Kapitel 23

Die Esperhöhle

Bitte, Katrin, kannst du nicht wenigstens hundert oder zweihundert Euro lockermachen?« Die Stimme gedämpft, lugte Lena hinter der Informationstafel im zweiten Stock des Altenheims hervor. Im Moment versuchte sie verzweifelt, Geld für Ragnar aufzutreiben, und Katrin war eine der wenigen, die dafür infrage kamen.

»Ich musste gerade eine Autoreparatur bezahlen«, erklang die wenig begeisterte Antwort ihrer Freundin.

»Ich zahl’s dir auch so bald wie möglich zurück.« In Wirklichkeit wusste Lena nicht, wie sie dieses Versprechen einlösen sollte, aber notfalls würde sie eben abends kellnern.

»Also gut. Hundertfünfzig.«

»Super!« Erleichtert schloss Lena die Augen, zuckte jedoch gehörig zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie in das biestige Gesicht von Frau Käppler blickte.

»Habe ich Ihnen nicht schon mehrfach gesagt – keine Privatgespräche während der Dienstzeit!« Die Stirn der hageren Frau lag in bedrohlichen Falten.

»Tut mir leid, war ein Notfall.«

Jetzt streckte Frau Käppler die Hand aus. »Geben Sie mir das Ding, Sie können es sich nach Dienstschluss abholen.«

»Na hören Sie mal!«, regte sich Lena auf. »Wir sind ja hier nicht in der Schule.«

»Meine liebe Lena, Sie sind hier, um Anstand und Respekt zu lernen«, folgte postwendend die Zurechtweisung. »Sozialstunden werden nicht ohne Grund durch die Gerichte aufgebrummt. Also haben Sie sich daran zu halten und …«

Um weiteren moralischen Ergüssen zu entgehen, schaltete Lena ihr Handy ab und drückte es Frau Käppler in die Hand. »Ist ja schon gut.«

Zufrieden nickte die Heimleiterin. »Dann haben wir uns ja verstanden.« Damit rauschte sie ab, und Lena blickte ihr kopfschüttelnd hinterher.

Hoffentlich versucht Ragnar nicht gerade jetzt, mich zu erreichen, dachte sie. In der Mittagspause kaufte sie mit den fünfzehn Euro, die Maike ihr geliehen hatte, einen Gutschein, um die alte Prepaidkarte ihres Vaters aufzuladen. Es waren nur noch wenige Cent Guthaben übrig gewesen – und so konnte sie mit Ragnar in Kontakt bleiben.

»Hey, Lena.« Nachdem Lena endlich Feierabend hatte, war sie auf dem Weg zu Frau Käpplers Büro, um ihr Mobiltelefon abzuholen, als Timos Stimme hinter ihr erklang. Seine Miene wirkte besorgt, als sie sich umdrehte. »Wie siehst du denn aus?«

Inzwischen hatte Lena schon gar nicht mehr an ihre Blessuren gedacht und fuhr sich nur abwesend über die Wange. »Reitunfall«, murmelte sie.

»Ups, Sport ist Mord, wie man so schön sagt«, scherzte er. »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mal wieder Lust hast, nach Feierabend mit Maike und mir was trinken zu gehen.«

»Ja, können wir gerne machen«, erwiderte sie zerstreut.

»Alles in Ordnung, Lena?« Forschend sah er ihr in die Augen.

»Hm, klar.« Für einen Moment überlegte sie, ob sie auch ihn um Geld fragen sollte, aber sie verwarf den Gedanken schnell, denn so gut kannte sie ihn ja auch wieder nicht.

»Du, ich muss jetzt echt los.« Sie eilte zu Frau Käpplers Büro und fand die Tür offen vor. Frau Käppler winkte sie herein, telefonierte jedoch zunächst in aller Ruhe mit irgendeiner Frau namens Betty und sortierte nebenbei ihre Ablage. Lena hatte das Gefühl, innerlich zu platzen, hätte der Heimleiterin am liebsten das Telefon vom Ohr gerissen, beherrschte sich jedoch mühsam.

»Ja, Betty, dann sieh zu, dass du die lästigen Hühneraugen bald loswirst«, flötete Frau Käppler in den Hörer, legte endlich auf, musterte Lena über den Brillenrand hinweg und blätterte weiterhin in ihren Unterlagen.

