht mit unnützen Aufgaben, wie es Schwester Margareta vermutlich getan hätte. Am Tag war es erneut sehr schwül gewesen, auch in der Nacht waren die Temperaturen kaum gefallen. Sie hatten schon alle Fenster im Gang geöffnet, doch auch das brachte kaum Kühlung. In der Ferne zuckten Blitze vom Himmel, hier und da grollte Donner durch die Nacht.
Lena zupfte an dem T-Shirt herum, das ihr feucht am Körper klebte. Timo indes warf einen Blick auf die Uhr. »Kurz nach drei. Zwei Stunden noch, dann haben wir’s geschafft.« Er sah sie besorgt an. »Musst du etwa wieder mit dem Fahrrad nach Hause fahren?«
»Nein, meine Oma holt mich ab.« Sekunden später bereute sie ihre Antwort, denn Timo sagte beinahe im gleichen Atemzug: »Ach so, sonst hätte ich dich gefahren.«
Sie hätte sich ohrfeigen können, lief knallrot an und meinte: »Na ja, also ich könnte sie später anrufen, sie wäre sicher froh, nicht so früh losfahren zu müssen.«
»Klar, kein Problem.« Timo erhob sich, dann streckte er seinen Rücken durch. »So, der Rundgang wäre jetzt mal fällig.« Er hielt Lena die Tür auf, woraufhin sie seufzend aufstand.
Inzwischen war sie ziemlich müde und hatte keine Lust, in sämtlichen Zimmern nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Erfreulicherweise schliefen die meisten Bewohner, lediglich Herr Fischer war noch wach und behauptete im Brustton der Überzeugung, er müsse jetzt auf Streife gehen. Früher war er Polizist gewesen, und heute, da er beinahe neunzig Jahre alt war, war er häufig verwirrt. Nach einigem Hin und Her gelang es Lena, ihn zu beruhigen, gab ihm eine Schlaftablette und atmete auf, als er endlich zu schnarchen begann.
Das nächste Zimmer war das von Frau Winter. Da die alte Frau nicht in ihrem Bett lag, klopfte Lena an die Toilettentür.
»Frau Winter, sind Sie da drinnen?« Keine Antwort ertönte, und so klopfte sie noch einmal. »Frau Winter? Alles in Ordnung?«
Erneut rührte sich nichts. Alarmiert drückte Lena die Klinke herunter, aber Frau Winter war nicht im Bad. Also machte sich Lena sofort auf die Suche nach Timo, rannte durch die Gänge und fand ihn schließlich im untersten Stockwerk. »Frau Winter ist nicht in ihrem Zimmer.«
Ein heftiges Donnergrollen ließ Lena zusammenzucken.
»Na, hoffentlich ist ihr nichts passiert. Ich sage schnell Schwester Gunda Bescheid, dann suchen wir gemeinsam. Früher hat sie oft schlafgewandelt, sei so gut und sieh draußen im Park nach.«
»Bei dem Wetter?« Angewidert zog Lena ihre Nase kraus, denn schon wieder erhellte ein Blitz die Landschaft.
Timo zwinkerte ihr zu und kniff sie in die Nasenspitze. »Dann beeil dich besser, solange es nicht regnet.«
Lena rannte los und verfluchte Kevin und ihre Sozialstunden zum hundertsten Mal. Ein starker Wind war aufgekommen. Noch fiel kein Regen vom Himmel, aber die kürzer werdenden Abstände zwischen Blitz und Donner verhießen nichts Gutes.
»Die ist garantiert nicht hier draußen«, grummelte Lena vor sich hin, während sie durch den Park eilte. »Frau Winter mag verwirrt sein, aber bei einem Gewitter geistert sie doch nicht im Freien herum!«
Lena wollte schon wieder umdrehen, aber da glaubte sie, eine Gestalt zwischen den Bäumen auszumachen.
