Kapitel 4

Schatten im Wald

Auch am folgenden Tag bekam Lena wieder Geschichten von Frau Winters Geliebtem präsentiert. Diesmal holte die alte Dame sogar weitere Skizzen des fantastischen Landes Elvancor aus ihrer Zeichenmappe hervor. Eine von ihnen war sehr düster, zeigte verhüllte, schattenhafte Gestalten zwischen den Überresten von blattlosen Bäumen. Frau Winter nannte ihn »den toten Wald von Vakkarin«, und unwillkürlich lief Lena ein Schauer über den Rücken, denn die verdorrten Äste und Stämme hatten selbst in dieser Bleistiftzeichnung eine bösartige Ausstrahlung. Sie fragte sich, wie man sich so etwas ausdenken und sogar zu Papier bringen konnte.

Sie war froh, als ihre Schicht abends um fünf Uhr endlich beendet war und Katrin sie mit ihrem klapprigen Opel Corsa abholen kam.

»O Mann, ich bin echt fertig«, stöhnte Lena. »Auf jeden Fall weiß ich jetzt, dass ich ganz bestimmt niemals als Altenpflegerin arbeiten werde!«

»Na, dann hat das Ganze ja wenigstens etwas Gutes«, ulkte Katrin und zwinkerte Lena zu. »Wir kaufen uns noch ’ne Packung Eis und hauen uns dann eine DVD rein.«

Süßigkeiten waren Katrins Leidenschaft, was man auch ihrer Figur ansah. Sie war nicht dick, aber doch recht mollig. Erfreulicherweise haderte Katrin jedoch im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen nicht mit ihrem Übergewicht, sondern stand dazu, gerne zu essen, was Lena völlig in Ordnung fand. Schlimmer erschienen ihr da diese Spinatwachteln, die jede Kalorie zählten und ständig schlecht gelaunt waren. Lena selbst kannte ohnehin keine Figurprobleme, und so stimmte sie dem Vorschlag ihrer Freundin zu.

Die beiden Mädchen hatten es sich gerade vor dem Fernseher in Katrins Zimmer bequem gemacht, sie bewohnte den obersten, ausgebauten Stock im Haus ihrer Eltern, als Frau Krause hereinkam. Genau wie ihre Tochter hatte sie ihre braunen Haare kurz geschnitten und trug eine Brille. Doch im Gegensatz zu Katrin war deren Mutter ein Sportfanatiker, joggte jeden Tag mehrere Kilometer und ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Daher war sie äußerst drahtig und bewegungsfreudig – sehr zu Katrins Leidwesen, wie sich auch heute mal wieder zeigte.

Missbilligend wanderten Frau Krauses Augen über den üppigen Eisbecher mit Sahne in Katrins Hand. »Du musst noch mit dem Hund raus, ich habe gleich Pilates.«

»Ach nö, wir haben eben erst die DVD eingelegt«, nörgelte Katrin.

»Die DVD läuft euch nicht davon, und Bewegung schadet dir ganz sicher nicht. Nimm dir mal ein Beispiel an Lena, die hat mindestens drei Kleidergrößen weniger als du!«

»Die isst aber deswegen auch nicht weniger als ich.« Katrins rundliches Gesicht verzog sich immer mehr.

»Los jetzt.« Resolut zog Frau Krause ihre widerstrebende Tochter in die Höhe. »Der arme Rudi muss sein Geschäft machen.«

»Das kann er auch im Garten.«

»Nichts da, ihr geht jetzt mindestens eine Stunde spazieren. Ich frage deinen Opa danach, wenn ich zurück bin.«

»Das ist echt das Letzte!«, regte sich Katrin auf, nachdem ihre Mutter wie ein Wirbelwind aus dem Zimmer verschwunden war.

»Los komm, dann gehen wir halt noch ein Stück«, lenkte Lena ein und kicherte plötzlich los. »Wenn der General dich überwacht, hast du ohnehin keine Chance.«

Sie gingen hinunter, wo Mischling Rudi bereits wartete. Der wuschelige Rüde reichte Lena knapp bis zum Knie, und hätte er nicht begeistert mit dem Schwanz gewedelt, sie hätte einmal mehr kaum sagen können, wo bei ihm vorne und hinten war.

