Kapitel 15

Neue Pfade

Am nächsten Morgen schnappte sich Lena ihr Fahrrad und fuhr zu Ragnar. Diesen traf sie an, als er zwei Pferde zur Weide führte.

»Guten Morgen«, begrüßte er sie und drückte ihr kurzerhand den Strick des Fuchswallachs in die Hand. »Das ist Sahib – das bedeutet Gefährte. Ich finde, es ist ein passender Name für ihn, denn er ist wirklich sehr brav. Du kannst dich gleich mit ihm bekanntmachen.«

Vorsichtig streichelte Lena dem zierlichen Pferd über den Hals. Sahib schnupperte kurz an ihr, dann zog er am Strick und wollte offenbar weiterlaufen.

»Meinst du, ich kann ihn heute mal reiten?«, erkundigte sich Lena erwartungsvoll.

»Also ich habe erst gegen Nachmittag Feierabend. Wir müssen noch Heu von einer Wiese im Nachbardorf holen.«

»Schade.« Lena war enttäuscht. Auf der großen Graskoppel ließen sie die Pferde los, und Lena beobachtete, wie Sahib und Comet sich erst genussvoll wälzten und dann zu grasen begannen.

»Okay, dann komme ich später nochmal«, meinte sie.

»Du könntest auch mitkommen und uns helfen, dann sind wir schneller fertig.«

»Ähm, also, ja, warum eigentlich nicht?«

Mit einem zufriedenen Nicken bedeutete Ragnar ihr zu folgen. Herr Gruber, sein Sohn Benno, ein ernster, ruhiger Mann um die dreißig, und zwei Reitschülerinnen warteten bereits neben einem Traktor mit großem Anhänger. Sie tuschelten miteinander, als sie Ragnar und Lena zusammen kommen sahen.

»Ah, noch eine Helferin. Ich hoffe, du hast keinen Wassereimer dabei«, grummelte Herr Gruber, grinste jedoch gutmütig.

»Nein, ausnahmsweise nicht.«

»Na dann steigt mal auf!« Er zeigte auf die Ladefläche, und schnell waren sie allesamt hinaufgeklettert.

Im Schneckentempo tuckerte der betagte Traktor über Feldwege zum nächsten Dorf, wo ein weiterer Traktor wartete. Zwei Männer waren schon damit beschäftigt, Heuballen aufzustapeln.

Die beiden Mädchen, sie mochten fünfzehn oder sechzehn sein, wisperten die ganze Zeit und bedachten Lena mit kritischen Blicken, während sie von der Ladefläche kletterten und Heuballen heranschleppten.

»Kann es sein, dass die beiden in dich verknallt sind?«, fragte Lena grinsend, nachdem sie abgestiegen waren.

Ragnar runzelte die Stirn, sah zu den Mädchen hinüber, die daraufhin erröteten. Dann drehte er sich zu Lena – und urplötzlich spürte sie seine Lippen auf ihren. Sie riss die Augen auf, doch sofort war der Spuk vorbei. Verdutzt starrte sie ihn an.

»Sag mal, hast du sie nicht alle?«, regte sie sich auf.

»Jetzt werden sie denken, du wärst meine Freundin, und sich keine falschen Hoffnungen machen.«

Lena konnte es nicht fassen. »Sei froh, dass ich dir keine geknallt habe. Du hättest das echt verdient.«

Doch Ragnar zuckte lediglich die Achseln und fing an, die Heuballen aufzuladen.

»So ein … puh! Ich weiß nicht einmal, wie ich ihn bezeichnen soll. Für so einen Kerl gibt es wohl keine passende Bezeichnung«, schimpfte sie vor sich hin.

Die Blicke der beiden Jugendlichen hätten sie töten können, und Lena war noch immer völlig durcheinander. Dieser Kuss, so überraschend er auch gekommen war, hatte sich gar nicht mal schlecht angefühlt, auch wenn sie sich sicher war, dass Ragnar sich nichts anderes dabei gedacht hatte, als die Mädchen abzuwimmeln. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, stürzte sie sich auf die Heuballen und arbeitete wie besessen. Mit der Zeit wurden ihr die Arme schwer, dennoch dachte sie nicht daran aufzuhören, was womöglich noch als Schwäche gedeutet worden wäre. Nach einer Weile näherte sie sich dem anderen Traktor. Inzwischen waren ihre Unterarme von den dicken Heuhalmen zerstochen, die Haare hingen ihr verschwitzt ins Gesicht, und vermutlich war sie knallrot vor Anstrengung. Als sie Timo erkannte, der ebenfalls Heuballen auflud, stockte sie. Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass sein Vater einen Bauernhof hatte und er irgendwann mal erzählt hatte, er müsse gelegentlich aushelfen.

»Hallo Lena!«, rief er überrascht, aber ein freudiges Lächeln überzog sein Gesicht.

»Timo!« Lena konnte sich keinen schlechteren Zeitpunkt vorstellen, um ihn zu treffen.

»Hast du noch ’nen Nebenjob?«, erkundigte er sich freundlich.

»Nein … ich … reite nur gelegentlich auf dem Hof«, stammelte sie.

»Ach so.« Seine blauen Augen durchbohrten sie, und Lena wäre am liebsten im Boden versunken. Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Steht dir irgendwie, dieser Landmädellook.«

»Ehrlich?«, rutschte es ihr heraus, und sie befürchtete im nächsten Augenblick, sie könnte Timo genauso auffällig verliebt anstarren, wie die beiden jungen Mädchen eben erst Ragnar angeschmachtet hatten.

»Dann lass uns mal weitermachen.« Schon wuchtete er den nächsten Heuballen auf den Ladewagen. »Vielleicht gehst du besser nach oben, und ich werfe die Ballen hinauf. Das ist nicht so schwer für dich.«

»Ja, okay«, freute sich Lena.

Sie beobachtete Timo, dessen Muskeln vor Anstrengung unter seinem T-Shirt hervortraten. Er entsprach tatsächlich in jeglicher Beziehung ihrer Vorstellung von einem Traummann. Groß, muskulös, ohne dass es übertrieben wirkte, höflich und humorvoll.

Völlig anders als Ragnar, dachte sie, und ihr Blick wanderte zu ihm. Er war deutlich schmaler gebaut, warf das Heu jedoch mit ähnlich spielerischer Leichtigkeit auf den Wagen wie Timo. Die dunklen Haare klebten ihm an der Stirn, und seine Miene war viel unnahbarer als Timos freundliches, offenes Gesicht. Gerade scherzte Timo mit seinem Vater, sodass sich an seinem rechten Mundwinkel ein kleines Grübchen bildete. Eine Strähne hatte sich aus seinen nach hinten gebundenen Haaren gelöst und fiel ihm verwegen in die Stirn. Seufzend lehnte sich Lena gegen die hölzerne Wand des Ladewagens. Mit Timo könnte sie sicher viel Spaß haben und …

»Hey, schläfst du?«, unterbrach Ragnar unsanft ihre Träumereien, indem er ihr einen Heuballen direkt auf die Füße warf.