»Frau Käppler, ich bräuchte jetzt dringend mein Handy zurück!«

»Ihr jungen Dinger glaubt, die Welt hört auf, sich zu drehen, wenn ihr mal ein paar Stunden nicht erreichbar seid«, rügte sie.

Zu gern hätte Lena ihr jetzt eine patzige Antwort entgegengeschleudert, wusste aber nur allzu gut, dass das die ganze Sache nur in die Länge ziehen würde. Daher ballte sie hinter ihrem Rücken die Hände zu Fäusten, während die unangenehme Frau weiterhin aufreizend langsam Verträge und Rechnungen ordnete, und zwang sich, tief und gleichmäßig ein- und auszuatmen. Endlich schien Frau Käppler sie ausreichend auf die Folter gespannt zu haben, öffnete eine Schublade und drückte Lena das Handy in die Hand.

Sofort eilte sie nach draußen, tippte hektisch den Code ein und starrte dann auf das Display. Fünf Anrufe in Abwesenheit, und jedes Mal war es Ragnar gewesen. Einmal hatte er auf die Mailbox gesprochen. Sofort hörte Lena diese ab und lauschte atemlos. Er klang äußerst aufgeregt: »Lena, ich habe ein weiteres Bild meiner Großmutter gefunden, sie hatte es hinter jenem mit dem Hirsch versteckt. Dort ist eine Markierung angebracht, komm gleich zu mir, wenn du das abhörst. Ruf mich an, dann hole ich dich an der Straße nach Wohlmannsgesees ab. Von dem Jägerstand dort sind es nur noch knappe zehn Minuten durch den Wald bis zur Hütte.«

Hektisch gab Lena den Gutscheincode ein, wählte dann Ragnars Nummer, aber er nahm nicht ab. Sie entschloss sich, gleich zu ihm zu fahren, probierte es unterwegs noch einige Male, aber nie erreichte sie ihn.

»So ein Mist!«

Wenngleich es jetzt im September nicht mehr so heiß war, kam Lena doch ordentlich ins Schwitzen. Da sie befürchtete, den Weg zu Ragnars Hütte nicht zu finden, tippte sie erneut die Nummer ein – abermals ohne Erfolg.

»Verdammt, wo bist du denn?«, fluchte sie. »Oder hast du etwa keinen Empfang?« Auf ihrem Display waren lediglich zwei Balken zu sehen, und möglicherweise war es im Wald noch schlechter um das Funknetz bestellt. Suchend sah sie sich um, fuhr langsam die Straße entlang und entdeckte schließlich rechter Hand, am Rande einer langen Wiese, einen Jägerstand.

Ob er diesen gemeint hat? Vorsichtshalber fuhr Lena noch ein paar hundert Meter weiter, von einem anderen Jägerstand war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Eilig wendete sie ihr Fahrrad, trampelte zurück und schob das Rad über die abgemähte Wiese zum Waldrand. Zur Sicherheit blickte sie sich nach allen Seiten um, ob sie nicht möglicherweise von der Polizei verfolgt wurde, obwohl seit heute Früh niemand mehr vor ihrem Haus zu sehen gewesen war. Doch wie es den Anschein hatte, war die Luft rein. Noch einmal versuchte Lena, Ragnar zu erreichen. Leider vergeblich. Kurz entschlossen machte sie sich auf eigene Faust auf den Weg. Lena war aufs Äußerste angespannt, spähte ständig über die Schulter – doch im Augenblick wirkte alles friedlich. Zunächst stapfte sie reichlich planlos durchs Unterholz, aber dann traf sie auf einen zugewachsenen Waldweg, der ihr bekannt vorkam. Hatte der Weg hinter der Hütte nicht ähnlich ausgesehen? Lena rannte los, sprang über einige umgestürzte Baumstämme und sah schließlich hinter einer weiteren Biegung das alte Holzhaus zwischen dem Gebüsch vorspitzen.

»Ragnar?«, rief sie leise, doch nichts rührte sich.

»Ragnar? Nicht erschrecken, ich bin’s nur.«

Es blieb still.

