Kapitel 9
Die Sicht der Dinge
Die Geburtstagsfeier von Lenas Schwester Ramona verlief erwartungsgemäß wenig aufregend, lediglich ihre Cousine Julia, mit der sie sich schon immer gut verstanden hatte, machte den Abend halbwegs erträglich.
Im Altenheim verlief alles wie gewohnt, aber Lena gestand sich ein, Frau Winters Geschichten zu vermissen. Natürlich sorgten auch andere Bewohner für reichlich Unterhaltung, doch niemand konnte so mitreißend erzählen wie Ragnars Großmutter. Und daher sehnte Lena mehr denn je ihren Feierabend herbei, und heute, es war ein sengend heißer Julitag, der sich zu Ende neigte, geschah das, worauf sie schon ewig gewartet hatte. Lena hatte gleichzeitig mit Maike und Timo Feierabend, und als dieser nun seine Tasche aus dem Aufenthaltsraum holte, sagte er mit einem Stöhnen: »Puh, ich könnte wirklich ein Eis vertragen bei dieser Hitze.« Er sah auffordernd zu den beiden hin. »Was meint ihr, wollen wir uns noch einen Becher im Café gönnen?«
Auf der Stelle nahmen Maikes rundliche Wangen die Farbe des Feuerlöschers an, neben dem sie stand. »Ja … ähm, also … klar, ich habe Zeit!«
Zwar dachte Lena flüchtig an ihre Verabredung mit Ragnar, aber sie wollte Maike auf keinen Fall das Feld überlassen und sagte daher auch sofort zu. »Ich auch.« Verdammt, wie soll ich ihm absagen?, überlegte sie und zuckte dann die Achseln. Wenn er kein Handy hat, dann ist das eben sein Pech.
Schon war Ragnar Winter vergessen. Lena packte rasch ihren Rucksack und schlenderte mit Timo und Maike die Straße hinab ins Zentrum der kleinen Ortschaft. Sie bekamen sogar noch einen Platz vor der Eisdiele und bestellten sich drei große Eisbecher.
»Habt ihr heute Früh mitbekommen, wie die Käppler über den Nachttopf der garstigen Schwestern aus Zimmer neun gestolpert ist?«, fragte Timo mit einem unverschämt süßen Grinsen im Gesicht.
Sowohl Lena als auch Maike mussten kichern. »Sie ist im Aufenthaltsraum wie Rumpelstilzchen herumgehüpft und hat völlig hysterisch ihre brombeerfarbenen Schuhe saubergewischt«, lachte Lena.
»Die Dinger sind garantiert ruiniert«, spekulierte Maike.
»Kein allzu großer Schaden, meiner Meinung nach«, bemerkte Lena naserümpfend. »Die waren ohnehin hässlich.«
»Bestimmt haben die Müller-Schwestern den Nachttopf absichtlich so hingestellt, dass jemand reintritt.« Grübelnd rührte Maike in ihrem Cappuccino herum. »Wenn ich da an Frau Winter denke …«
»Die war zwar in mancher Beziehung wunderlich«, stimmte Timo zu, »aber ansonsten angenehm.«
»Im Gegensatz zu ihrem Sohn und ihrem Enkel«, kicherte Maike, dann sah sie Lena fragend an. »Hast du den mal wiedergesehen?«
Ragnar – ganz kurz durchzuckte Lena ein schlechtes Gewissen, aber dann sah sie ihre Begleiter Aufmerksamkeit heischend an. »Ja, habe ich. Könnt ihr euch vorstellen, dass der nicht einmal Fernseher und Computer zuhause hat?«
»Gibt’s so etwas überhaupt noch?«, nuschelte Maike mit vollem Mund.
»Offensichtlich, und Disko mag er auch nicht. Er hat nicht einmal ein Handy!«, lästerte Lena weiter.