»Kannst du nicht aufpassen?«, fuhr sie ihn an.

»Ich schon, du aber offensichtlich nicht.«

Wütend wuchtete Lena das Heu auf den bereits beträchtlich angewachsenen Stapel im hinteren Teil des Anhängers.

Bis zum Nachmittag schufteten sie auf der Wiese, luden den Wagen zweimal auf und in der Scheune am Reitstall wieder ab. Anschließend saßen sie alle erschöpft auf dem Wagen. Lena spürte ihre Arme kaum noch, und sie hatte das Gefühl, auf der Stelle einschlafen zu können.

»Na, möchtest du noch reiten?«, erkundigte sich Ragnar.

»Nee, bloß nicht.«

»Die Jugend von heute hält nichts mehr aus«, sagte Herr Gruber mit einem Zwinkern. »Wisst ihr was, ich finde, ihr habt euch eine Belohnung verdient. Ich werfe den Grill an, dann machen wir’s uns am Lagerfeuer gemütlich.«

Die beiden Mädchen nickten begeistert, und auch Timo und dessen Vater nahmen die Einladung gerne an. Lena hingegen zupfte an ihren Kleidern herum. »Ich hätte ja Lust, aber wenn ich jetzt mit dem Fahrrad nach Hause fahre, mich dusche und dann wieder herkomme, bin ich ja völlig platt.«

»Du kannst bei mir duschen«, bot Ragnar an.

Lena warf einen verschämten Blick zu Timo, aber der hatte offensichtlich nichts mitbekommen und unterhielt sich angeregt mit seinem Vater.

»Nee, ich habe doch keine anderen Kleider dabei«, wandte sie ein.

»Ich könnte dir gern ein zweites Mal aushelfen.«

Wenn Lena schon mal die Gelegenheit hatte, einen Abend mit Timo zu verbringen, wollte sie auf keinen Fall wie eine Vogelscheuche aussehen, und Ragnars Sachen passten ihr nicht. Aber plötzlich kam ihr eine Idee.

»Danke, aber das ist nicht nötig. Ich gehe zu meiner Freundin Katrin, die kann mir sicher was leihen.« Früher war Katrin deutlich schlanker gewesen, und sicher fand sich noch eine passende Jeans und ein ansehnliches T-Shirt in ihrem Kleiderschrank.

»Wie du meinst«, entgegnete Ragnar gleichgültig, dann schlenderte er zu seiner Hütte.

»Katrin, die war doch früher auch ab und zu mal hier«, erinnerte sich Herr Gruber, der offenbar zugehört hatte. »Bring sie doch mit, falls sie Lust hat.«

»Ja, klar.«

Lena erhob sich ächzend, dann ging sie zum anderen Ende vom Dorf und klingelte an Katrins Haus.

Doch statt ihrer Freundin öffnete der General. Seine Augen musterten sie prüfend.

»Guten Abend, Herr Krause. Ist Katrin da?«

»Nein, sie befindet sich beim Einkaufen«, entgegnete er zackig, strich sein Hemd glatt und meinte dann kopfschüttelnd: »Eigentlich sollte sie bereits um siebzehnhundert zurück sein.«

Wegen seiner seltsamen Ausdrucksweise musste Lena kichern, versuchte das jedoch mit einem Räuspern zu überspielen. »Ähm, okay, dann warte ich draußen.« Sie hätte es nicht gewagt, den General zu bitten, in Katrins Wohnung duschen zu dürfen.

Doch der alte Mann hob bereits seine grauen Augenbrauen. »Siehst aus wie nach einem Manöver!«

»Wir haben Heu aufgeladen«, erklärte sie.

»Bravo! Junge Leute sollen tüchtig arbeiten, das hält Geist und Seele beisammen«, freute er sich. »Du solltest jedoch …«

Bevor er weitersprechen konnte, kam Katrin mit einem großen Einkaufskorb um die Ecke.

»Hi Lena, was machst du denn hier?«, fragte sie.

»Ich war im Reitstall und habe bei der Heuernte geholfen«, erklärte sie. »Nachher steigt noch ’ne Grillparty, und da wollte ich dich fragen, ob ich bei dir duschen und mir Kleider von dir ausleihen darf.«

»Weshalb hast du das denn nicht gleich gesagt?«, polterte der General los. »Eine eiskalte Dusche nach harter Arbeit – das hält gesund.«

Katrin verdrehte die Augen, dann schob sie Lena vor sich her den Gang entlang. »Natürlich kannst du mein Bad benutzen. Komm mit.«

Leise lachend stiegen die Mädchen in den zweiten Stock, wo Katrin wohnte.

»Herr Gruber hat gesagt, du kannst auch mitkommen«, erzählte Lena, nachdem sie eine ausgiebige Dusche genossen hatte – wenn auch keine eiskalte. »Oder hast du etwas anderes vor?«

»Nein, eigentlich nicht.« Katrin überlegte kurz und nickte anschließend. »Okay, warum nicht.«

»Timo ist auch da.« Lena wedelte mit einem Kajalstift herum. »Darf ich deine Schminksachen benutzen?«

»Sicher.«

Während Lena sich zurechtmachte, berichtete sie Katrin von ihrem Nachmittag. Ihre Freundin hatte inzwischen einige ihrer alten Kleider herausgesucht und auf dem Bett ausgebreitet.

»Du bist aber in letzter Zeit ganz schön oft mit diesem Ragnar unterwegs«, stellte sie fest.

»Ragnar?« Prüfend hielt Lena ein dunkelrotes Top mit V-Ausschnitt hoch und streifte es dann über. »Ja, kann schon sein.« Sie drehte sich vor dem Spiegelschrank hin und her. »Meinst du, das könnte Timo gefallen?«

»Keine Ahnung, ich kenne Timo nicht so gut.« Katrin zog ein weites Shirt mit bunter Schrift an und band sich einen Pulli um die Hüften. »Bist du fertig?«

»Denkst du, ich kann so gehen?« Lena zupfte an dem zu langen und für ihren Geschmack zu weiten Top herum.

»Klar, jetzt komm schon. Für einen Abend am Lagerfeuer musst du nicht unbedingt wie ein Topmodel aussehen.«

»Wer weiß, vielleicht kann ich ja heute bei Timo landen.« Lena stolzierte hinaus.

»Willst du keinen Pullover mitnehmen?«, erkundigte sich Katrin.

»Nee, ist doch noch total warm.«

»Wie du meinst.«

Die beiden Mädchen polterten die Treppe hinab und liefen natürlich noch einmal Katrins Großvater in die Arme.