»Frau Winter?« Lena kniff die Augen zusammen, um irgendetwas zu erkennen, aber die Umgebung wurde nur kurz von den zuckenden Blitzen beleuchtet, und so war sie sich nicht ganz sicher, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Der Donner hallte nun fast unmittelbar nach den Blitzen durch die Nacht, ein aufbrausender Sturm zerrte an Lenas Haaren und ließ die Baumkronen bedrohlich schwanken. Kleine Äste krachten direkt neben ihr zu Boden. Laut rufend, auch wenn ihre Worte vom Wind fortgerissen oder vom Donner übertönt wurden, rannte Lena durch den Park. Ganz am Ende der Anlage, wo sich die hohe Mauer befand, glaubte sie auf einmal, wieder jemanden zu sehen. Im flackernden Licht der Blitze hatte sie den Eindruck, es seien zwei Personen.
Vielleicht hat Timo sie schon gefunden, überlegte sie.
Ein erneuter Blitz fuhr vom Himmel, für einen Moment konnte Lena die enorme Energie spüren, dann schlug er in die alte Eiche, keine zehn Schritte von ihr entfernt, ein. Der folgende Donnerschlag riss sie von den Füßen, und sie kauerte sich auf dem Boden zusammen und hielt sich die Ohren zu. Der Baum ging in Flammen auf, Lena konnte noch immer nichts hören, und als sie beim nächsten Blitz eine Frau und einen Mann mit langem Haar entdeckte, die ihr zuwinkten, war sie sich sicher zu halluzinieren.
Urplötzlich legten sich Hände auf Lenas Schultern, und sie zuckte zusammen.
»Timo«, keuchte sie, als sie ihren jungen Kollegen erkannte.
Timo zog sie in die Höhe und sah sie besorgt an. Sein Mund bewegte sich, aber sie verstand keinen Ton. Lena schüttelte den Kopf, und in diesem Augenblick öffneten sich die Himmelsschleusen und durchnässten sie innerhalb von Sekunden.
»Lena, bist du in Ordnung?«, vernahm sie dann endlich Timo, der gegen den Sturm anschrie.
»Ja, ich denke schon.«
»Ich hatte schon befürchtet, du wärst vom Blitz getroffen worden.« Kopfschüttelnd blickte er auf die lichterloh brennende Eiche. »Wir müssen die Feuerwehr anrufen.«
»So wie das schüttet, brennt der Baum nicht lange«, vermutete Lena, folgte ihm aber dennoch ins Haus.
Weder Timo noch Schwester Gunda hatten Frau Winter gefunden, und inzwischen machten sie sich wirklich Sorgen.
»Für einen Moment dachte ich, jemanden im Park gesehen zu haben«, erwähnte Lena, während sie sich die Haare mit einem Handtuch frottierte.
»Sobald dieses Unwetter nachlässt, gehen wir nochmal raus«, bestimmte Timo. »Im Augenblick denkt man ja, die Welt geht unter!«
Tatsächlich stürzten wahre Wassermassen vom Himmel, der Sturm tobte, und obwohl sich das Gewitter langsam entfernte, krachte und blitzte es weiterhin in kurzen Abständen.
Es dauerte nicht lange, bis die Feuerwehr eintraf, doch der Regen hatte ohnehin schon die meisten Flammen gelöscht. Knapp zwei Stunden später wagten sich Lena und Timo ein zweites Mal hinaus. Die düsteren Sturmwolken waren abgezogen, einzelne Sterne blitzten fahl am Himmel, und das erste zarte Morgengrau war im Osten zu erahnen. Auch die Luft wirkte angenehm erfrischt und gereinigt. Möglicherweise hatte sich Frau Winter in einen der Schuppen oder in die Gartenlaube zurückgezogen, so hoffte Lena wenigstens, denn im Haus hatte sie nach wie vor niemand gesehen. Leise platschte das Wasser unter Lenas Turnschuhen, und bald waren sie völlig durchgeweicht. »Eigentlich hätte ich schon Feierabend«, schimpfte sie vor sich hin, als Timos Ruf zu ihr herüberschallte.