Fassungslos schüttelte Maike den Kopf. »Also ich könnte mir ein Leben ohne Handy und Internet nicht mehr vorstellen.«
»Ich ebenfalls nicht«, stimmte Timo, wenn auch zögernd, zu. »Aber nicht alle Menschen haben die gleichen Interessen, man sollte das akzeptieren. Er wird schon seine Gründe haben.«
»Na, also ich weiß nicht.« Mit einem Lächeln löffelte Lena ihr Eis. »Anders sein … schön und gut, aber er ist wirklich ein äußerst seltsamer Vogel.«
»Habt ihr eigentlich schon den neuen Actionfilm gesehen?«, fing Timo unvermittelt ein neues Thema an, und auch wenn Lena – dank ihres Ausgehverbotes – natürlich nicht auf dem neuesten Stand war, stellte sie erneut begeistert fest, dass Timo und sie einen sehr ähnlichen Geschmack hatten, was Filme betraf.
Die Zeit verging wie im Flug, und so war es schon nach acht, als sie aufbrachen. »Soll ich euch nach Hause fahren?«
»Ich bin selbst mit dem Auto hier.« Maike klang dermaßen unglücklich, als wäre es das Ende der Welt, auf eine Heimfahrt mit Timo verzichten zu müssen.
Lena hingegen streckte sich. »Also mich kannst du gern nach Hause fahren.«
Vermutlich wäre sie tot umgefallen, hätten Maikes Blicke töten können.
»Gut, gut, dann laufen wir zum Altenheim zurück«, schlug Timo vor.
»Und wie kommst du morgen zur Arbeit, wenn du dein Fahrrad nicht dabeihast?«, fragte Maike spitz.
»Passt es in deinen Kofferraum, Timo?« Die Gelegenheit, allein mit Timo zu sein, wollte sich Lena auf keinen Fall entgehen lassen.
»Klar.«
Auf dem Parkplatz verabschiedeten sie sich von Maike, die mit säuerlicher Miene in ihren alten Polo stieg. Lena hingegen war überglücklich und fasste sich sogar ein Herz, als sie an ihrem Haus angekommen waren. »Möchtest du vielleicht noch was bei mir trinken?«
Doch der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich bin noch mit Freunden verabredet.«
»Oh, schade.« Lena war enttäuscht, aber zumindest hatte er Freunde und nicht Freundin gesagt. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Ja, vielleicht.« Timo lächelte ihr zu und fuhr dann los.
Lena hatte sehr wohl eine Bewegung hinter der Küchengardine bemerkt, und prompt öffnete ihre Mutter die Tür.
»Wer war das denn?«, wollte sie mit herausfordernder Stimme wissen.
»Timo.«
»Was für ein Timo?«
»Der Pfleger aus dem Altenheim.«
»Hier geht’s ja zu wie im Taubenschlag!« Manuela sah sich unbehaglich um. »Erst vor einer Stunde hat ein äußerst unhöflicher junger Mann an der Tür geklingelt und nach dir gefragt. Was sollen denn da die Nachbarn denken?«
»Ragnar – o Shit!«
»Und wer ist das jetzt wieder?«
»Ein … Bekannter.«
»Kevin hat übrigens auch ein paar Mal angerufen.« Die Miene ihrer Mutter wurde immer verdrießlicher.
»Mein Gott, dafür kann ich auch nichts. Mit uns ist endgültig Schluss, aber der Idiot kapiert das nicht.«
»Er ist immerhin der Sohn vom Filialleiter der Sparkasse«, erwähnte sie betont beiläufig, »und der könnte die Wahl deines Vaters beeinflussen.«
»Ach, und deshalb soll ich wieder was mit diesem Machoarsch anfangen?«
»Nun ja …« Ihre Mutter zupfte an ihrer Dauerwelle herum. »Er sieht gut aus, und das richtige Alter hätte er auch.«
Lena war nur noch entsetzt von dem, was ihre Mutter da von sich gab. Wortlos und stinksauer ging sie ins Haus.