»Na, wo soll’s denn hingehen?«

»Zu einer Grillfeier«, erklärte Katrin.

»Ich gehe davon aus, ihr verhaltet euch anständig und trinkt keinen Alkohol!« Streng blickte der General über den Rand seiner Brille.

»Jaaa, Opa«, stöhnte Katrin.

»Sprich anständig mit mir«, rügte der prompt.

»Jawoll, Herr Oberleutnant!«, konnte sich Lena nicht verkneifen. Sie salutierte und machte dann schleunigst, dass sie aus dem Haus kam.

Kurz darauf kam Katrin kichernd hinterhergerannt. »Sein Gesicht hättest du sehen sollen!«

»Besser nicht, und jetzt komm.«

Am Reitstall herrschte inzwischen reger Betrieb. Hinter dem Reitplatz war ein Lagerfeuer aufgeschichtet, und Herr Gruber stand am Grill. Ragnar war nirgends zu sehen, aber Timo saß auf der Holzbank und ließ sich ein saftiges Steak schmecken. Lena nutzte die Gunst der Stunde und nahm neben ihm Platz.

»Hallo ihr beiden«, begrüßte er Lena und Katrin. »Wir haben schon mal angefangen. Geht ruhig zum Grill, es ist sicher gleich etwas fertig.«

»Katrin, bringst du mir was mit?«, bat Lena, denn sie wollte ihren Platz neben Timo nicht aufgeben.

»Von mir aus«, grummelte ihre Freundin.

»Wann musst du wieder arbeiten?«, erkundigte sich Lena, um das Gespräch in Gang zu bringen.

»Ich habe noch drei Tage vor mir, dann darf ich mich auf zwei Wochen Urlaub freuen«, strahlte er.

»Fährst du weg?«

»Nein, ich muss meinem Vater auf dem Hof helfen.«

»Ach so.« Lena fuhr sich durch die Haare, dann nahm sie all ihren Mut zusammen. »Wir könnten ja mal was zusammen unternehmen. Ins Kino gehen oder so.«

Timo musterte sie kurz und fragte dann: »Hätte da dein Freund nichts dagegen?«

»Was für ein Freund denn?«

»Na, der Pferdepfleger.«

»Ragnar?«, rief sie entsetzt. »Der ist doch nicht mein Freund!«

»Nicht?« Timo wirkte erstaunt. »Aber die beiden Mädels haben sich doch vorhin beklagt, dass er jetzt mit dir zusammen ist.«

»So ein Vollidiot!«, knurrte Lena, dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Nein, das war ein Missverständnis. Er wollte die beiden Hühner nur loswerden.«

Das brachte Timo zum Lachen. »Nicht dumm, der Junge.« Er sah Lena nachdenklich an. »Weißt du, bei mir ist das alles auch nicht so einfach …«

»Hey, ich will dich nicht abschleppen oder so«, versicherte sie ihm eilig und spürte, wie sie errötete. »Ich hab nur gedacht, du hättest vielleicht Lust.«

»Ich finde dich auch wirklich nett«, begann Timo, aber sie wurden unterbrochen, denn nun trafen Lisa und Sabine, die beiden Mädchen, ein und setzten sich mit kritischen Blicken auf Lena ihnen gegenüber. Auch Katrin kam zurück, zwei Teller voll mit Steaks, Kartoffelsalat und zwei Scheiben Brot. Lena fluchte lautlos, denn möglicherweise hätte Timo jetzt endlich enthüllt, ob er schon eine Freundin hatte oder nicht.

Trotzdem wurde der Abend recht lustig. Einige Pferdebesitzer gesellten sich zu ihnen, einer spendierte einen Kasten Bier, ein anderer holte Kaffee und Kuchen von zuhause. Als es schon beinahe dunkel war, tauchte Ragnar endlich auf.

»Wo warst du denn so lange?«, erkundigte sich Lena.

»Ich musste noch ein Pferd reiten, das hatte ich versprochen.«

»Puh, ich wäre nicht mehr in den Sattel gekommen.« Dann räusperte sie sich. »Kannst du bitte mal klarstellen, dass ich nicht deine Freundin bin?«

»Warum?«

»Weil du mir sonst meine Chancen vermasselst«, zischte sie.

»Der blonde Hüne, den du schon den ganzen Tag anhimmelst und für den du dich bemalt hast wie zu einem Kriegszug?«, fragte er grinsend.

»Ich bin äußerst dezent geschminkt«, motzte sie ihn an, aber er hob lediglich eine Augenbraue, was sie nur noch mehr auf die Palme brachte. »Außerdem geht es dich überhaupt nichts an, ob ich irgendjemanden anhimmle oder nicht.«

»Habe ich ja auch nicht behauptet.«

»Dann such dir gefälligst eine andere, die sich als deine Freundin ausgibt!«

»Es war aber niemand anderes da. Und da wir in letzter Zeit häufig gemeinsam unterwegs waren, erschien es mir am glaubhaftesten.«

Lena öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder und knirschte mit den Zähnen. Der Kerl macht mich wahnsinnig!

Wütend stopfte sie sich ein Stück Schokokuchen in den Mund und kaute grimmig darauf herum. Nach einer Weile bemerkte sie, wie Ragnar sie mit einem leichten Lächeln beobachtete. Dummerweise hatte sich Timo nun Herrn Gruber zugewendet und unterhielt sich mit ihm über irgendwelche Ersatzteile für Traktoren.

»Was ist?«

Er streckte seine Hand aus und strich ihr über die Wange.

»Was soll das denn jetzt?«

»Du siehst aus wie ein kleines Kind mit deinem Schokomund.«

»Gar nicht wahr, ich …« Sie wischte sich über den Mund und runzelte die Stirn, als dort tatsächlich Schokolade und Kuchenkrümel klebten. »Ups.«

»Lena, du bist ein seltsames Mädchen«, lachte Ragnar.

»In puncto seltsam hältst ja wohl du den Rekord«, grummelte sie, dann warf sie einen Blick auf die Uhr. »Shit, ich muss langsam nach Hause. Ich rufe besser mal an, sonst gibt’s wieder Zoff.« Suchend hielt sie ihr Mobiltelefon in die Höhe. »So ein Mist, kein Empfang!«

»Ich sage doch, die Dinger sind völlig überflüssig«, folgte prompt Ragnars Kommentar.

Lena verdrehte lediglich die Augen, dann stand sie auf, um nach einem Ort zu suchen, wo sie telefonieren konnte. »Katrin, kannst du mich nach Hause fahren, falls es später wird?«

»Dann kann ich ja nichts trinken«, nörgelte Katrin. Vor ihr stand ein volles Glas Bier.

