Kapitel 22
Ragnars Geheimnis
Langsam ließ sich Ragnar auf der Bank nieder, legte seine Fingerspitzen aneinander und schloss die Augen.
»Nachdem mein Vater gestorben war, blieb meine Mutter einige Zeit allein, aber als ich fünfzehn war, traf sie einen alten Schulfreund, und leider verliebte sie sich erneut in ihn.«
»Du mochtest ihn nicht?«, schlussfolgerte Lena.
Ragnar nickte, rieb sich kurz die Augen und fuhr dann fort. »Dagur konnte mich von Anfang an nicht ausstehen. Ich war lediglich das lästige Anhängsel der Frau, die er begehrte, und er tyrannisierte mich regelmäßig. Nur tat er das so geschickt und heimlich, dass meine Mutter vermutlich nichts davon mitbekam.«
»So ein Idiot!«
»Ich habe es ihm nicht leicht gemacht«, räumte Ragnar ein. »Zum einen vermisste ich meinen Vater sehr, zum anderen fiel es Dagur natürlich schwer zu verstehen, dass ich entsetzlich unglücklich in dem Vorort von Reykjavík war, in den wir nach einiger Zeit zogen. Immer wieder lief ich davon, nach Hause zu meiner Großmutter. Und nachdem ich mit der Schule fertig war, blieb ich auch bei ihr und besuchte meine Mutter nur noch gelegentlich.«
»Ragnar, das ist alles sehr interessant«, unterbrach Lena ihn. »Nur was hat das mit dieser Mordanklage zu tun?«
Betrübt senkte er den Blick. »Es sollte dir erklären, wie es dazu kam.«
»Okay.« Lena lehnte sich zurück und bemühte sich, geduldig zu sein.
»Mehrfach holten sie mich zurück, als ich noch jünger war«, fuhr Ragnar fort. »Dagur machte mir das Leben zur Hölle mit seinen Anschuldigungen, aus mir würde niemals etwas werden, nur weil ich nicht in seinem Fischereibetrieb arbeiten wollte.« Nun wurde seine Stimme leise. »Der einzige Trost in dieser Stadt war Dagurs Vater Andri. Mit ihm habe ich mich von Anfang an gut verstanden. Mit der Zeit wurde er eine Art Ersatzgroßvater für mich. Auch er kam aus einem kleinen Dorf im Norden Islands und sehnte sich nach seiner alten Heimat. Er konnte meinen Drang nach Freiheit und meine Liebe zur Natur verstehen und …«
Als Ragnar stockte, nickte Lena ihm aufmunternd zu.
»Meine Gabe. Du weißt, ich kann Geister sehen.«
»Ja, das habe ich mitbekommen.« Nun war sie wirklich nervös, aber sie spürte, wie schwer es Ragnar fiel weiterzusprechen.
»Die Sache mit den Geistern ist nicht alles«, gab er widerstrebend zu.
»Was denn noch?«, fragte sie verwundert.