Wenn ihr wüsstet, dass Kevin euer heiliges Auto in ein Häufchen Schrott verwandelt hat, würdest du nicht so von ihm sprechen, dachte sie.
Was sollte sie jetzt mit Ragnar machen? Anrufen kam ja kaum infrage, und zu ihm nach Hause zu laufen hatte sie auch keine Lust. Ihre Oma war nicht da, ihr Vater noch unterwegs, also konnte sie niemand fahren. Vielleicht würde Maike sie ja am nächsten Tag nach der Arbeit nach Burggaillenreuth fahren. Also verdrängte Lena jeden weiteren Gedanken an Ragnar und vertrieb sich den Abend damit, mit Freunden zu chatten.
Wie Lena gehofft hatte, erklärte sich die gutmütige Maike bereit, sie am Ende der Nachmittagsschicht in ihrem Auto mitzunehmen, und fuhr sie in das nahegelegene Dorf.
»Danke, Maike, ich lade dich bei Gelegenheit mal auf einen Kaffee ein«, versprach Lena, als sie am Reitstall ausstieg, und winkte ihrer Arbeitskollegin hinterher.
In seinem kleinen Holzhaus traf sie Ragnar nicht an und schlenderte daher zum Reitplatz, wo Regine ihre Reitschüler quälte. Die Kinder saßen verschüchtert auf den – wie Lena dachte – teilweise viel zu großen Pferden, und ein kleines Mädchen hatte ein tränenverschmiertes Gesicht.
Nur zu gut erinnerte sich Lena an ihre eigenen Reitstunden und schüttelte den Kopf. Dann sah sie Ragnar aus den Stallungen kommen. Er schob eine volle Schubkarre vor sich her, stockte kurz, als er sie erkannte, stapfte aber weiter auf den Misthaufen zu.
Lena lief zu ihm. »Hi Ragnar.«
Er beachtete sie überhaupt nicht, leerte ungerührt das schmutzige Stroh auf den Misthaufen und eilte im Stechschritt zurück zum Stall.
»Tut mir leid, dass ich dich gestern versetzt habe«, entschuldigte sie sich zerknirscht.
»Aha.« Mehr hatte er offensichtlich nicht dazu zu sagen, denn er begann, ohne sie eines Blickes zu würdigen, Pferdeäpfel einzusammeln.
»Timo hat Maike und mich nach der Arbeit zu einem Eis eingeladen«, startete sie einen Erklärungsversuch. »Da habe ich echt die Zeit vergessen.«
»Die alten Leute scheinen abzufärben.« Noch immer strafte er sie mit Missachtung und arbeitete verbissen weiter.
»O Mann, jetzt sei doch nicht beleidigt«, regte Lena sich auf. »Du hast ja nicht mal ein Telefon, also hätte ich kaum absagen können!«
»Ich war bei dir zuhause.« Endlich wandte er sich ihr zu. Sein Gesicht ernst, die Lippen zusammengekniffen, während er sie herausfordernd musterte.
»Ja, Mama hat das schon gesagt.« Verlegen scharrte Lena mit ihrem Fuß auf dem Boden herum.
»Wenn dir die Suche nicht wichtig ist, können wir es auch sein lassen.«
»Nein! Die Schatzsuche ist mir wichtig, ehrlich«, versicherte Lena ihm.
Ragnar schien ihr nicht ganz zu glauben, denn er legte zweifelnd den Kopf schief.
»Können wir nicht jetzt die Bilder durchsehen?«
»Nein«, lehnte Ragnar entschieden ab, »ich muss noch bis achtzehn Uhr hier arbeiten und dann ein neues Pferd mit dem Reitstallbesitzer abholen.«
»Ach so.« Enttäuscht ließ Lena die Schultern hängen.
»Aber morgen habe ich Zeit.« Ragnar hob seine Augenbrauen. »Soll ich noch einmal versuchen, dich abzuholen?«
»Gut, Sonntag muss ich nicht arbeiten. Du kannst so gegen Mittag kommen.«
»In Ordnung.« Ohne ein weiteres Wort fuhr er mit seiner Arbeit fort, und Lena war es irgendwann zu dumm, hinter ihm herzulaufen.