»Ach, komm schon«, bat Lena, aber ihre Freundin wirkte wenig begeistert.

»Ich fahre dich«, bot Timo überraschend an, was Lena zum Strahlen brachte.

»Cool!« Sie rannte den Hügel hinauf, und prompt erschienen drei Balken auf ihrem Display. »Geht doch.«

Zum Glück war ihre Mutter heute gut gelaunt und machte keinen Stress, als sie hörte, dass sie lediglich auf einer Grillfeier und zudem Katrin mit von der Partie war – die hielt sie offenbar für harmlos.

Freudig ging Lena zurück, setzte sich neben Timo ans Lagerfeuer und begann, ein bisschen mit ihm zu flirten. Bedauerlicherweise ging er kaum darauf ein, aber Lena schob es auf die Tatsache, dass zu viele Leute da waren. Die Nacht war sternenklar, und das Feuer loderte auf, wenn jemand neues Holz in die Flammen warf. Der Vollmond ging gerade über dem Wald auf und beleuchtete die nähere Umgebung mit sanftem Licht.

Kurz vor Mitternacht brachen die Ersten auf, und auch Lena erhob sich. »Kannst du mich nach Hause fahren, Timo?«

Dieser nickte und stand sofort auf. »Gut, lass uns gehen.«

»Tschüs!« Lena winkte in die Runde, dann folgte sie Timo zu seinem Auto.

»War doch heute ein schöner Abend«, meinte sie.

»Ja, das stimmt.« Er hielt seinen Blick gesenkt und sprach auch kaum ein Wort, als sie nach Hause fuhren.

Vor Lenas Haus hielt er an, atmete einmal tief ein und begann: »Lena, du bist ein nettes Mädchen, und unter anderen Umständen …«

»Du hast eine Freundin«, unterbrach sie ihn resigniert.

»Nein, das ist es nicht.«

»Was ist dann das Problem?«, wollte sie ungeduldig wissen. »Ich will dich ja nicht gleich heiraten. Ich dachte nur, wir könnten vielleicht ein bisschen Zeit zusammen verbringen, um zu sehen, was daraus wird.«

Timo fuhr sich durch seine schulterlangen Haare. »Wie gesagt, ich mag dich, und ich hätte durchaus Lust, hin und wieder etwas mit dir zu unternehmen. Nur mehr würde nie daraus werden.«

»Okay?« Lena sah ihn fragend an, und obwohl ihr das Ganze mittlerweile entsetzlich peinlich war, wollte sie nun wissen, was Sache war.

»Ich bin schwul«, brach es schließlich aus Timo hervor.

Für einen Moment starrte Lena ihn nur an, unfähig einen Ton herauszubringen. »Schwul?«, wiederholte sie schließlich mit dünner Stimme.

»Ja, ich hoffe, du tratscht es nicht gleich herum«, meinte er mit einem vorsichtigen Lächeln. »Robert und ich sind nämlich ein Paar, aber seine Eltern wissen noch nicht, dass er homosexuell ist. Daher halten wir das vorerst geheim.«

In Lenas Kopf drehte sich alles, und sie konnte ihre Gedanken kaum ordnen. »Robert, der Typ vom Fahrdienst?«

»Ja, genau. Meine Eltern wissen Bescheid. Zwar sind auch sie nicht begeistert, aber zumindest akzeptieren sie es.«

»Du siehst gar nicht … schwul aus«, stieß sie mühsam hervor.

»Und wie denkst du, sollte ich deiner Meinung nach aussehen?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Mit engen Lackhosen und Netzhemd?«

»Nein, natürlich nicht.« Lena spürte, wie sie errötete, nur brach für sie in diesem Augenblick ein Teil ihrer Welt zusammen. Wie hatte sie sich nur derart verrennen können?

»Ich hoffe, du magst mich immer noch.« Timo sah sie unsicher an. »Aber mehr als eine Freundschaft kann ich dir leider nicht bieten.«

»Ja … natürlich … ist schon in Ordnung.« Völlig verdattert stieg Lena aus. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie soeben gehört hatte, und stolperte auf das alte Fachwerkhaus ihrer Oma zu.

»Hattest du einen schönen Abend?«, erkundigte sich ihr Vater freundlich. Wie es aussah, war er auf dem Weg ins Bett, denn er trug seinen karierten Pyjama.

»Ja, ganz toll!« Lena verschwand in ihrem Zimmer und knallte die Tür zu. Dann warf sie sich aufs Bett und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Warum nur verliebte sie sich immer in den Falschen? Eine ganze Weile ließ sie ihrer Enttäuschung freien Lauf, dann richtete sie sich im Bett auf und schlug ein paarmal mit der Faust auf ihr Kopfkissen. Timo konnte nichts für seine Veranlagung, das war schon klar, aber sie war wirklich in ihn verliebt gewesen und hatte sich ernsthaft Hoffnungen gemacht. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es bereits kurz nach eins war, aber sie konnte einfach nicht einschlafen. Außerdem empfand sie die Luft in ihrem Zimmer als unerträglich stickig. Kurz entschlossen schnappte sie sich den nächstbesten Pullover und kletterte aus dem Fenster. Der Mond beleuchtete den Garten beinahe taghell, und Lena schlenderte ziellos umher. Doch auch hier war es ihr auf einmal zu eng, und so ging sie hinaus auf die Straße und schlug unwillkürlich den Weg zum Wald ein. Am Waldrand wehte eine leichte Brise, die ihre Wangen angenehm kühlte. Langsam spazierte sie den Feldweg entlang und dachte über ihr Leben nach. Im Augenblick erschien es ihr völlig verkorkst, und sie hatte das Gefühl, absolut alles würde schiefgehen. Dabei bemerkte sie gar nicht, wie weit sie schon gelaufen war, und fand sich mit einem Mal mitten im Wald wieder. Sie zögerte, denn so ganz allein traute sie sich doch nicht weiter. Plötzlich knackte es hinter ihr im Gebüsch. Nicht laut, aber irgendwie bedrohlich. Lena blieb stocksteif stehen, riss die Augen auf und versuchte, etwas zu erkennen. Das Herz pochte ihr bis zum Hals. Nur ein Reh, redete sie sich ein und wich langsam Schritt für Schritt zurück. Lena nahm ein Huschen zwischen den Baumstämmen wahr, vielleicht ein Fuchs – aber er war größer als die meisten Füchse, die sie bisher gesehen hatte. Und unvermittelt überkam sie das unwiederbringliche Gefühl, dass das Tier sie direkt anstarrte. Obwohl sie seine Augen nicht sehen konnte, spürte sie Kälte und Bosheit, jenseits von allem, was sie jemals gespürt hatte. Sie bohrten sich direkt in ihr Innerstes, intensiver, als es bei einem Tier eigentlich der Fall sein sollte. Nun hoben sich auch noch seine Lefzen, und er kam auf sie zu.