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Ragnar fuhr sich durch die Haare. »Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, starb, als ich zehn Jahre alt war. Ich war bei ihm, er bekam mitten auf der Schafweide einen Herzinfarkt. Alles ging sehr schnell. Zunächst konnte ich die Angst in seinen Augen erkennen, aber plötzlich war alles ganz anders.« Noch einmal schien sich Ragnar zu sammeln. »Ich wollte Hilfe holen, doch er hielt meine Hand fest, sah mich so verzweifelt an, und dann war da … dieses Licht, dieser Friede. Schemenhaft konnte ich ein anderes Land sehen, das ich heute kaum beschreiben kann. Ich glaube, ich habe ihm geholfen, friedlich ins Jenseits zu gehen.«
Zunächst wusste Lena nicht, was sie erwidern sollte. Stumm starrte sie Ragnar an, der ein Lächeln andeutete. »Für dich muss das seltsam klingen.«
»Ja, das stimmt.« Lena runzelte die Stirn. »Aber dafür bekommt man doch keine Mordanklage.«
»Nein, dafür nicht. Das war nur das erste Mal, dass mir etwas Derartiges passierte. Auch ich dachte, ich hätte mir das alles nur eingebildet, schließlich war ich ja noch ein Kind. Aber es blieb nicht bei diesem einen Ereignis. Weitere starben. Zunächst unser Hund, den ich sehr liebte, dann einige der Pferde auf der Farm und eines Tages einer meiner besten Freunde, der bei einem Autounfall ums Leben kam, den ich selbst wiederum durch viel Glück überlebt habe. Jedes Mal erschien dieses Licht, und sie starben eines friedlichen Todes – das glaube ich zumindest.«
Ein Schauer lief über Lenas Rücken, dann fragte sie mit dünner Stimme: »Du bist also eine Art Todesengel?«
»Ein Todesengel?« Mit einem bitteren Lächeln schüttelte Ragnar den Kopf. »Ich befürchte, als Engel würde ich eine schlechte Figur abgeben. Allerdings weiß auch ich nicht, was ich bin oder weshalb mir derartige Dinge möglich sind. Diese seltsame Gabe hat mir lange Zeit Angst gemacht, und es fiel mir schwer, sie zu akzeptieren. Lena, wenn du mir nicht glaubst, könnte ich das verstehen.«
»Hm.« Unwillkürlich rückte sie ein Stück von ihm ab, fragte sich, ob er auch sie ins Jenseits befördern konnte. Aber dann riss sie sich zusammen, denn schließlich hatte sie ihn schon oft genug berührt, und ihr war nichts geschehen – mal abgesehen von den Geistererscheinungen.
Unschlüssig kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, dachte nach, dann zuckte sie zusammen. »Devera – bei ihr war es das Gleiche.«
»Du hast es gesehen, das Licht?«, flüsterte Ragnar und sah sie hoffnungsvoll an. »Du glaubst mir?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete sie zögernd. Innerlich rang sie mit sich selbst.
»Nun gut. Andri erzählte ich irgendwann ebenfalls davon, und ich war sehr glücklich, dass er mich ernst nahm. Scherzhaft meinte er, wenn es einmal mit ihm zu Ende ginge, wäre es äußerst nützlich, jemanden wie mich zu kennen. Leider traf das schneller ein, als er dachte.« Ragnar räusperte sich. »Vor zwei Jahren bekam Andri gleich drei Schlaganfälle kurz hintereinander.«
»Der Arme!«, rief Lena aus.
»Er konnte sich nicht mehr bewegen, kaum noch sprechen und wurde am Ende nur von Maschinen am Leben erhalten. Mir fiel es sehr schwer, ihn im Krankenhaus zu besuchen, du kennst den Grund. Andri flehte Dagur an, die Maschinen abstellen zu lassen, er wollte nicht mehr leben, aber Dagur wollte davon nichts wissen. Ich stritt mich entsetzlich mit ihm, denn ich besaß ja keine rechtliche Handhabe, da ich kein Verwandter war.«
Langsam dämmerte Lena, worauf Ragnars Erzählung hinauslaufen würde, und sie beugte sich gespannt vor.
»Ich bin nicht stolz darauf, aber eines Tages bin ich wieder einmal ziemlich ausgerastet«, gab Ragnar zu. »Auf dem Krankenhausflur beschimpfte ich ihn irgendwann und wünschte ihm vor Zeugen ebenfalls ein qualvolles Ende.«
»Das war vermutlich nicht so geschickt«, gab sie zu bedenken.
»Nein … Auf jeden Fall ging es Andri immer schlechter, und schließlich flehte er mich an, ihm zu helfen, diesen würdelosen Zustand zu beenden.«
»Du hast den Stecker gezogen?«, stieß Lena mit weit aufgerissenen Augen hervor.
»Nein«, widersprach Ragnar, »wobei ich auch das für ihn getan hätte. Ich mochte ihn nämlich sehr. Aber nein, ich blieb bei ihm, nahm seine Hand. Er schloss die Augen, und auf einmal erschien wieder dieses Licht.« Unsicher hob er die Schultern. »In diesem Moment spielten alle Geräte verrückt, die Sicherungen brannten durch und Funken sprühten. Andri war tot.«
»Man hat dich beschuldigt, die Geräte zerstört zu haben«, mutmaßte Lena mit dünner Stimme.