»Also dann bis morgen«, verabschiedete sie sich.
Ragnar hob lediglich eine Hand, und Lena verdrehte die Augen.
»Arroganter Kerl«, grummelte sie vor sich hin.
Auch wenn Lena sich über sich selbst wunderte, ertappte sie sich beim Frühstück dabei, immer wieder auf die Uhr zu schauen. Sonntags wurde traditionell erst gegen zehn gegessen, und Lena war neugierig, wann Ragnar auftauchen würde. Eine gewisse Abenteuerlust hatte sie gepackt, und sie war gespannt, ob sie etwas herausfinden würden. Kurz nach elf räumte sie gemeinsam mit ihrer Oma den Tisch ab. Diese deutete grinsend aus dem Fenster. »Sieh mal, dein Verehrer ist wieder da.«
»Er ist nicht mein Verehrer.« Zu ihrem Ärger lief Lena knallrot an, aber sie blickte dennoch hinaus.
Gerade steuerte Ragnar auf die Tür zu.
»Also, Oma, ich geh dann mal.« Schon eilte sie zur Haustür und öffnete sie.
»Bin ich zu früh?«
»Nein, ich bin so weit.« Lena schlüpfte aus der Tür, bevor ihre Eltern etwas mitbekamen. »Also los, wollen wir?«
Ragnar nickte, und so folgte sie ihm zum Gartentor.
»Wo ist denn dein Motorrad?«, wollte Lena wissen.
»Das Motorrad ist noch nicht angemeldet.«
»Aber wie sollen wir dann …«
Lena stockte, als sie um die Ecke bogen und Devera ihnen, mit Strick und Halfter am Zaun angebunden, leise entgegenwieherte.
»Ich bin mit dem Pferd hier.«
»Ach?« Fragend sah Lena ihn an und wusste beim besten Willen nicht, was das sollte.
»Wir reiten«, fuhr Ragnar erklärend fort.
»Ich kann nicht!« Lena spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich.
»Du musst auch nicht allein reiten«, versicherte ihr Ragnar völlig selbstverständlich. »Du kannst hinter mir sitzen und musst dich nur festhalten.«
»Nein!« Vor lauter Panik wurde ihre Stimme unnatürlich hoch. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie sie damals unsanft auf dem Boden gelandet war und sich mehrere Rippen gebrochen hatte. Dieses Erlebnis wollte sie nicht wiederholen.
»Devera ist ein braves Pferd.« Zärtlich klopfte Ragnar die Stute am Hals.
»Ich habe gesehen, wie sie ihre Reiterin auf dem Reitplatz in den Sand befördert hat.«
»Sie wollte nur nicht springen«, verteidigte der junge Isländer das Tier und hob fragend seine dunklen Augenbrauen. »Ich gehe davon aus, dass du keinen Springparcours reiten willst.«
»Ich will überhaupt nicht in den Sattel steigen.«
»Dann musst du eben neben mir herlaufen.«
»So weit kommt es noch!« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Ich kann es nicht fassen, dass du mit einem Pferd hier aufkreuzt.«
»Ich hätte dich nicht für so feige gehalten.«
»Ich bin nicht feige«, rief Lena empört aus. »Ich will nur …«
Sie stockte, und Ragnar musterte sie arrogant. »Verdammt, ich will nur nicht reiten!«
»Wie du meinst.« Er löste den Strick, schwang sich in den Sattel, dann sah er Lena auffordernd an. »Also komm.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich jetzt neben dir herlaufe!«
»Wenn du nicht reiten willst.«
Sie holte tief Luft, um zu einer gesalzenen Entgegnung anzusetzen, aber da sprang Ragnar wieder zu Boden und machte eine einladende Handbewegung. »Dann überwinde deine Angst.«
Für einen Moment blieb Lena wie angewurzelt stehen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte wirklich Angst, aber andererseits wollte sie sich vor Ragnar keine Blöße geben. Also nahm sie ihren Mut zusammen und ging auf das Pferd zu. Jetzt aus unmittelbarer Nähe kam ihr Devera noch größer vor. Unschlüssig stand sie neben der Stute und erwog ernsthaft, zurück ins Haus zu rennen und Ragnar Winter und diese ganze Schatzsuche für immer aus ihrem Leben zu streichen.