Verdammt, am Ende hat der Tollwut, schoss es Lena durch den Kopf.

Hastig wandte sie sich um, wollte möglichst schnell das Weite suchen.

Lena schrie auf. Sie war gegen ein riesiges, weißes Ungetüm geprallt und wäre um ein Haar gestürzt.

»Ruhig, Comet!«, hörte sie völlig unverhofft Ragnars Stimme, und der Schimmelwallach, der soeben hatte steigen wollen, landete wieder mit allen vier Beinen auf der Erde, obwohl er nach wie vor nervös schnaubte.

»Sag mal, reitest du immer mitten in der Nacht in der Gegend herum und erschreckst andere Leute zu Tode«, fuhr sie Ragnar an.

»Läufst du immer nachts allein im Wald herum und scheuchst arme Pferde auf?«, konterte er. Kurz zuckte sein Kopf nach links – in die Richtung, wo Lena den Fuchs gesehen hatte, aber dann wandte er sich ihr zu.

»Ich … nein … verflucht …« Schon wieder brannten Tränen in ihren Augen, aber Gott sei Dank war es ja dunkel.

Doch Ragnar sprang aus dem Sattel und fasste sie an den Schultern. »Was ist denn mit dir?«

»Nichts«, schluchzte sie.

»Wenn Mädchen nichts sagen, ist es meistens ziemlich schlimm.«

»Hast du überhaupt eine Freundin?«

»Nein.«

Lena lachte bitter auf. »Wahrscheinlich erzählst du mir jetzt auch, dass du schwul bist.«

»Wie kommst du denn darauf?«, erwiderte Ragnar verwirrt.

»Ach, ist doch auch egal. Ich geh jetzt nach Hause.«

»Lena.« Ragnar hielt sie fest. »Manchmal ist es besser, nicht allein zu sein.« Noch einmal drehte er sich zu dem Gebüsch um.

»Irgendetwas hat Comet erschreckt, aber jetzt ist er wieder ruhig.« Tatsächlich hatte der Schimmelwallach den Kopf gesenkt und schnupperte am Boden herum. »Ein Galopp im Mondlicht lässt alle Sorgen verfliegen.«

Zunächst wollte Lena widersprechen, nickte jedoch zu ihrer eigenen Überraschung und ließ sich von Ragnar aufs Pferd helfen. Sie setzte sich hinter den Sattel, und er kletterte vor ihr hinauf. Dann schlang sie ihre Arme um ihn.

»Ragnar, hast du den Fuchs gesehen?«, wollte sie mit leiser Stimme wissen.

»Einen Fuchs? Nein.«

Ragnar lenkte den Schimmel den Weg entlang, bog dann nach rechts ab, und als sie eine frischgemähte Wiese erreichten, ließ er das Pferd langsam angaloppieren.

Lena umfasste ihn fester, drückte ihr Gesicht an seinen Pullover und genoss das gleichmäßige Auf und Ab auf dem Pferderücken. Noch einmal quollen ein paar Tränen aus ihren Augenwinkeln, doch letztlich ließ sie sich von dieser besonderen Stimmung überwältigen. Der Mond beleuchtete die Wiese, es roch nach frischgeschnittenem Gras und Laub. Eine Herde aufgeschreckter Rehe am Waldesrand hob die Köpfe, floh jedoch nicht vor ihnen, und als Ragnar am Ende der Wiese das Pferd in einen gemächlichen Schritt fallen ließ, atmete Lena befreit auf.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Nein.« Lena lehnte sich wieder an ihn, und er fragte nicht weiter nach.

Sie tauchten zwischen den Bäumen ein, und unerwarteterweise gefiel Lena die tröstende Dunkelheit, die alles verhüllte. Eine ganze Weile ritten sie durch den Wald, bis Ragnar auf einer Lichtung anhielt und absprang. Er bot ihr eine Hand an, damit auch sie abstieg. Comet ließ er am Zügel grasen.

Ragnar setzte sich auf einen flachen Felsen, und Lena sah, wie er sie beobachtete, als sie den Schimmel am Hals streichelte.

»Manchmal ist das Leben einfach zum Kotzen«, sagte sie irgendwann bitter.

Er klopfte mit der flachen Hand auf den Felsen, woraufhin sie sich neben ihn setzte und den Kopf in die Hände stützte.

»Manchmal ist es wirklich zum Kotzen«, stimmte er zu.

»Ich bin echt die volle Niete, was Männer betrifft.«

»Also falls ich dir die Sache mit Timo vermiest habe – ich kann es richtigstellen, dass wir kein Paar sind.«

»Das würde nichts nützen.«

»Ich denke schon, denn …«

»Ragnar, er steht auf Männer.«

»Ach! Deshalb dein seltsamer Kommentar von vorhin.« Lena war felsenfest überzeugt, ein spöttischer Nachsatz würde folgen, aber dieser blieb aus. »Das ist natürlich bitter für dich. Aber im Endeffekt musst du das akzeptieren.«

»Ja, und das ist mir auch klar. Trotzdem ist es frustrierend.«

»Vermutlich wäre es einfacher für dich, er hätte eine Freundin und du könntest sauer auf sie oder Timo sein.«

»Du sprichst mir aus der Seele!«, stöhnte sie.

Tröstend legte Ragnar einen Arm um sie. »Du wirst darüber hinwegkommen. Ich finde Timo recht nett, vielleicht könnt ihr wenigstens Freunde bleiben.«

»Ja, kann sein«, murmelte Lena, und auch wenn sie noch immer das Gefühl hatte, das Leben würde sie schlicht und einfach verarschen, war es im Augenblick beruhigend und angenehm, hier mit Ragnar im Mondschein zu sitzen.

»Hattest du jetzt eine Freundin in Island oder nicht?«

Für einen Moment versteifte er sich, dann nickte er. »Ja, aber sie war nicht die Richtige.«

»Weshalb nicht?«

»Im entscheidenden Augenblick hat sie nicht zu mir gehalten und mir nicht vertraut.«

»War es wegen dieser Geistersache?«

»Nein, es war etwas anderes. Ich möchte nicht darüber sprechen.«

»Okay, kann ich verstehen.« Sie drückte seine Hand, sah zu ihm hinüber und meinte dann: »Dann sind wir eben beide absolute Pfeifen in Beziehungsangelegenheiten.«

»Pfeifen?«

»Wir bringen nichts zu Stande, sind die absoluten Loser, was eine Partnerschaft betrifft!«

»Richtig – Lena und Ragnar, die Beziehungsloser.« Er breitete die Arme aus und ließ sich nach hinten auf den Stein sinken, woraufhin Lena leise auflachte.