Lediglich ein Specht klopfte mit unermüdlicher Vehemenz gegen einen Baumstamm, das Geräusch hallte unnatürlich laut durch den Wald. Langsam ging sie näher heran. Ein Rascheln hinter ihr ließ sie herumfahren. Ängstlich starrte sie ins Gebüsch. Die Zweige bewegten sich, etwas ließ die Äste knacken. Lenas Herzschlag beschleunigte sich, sie wich an den nächsten Baum zurück, stellte sich dahinter, umklammerte den Stamm, auch wenn ihr durchaus bewusst war, wie wenig sie das vor einer dieser Schattenkreaturen schützen würde.

O Gott, Ragnar, bitte komm raus, wenn du da bist, flehte sie stumm, krallte ihre Hände in den Stamm und wagte kaum zu atmen.

Ein leiser Wind erhob sich, die Bäume rauschten, und wieder rumpelte es im Gebüsch.

Lena hielt die Luft an – und – hätte um ein Haar laut aufgelacht, als ein großer Feldhase unter einem rotblättrigen Busch hervorkam. Vermutlich war das Tier ebenso erschrocken wie sie selbst, erstarrte kurz und hüpfte schließlich, Haken schlagend, davon.

»Langsam werde ich echt paranoid«, grummelte sie, dann näherte sie sich der Hütte, stieg durch das kaputte Fenster ein und sah sich um. Ragnars Rucksack war fort, die Decken lagen noch auf dem Boden, die Bilder seiner Großmutter auf dem Küchentisch. Eines davon kannte Lena noch nicht. Es zeigte dichten Wald, ein düster anmutendes Felsmassiv mit einer Höhle. Auch wenn sie nicht wusste, woher, kam ihr dieser Ort bekannt vor. Nach kurzem Suchen fand sie die Markierung, von der Ragnar gesprochen hatte. An den linken Rand der Höhle hatte Frau Winter dieses verschlungene Muster gezeichnet, ähnlich denen, die schon auf den anderen Bildern zu sehen gewesen waren.

»Verdammt, Ragnar, ruf doch nochmal an«, knurrte sie dem Handy zu, bis ihr ein anderer Gedanke kam. »Vielleicht ist sein Akku leer.« Hier hatte er keinen Stromanschluss, und das Telefon war nicht mehr das neueste. »Mist!« Wütend starrte sie auf das Bild, konnte sich allerdings beim besten Willen nicht daran erinnern, ob sie diese Höhle tatsächlich schon einmal gesehen hatte oder ob es ein Wunschgedanke war.

Schließlich entschloss sie sich, nach Hause zu fahren. Vermutlich wusste ihre Oma, wo die Höhle lag. Das einzig Gefährliche an der Sache war, dass man ihr und Ragnar dann möglicherweise auf die Schliche kommen würde. Doch wenn sie vorsichtig war, würde es schon gut gehen. In Windeseile schwang sich Lena auf ihr Fahrrad, aber während sie in halsbrecherischem Tempo über die Waldwege schoss, machte sich plötzlich ein ganz eigenartiges Gefühl bei ihr breit. Sie konnte es nicht wirklich erfassen, aber ihr Inneres krampfte sich förmlich zusammen, eine kaum niederzukämpfende Unruhe wühlte sie auf.

Verwirrt hielt sie kurz an, ihr Blick schweifte in den Wald.

Ragnar braucht mich, schoss es ihr durch den Kopf. Dann stieg sie kopfschüttelnd auf und trat erneut in die Pedale. War er aufgeflogen, vielleicht schon auf der Flucht? Oder brauchte er sie an dieser Höhle?

Der Weg nach Hause schien ihr dreimal so lang als gedacht, aber endlich war sie angekommen. Sie lehnte ihr Fahrrad an den Gartenzaun und stürmte ins Haus.

»Ist Oma da?«, fragte sie ihre Mutter atemlos.

Manuela wusch gerade Salatblätter. »Nein, was möchtest du denn von ihr?«

Lena zögerte, dann hielt sie ihrer Mutter das Bild unter die Nase. »Ich muss wissen, wo das ist.«

»Wozu denn?« Ein Funken von Misstrauen war aus der Frage herauszuhören.