»Die Ärzte konnten sich etwas Derartiges nicht erklären, und sie verdächtigten mich. Schlimmer war jedoch Dagur. Der beschuldigte mich, seinen Vater umgebracht zu haben, wollte mich anzeigen, ins Gefängnis bringen.«
»Puh, eine krasse Geschichte.«
»Ich fuhr nach Hause, packte meine Sachen, um schleunigst zu verschwinden, denn ich hatte echt Panik, verhaftet zu werden. Dagur erwischte mich, bevor ich die Flucht ergreifen konnte. Er griff mich an, wollte mich einsperren und die Polizei holen. Es kam zu einem Handgemenge.«
»Und dann?« Lena hielt den Atem an.
Die Erinnerung daran setzte Ragnar sichtlich zu. Seine Miene war ernst, angespannt, seine Worte kamen nur zögerlich heraus. »Dagur war ein Baum von einem Mann. Er wollte mich niederschlagen, und als ich mich wehrte, stolperte er unglücklich und fiel die Treppe herab – sein Genick war gebrochen.«
Erschrocken schlug Lena eine Hand vor den Mund.
»Auch du glaubst mir nicht«, sagte Ragnar bitter. »Was hatte ich auch erwartet?«
»Was meinst du mit auch?« Dann atmete sie scharf ein. »Deine Exfreundin. Deshalb hat sie dich verlassen!«
»Nicht nur Lilia, auch meine Mutter. Natürlich wusste sie, wie angespannt das Verhältnis zu meinem Stiefvater war und wie oft wir uns gestritten haben.«
»Sie dachte, du hättest ihn absichtlich gestoßen«, schlussfolgerte Lena.
»Wenigstens zog sie es ernsthaft in Erwägung.« Möglicherweise hatte sie aber doch Skrupel, mich der Polizei auszuliefern, und ich vermute, sie hat ihr verschwiegen, dass wir noch Verwandte in Deutschland haben. Onkel Georg hätte mich ohne Zweifel angezeigt, aber bis heute bin ich unbehelligt geblieben.« Betrübt wandte er sich ab. »Ich war völlig durcheinander und fragte Lilia, ob sie mit mir käme, aber auch sie hielt mich für einen Mörder. Anfangs war ich entsetzlich enttäuscht, aber vermutlich ist es zu viel verlangt, dass mir jemand glaubt und vertraut.« Er stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.
Zunächst zögerte Lena, musste das alles erst einmal verarbeiten. Stimmte das, was Ragnar ihr erzählt hatte? Hatte er seinem Stiefgroßvater lediglich geholfen? Und diese Sache mit dem neuen Mann seiner Mutter – war das ein Unfall gewesen? Prüfend betrachtete sie ihn. Was war er für ein Mensch? Ein Stück weit hatte sie ihn inzwischen kennen gelernt, und auch wenn er gelegentlich ein äußerst seltsames und unbeherrschtes Verhalten an den Tag legte, so glaubte sie doch nicht, dass er grundsätzlich einen schlechten Charakter hatte. Ganz langsam und noch immer recht zerrissen in ihrem Inneren erhob sie sich und setzte sich zu Ragnar auf die Bank. Als sie ihre Hand auf seine legte, zuckte er zusammen und blickte erwartungsvoll auf.
»Ich weiß nicht, ob es vernünftig und richtig ist, aber ich vertraue dir.«
»Wirklich?«, stieß er atemlos hervor.
»Ich habe dich mit Devera gesehen, durch dich kann ich Geister wahrnehmen, und dann sind da noch diese Schattenwesen …«
»Die Schatten, ich habe sie schon früher gesehen. Damals in Island, aber ich dachte, hier hätte ich sie abgeschüttelt.«
Stumm und mit großer Unsicherheit, aber auch einer Spur von Hoffnung in seinen dunklen Augen sah Ragnar sie an. Und genau dieser Blick überzeugte sie letztendlich davon, das Richtige zu tun. Dankbar drückte er ihre Hand. »Du weißt gar nicht, wie viel mir dein Vertrauen bedeutet.«
Und du weißt nicht, wie viel du mir bedeutest, dachte sie und überlegte, ob dies vielleicht der richtige Zeitpunkt war, ihm ihre Gefühle zu gestehen.