»Immerhin habe ich dich zum Lachen gebracht«, bemerkte er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

»Ja, danke.« Sie stand auf. »Auch wenn du manchmal ein Ekel bist, wenn’s drauf ankommt, bist du doch ein guter Freund.«

»Vielen Dank. Sollen wir zurückreiten?«

»Ja, ich glaube, jetzt kann ich schlafen.«

Auf dem Rückweg nickte Lena mehrere Male beinahe ein. Der gleichmäßige Schritt des Pferdes und Ragnars warmer Rücken, an den sie ihren Kopf gelehnt hatte, ließen sie schläfrig werden.

»Wir sind da«, erklang plötzlich Ragnars leise Stimme.

Lena blinzelte zum Haus ihrer Großmutter. »Danke, Ragnar.« Sie ließ sich vom Rücken des Pferdes rutschen. »Ach ja, sei so gut und behalte das mit Timo für dich. Ich habe ihm versprochen, es nicht weiterzutratschen, nur … ich war so frustriert, da musste ich es einfach jemandem erzählen.«

»Ich werde schweigen, du hast mein Wort. Schlaf gut und mach dir nicht zu viele Gedanken.«

»Können wir das nochmal wiederholen?«, fragte sie, wobei sie zu ihm aufsah.

»Was denn?«

»In der Nacht ausreiten – das war sehr schön.«

Kurz blitzten Ragnars weiße Zähne auf. »Natürlich. Die Nacht ist meine liebste Tageszeit.«

Nachdem Lena noch einmal herzhaft gegähnt hatte, nickte sie und öffnete das Gartentor. Sie schlich zu ihrem Fenster und wollte sich gerade hineinschwingen, als sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel bemerkte. Irgendwo hinter den Brombeersträuchern bewegte sich etwas, raschelte leise. Zunächst dachte Lena, es handelte sich um ein Tier, aber dann hörte sie ein leises Knacken, sah einen Schatten vorbeihuschen. Ein Schauder lief ihren Rücken hinab, und sie verharrte reglos einige Herzschläge lang.

Doch weil sich nichts mehr rührte, kletterte Lena schließlich ins Innere und legte sich in ihr Bett.

»Das Mädchen, stellt es eine Gefahr dar?« Im Morgengrauen war Everon mit seinen Brüdern zurückgekehrt. Die beiden wiesen deutlich festere Konturen auf, einer hatte sogar bereits die Gestalt eines hochgewachsenen, blonden Mannes angenommen und verschwamm nur noch ganz selten.

»Diese Gegend, sie ist nicht gut für uns«, verkündete er mit tiefer Stimme. »Ist es das Mädchen?«

»Nein, sie ist noch jung für die ihrer Art«, zischte Luvett. »Ich denke, sie weiß gar nicht, wer wir sind.«

»Trotzdem können wir nicht lange hierbleiben. Die Kraftlinien sind stark«, der Blonde schauderte. »Ich spüre, wie sie mich schwächen.«

»Wir werden uns abwechseln und auf den geeigneten Zeitpunkt warten.« Everon wandte sich an den zweiten seiner neu eingetroffenen Brüder, dessen menschliche Gestalt verschwamm.

Wirre Albträume hatten Lena geplagt, und als am Morgen der Wecker klingelte, wusste sie nicht, was real oder ihrer Fantasie entsprungen war. Doch leider dämmerte ihr, dass Timos Outing wohl kein Albtraum war. Todmüde blieb sie noch ein paar Minuten liegen und starrte an die Decke.

Ein Klopfen an der Tür und die aufgeregte Stimme ihrer Mutter rissen sie aus ihren Grübeleien. »Lena, steh auf, sonst kommst du wieder zu spät.«

»Ja, gleich.« Also quälte sie sich aus dem Bett, schlurfte ins Badezimmer, wo eine Dusche den Großteil ihrer Lebensgeister zurückbrachte. Dennoch rührte sie nur wenige Minuten später am Frühstückstisch reichlich verschlafen in ihrer Kaffeetasse herum.

Lenas Vater war bereits fort. Ihre Mutter wuselte noch in der Küche herum und suchte ihr Mobiltelefon. Nachdem sie es endlich gefunden hatte, stürmte auch sie aus dem Raum.

»Ich hab heute keine Lust«, jammerte Lena.

»Wer spät nach Hause kommt, kann auch früh arbeiten«, erfolgte der mitleidlose Kommentar von Oma Gisela.

»War doch gar nicht so spät«, behauptete Lena.

Kritisch runzelte Oma Gisela die Stirn, dann zuckte ihr rechter Mundwinkel. »Du solltest auf das knarrende Tor achten, wenn du dich hereinschleichst.«

»Was … ich …« Lena riss die Augen auf, dann schwante ihr, dass ihre Oma sie ertappt hatte. »Warst du das letzte Nacht im Garten?«

»Lena, Schatz, wie du weißt, muss man manche Kräuter im Mondschein ernten. Und im Gegensatz zu deinen Eltern habe ich Verständnis für die Bedürfnisse junger Leute. Nur solltest du deine nächtlichen Ausflüge auf Tage verlegen, an denen du nicht früh rausmusst.«

Ein verschämtes Grinsen überzog Lenas Gesicht. »Du hast ja Recht, nur letzte Nacht war es echt nötig. Ich sag dir’s, ich war völlig durch den Wind.«

»Gut, dann verstehen wir uns ja. Ich verrate nichts, aber, Lena, mach keinen Blödsinn.«

»Nein, bestimmt nicht.« Sie stand auf und drückte ihrer Oma einen Kuss auf die Wange. »Dann gehe ich jetzt mal«, seufzte sie.

»Ich fahre dich«, bot Oma Gisela an, und selbstverständlich ließ sich Lena nicht zweimal bitten.

Auch wenn sich der Tag wie ein geschmackloser Kaugummi dahinzog, führte sie ihre Arbeit gewissenhaft aus.

Am Nachmittag begann Timos Schicht. Voller Unsicherheit sah er sie an, aber Lena zwinkerte ihm aufmunternd zu und nahm ihn in einem unbeobachteten Augenblick zur Seite.

»Timo, ich bin froh, dass du dich mir anvertraut hast.«

»Wirklich?« Er atmete erleichtert aus. »Dann bleiben wir Freunde?«

»Klar – ich muss mir nur einen neuen Schwarm suchen.«

»Du findest sicher noch den Richtigen.« Timo umarmte sie freudig, und Lena entfuhr ein erstickter Laut, als in diesem Augenblick Maike um die Ecke kam und vor Schreck einen Stapel Handtücher fallen ließ. Der jungen Altenpflegerin drohten die Augen aus den Höhlen zu quellen, während sie sich bückte.