»Soll ich dir helfen?«
Lena fuhr herum, dann schüttelte sie den Kopf, stellte einen Fuß in den Steigbügel und atmete tief durch. Ein paar Sekunden später saß sie im Sattel.
»Na also, geht doch.« Ragnar zupfte an Deveras Zügeln, und das Pferd setzte sich in Bewegung. Zielsicher stapfte er durch den Wald voran und drehte sich ab und an nach ihr um. »Geht es dir gut?«
»Hm.« Stocksteif klammerte sich Lena am Sattel fest und hielt jedes Mal die Luft an, wenn das Pferd einen schnelleren Schritt machte. Da sie jedoch bemerkte, dass Devera gelassen neben Ragnar hertrottete und keinerlei Anstalten machte durchzugehen, entspannte sie sich zunehmend.
»Du hast gar keine so schlechte Haltung«, meinte Ragnar nach einer Weile.
»Danke«, knurrte sie.
Sein Blick wanderte über sie. »Du bist schon geritten, nicht wahr?«
»Ja«, gab Lena widerwillig zu, »aber ich bin heruntergefallen.«
»Das gehört dazu.«
»Toll, das Gleiche hat Regine auch gesagt.«
»Oh, du hattest bei dieser … entsetzlichen Person Reitunterricht? Dann wundert es mich nicht, dass du keine Lust mehr dazu hast.«
Insgeheim war Lena über Ragnars Worte verwundert, und sie hob zögernd die Schultern, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen betrachtete sie die Umgebung von ihrer erhöhten Sitzposition aus. Ruhig und angenehm kühl war es hier im Wald. Lediglich das gelegentliche Zwitschern der Vögel und das beständige Rascheln, verursacht durch Deveras Hufe, durchbrachen die Stille. Ragnar sprach nicht, sondern schritt stumm voran, und so konnte sich Lena vollkommen auf sich selbst und das Pferd konzentrieren. Deveras Bewegungen waren weich und bequem zu sitzen. Nach einer Weile traute Lena sich sogar, eine Hand vom Sattel zu nehmen, und streichelte der Stute über das weiche Fell und die dichte schwarze Mähne.
»Hat es dir gefallen?«, erkundigte sich Ragnar, nachdem sie am Reitstall angekommen waren.
Mit einem vorsichtigen Lächeln nickte Lena, dann klopfte sie das Pferd am Hals. »Bist ein gutes Mädchen, Devera«, flüsterte sie dem Pferd zu.
Langsam ließ sie sich zu Boden gleiten, dann atmete sie erleichtert aus. »Puh, ich hatte nicht gedacht, nochmal auf ein Pferd zu steigen.«
»Man kann seine Meinung ändern.« Routiniert sattelte Ragnar das Pferd ab und brachte es auf eine der Weiden. Anschließend gingen sie gemeinsam zu seinem kleinen Holzhaus.
»Was für eine Rasse ist Devera eigentlich?«, erkundigte sich Lena.