»Na ja, also, fürs Altenheim«, redete sich Lena heraus, bemühte sich, einnehmend zu lächeln und sich so lässig wie möglich an den Küchentisch zu lehnen, auch wenn sie vor Anspannung bebte. »Eine alte Frau hat uns alle den ganzen Tag tyrannisiert, weil sie nicht mehr wusste, wo diese Höhle liegt. Ich habe versprochen, Oma zu fragen, die kennt sich doch in der Gegend gut aus.«

»Ach so.« Manuela trocknete sich die Hände ab, setzte ihre Brille auf die Nase und kniff dann die Augen zusammen. »Also wirklich, Lena!«

»Was denn?«, fragte diese ungeduldig.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, dann verwuschelte sie ihr die Haare. »Du solltest wissen, wo das ist! Immerhin liegt dieser Ort direkt vor deiner Tür!«

»Vor unserer Tür?«

»Na, das ist die Esperhöhle. Früher hat dich Oma öfters mal mit hingenommen. Weißt du das nicht mehr?«

Wie ein Schlag durchzuckte Lena die Erinnerung. Sicher – die Höhle im Wald, keine Viertelstunde von hier entfernt. Ihre Oma hatte häufig Räucherwerk am Eingang verbrannt, manchmal Blumen niedergelegt oder an bestimmten Tagen dort getanzt und gesungen.

»Danke, Mama!«, stieß Lena hervor, dann zappelte sie unruhig auf der Stelle herum. »Weißt du, ich fahre am besten gleich nochmal zum St. Elisabeth und sage es den anderen.«

»Jetzt?« Ihre Mutter zog die Augenbrauen kritisch in die Höhe. »Du kannst doch anrufen.«

»Na ja.« Verzweifelt suchte Lena nach einer plausiblen Ausrede. »Weißt du, wir haben gewettet, dass ich es herausfinde, und Timo und Maike müssen mich jetzt zu einem Abendessen einladen.«

»Timo – ist er nett?«, erkundigte sich Lenas Mutter neugierig.

»Ja, total!«

»Na, dann kommst du wenigstens schnell über diesen Ragnar weg.« Sie fuchtelte mit dem Messer in der Luft herum. »Du hältst dich doch von ihm fern?«

»Klar, außerdem ist er sicher schon über alle Berge – ist auch besser so.«

»Das finde ich auch.«

»Ciao, Mama.« Auf der Stelle machte Lena auf dem Absatz kehrt, zwang sich, nicht zu ihrem Rad zu rennen, denn sie spürte den Blick ihrer Mutter im Nacken. Dann schwang sie sich auf den Sattel und raste den Feldweg entlang. Bestimmt wartete Ragnar an der Esperhöhle auf sie. Vielleicht hatte er sogar schon den Schatz gefunden. Die Bäume flogen nur so an ihr vorbei, und an der Abzweigung, die sogar mit »Esperhöhle« ausgeschildert war, wäre sie beinahe gestürzt, so schnell schoss sie um die Kurve. Lena strampelte den Berg hinauf, fuhr einen steinigen Waldweg entlang und erreichte schließlich das düstere Felsmassiv. Achtlos warf sie ihr Fahrrad auf den Boden und rannte die letzten Meter hinauf.

»Ragnar?« Ihr Ruf hallte von den drohend aufragenden Felswänden wider.

Das graue Gestein bildete einen Halbkreis um eine Lichtung, auf deren Mitte wiederum ein Fels thronte – er erinnerte Lena an einen Altar.

Draußen war Ragnar nicht zu sehen. Auch ein Blick in die niedrige, links gelegene Höhle brachte nur Enttäuschung. Also betrat Lena die rechter Hand klaffende Öffnung, duckte sich und tauchte in die Düsternis ein. Sofort fühlte sie sich wieder beobachtet, spürte einen Schauer ihren Nacken hinablaufen, anders als an seiner Hütte, kälter, bedrohlicher, greifbarer.

»Ragnar, bist du hier?«

Es wäre äußerst beruhigend gewesen, ihn an ihrer Seite zu wissen, doch niemand antwortete. Suchend sah sich Lena um, überlegte, wo er sein könnte. Da – abermals glaubte sie, aus dem Augenwinkel ein Huschen wahrzunehmen, und plötzlich lief über ihren ganzen Körper eine Gänsehaut. Bestimmt gab es hier Geister. Möglicherweise beobachteten die sie nun, standen unmittelbar neben ihr, starrten sie an, und Lena konnte sie nur nicht sehen. Langsam, Schritt für Schritt, die Augen weit aufgerissen, tastete sie sich zurück. Die Höhle war ihr unheimlich, unangenehm kalt, düster, feucht. Es war besser, sie kam gemeinsam mit Ragnar hierher. Vielleicht war er ja wieder zurück in seinem Versteck oder wartete in der Nähe ihres Hauses auf sie. Sie hatte sich schon umgewandt, um von diesem bedrohlichen Ort fortzukommen, aber dann zögerte sie, verharrte auf der Stelle, hörte jedoch nur das aufgeregte Pochen ihres Herzens. Irgendetwas in ihrem Inneren drängte sie weiterzugehen, so unvernünftig es auch sein mochte.