Sofort ließ Timo Lena los. »Warte, Maike, ich helfe dir.« Diese war offenbar nicht fähig, ein Wort herauszubringen, sie starrte Lena lediglich an und nickte Timo zu, als dieser sich mit einer gemurmelten Entschuldigung verabschiedete.

»Ist … bist …« Maike schluckte schwer und wirkte richtiggehend entsetzt.

»Maike, es ist anders, als du denkst.« In diesem Moment wurde Lena klar, dass sie akzeptiert hatte, dass aus ihr und Timo nichts werden konnte. »Ich habe nichts mit ihm, aber mach dir trotzdem keine Hoffnungen. Er ist vergeben.«

»Ach wirklich?« Enttäuscht ließ Maike die Schultern hängen. »Wer ist es denn? Kennen wir sie?«

»Nein.« Lächelnd schüttelte Lena den Kopf.

»So ein Mist«, ärgerte sich Maike. »Meinst du, es ist etwas Ernstes?«

»Auf jeden Fall, also schlag ihn dir besser aus dem Kopf.«

Sichtlich betrübt schlich Maike davon und zog den ganzen restlichen Tag über ein langes Gesicht.

Nachdem das Kapitel Timo für Lena endgültig abgeschlossen war, stürzte sie sich wieder voll in ihre Unternehmungen mit Ragnar. Sie besuchten den Druidenhain, eine mystische Stätte mitten im Wald, von der man annahm, hier hätten keltische Druiden ihre Ausbildung absolviert, doch es zeigte sich kein Geist, den Ragnar hätte fragen können.

Lena überlegte schon, ob sie nicht zum Glauberg fahren sollten, doch dessen Plateau ragte mehrere hundert Kilometer entfernt aus grüner Landschaft. Da weder sie noch Ragnar Geld für den Sprit und möglicherweise auch noch eine Übernachtung hatten und der Gedanke, auf einem von Geistern besiedelten Berg ein Zelt aufzuschlagen, für Lena wenig verlockend war, verschoben sie ihren Ausflug auf später. Auch heute schlich sich Lena nachts aus dem Haus, um mit Ragnar auszureiten. Sie hatte Sahib schon ein paarmal auf dem Reitplatz oder im Gelände geritten und zu ihrer Erleichterung festgestellt, dass er ein zuverlässiges Reitpferd war. Auch wenn er ihr noch nicht so sehr ans Herz gewachsen war wie Devera.

Das Sternenlicht spendete nur wenig Licht, und selbst wenn sie sich inzwischen auf Sahibs Rücken sicher fühlte, so war es doch etwas anderes, ihm hier in der Dunkelheit zu vertrauen. Während der ersten Meter war Lena ausgesprochen angespannt, umklammerte seine Zügel. Was, wenn plötzlich ein Reh aus dem Wald herausbrach, ein Hase vor Sahibs Hufen aufsprang? Würde er dann mit ihr durchgehen?

»Lena, vertrau ihm. Ich habe ihn schon häufig bei Nacht geritten. Wenn ihr euch aufeinander verlasst, wird nichts passieren.«

Ragnar konnte ihr angespanntes Gesicht in der Dunkelheit ja wohl kaum gesehen haben, aber vielleicht hatte er erraten, wie sie sich fühlte. »Ja, ich versuche es«, versprach sie mit dünner Stimme.

»Ich reite mit Comet voraus.«

»Na, der ist doch meistens viel nervöser als Sahib«, wandte sie ein, versuchte, den dunklen Wald mit den Augen zu durchdringen, was ihr aber kaum gelang. Nur hier und da konnte sie die Konturen von Bäumen und Büschen schemenhaft erahnen – eine beängstigende Erfahrung.

»Du wirst lachen.« Lena sah, wie Ragnar sich zu ihr umdrehte. »Nachts ist er sehr viel ruhiger, verlässt sich auf mich und vertraut mir. Bei Tage fordert er mich ständig heraus, aber wenn wir im Dunkeln reiten, sind wir aufeinander angewiesen.« Sie hörte, wie er das Pferd am Hals klopfte.

Nachdem sie eine Weile durch den Wald geritten waren, bog Ragnar auf eine Wiese ab, und Lena entspannte sich. Hier konnte sie einige Meter weit sehen, denn der Himmel zeigte sich heute wolkenlos.

»Besser?« Ragnar hatte Comet zurückgehalten und ritt nun an ihrer Seite.

»Ja.« Sie lächelte zaghaft.

»Versuch, die Stille und die Verbindung zwischen dir und deinem Pferd zu genießen.«

Das war einfacher gesagt als getan. Aber hier auf freiem Feld fühlte sie sich tatsächlich wohler. Leise raschelte das Gras unter den Hufen, die Nacht war mild, so ruhig und friedlich, wie es Lena niemals für möglich gehalten hätte. Nach einer Weile genoss sie den Ritt sogar, empfand die Finsternis nicht mehr als Bedrohung, sondern verließ sich auf Ragnar und das Pferd, das sie trug. Die Stille und Dunkelheit umhüllten sie wie ein Mantel, gaben ihr ein in dieser Form nie da gewesenes Gefühl von Geborgenheit. Im Licht des abnehmenden Mondes und der Sterne ritten sie nebeneinander über die abgeernteten Felder und Wiesen, nur hier und da schnaubte einer der Wallache leise. Zu sprechen war nicht notwendig, denn mit Ragnar konnte man auch gut schweigen, ohne dass es peinlich wurde. Auf einmal musste sie ihrer Großmutter Recht geben, die stets behauptete, dies sei ein Zeichen wahrer Freundschaft.

Ragnar deutete auf zwei Kaninchen vor ihnen. Eines davon erhob sich auf die langen Hinterläufe und sah zu ihnen herüber, aber sie flohen nicht, sondern beobachteten sie nur aus sicherer Distanz.

»Warum bist du eigentlich damals, als ich dich das erste Mal im Altenheim gesehen habe, so ausgerastet?«, erkundigte sich Lena, nachdem sie einen Schotterweg erreicht hatten. Hier war der Hufschlag deutlicher zu vernehmen, und plötzlich fand es Lena wieder angenehm zu sprechen. Vorhin, auf den einsamen Lichtungen wäre ihr das irgendwie unpassend erschienen. Aber was es mit Ragnars seltsamem Verhalten auf sich hatte, wollte sie schon lange wissen.

Ragnar sah zu ihr herüber und zögerte kurz, bevor er antwortete.

»Ich kann Gebäude aus Beton nicht leiden«, gestand er mit leiser Stimme ein.

»Wie jetzt?«, lachte Lena. »Gebäude sind doch fast immer aus Beton.«

»Nein, es gibt andere. Manche bestehen aus Holz oder den Steinen der Umgebung. Sie haben eine Seele und leben, in ihnen kann ich wohnen.«

Verwirrt sah Lena ihn an. Eigentlich glaubte sie, sich inzwischen an seine seltsame Sicht der Dinge gewöhnt zu haben, aber ab und an überraschte er sie doch wieder.