Aber da sprach er schon weiter. »Du bist ein unglaubliches Mädchen, und unsere Freundschaft ist mir ehrlich sehr viel wert.«
Freundschaft, dachte Lena traurig. Natürlich war Freundschaft etwas Wunderbares, aber inzwischen wollte sie mehr. Doch nun gab es Wichtigeres als ihre wirren Gefühle.
»Was machen wir denn jetzt mit dir?«, fragte sie unglücklich.
»Zunächst muss ich mich verstecken«, meinte Ragnar. »Und dann werde ich mich bemühen, unauffällig zu verschwinden – wohin auch immer.«
»Ich komme mit«, rief Lena impulsiv aus.
Doch Ragnar streichelte ihr kopfschüttelnd über die Wange. »Nein, Lena. Ich möchte dich nicht in meine Schwierigkeiten mit hineinziehen. Du hast ein gutes Leben hier, das kann ich dir nicht nehmen.«
»So toll ist es auch wieder nicht«, protestierte sie. »Meine Eltern machen mir sowieso die ganze Zeit nur Vorwürfe, und …«
»Lena«, er sah sie eindringlich an. »Du wirst studieren, in eine Großstadt gehen, so wie du es dir immer gewünscht hast, erfolgreich sein und glücklich werden.«
Ein dicker Kloß bildete sich in Lenas Kehle. Das alles will ich doch gar nicht mehr, sagte sie in Gedanken, ich möchte doch nur mit dir zusammen sein.
»Du würdest mir fehlen, wenn … wenn du fort bist«, gab sie leise zu.
»Und du mir. Aber wir können versuchen, den Kontakt aufrechtzuerhalten, jedenfalls solange es für dich nicht zu gefährlich ist. Wahre Freundschaft kann nichts erschüttern, selbst wenn man sich über einen langen Zeitraum nicht sehen kann.« In seinen ungewöhnlichen Augen stand so viel Zuneigung, dass Lena ganz warm ums Herz wurde, und für einen Moment hatte sie sogar das Gefühl, mehr darin zu lesen. Aber möglicherweise war das auch nur Wunschdenken ihrerseits. Auf jeden Fall genoss sie die beruhigende Wärme seiner Hand und wünschte sich, alles wäre weniger kompliziert.
»Ich bringe dich jetzt nach Hause«, erklärte er, nachdem er sich kurz geräuspert hatte.
»Willst du wirklich hierbleiben? Ganz allein mitten im Wald? Immerhin sind da noch diese Schattengestalten.« Schaudernd dachte Lena daran, wie Ragnar möglicherweise diesen Kreaturen ausgesetzt sein würde – und davor fürchtete sie sich beinahe noch mehr als vor der Polizei.
»Sie sind verschwunden.« Ragnar zuckte mit den Schultern. »Jedes Mal hat es einige Zeit gedauert, ehe sie erneut aufgetaucht sind. Mach dir keine Sorgen.«
Lena schluckte und rang um Fassung. Das Sprechen fiel ihr zunehmend schwer. »Keine Sorgen machen, Ragnar, das …« Sie blinzelte rasch einige Tränen weg. »Das kann ich nicht mehr«, sagte sie leise und senkte den Blick.
Sie konnte fühlen, wie Ragnar sie ansah, glaubte sogar, sein Atem würde plötzlich etwas schwerer gehen, so als läge ein Fels auf seiner Brust. Zu gerne hätte sie gewusst, was in diesem Augenblick in ihm vorging. Sanft hob Ragnar nun ihr Kinn an, seine Augen fixierten die ihren, wirkten sogar ein wenig traurig. »Lena, das ist kein Abschied für immer.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem markanten Gesicht aus. »Deine Augen werden immer so sanft, wenn du traurig bist«, flüsterte er.