»Ragnar?«, rief sie noch einmal, aber da bewegte sich irgendetwas oberhalb der Höhle. Mit Lenas Beherrschung war es endgültig vorbei, sie rannte den Berg hinab, drängte die innere Stimme vehement zurück und schnappte sich ihr Fahrrad. Da sie nicht noch einmal den ganzen Weg zur Hütte fahren wollte, entschloss sie sich, den Ort aufzusuchen, an dem sie gestern die Decken für ihn versteckt hatte. Abermals nahm sie ein Huschen im Wald wahr, war sich fast sicher, hinter dem grünen Blätterwerk einen flüchtigen Blick auf einen dunkelgrauen Schemen erhascht zu haben, der sich verdichtete und ebenso rasch wieder verflüchtigte – und nichts konnte sie mehr halten.

Nachdem sie endlich den Felsen erreicht hatte, verflog zum Glück das Gefühl, kalte Augen im Nacken zu spüren. Doch zu ihrem Bedauern wurde sie erneut enttäuscht, denn anders als sie erhofft hatte, traf sie Ragnar dort nicht an.

»Verdammt!« Wütend schrieb Lena eine SMS, doch falls der Akku von Ragnars Telefon tatsächlich den Geist aufgegeben haben sollte, würde das ja auch nichts bringen.

Eine knappe Stunde wartete Lena am Felsen, aber weil es langsam dämmerte, wollte sie nicht mehr allein im Wald bleiben. Also hoffte sie einfach, er würde sich bei ihr melden.

Den ganzen Abend lang verließ sie ihr Zimmer nicht, blickte aus dem Fenster und wünschte sich, er würde sich zu ihr schleichen, selbst wenn das für ihn vermutlich nicht ganz ungefährlich wäre. Erst im Morgengrauen schlief Lena ein, hatte wirre Albträume und fühlte sich wie gerädert, als der Wecker kurz nach acht klingelte. Immerhin musste sie heute nicht ins Altenheim, aber sie hatte ihrer Mutter vor ein paar Tagen versprochen, die Wohnung zu putzen.

Ein Blick auf ihr Handy zeigte Lena, dass sich Ragnar nicht gemeldet hatte, und so war sie äußerst schlechter Laune beim Frühstück.

»Hast du etwas von diesem Kerl gehört?«, wollte ihr Vater wissen. Er war auf dem Weg ins Büro und packte ein belegtes Brot in seine Aktentasche.

»Nein.« In diesem Fall bedauerte es Lena, nicht lügen zu müssen, denn langsam war eine Nachricht von Ragnar mehr als überfällig.

»Die Fahndung ist auf den gesamten Landkreis ausgedehnt worden«, wusste ihr Vater zu berichten. »Rüdiger hat gemeint, sobald er irgendwo versucht, Geld abzuheben oder ein Ticket zu kaufen, ist er dran.«

Rüdiger war Polizist und ein Freund von Lenas Vater, mit dem er öfters Schafkopf spielte.

»Wenn der Junge klug ist, dann stellt er sich«, betonte Oma Gisela noch einmal mit einem Seitenblick auf Lena. »Oder er hat schon längst das Land verlassen.«

»Per Anhalter nach Tschechien, das mag schon sein«, brummelte Dieter. »Wie auch immer, Hauptsache er ist fort.« Er drückte Lena einen flüchtigen Kuss auf die Wange, etwas, das er seit der Sache mit dem Auto nicht mehr getan hatte, dann stupste er sie auf die Nase. »Sei vorsichtig, mein Schatz.«

»Natürlich.« Lena rührte in ihrer Kaffeetasse und wartete darauf, dass ihr Vater das Haus verließ. Glücklicherweise hatte auch Oma Gisela heute einen Termin.

»Ich gebe ein Kräuterseminar in Bamberg und bin erst abends zurück«, erklärte sie bedauernd.