»Sie ist ein Andalusier.«
»Ich finde sie sehr schön, besonders wenn sie den Kopf mit der langen Mähne so stolz hält!«
»Das gefällt Mädchen, ist schon klar«, meinte er spöttisch, was erneut Ärger in Lena aufwallen ließ, aber sie verkniff sich diesmal einen Kommentar. Er sah sie von Kopf bis Fuß an. »Obwohl du ja keine sonderlich langen Haare hast.«
Lena fuhr sich durch ihren schulterlangen Schopf. »Ich hab sie irgendwann abschneiden lassen.«
»Jedem, wie es ihm gefällt.« Damit schien für Ragnar das Thema erledigt zu sein. Er schloss die Tür auf und machte eine einladende Handbewegung. »Hast du Durst, Lena?«
»Ja, schon.« Sie ließ sich auf das Sofa plumpsen und betrachtete dabei eines von Frau Winters Bildern. Dieses zeigte einen Vulkankrater, weites, baumloses Land und im Hintergrund das Meer.
»Ob das auch Elvancor sein soll?« Lena legte den Kopf schief und besah sich das Bild genauer. Beinahe hatte sie den Eindruck, die Wellen würden sich tatsächlich bewegen, je länger sie sich dem Gemälde hingab.
Ragnar kam mit zwei Gläsern Wasser zu ihr. »Nein, das ist Island«, erklärte er mit leiser Stimme, und Lena hatte plötzlich den Eindruck, dass Trauer darin mitschwang.
»Echt? Sieht cool aus. Ich war noch nie in Island.«
»Großmutter hat uns ein paarmal besucht und natürlich einige Zeit mit Malen verbracht.«
»Und von deinem Vater hast du so gut Deutsch gelernt?«
Ragnar nickte ernst. »Er starb, als ich zwölf Jahre alt war.«
»Oh, das tut mir leid«, entgegnete sie mit ehrlichem Bedauern. »War er denn krank oder so?«
»Nein«, er fuhr sich durch die Haare und atmete tief aus. »Vater war kein Mensch für einen festen Job. Er hat uns mit Gelegenheitsarbeiten durchgebracht. Schafe scheren, Pferde zureiten, Feldarbeit. Und 1994 ist er bei einer Bergtour in Irland ums Leben gekommen.«
»Das war sicher sehr schlimm für dich.« Zu gern hätte Lena etwas Tröstendes gesagt, denn Ragnar sah sehr traurig aus, aber sie kannte ihn zu wenig, um die richtigen Worte zu finden. Außerdem hatte er Sekunden später schon wieder sein unnahbares Gesicht aufgesetzt.
»Wie lange bist du denn schon von zuhause fort?«
Eine ganze Weile musterte Ragnar sie stumm aus seinen seltsamen dunkelgrauen Augen, bis er schließlich antwortete: »Beinahe drei Jahre.«
»Und wann willst du wieder zurück?«
»Vielleicht gar nicht mehr.« Ruckartig wandte er sich ab und begann, zwischen den Bildern herumzuwühlen.
Lena ließ das Thema lieber auf sich beruhen. Noch eine ganze Zeit lang sahen sie die Gemälde von Ragnars Großmutter durch, bis sie schließlich alles sortiert hatten.
»Okay.« Lena stützte die Hände in die Hüften. »Einige Orte kenne ich. Aber wo zum Teufel sollen wir diese Edelsteine finden?«
»Möglicherweise hat sie einen Hinweis in den Bildern versteckt.« Ragnar kniete sich auf den Boden und besah sich ein Ölgemälde der Ruine Neideck ganz aus der Nähe.
Auch Lena starrte auf das Bild, konnte jedoch beim besten Willen keinen Schatz erkennen.
Gelangweilt nahm sie ein weiteres Bild in die Hand. Dieses zeigte das Walberla, den markanten Tafelberg bei Kirchehrenbach. »Vielleicht sollten wir einfach mal hinfahren und dann weitersehen. Ich glaube zwar nicht …«
»Warte!« Aufgeregt unterbrach Ragnar sie, dann legte er das Bild der Burgruine neben das des Walberla.
»Sieh mal«, er deutete auf den halb eingestürzten Turm der Ruine, dann auf das westliche Ende des Berges. »An beiden Stellen hat Großmutter ein verschlungenes Symbol gezeichnet.« Hastig nahm er Lena das Bild von Walberla ab und nickte dann triumphierend, wobei er auf eine kleine Kapelle deutete.