»Na dann komm, du nerviger Wischmopp«, knurrte Katrin.

»Lass dich nicht ärgern«, grinste Lena, während sie dem Hund den Kopf kraulte. »Eigentlich hat Katrin dich total gern.«

Diese schnaubte nur, schnappte sich die Leine und hielt auf die Eingangstür zu. Draußen sah man Katrins Mutter mit einem hochgewachsenen Mann um die siebzig sprechen. Ein üppiger Schnurrbart beherrschte sein kantiges Gesicht, und obwohl er auf einen Stock gestützt ging, strahlte er doch Agilität aus. Seine Schultern waren gestrafft, der Kopf hoch erhoben.

»Sag nichts, wir gehen ja schon«, brummte Katrin ihrem Großvater zu.

Er musterte sie von oben bis unten. »Beim Militär sind wir oft dreißig Kilometer am Tag gelaufen«, bemerkte er stolz. »Ihr jungen Leute seid einfach nichts mehr gewohnt. Außerdem mussten wir …«

»… unsere ganze Ausrüstung und Wasser für zwei Tage mitschleppen«, beendete Katrin den Satz leise, bevor ihr Opa es tun konnte.

Nur mühsam versteckte Lena ihr Prusten hinter einem vorgetäuschten Husten, denn sie wusste, dass Katrins Großvater nur allzu gern von seinem Militärdienst sprach.

»Da sieht man es! Erkältung mitten im Sommer!«, tadelte er, wobei seine Augen nun auf Lena ruhten. »Abhärten sollte man euch – jeden Tag zur Schule und zurück laufen lassen.«

»Wir sind nicht mehr in der Schule«, widersprach Katrin, was ihren Opa die Stirn runzeln ließ.

»Fünf Jahre freiwilliger Dienst bei der Bundeswehr hätten dir nach dem Abitur auch nicht geschadet. Ich hätte meine Kontakte spielen lassen können, aber nein, du musstest ja diesen Bürojob annehmen.«

Das Wort klang bei ihm so, als müsste Katrin Toiletten schrubben, aber Lenas Freundin ersparte sich einen Kommentar, zog nur die Schultern ein und eilte dann zum Tor hinaus.

»Vor einer Stunde will ich euch nicht sehen!«, verfolgte sie die kräftige Stimme Herrn Krauses. »Und marschiert stramm!«

»Der ist echt krass drauf«, lachte Lena, als sie endlich das Grundstück der Krauses hinter sich gelassen hatten und die Dorfstraße in Richtung Burg hinabliefen.

Nicht umsonst trug Katrins Großvater den Spitznamen General, denn er war in jungen Jahren leidenschaftlicher Bundeswehrsoldat gewesen, und den militärischen Tonfall und das herrische Auftreten hatte er auch mit dem Rentenalter nicht abgelegt. Lena musste zugeben, dass er einer der wenigen Erwachsenen war, vor dem sie echten Respekt hatte, denn mit Walter Krause war nicht gut Kirschen essen.

»Beschwer du dich nur nochmal über deine Familie«, stöhnte Katrin. »Du lebst zumindest nicht in einer Kaserne! Ich sag dir, sobald ich meinen Abschluss habe, ziehe ich aus.«

»Na ja, meine Oma ist okay«, gab Lena zu, »aber meine Eltern …«

»Wir könnten uns bei der Burg in den Biergarten setzen«, schlug Katrin vor, und ihre Augen strahlten mit einem Mal, denn die kleine Festung von Burggaillenreuth kam in Sicht. Auf einem schroffen Felsen erbaut, mit einem gemütlichen, unter alten Linden gelegenen Biergarten davor, thronte sie über dem bewaldeten Tal.