Lena glaubte, ihr Herz würde gleich explodieren, und brachte keinen Ton heraus.
»Na komm schon«, sagte Ragnar nach einer Weile. Er lächelte ihr aufmunternd zu und erhob sich. »Ich bring dich nach Hause.«
Ich bin doch schon daheim, ich bin bei dir.
Er nahm Lena an der Hand, öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Dann trat er ins Freie und führte Lena auf ihr völlig unbekannten Pfaden zurück zum Haus ihrer Großmutter. Schweigend gingen sie nebeneinander her, nur ihre leisen Schritte waren zu hören. Die Geräusche des Waldes erschienen Lena wie in weite Ferne entrückt.
»Ich möchte nicht zu nah herangehen«, erklärte Ragnar entschuldigend, als sie auf den Feldweg nach Leutzdorf stießen.
»Natürlich.« Lena holte tief Luft und straffte die Schultern. »Ragnar, wenn du noch kurz in der Nähe bleibst, bringe ich dir Essen und Decken und vielleicht eine Taschenlampe.«
»Das wäre sehr lieb von dir.«
»Hast du mein Smartphone dabei?« Sie beobachtete, wie er ihr Telefon aus der Hosentasche zog. Lena holte ihr zweites hervor und reichte es Ragnar. »Hier, nimm besser das alte, das ist nirgends registriert. Am Ende werden wir noch abgehört. Die Prepaidkarte ist aufgeladen, die sollte einige Zeit halten. Ich besorge mir ein anderes von meiner Freundin oder meiner Cousine.«
»Daran hätte ich gar nicht gedacht«, murmelte er, dann zog er die Stirn kraus. »Mein Motorrad – ich überlege, ob ich es wagen soll, es zu holen.«
»Besser nicht. Sicher haben sie es schon beschlagnahmt oder lassen es als Lockmittel stehen. Schließlich ist es ja auf dich registriert.«
»Nein, ist es nicht«, erklärte er mit einem vorsichtigen Lächeln. »Ich habe einen Bekannten gebeten, es zuzulassen, damit mein Name nirgends erscheint und die Polizei mir nicht auf die Schliche kommt. Deshalb besitze ich auch kein Telefon und arbeite ohne Vertrag in dem Reitstall.«
»Der Uruk-hai«, stellte Lena fest und begriff, weshalb sich Ragnar und Rolf damals in Forchheim so geheimnisvoll verhalten hatten. Auch einige andere seltsame Verhaltensweisen Ragnars ergaben nun einen Sinn.
»Genau der«, stimmte Ragnar zu. »Ich hoffe, er bekommt keinen Ärger, falls sie das Motorrad tatsächlich mit mir in Verbindung gebracht haben.«
»Versprich mir, es nicht zu holen«, bat sie. »Ich kann versuchen, dir Geld zu besorgen, damit du untertauchen kannst, aber bitte …«
»Nein«, unterbrach er sie, nahm ihre Hand und sah ihr ernst in die Augen. »Du tust schon genug für mich. Ich weiß, du hast selbst kein Geld und sogar Schulden bei deinen Eltern. Hätten wir nur Großmutters Schatz gefunden.«
»Das wäre gut gewesen.« Lena umarmte Ragnar, einen Moment lang überlegte sie, ihn nie wieder loszulassen, tat es aber dennoch und schlug sich ins Unterholz. »Warte dort, hinter diesen Felsen auf mich, ja?«
»In Ordnung.«
Darum bemüht, möglichst wenige Geräusche zu verursachen, schlich sie sich von hinten an das Fachwerkhaus ihrer Großmutter heran. Glücklicherweise war der Polizist noch dort, wo er sich vor einigen Stunden versteckt hatte. Sie musste grinsen, als sie sah, wie er gähnend an einem Baumstamm lehnte und in der Nase bohrte. Die Dorfpolizisten hier waren erfreulicherweise nicht sehr motiviert, und so würde es kein Problem für Lena werden, noch einmal zu verschwinden. Ungesehen kletterte sie zurück in ihr Zimmer, öffnete, um den Anschein zu erwecken, sie wäre zuhause, das Küchenfenster und drehte die Musik auf. Sofort tauchte der dunkle Haarschopf des Polizisten hinter der Hecke auf. Sie tat so, als würde sie das Küchenfenster putzen, und vermutlich dachte der Beamte nun, dass sie sich mit einem Hausputz ablenkte.