Gedankenverloren streichelte er den Hals des Schimmels. »Meist sind es alte Häuser, die Generationen von Menschen noch mit ihren eigenen Händen erbaut haben, in denen ich mich wohlfühle. Aber gerade Gebäude wie das Altenheim bestehen aus totem Gestein – und außerdem wandeln dort viele unglückliche Geister umher. Sie haben mich wütend und traurig gemacht.«

Bei diesen Worten erschauderte Lena. Dass auch im St. Elisabeth Geister spuken könnten, darauf war sie noch gar nicht gekommen. »Deshalb wohnst du in einer Holzhütte«, überlegte sie laut.

Dies bestätigte Ragnar mit einem Nicken.

»Und bei euch in Island?«

»Wir lebten auf einem Hof, und das alte Haus meiner Großeltern ist aus Torf, Steinen und Holz errichtet. Unsere Häuser sind teilweise in die Hügel gebaut, und auf den Dächern wächst Gras.«

»Wirklich?«, staunte Lena.

Ragnar nickte. »Dort habe ich mich immer am liebsten aufgehalten.« Das Sternenlicht enthüllte kurz das traurige Lächeln auf seinem Gesicht. »Mutter hat oft mit mir geschimpft, weil sie ein neues, modernes Wohnhaus gebaut haben. Aber schon als kleines Kind habe ich immer fürchterlich geschrien, wenn ich dort war. Bei meinen Großeltern war das anders. Vater meinte schließlich, ich solle dort sein, wo ich mich wohlfühle.«

»Und wie war es in der Schule?«, wollte Lena wissen.

»Ich war niemals in einer Schule«, erklärte Ragnar zu ihrer Überraschung. »Natürlich hatte ich Unterricht, aber unser Hof lag sehr abgelegen, und bei uns in Island ist es üblich, dass die Kinder aus abgeschiedenen Gegenden Fernunterricht erhalten. Also habe ich über Telefon und Computer meine Aufgaben erledigt und einen Schulabschluss gemacht. Studieren wollte ich nie, denn dafür hätte ich nach Reykjavík gemusst.«

»Und Städte magst du ja auch nicht«, ergänzte Lena.

Ragnar legte seinen Kopf in den Nacken. »Dort leuchten die Sterne nicht so hell. Die Menschen sind hektisch und unhöflich. Ich denke, sie haben vergessen, woher wir alle stammen.«

Wie immer stieg Lena am Waldrand hinter dem Haus von Oma Gisela ab und reichte Ragnar die Zügel ihres Pferdes. Nach einer kurzen Verabschiedung huschte sie los und kletterte diesmal über das Tor, damit es nicht knarrte. Leise drückte sie das einen Spalt breit geöffnete Fenster nach innen, tastete sich zum Lichtschalter neben der Tür.

Ein erstickter Schrei entstieg Lenas Kehle. Mit säuerlicher Miene und verschränkten Armen saß ihre Mutter auf dem Bett.

»Mama – was tust du denn hier?«, presste Lena mühsam hervor.

»Wo kommst du her?«

»Ich … also …« Zig Ausreden schossen ihr durch den Kopf, aber keine erschien ihr plausibel. »Ich war ausreiten«, entschied sie sich letztendlich für die Wahrheit.

Doch das Gesicht ihrer Mutter verfinsterte sich nur noch mehr. »Verkauf mich nicht für dumm, junge Dame. Kein Mensch reitet mitten in der Nacht durch die Gegend.«

»Doch«, beharrte Lena.

»Du warst doch in einer Diskothek!«

»Nein, ehrlich nicht.« Um den Beweis zu erbringen, trat Lena zu ihrer Mutter heran und hielt ihr den Ärmel ihres Pullovers unter die Nase. »Riech mal.«

Manuela rümpfte die Nase, sah ihre Tochter skeptisch an und kratzte sich am Kopf.

»Meinst du, ich gehe in diesen Klamotten feiern, Mama?« Herausfordernd deutete Lena auf ihre schmutzige, ausgewaschene Jeans, das ausgeleierte T-Shirt und den Pullover, der in der Tat mächtig nach Sahib roch.

»Also ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat! Weshalb reitest du bitte in der Dunkelheit herum und sagst nicht Bescheid, wenn du so lange wegbleibst?«

»Nachts ausreiten ist cool – und ihr hättet sicher was dagegen gehabt.«

»In der Tat!«

»Woher wusstest du eigentlich …« Fragend hob Lena ihre Augenbrauen, und ihre Mutter antwortete bitter: »Papa kam vorhin vom Stammtisch zurück und hat zufällig gesehen, wie du im Wald verschwunden bist. Da habe ich gewartet, bis du zurückkommst.«

»Oh.«

»Mehr als das hast du wohl nicht zu sagen«, schimpfte Manuela. »Also verrate mir, wer oder was dahintersteckt?«

»Ich lüge dich nicht an. Ich war wirklich reiten.«

»Du willst mir doch nicht erzählen, dass du in der Dunkelheit mutterseelenallein herumreitest!«

»Na ja, nicht direkt allein«, räumte sie ein.

»Und wer war dabei?«

»Ragnar.«

»Aha, nun kommen wir der Sache schon näher.«

»Du kommst gar nichts näher«, protestierte Lena. »Er ist nur ein guter Freund.«

»Lena«, sagte ihre Mutter ernst, »wir haben ausgemacht, dass du in Zukunft nur mit Leuten verkehrst, die wir auch kennen.«

»Ach Mama, ich kann doch nicht jeden neuen Bekannten erst hierherschleppen, um eure Genehmigung einzuholen. Was soll er denn denken?«

Manuela erhob sich und strich ihre Kleider glatt. »Du weißt, weshalb wir das wollen. Also, ich verstehe deine seltsamen Anwandlungen nicht, aber ich glaube in der Tat kaum, dass du in stinkenden Stallklamotten in die Disko gehst. Allerdings verlange ich, dass du diesen Ragnar hierher mitbringst, wenn du weiterhin mit ihm zu tun haben möchtest.«

Unwillig verzog Lena das Gesicht. »Mama, das ist aber voll peinlich.«

»Dich wie ein Kind aus dem Fenster zu schleichen, ist ebenfalls peinlich. Also, am Freitag lädst du ihn zu uns zum Abendessen ein.« Damit verließ Lenas Mutter das Zimmer, und sie selbst sank stöhnend aufs Bett. Ihre nächtlichen Ausflüge waren nun offenbar Geschichte, und sie musste Ragnar irgendwie dazu bewegen, am Freitag zu ihr nach Hause zu kommen.