»Macht nichts«, grummelte Lena. »Schrubber und Staubsauger werden mir Gesellschaft leisten.«

Das brachte ihre Oma zum Lachen. »Dann kann ich mich ja darauf freuen, wenn heute Abend alles blitzt.«

Eine halbe Stunde später war Lena allein. Ihre Augen suchten den Waldrand ab, in der Hoffnung, Ragnar würde wenigstens heute zu ihr kommen, denn das seltsam kribbelige Gefühl in ihrer Magengegend war geblieben. Da sie ohnehin den ganzen Tag Zeit hatte, entschloss sie sich, ihren Hausputz auf später zu verschieben und noch einmal zu Ragnars Versteck zu fahren. In dem Moment, als sie die Haustür öffnen wollte, klingelte das Telefon. Es war die Polizei, die wissen wollte, ob Lena etwas von Ragnar gehört hatte. Natürlich blieb eine Rüge nicht aus, weil sie den Kollegen den falschen Wohnort genannt hatte, aber Lena behauptete, sie hätte in der Aufregung statt Windischgaillenreuth Burggaillenreuth verstanden. Vermutlich glaubte ihr der Polizist nicht, aber sie versicherte ihnen, den jungen Mann weder gesehen noch gesprochen zu haben, dann legte sie auf.

Nur für den Fall, doch von der Polizei überwacht zu werden, hielt Lena vorsichtshalber immer wieder an, als sie durchs Dorf fuhr, und gab vor, ihre Schuhe zu binden. Aber alles blieb ruhig.

In dem Ferienhaus fand sie alles so vor, wie sie es gestern verlassen hatte. Es war ganz offensichtlich: Ragnar war nicht zurückgekehrt und hatte auch nicht hier geschlafen. Die Reste des Brotlaibs lagen unangerührt in der Tüte, die Wasserflasche war noch immer halb gefüllt. All das machte Lena stutzig. Wo hatte Ragnar übernachtet? Sie traute es ihm ohne Weiteres zu, auch irgendwo unter freiem Himmel genächtigt zu haben, aber hätte er dann nicht wenigstens den Schlafsack mitgenommen? Essen musste er auch, und ob er es wagte, irgendwo in einer Ortschaft einzukaufen, war eher fraglich.

Das mulmige Gefühl in ihrem Inneren drängte mit aller Macht an die Oberfläche, ein dicker Kloß in ihrer Kehle drohte sie zu ersticken, und sie überlegte, noch einmal zur Esperhöhle zu fahren. Doch was sollte das bringen? Dort wartete er bestimmt nicht auf sie.

Langsam und nachdenklich fuhr sie nach Hause. Die Putzaktion konnte sie kaum von ihren Gedanken an Ragnar ablenken. War er am Ende von der Polizei erwischt worden, oder hatte gar dieser seltsame Schatten im Wald mit seinem Verschwinden zu tun? Pausenlos wanderte ihr Blick zum Handy, immer wieder sah sie hinaus in den Garten, wünschte sich, seine Gestalt zwischen den Bäumen zu erblicken, aber nichts dergleichen geschah.

Mit jedem Tag, der verstrich, wurden die Zweifel in Lena größer, und Sorge wich Wut. Wäre Ragnar geschnappt worden, hätte sie sicher durch ihren Vater davon erfahren. Hatte Ragnar sie einfach ohne ein Wort verlassen? War er mit dem Schatz getürmt, machte sich jetzt irgendwo ein schönes Leben und lachte über die dumme kleine Deutsche? Zunächst schob sie derartige Gedanken weit von sich, denn noch hing sie viel zu sehr an ihm, aber die böse kleine Stimme in ihrem Hinterkopf wurde lauter und lauter.

Nicht einmal die Tatsache, dass ihre Sozialstunden nun bald abgeleistet waren, munterte sie auf. Im Gegenteil, Lena war eigentlich ganz froh über die Ablenkung, die der geregelte Ablauf im Altenheim mit sich brachte.

Heute war sie mit Timo zur Essenausgabe eingeteilt.

Mit düsterer Miene schob sie den Wagen durch die hallenden Flure und brachte den bettlägerigen Senioren das Mittagessen.

»Lena, was ist eigentlich in letzter Zeit los mit dir?«, erkundigte sich Timo besorgt.