»Ich sehe nichts.« Lena kniff die Augen zusammen, konnte jedoch kein Symbol erkennen.
»Na hier.« Ungeduldig zeigte Ragnar auf die Kapelle.
»Das ist doch bloß ein Vogel, der auf dem Dach sitzt«, widersprach Lena.
»Und er hält irgendein verschlungenes Schmuckstück im Schnabel.« Nun wies er auf die Ruine. »Und hier hat sie das Zeichen in den Stein eingearbeitet.«
»Ich dachte eigentlich immer, ich hätte ganz gute Augen, vielleicht sollte ich mal einen Sehtest machen.« Lena ging mit den Bildern ans Fenster, und jetzt musste sie Ragnar Recht geben.
»Denkst du wirklich …«, begann sie, von einer kribbelnden Aufregung erfasst.
»Es könnte sein. Sind dir diese Orte bekannt?«
»Ja, Walberla und Neideck kenne ich.« Sie deutete auf die übrigen Bilder. »Falls sich noch auf einem anderen Bild Markierungen befinden, kann ich meine Oma fragen, die kennt sich gut in der Umgebung aus.«
»Gut, vielleicht sollten wir dann zuerst diese Ruine besuchen.«
»Aber nicht mit dem Pferd.« Lena schnitt eine Grimasse, woraufhin Ragnar grinste.
»Nein, übermorgen kann ich das Motorrad abholen.«
»Prima«, seufzte sie erleichtert.
»Heute musst du allerdings noch einmal reiten, sofern du nicht laufen möchtest.«
Zu ihrer eigenen Verwunderung freute sich Lena sogar darauf, und sie nickte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon kurz nach vier war. »Ich denke, ich sollte jetzt gehen.«
»Dann lass uns Devera von der Weide holen.«
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Das Pferd kam Ragnar sogleich entgegen, und er streifte ihr das Zaumzeug über, dann legte er den Sattel auf.
»Muss ich dich wieder führen, oder möchtest du hinter mir sitzen?«
»Hm.« Lena legte einen Finger an die Nase. »Also gut, ich versuche es.«
»In Ordnung, dann steig auf und lass dich dann vorsichtig hinter den Sattel gleiten. Zum Glück bist du recht klein und …«
»Na, ein Riese bist du ja auch nicht gerade«, unterbrach sie ihn spöttisch.
Kurz blinzelte er verwirrt, dann grinste er frech. »Es stört dich wohl, klein zu sein.«
»Nein, überhaupt nicht!«, behauptete sie, schwang sich mit größtmöglicher Anmut in den Sattel und rutschte dann vorsichtig nach hinten.
Auch Ragnar stieg auf, nahm die Zügel in die Hand und lenkte das Pferd in den Wald.
Lena fühlte sich unwohl auf dem blanken Pferderücken und befürchtete, jeden Moment herunterzurutschen.
»Du solltest deine Arme um meine Hüfte schlingen, dann sitzt du sicherer«, schlug Ragnar nach einem Blick über die Schulter vor.
»Könnte dir so passen«, knurrte sie, krallte ihre Finger in den Sattel und quietschte erschrocken, als Devera stolperte.
»Meinetwegen kannst du auch herunterfallen«, entgegnete Ragnar wenig charmant.
»Was dir vermutlich noch besser gefallen würde«, brummelte sie und ließ sich schließlich doch noch dazu herab, sich an ihm festzuhalten.
Eine ganze Weile ritten sie im Schritt durch den Wald, und Lena spürte, wie sie die Stille auf eine ungewohnt angenehme Weise einlullte. Sie schloss die Augen, lauschte dem leisen Schnauben des Pferdes, dem Vogelgezwitscher und dem raschelnden Laub.
»Sollen wir schneller reiten?«
Reflexartig klammerte sich Lena an ihm fest, und bevor sie antworten konnte, galoppierte Devera los.