»Lena!«
Sofort spurtete sie los, ignorierte das spritzende Wasser und erreichte bald atemlos die Laube, wenige Meter hinter der inzwischen vom Blitz gespaltenen Eiche.
»Ich habe sie gefunden.« Timos Stimme klang bedrückt, und ein kalter Schauer lief über Lenas Rücken.
Eigentlich wollte sie gar nicht näher herantreten, aber dann tat sie es doch, so als würden ihre Füße ein Eigenleben führen. Nur mit einem weißen Nachthemd und einem Morgenmantel bekleidet, lag Frau Winter im Gras vor der Gartenlaube. Lena schlug eine Hand vor den Mund und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Was … wie … warum?« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und Timo hob unschlüssig seine Schultern.
»Keine Ahnung, aber ich rufe einen Arzt. Macht es dir etwas aus, kurz hier zu warten?«
Lena schüttelte den Kopf, und eigentlich war sie ganz froh, jetzt allein zu sein. Nachdem Timo verschwunden war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf und beugte sich vorsichtig über Frau Winter. Dies war der erste tote Mensch, den sie jemals gesehen hatte. Eigentlich wirkte es, als schliefe die alte Dame nur. In dem sanften Morgenlicht sahen ihre Züge entspannt aus, und ein Lächeln hatte sich in ihr Gesicht gemeißelt.
Lena legte ihren Kopf schief. Ob sie in ihren letzten Minuten von ihrem Maredd geträumt hat?, überlegte sie. Sie streckte eine Hand aus, wollte Frau Winter noch einmal über ihre grauen Haare streicheln, aber dann traute sie sich nicht. Etwas anderes erweckte jedoch ihre Aufmerksamkeit, und Lena kniete sich neben Frau Winters Körper. Ihre linke Hand war halb geöffnet, und darin hielt sie ein seltsames Schmuckstück. Ganz vorsichtig nahm es Lena an sich, hielt es vor ihr Gesicht, und mit einem Mal schossen ihr Frau Winters Worte durch den Kopf. Ein Amulett aus Silber und Bronze, verschlungene Knoten, die ein Eigenleben zu führen schienen, wenn man länger darauf sah.
Genau wie in Frau Winters Erzählungen bestand dieses Schmuckstück aus drei kunstvollen silbernen Knoten, die mit einer bronzefarbenen Triskele in der Mitte des Amuletts verwoben waren.
Konnte das im Ernst jenes Schmuckstück sein, das Maredd ihr geschenkt hatte? Noch kein einziges Mal zuvor war es Lena aufgefallen, aber hätte die alte Frau es nicht immer getragen, wenn es ihr doch so viel bedeutete?
Ich werde dir ein Zeichen hinterlassen.
So absurd es auch erschien, war es nicht möglich, dass genau dieses Amulett ein solches Zeichen war? Die ersten Sonnenstrahlen des Tages fielen darauf, und als Lena das Schmuckstück zwischen ihren Fingern baumeln ließ, hatte sie tatsächlich den Eindruck, als würden sich die Knoten bewegen und Silber und Bronze ineinander verschwimmen. Ein Sonnenstrahl traf einen der Knoten, und Lena drehte sich ruckartig um, denn sie glaubte, ein Lachen hinter sich gehört zu haben, hell und leise, so wie es Frau Winter zu eigen gewesen war. Es ist deins, Lena, behalte es, erklang plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf.
Verwirrt fuhr sich Lena über das Gesicht. Was hatte das alles zu bedeuten? Die Gestalten, die sie im nächtlichen Garten gesehen hatte, Frau Winters rätselhafte Andeutungen vor einigen Tagen, jetzt die Kette und diese Stimme – das war doch alles sehr ominös. War die Geschichte, auch wenn Lena es kaum glauben wollte, am Ende wahr, und hatte dieser Maredd Frau Winter geholt? Andererseits lag ihr Körper ja noch hier, steif, kalt und leblos.