Ein abgrundtiefes Seufzen entstieg ihrer Kehle, während sie ein weiteres Tablett hervorzog. »Ich gerate einfach immer an die falschen Männer.«

»Das tut mir leid«, Timo zwinkerte ihr zu, »möglicherweise solltest du es mal mit Mädels versuchen.«

»Nein danke, kein Bedarf.« Lena schnitt eine Grimasse.

Im nächsten Zimmer richtete Timo ein paar freundliche Worte an den alten Herrn Baumann, dann wandte er sich wieder Lena zu. »Möchtest du nicht erzählen, was genau los ist?«

»Ich kann nicht darüber reden«, antwortete sie und zog wütend die Stirn kraus. Zu gern hätte sie sich irgendjemandem anvertraut, aber die Mordanklage war einfach zu heikel.

»Wie du meinst.« Aufmunternd drückte er ihre Schulter und lächelte sie an. »Aber wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, dann sag Bescheid.«

»Danke, Timo.«

Gegen vier Uhr war Lenas Dienst beendet. Sie packte gerade ihre Sachen zusammen, als ihr Mobiltelefon klingelte.

»Ragnar!« Ihr Herz schlug sofort schneller, als sie seine Nummer erkannte. Möglicherweise würde er ihr jetzt eine logische Erklärung für die lange Funkstille bieten. Vielleicht hatte er einen sicheren Ort gefunden und wollte sich nun mit ihr treffen. Tausend Gedanken schossen Lena durch den Kopf, und sie überlegte sogar, ihn noch ein paar Stunden schmoren zu lassen und ihn erst später zurückzurufen. Aber dann hielt sie es einfach nicht mehr aus.

»Verdammt, Ragnar, wo warst du denn die ganze Zeit?«, rief sie statt einer Begrüßung.

»Lena Langfeld?«, erklang eine ihr fremde Stimme aus dem Telefon.

»Ja, hallo.« Hatte sie sich am Ende in der Nummer geirrt?

»Hier spricht die Polizeiinspektion Bayreuth. Sind Sie im Augenblick zuhause? Wir möchten gerne mit Ihnen sprechen.«

Erschrocken torkelte Lena zurück. Sie spürte förmlich, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich, und im Moment war sie zu keiner Antwort fähig. Hatten sie Ragnar etwa erwischt? War er im Gefängnis? Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt.

»Fräulein Langfeld, sind Sie noch dran?«

»Ja«, hauchte Lena ins Telefon.

»Halten Sie sich zuhause auf?«

»Nein, aber ich bin auf dem Heimweg«, antwortete sie kläglich.

»Gut, dann halten Sie sich bitte bereit.«

»Ich … was … wollen Sie denn?«

»Das werden wir Ihnen vor Ort erklären. Auf Wiederhören.«

Unschlüssig stand Lena im Aufenthaltsraum, starrte auf das Handy und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Vielleicht hatte sie Ragnar doch Unrecht getan, und er war die ganze Zeit in Untersuchungshaft gewesen, von wo aus er sich bei ihr gar nicht hatte melden können. Beinahe verspürte sie so etwas wie Erleichterung, denn zumindest hätte er sie dann nicht hintergangen. Gleichzeitig wuchs jedoch auch die Sorge um ihn. Ragnar im Gefängnis, das konnte niemals gut gehen! Und falls er tatsächlich verurteilt wurde – sie mochte sich gar nicht ausdenken, was das für einen so freiheitsliebenden, naturverbundenen Menschen wie ihn bedeutete. Auch sie würde vermutlich Ärger bekommen, denn sie hatte ja behauptet, keinen Kontakt mehr zu Ragnar zu haben, aber das war im Augenblick das kleinste Problem.

Den Kopf voller wirrer Gedanken fuhr sie nach Hause, erwog währenddessen alle Möglichkeiten, wie sie Ragnar helfen konnte. Natürlich würde sie ihn im Gefängnis besuchen, doch wie sollte sie ihn davor bewahren, völlig durchzudrehen? Bestimmt würde man ihn nach Island zurückschicken, und somit wäre er endgültig außer Lenas Reichweite. Wahrscheinlich konnte er sich nicht einmal einen guten Anwalt leisten. Würde es ihm gelingen, das Gericht davon zu überzeugen, unschuldig zu sein und lediglich in Notwehr gehandelt zu haben?