Nachdem sie eine Weile an der Scheibe herumgewischt hatte, packte sie in aller Eile Essen, Decken, einen Schlafsack, eine Taschenlampe und ein paar Kerzen ein. Außerdem hatte sie noch fünfzig Euro, die sie kurzerhand in den Schlafsack steckte – egal, was Ragnar gesagt hatte, zumindest dieses wenige Geld sollte er annehmen.
Anschließend sah sie sich noch einmal prüfend um, dann erinnerte sie sich an etwas. Im Küchenschrank befand sich ein altes Handy ihres Vaters, das er schon lange nicht mehr benutzte. Zum Glück hatte er Telefonnummer und Code hinten draufgeklebt. Eilig notierte sie diese für Ragnar und lud, während sie die restlichen Sachen packte, das Mobiltelefon auf – so konnten sie relativ gefahrlos in Kontakt bleiben. Ein Blick aus dem Fenster im ersten Stock versicherte Lena, dass der Polizist noch an Ort und Stelle war. Sie öffnete auch das obere Fenster, schaltete den Staubsauger an und rannte dann die Treppe hinab. Eilig raffte sie alles zusammen und schlich geduckt hinaus. Als sie im Wald war, atmete sie erleichtert auf, erreichte kurz darauf den verabredeten Treffpunkt und rief leise nach Ragnar.
Als der nicht antwortete, hielt sie die Luft an, befürchtete schon, er wäre bereits fort, doch kurz darauf trat er hinter einem Felsen hervor.
»Danke, ich gehe jetzt besser.« Unruhig schweifte sein Blick zwischen den Bäumen umher, und mit einem Mal überkam Lena das mulmige Gefühl, es könnte das letzte Mal sein, dass sie sich sahen. »Pass auf dich auf.«
»Und du auf dich.« Erneut bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. »Du verschwindest aber nicht einfach, ohne dich zu verabschieden.«
»Nein, natürlich nicht«, versicherte Ragnar ihr. »Es sei denn, die Polizei findet mich.«
»Das wird sie nicht.« Lenas Herz wurde ihr schwer, als Ragnar sie noch einmal in seine Arme schloss. Wieder hätte sie ihn am liebsten nicht losgelassen, und als sie ein leises Schluchzen nicht unterdrücken konnte, hob er ihr Kinn an.
»Hey, nicht weinen.«
»Tu ich ja gar nicht«, behauptete sie mit rauer Stimme.
»Das sah vorhin in der Hütte aber anders aus.«
Also hat er es bemerkt, dachte sie, schüttelte aber dennoch den Kopf.
»Dass du mir auch immer widersprechen musst!«, entgegnete er augenzwinkernd. Auch wenn er einen lustigen Tonfall angeschlagen hatte, spürte Lena, dass der nur gespielt war. Ganz bestimmt machte auch er sich Sorgen. »Ich melde mich bei dir, versprochen.«
Nun drückte ihr Ragnar einen Kuss auf die Wange, schnappte sich die Sachen und eilte davon.
Ein paar Tränen kullerten über Lenas Gesicht, aber sie riss sich zusammen und beeilte sich, zurück ins Haus zu kommen. Dort schaltete sie den Staubsauger wieder ab und versuchte, sich irgendwie abzulenken. Doch weder das Fernsehprogramm noch das Internet brachten sie auf andere Gedanken. Pausenlos kreisten ihre Gedanken um Ragnar und darum, was er schon alles durchgemacht hatte. Die Flucht aus Island war bestimmt nicht einfach gewesen. Sich ständig verstecken müssen, niemandem die Wahrheit sagen können – das alles machte sein häufig so abweisendes und ruppiges Verhalten verständlicher.
»Wenn ich ihm nur irgendwie helfen könnte«, seufzte Lena.