Nun näherten sich Stimmen – diesmal sehr reale –, und Lena starrte unsicher auf das Schmuckstück. Sie konnte es kaum behalten, denn das würde jeder als Diebstahl ansehen, und an eine geheimnisvolle Stimme in ihrem Kopf würde garantiert niemand glauben. Trotzdem zögerte sie, die Kette zurück in Frau Winters Hand zu legen.
Du musst sie nehmen, Lena, achte gut darauf! Erschrocken fuhr sie auf und ließ dabei das Amulett fallen, das neben Frau Winter im Gras liegen blieb. Hektisch sah sich Lena um, aber niemand war hier, niemand, zu dem diese Stimme gehören konnte. Lediglich Timo, Schwester Gunda und ein Mann mit großem Koffer, bei dem es sich vermutlich um den Arzt handelte, näherten sich vom Haus her.
Ich glaube, ich werde verrückt!
Sekunden später war Timo bei ihr und fasste sie am Arm. Sein Gesicht drückte Besorgnis aus. »Geht es dir gut?«
Lena nickte mechanisch, sah sich jedoch weiterhin verstohlen um.
»Du bist aber verdammt blass. Ich hätte dich doch nicht allein lassen sollen«, meinte er betreten.
»Vielleicht sollte sich die junge Dame besser setzen«, schlug der bärtige Arzt mit dunkler, eindringlicher Stimme vor, wobei er auf einen der Gartenstühle in der Laube deutete.
Nur allzu gern kam Lena der Aufforderung nach, denn ihre Beine fühlten sich wie Gummi an.
Der Arzt untersuchte Frau Winter und verkündete dann: »Vermutlich Herzversagen, sie ist schon einige Stunden tot.«
»Dann sollten wir die Angehörigen benachrichtigen.« Betrübt schüttelte Schwester Gunda den Kopf. »Frau Winter war eine unserer angenehmsten Bewohnerinnen, sehr traurig.«
»Aber vielleicht ist sie jetzt genau dort, wo sie immer sein wollte«, murmelte Lena vor sich hin und kam sich postwendend äußerst närrisch vor.
»Was hast du gesagt?«, fragte Schwester Gunda nach.
»Mit über neunzig Jahren hatte sie sicher ein gutes Leben.«
»Ja, in der Tat.« Gunda spielte an ihren zahlreichen Ketten herum. »Niemand weiß, wo ihre Seele jetzt ist, vielleicht bei den Menschen, die sie ihr halbes Leben lang vermisst hat.«
Während der Arzt kritisch seine buschigen Augenbrauen hob, starrte Lena Schwester Gunda an. Die Altenpflegerin mit den roten Locken streichelte tröstend Lenas Arm. »Geh jetzt nach Hause, Lena, und du brauchst auch erst morgen wiederkommen, die nächste Nachtschicht schenke ich dir. Ich werde das Frau Käppler schon beibringen!«
»Ich fahre dich«, bot Timo noch einmal an. »Meine Schicht ist ebenfalls schon längst vorbei.«
Auch wenn es sich Lena die ganze Zeit über gewünscht hatte, jetzt konnte sie es nicht einmal genießen, dass Timo sie in seinem Auto mitnahm. Viel zu viel ging ihr durch den Kopf, und sie sprachen auf der Heimfahrt kaum.
Als sie vor ihrem Haus angekommen waren, streichelte er ihr sogar über die Wange, was Lena dann doch überrascht aufsehen ließ. »Schlaf dich aus. Und mach dir nicht zu viele Gedanken. Frau Winter hatte ein erfülltes Leben.«
»Ja, wahrscheinlich«, stimmte sie zu und stieg aus. »Danke, Timo.«
»Keine Ursache.« Er zwinkerte ihr zu und fuhr davon.
Obwohl Lena todmüde war, konnte sie lange nicht einschlafen. Kaum schloss sie die Augen, sah sie Blitze durch die Nacht toben und alles ausleuchten, alles, bis auf zwei dunkle Gestalten in der Ferne. Als Lena schließlich doch noch die Müdigkeit übermannte, träumte sie von Wasserfällen, die aus dem Himmel stürzten, Kriegern auf edlen Pferden und finsteren Schattenkreaturen.