Prolog

Schwungvoll fuhr Amelia mit ihrem Pinsel über die zu großen Teilen noch weiße Leinwand, und die tiefblauen Wasser des Linnron erwachten zum Leben.

Leise rollten die Wellen an das grasbewachsene Ufer des Sees. Libellen und durchscheinende Wassergeister spielten miteinander im lauen Wind, der aus dem Süden kam. Seite an Seite ritten Amelia und Maredd am westlichen Gestade des Linnron entlang, und ihre Blicke trafen sich in regelmäßigen Abständen.

»Ganz gleich, wie du dich jenseits der Schwelle entscheidest«, brach Maredd das Schweigen, »ich werde die Tage mit dir stets in meinem Herzen bewahren.«

»Das werde ich ebenfalls, und glaube mir, ich habe mir den Entschluss zurückzugehen nicht leicht gemacht.« Amelia hatte das Gefühl, ein zentnerschwerer Stein würde auf ihrer Brust liegen, und die Angst, möglicherweise doch das Falsche zu tun, drohte sie zu ersticken.

»Du könntest zu mir zurückkehren, wenn dein Sohn das Mannesalter erreicht hat.« In Maredds dunklen Augen stand so viel Sehnsucht und Zuneigung, dass es ihr beinahe das Herz zerriss.

»Das könnte ich, nur wird dann hier eine lange Zeit vergangen sein. Wer weiß, was sich alles verändert hat.«

»Dass du immer von Zeit sprechen musst …«

Mit einem behutsamen Strich ließ Amelia Nebel über dem See aufsteigen. Sachte legte er sich über Bäume und Sträucher, den Gipfel des Berges Cerelon im Osten und auch die ersten Ausläufer der gewaltigen Bergkette des Westens.

Sanft und beinahe tröstend hüllten die Nebelschwaden die beiden Reiter ein. So vieles hatten sie sich während der letzten Tage schon gesagt, so vieles hätte es noch zu sagen gegeben. Doch Amelia spürte – sie musste zurückgehen. Ihr Blick schweifte über das Land, in dem sie die schönste Zeit ihres Lebens verbracht hatte, zu dem Mann, dem sie sich so sehr verbunden fühlte. Aber sie war verheiratet, hatte einen kleinen Sohn. Ihr Verantwortungsbewusstsein sagte ihr, dass sie das bei all den Wundern, die sie hier erlebt hatte, nicht vergessen durfte.

»Wie wäre es, wenn du das Kind mit nach Elvancor bringen würdest?«, stieß Maredd hervor.

Hoffnung keimte in Amelia auf, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Du könntest dir den Zorn deines Volkes zuziehen, außerdem ist Elvancor nicht ohne Gefahren.«

Maredds Miene verfinsterte sich. »Die Rodhakan. Ich hoffe, wir können sie eines Tages besiegen.« Plötzlich zuckte sein Kopf nach links, er starrte ins Unterholz, und auch Amelia erstarrte. Ein mulmiges, kribbeliges Gefühl machte sich in ihrem Inneren breit.

»Reite, Amelia – es sind viele!«

Vorsichtig tauchte Amelia den Pinsel in die schwarze Farbe, mischte sie mit Weiß, bis auf ihrer Malpalette ein helles Grau entstand. Mit wenigen geschickten Bewegungen aus ihrem Handgelenk erwachten verschwommene Gestalten zwischen den Bäumen zum Leben, schemenhaft, den Nebelschwaden gar nicht unähnlich.

Das Schnauben ihres Pferdes und das beständige Donnern der Pferdehufe vermischten sich mit dem Pochen ihres eigenen Herzens. Amelia und Maredd wichen den Ästen aus, die gegen ihre Gesichter peitschten, trieben ihre Pferde den Berg hinauf. Nur fort von den Wesen, die sie verfolgten. Bald öffnete sich der Wald zu einem Hochplateau. Hier hatte der Wind den Nebel fortgeblasen, hell schien die Sonne vom Firmament und ließ das Land funkeln und strahlen.