So in Gedanken versunken, erschrak sie beinahe, als sie plötzlich vor ihrer Haustür stand. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Eltern nicht da waren, und sie hoffte, sie würden erst eintreffen, wenn die Polizei schon da gewesen war. Natürlich musste sie später alles erzählen, aber im Augenblick war sie für Erklärungen oder Vorwürfe viel zu durcheinander.

»Hallo Oma.«

Lenas Großmutter arbeitete im Garten und sah sie mitleidig an. »Lena, geht es dir nicht gut?«

Sie schüttelte den Kopf, Tränen brannten in ihren Augen. »Ich glaube, sie haben Ragnar erwischt. Die Polizei wird gleich hier sein, sie haben wohl meine Nummer in seinem Handy gefunden.«

»Ach Schatz.« Ihre Großmutter schloss sie in die Arme. »Vielleicht ist das gar nicht das Schlechteste. So wäre er doch nur immer auf der Flucht gewesen.«

»Aber er hält das nicht aus im Gefängnis«, schluchzte sie. »Oma, er hat niemanden mit Absicht umgebracht, das weiß ich.«

Resolut wischte Oma Gisela Lena mit dem Ende ihrer langen cremefarbenen Bluse die Tränen aus den Augen.

»Wir hören uns jetzt an, was die Polizei sagt, und ich verspreche dir, auch selbst mit ihm zu reden. Wenn ich den Eindruck habe, er ist tatsächlich unschuldig, werden wir gemeinsam einen Weg finden, ihm zu helfen.« Sie sah Lena von der Seite her an. »Außerdem ist mir eingefallen, was möglicherweise seine seltsame Allergie ausgelöst haben könnte. Wenn diese schlimme Sache mit der Mordanklage vom Tisch ist, werden wir uns auch darum kümmern.«

»Wirklich, Oma?« Ein Funken Hoffnung keimte in Lena auf. Vielleicht konnten sie Ragnar einen guten Anwalt besorgen, die Mordanklage würde fallengelassen, er käme frei und könnte sogar in der Gegend bleiben. Auf einmal schien alles nicht mehr so aussichtslos, und obwohl Lena nervös war, so sehnte sie das Eintreffen der Polizei nun beinahe herbei. Wenn alles gut lief, hatten Ragnar und sie am Ende doch noch eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft – wie auch immer die aussehen mochte.

Eine gute Viertelstunde später klingelte es an der Tür, und Lena öffnete mit einer Mischung aus Angst und Enthusiasmus. Zwei Beamte standen vor der Tür, ihre Mienen ernst, die Augen auf sie gerichtet.

»Lena Langfeld?«

Lena nickte. »Kommen Sie doch bitte herein.«

Nun trat auch Oma Gisela in den Gang, streckte ihre Hand aus und stellte sich vor. »Gisela Langfeld, Lenas Großmutter.«

Die Polizisten, beide mochten um die fünfzig sein, nickten knapp. »Kriminalpolizei Bayreuth. Mein Name ist Rupprecht«, erwiderte der Polizist mit dem grauen Schnurrbart. »Mein Kollege ist Kommissar Klein. Wir haben einige Fragen an Ihre Enkeltochter.«

Gemeinsam betraten sie die Küche, Oma Gisela bot den Beamten einen Stuhl und eine Tasse Kaffee an, welche die beiden jedoch ablehnten.

»Fräulein Langfeld, Sie kennen einen gewissen Ragnar Winter«, meinte Kommissar Rupprecht.

Der andere mit kahlem Kopf blickte währenddessen starr auf den Tisch, so als wäre er froh, dass sein Kollege das Sprechen übernahm.

»Ja«, bestätigte Lena und bemühte sich darum, möglichst gelassen zu klingen. »Wir sind befreundet. Ich weiß, was man ihm vorwirft. Ich gehe davon aus, Sie haben ihn verhaftet, aber ich versichere Ihnen …«

»Darum geht es nicht«, unterbrach der Schnurrbartträger sie.

»Nicht?«, wunderte sich Lena, und auch ihre Großmutter sah irritiert von ihrer Kaffeetasse auf.

»Nein … es ist so …« Der Beamte ruckelte nervös an seinem Kragen herum, dann straffte er die Schultern und sah Lena direkt ins Gesicht. »Gestern wurde Ragnar Winter von Wanderern an der Esperhöhle tot aufgefunden.«