Am späten Nachmittag kehrten ihre Eltern zurück, kurz darauf Lenas Großmutter. Sie waren noch immer besorgt, aber Lena versicherte, nichts von Ragnar gehört zu haben. Lediglich Oma Giselas Blick ließ sie verlegen werden, denn sicher ahnte sie etwas.
»Bestimmt ist er schon längst über alle Berge«, sagte Lena beim Abendessen.
»Hoffentlich!« Manuela strich hektisch Butter auf ihr Brot. »Ein Mörder – hier bei uns!«
Zu gern hätte Lena widersprochen, ihren Freund verteidigt, aber sie wusste, wie sinnlos das war.
Eine SMS von Ragnar beruhigte ihre angespannten Nerven ein klein wenig. Er schrieb, es gehe ihm gut, das Geld wolle er ihr zurückgeben.
Bitte behalte es und warte, bis ich mehr für dich aufgetrieben habe, schrieb sie zurück. Sei nicht stolz, Ragnar, du wirst es brauchen, wenn du verschwinden musst.
Guud zahl alle zuruck sobald moglich, erfolgte ein paar Minuten später seine Antwort.
Er ist so ganz anders als Kevin, dachte Lena, legte sich auf ihr Bett und starrte gegen die Zimmerdecke. Der hätte mich garantiert um mehr Geld gebeten und wäre dann sang- und klanglos verschwunden. Andererseits, wer sagte ihr, dass Ragnar das nicht auch irgendwann tat?
Plötzlich klopfte es an der Tür, und Lena ließ eilig das alte Handy ihres Vaters verschwinden.
»Ja?«
Oma Gisela trat ein und setzte sich mit besorgtem Gesicht auf Lenas Bettkante. »Wie geht es dir?«
Ratlos hob sie die Schultern, denn was sollte sie darauf antworten?
Unsicher zupfte ihre Großmutter an der Bettdecke herum. »Möglicherweise habe ich mich in Ragnar getäuscht. Oder vielleicht ist alles auch nur ein großer Irrtum?« Forschend sah sie Lena in die Augen, und diese musste einiges an Willensstärke aufbringen, um dem prüfenden Blick standzuhalten.
»Kann schon sein«, entgegnete sie knapp. »Ich traue Ragnar keinen Mord zu.«
»Lena, wenn du etwas weißt, wenn du Kontakt zu ihm hast, dann sag ihm, er muss sich stellen! Falls er in der Tat unschuldig ist, wird sich alles aufklären.«
Und zuvor kommt er in Untersuchungshaft, rastet vollkommen aus und besiegelt damit sein Schicksal, fügte Lena stumm hinzu. Zu gern hätte sie sich ihrer Großmutter anvertraut, ihr das Herz ausgeschüttet, aber das ging leider nicht. So unbefangen und locker ihre Oma viele Dinge auch handhabte – in diesem Fall würde sie keine Gnade kennen und Ragnar möglicherweise verraten, und wenn auch nur aus dem Grund, um sie zu schützen.
»Ich habe keinen Kontakt – leider«, seufzte sie daher, dann schluchzte sie leise, was nicht einmal gespielt war. »Immer gerate ich an die falschen Typen.«
Tröstend nahm Oma Gisela sie in die Arme, und als Lena leise zu weinen anfing, wiegte ihre Großmutter sie hin und her wie damals, als sie ein kleines Mädchen gewesen war.
»Es ist nicht einfach. Du kannst niemandem ins Herz schauen.«
Lena sagte nichts dazu, aber sie freute sich über die tröstende Anwesenheit ihrer Großmutter.
Diese erhob sich nach einer Weile. »Wenn ich dir oder Ragnar irgendwie helfen kann, dann sag bitte Bescheid.«
Ein stummes Nicken war alles, was Lena als Antwort gab. Die ganze Nacht lang grübelte sie über Ragnar nach und wie es weitergehen sollte. Auf keinen Fall wollte sie ihn im Stich lassen oder den Kontakt zu ihm verlieren. Aber wie konnte sie ihm nur helfen?