Sie stürmten vorwärts, doch die Schatten waren nahe, noch zwischen den Bäumen, aber unweigerlich auf ihrer Spur.

»Herren der Winde, des Sturmes und der Lüfte. Wir erbitten eure Hilfe!«, schrie Maredd, sah sich hektisch um und schien etwas zu suchen.

Nur einen Atemzug später erhob sich direkt vor ihnen ein mächtiger Luftwirbel. Amelia parierte den grauen Hengst eilig durch, sah ängstlich zu Maredd hinüber, aber der nickte beruhigend und brachte auch sein Pferd zum Stehen. Immer höher schraubte sich die Windhose in die Luft, wechselte von einem hellen Weiß zu dunklem Blau, nur um dann erneut heller zu werden. Schließlich verharrte der Luftwirbel auf der Stelle, und Amelia riss die Augen weit auf, als sie dunkle Augen in dem wirbelnden Weiß erkannte und sich eine runde Öffnung, ähnlich einem Mund, auftat.

»Was ist euer Begehren?«, grollte eine tiefe Stimme.

»Herr der Lüfte, die Rodhakan, sie verfolgen uns«, rief Maredd atemlos. »Wir erbitten deine Hilfe, um zu den heiligen Plätzen der Tuavinn zu gelangen.«

»Rodhakan oder Tuavinn – wir sind es nicht, die über das Fortbestehen der einen oder anderen Art entscheiden.«

»Amelia, sie möchte zurück über die Schwelle. Ich muss sie in Sicherheit bringen!«

Die Gestalt des Luftgeistes schwankte hin und her, so als würde er überlegen. Erst nach einer Weile sprach er erneut. »Die Frau, sie ist kein Wesen Elvancors und muss gehen, um eines Tages zurückzukehren. Der Pfad der Lüfte soll euch an euer Ziel bringen.«

Auch wenn Amelia Ähnliches schon häufiger erlebt hatte, so verschlug es ihr doch den Atem, als der Tornado über sie kam, sie mit seinen strudelnden Luftmassen umschloss und mitsamt den Pferden in die Höhe hob. Rasend schnell stiegen sie auf, die Welt um sie herum geriet aus den Fugen, löste sich förmlich auf. Amelia konnte nur wirbelndes Weiß erkennen.

Dann spürte sie, wie das Pferd sanft wieder auf den Boden gelassen wurde, der Luftwirbel löste sich in nichts auf, und sie fanden sich mitten im Wald wieder, umgeben von Laubbäumen und zackigen Felsen.

So erleichtert sie war, den Rodhakan entkommen zu sein, jetzt nahte endgültig der Abschied. Ebenso wie Maredd stieg sie aus dem Sattel, dann umarmte sie ihren Geliebten.

»Ich werde dich über die Schwelle begleiten, Amelia.« Seine Hand, groß und kräftig und doch so zärtlich, wie Amelia nur zu gut wusste, legte sich auf das Schmuckstück an ihrem Hals. »Es ist deine Entscheidung, das Leben in der anderen Welt zu führen, aber mein Amulett wird dich zu mir bringen, falls es unser Schicksal ist. Doch um dich zu schützen, werde ich Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen, sobald wir hinübergetreten sind …«

»Amelia, ist das Essen immer noch nicht fertig? Georg kommt gleich nach Hause!«, riss sie eine bärbeißige Stimme aus ihrem Tagtraum. Elvancor verblasste zu einer schwachen Erinnerung, dann nur noch zu einem wehmütigen Gefühl, verborgen in den Tiefen ihrer Seele.

Amelias Hand sank herab. Noch einmal betrachtete sie das Bild und wusste plötzlich nicht mehr, weshalb sie diese märchenhafte Landschaft eigentlich gemalt hatte.