»Nein!«, kreischte Lena panisch, aber Ragnar drehte sich lediglich mit einem Lachen zu ihr um.
»Hab keine Angst, Lena, es macht Spaß.«
Spaß sah für Lena eindeutig anders aus. Sie wurde auf- und abgeworfen und hatte Todesangst. »Halt auf der Stelle an!«, verlangte sie.
»Versuch, locker zu bleiben, pass dich dem Rhythmus des Pferdes an.«
»Ich will aber nicht …«
Jetzt legte er ihr auch noch eine Hand auf den Oberschenkel und lenkte das Pferd logischerweise nur einhändig, wie Lena entsetzt feststellte.
»Vertrau mir, schließ die Augen und lass es geschehen.«
Zunächst wollte sie aus Prinzip widersprechen, aber weil sie kaum glaubte, dass er freiwillig anhielt, atmete sie tief durch und versuchte, ihre verkrampften Beine sowie den eisernen Griff um Ragnars Hüfte zu lockern. Und siehe da – nach ein paar sanften Galoppsprüngen schwang sie im Takt mit. Sie stieß die Luft aus, passte sich den Bewegungen an, und schließlich schloss sie sogar die Augen und lehnte ihr Gesicht an Ragnars Rücken. Sein schwarzes T-Shirt verströmte einen Duft aus Pferd, Holz und einer eigenartigen, aber nicht unangenehmen, männlichen Note. Der laue Wind streichelte ihr Gesicht, und selbst durch die geschlossenen Augenlider konnte sie wahrnehmen, wie Licht und Schatten wechselten. Für Lena hörte die Zeit auf zu existieren, und sie gab sich völlig diesem ungeahnt intensiven Gefühl von Freiheit und Geborgenheit hin. Sie wusste nicht, wie lange sie so durch den Wald galoppierten, aber als Devera langsamer wurde und in einen gemächlichen Schritt fiel, war sie enttäuscht.
»Und?« Gespannt drehte sich Ragnar zu ihr um.
»Das war toll!«, stieß Lena begeistert hervor, dann räusperte sie sich und ließ ihn verschämt los. »Ich meine … nicht übel.«
Ragnar lachte jedoch nur, dann lenkte er Devera auf die Straße hinter dem Haus von Lenas Oma. »Möchtest du noch einmal reiten? Deveras Besitzerin ist für vier Wochen im Urlaub und hat mich gebeten, sie zu bewegen. Den Schimmelwallach des Stallbesitzers soll ich auch regelmäßig trainieren. Falls du Lust hast, könnten wir ab und zu gemeinsam ausreiten.«
Obwohl Lena es noch vor ein paar Stunden nicht für möglich gehalten hatte – sie wollte! »Meinst du nicht, Deveras Besitzerin hat etwas dagegen, wenn ich sie reite?«
»Das glaube ich kaum, aber wir können sie anrufen, ich habe ihre Telefonnummer.«
»Ja, okay.« Vorsichtig ließ sich Lena zu Boden gleiten, dann streichelte sie der Andalusierstute noch einmal über das Fell und sah zu Ragnar auf. »Es war wirklich schön, danke.«
»Keine Ursache.« Seine Verbeugung wirkte zum wiederholten Mal eine Spur zu spöttisch, doch diesmal störte sich Lena nicht daran. Er wendete Devera und drehte sich noch einmal kurz um. »Falls du übermorgen Zeit hast, könnten wir zu dieser Ruine fahren.«
Lena dachte kurz nach. »Ja, aber erst abends nach sechs. Vorher muss ich arbeiten.«
»Auf Wiedersehen, Lena.« Er ließ das Pferd aus dem Stand antraben, und kurz darauf war die schlanke Gestalt auf dem edlen Pferd im Wald verschwunden.
»Puh, Lena, du bist geritten«, sagte sie zu sich selbst und schloss kurz die Augen, um dieses berauschende Gefühl noch einmal zurückzuholen.