»Hm.« Bedächtig wiegte Lena den Kopf. »Wenn der General auf seinem strammen Abend-Kontrollspaziergang vorbeikommt, ist was los.«

»Auch wieder wahr«, seufzte Katrin und schlug einen schmalen Waldweg ein. »Also gut, lass es uns hinter uns bringen.« Sie löste Rudis Leine, und der Hund trottete schnüffelnd vor ihnen her.

Der Pfad zog sich an einem steilen Abhang entlang, und bald kamen sie an einem hölzernen Wanderwegschild vorüber. Der Keltenwall.

Lena konnte sich daran erinnern, als kleines Kind mit ihrem Onkel Carsten hier gewesen zu sein. Der war ein echter Naturbursche, und als er noch in der Gegend gewohnt hatte, waren sie häufig klettern oder wandern gegangen. Heute war Onkel Carsten in der ganzen Welt unterwegs, jobbte mal hier, mal dort, momentan, soweit Lena wusste, als Surflehrer in Spanien. Manchmal vergingen Monate, bis er sich meldete, aber wenn er zu Besuch nach Hause kam, konnte man sich auf eine Party und die verrücktesten und ungewöhnlichsten Geschenke gefasst machen. Grinsend musste Lena an eine präparierte Vogelspinne denken, die er ihr mitgebracht hatte, als sie zwölf Jahre alt gewesen war. Auf seine Anregung hin hatte sie diese in der Tasche ihrer ungeliebten Mathematiklehrerin deponiert – und postwendend einen Verweis kassiert. Doch die Miene und den spitzen Schrei von Frau Schulze waren den Ärger allemal wert gewesen.

Während sie sich über ihre vergangene Schulzeit und ehemalige Schulkameraden unterhielten, schlenderten die beiden Mädchen durch den dämmrigen Wald. Sie hatten gar nicht bemerkt, wie rasch die Zeit vergangen war, und auf einmal wurde es merklich düster zwischen den hohen Bäumen und den vielen ungewöhnlich geformten Felsen.

»Ich denke, wir sollten zurückgehen, bevor es dunkel wird«, schlug Lena vor, dann verzog sie ihren Mund. »Selbst der General wird kaum etwas zu meckern haben.«

»Vermutlich nicht«, stimmte Katrin zu.

Unruhig trat Lena von einem Bein aufs andere. Sie befanden sich auf einer Erhöhung im Wald, jener Stelle, von der man vermutete, dass sich hier eine keltische Siedlung befunden hatte. »Ich muss mal. Geh doch schon vor.«

»Okay.« Katrin warf einen Blick voller Unbehagen ins Unterholz, machte sich dann aber mit Rudi an der Leine auf den Weg bergab, während Lena sich nach einer geschützten Stelle umsah. Um diese Zeit waren zwar nicht mehr unbedingt Touristen oder Kletterer zu erwarten, die an der nahegelegenen Steilwand ihren Sport ausübten, aber man wusste ja schließlich nie!

Im Schutz eines moosbewachsenen Felsens verschaffte sich Lena Erleichterung, vernahm jedoch hinter sich plötzlich ein Geräusch. Es raschelte im Gebüsch, ein leichter Wind hatte sich erhoben und ließ die Kronen der Bäume wogen und einen der alten Stämme knarren. Im Zwielicht des Abends konnte Lena zunächst nicht allzu viel erkennen, aber sie war sich sicher, eilige Schritte, gedämpft vom weichen Waldboden, zu hören. Hier und da knackte ein Ast. Sie kauerte sich hinter dem Felsen zusammen und spähte aus ihrer Deckung hinaus in den Wald. Zwei Personen kamen genau in ihre Richtung. Ihr stockte der Atem, und entgegen jeglicher Vernunft fuhr sie kerzengerade auf und besah sich die bizarre Szenerie. Eine Albtraumgestalt, hochgewachsen mit derben, unmenschlichen Gesichtszügen, rannte mit einer Art Säbel bewaffnet durch den Wald und stieß dabei grunzende Laute aus. Dem sonderbaren Wesen folgte ein Mann mit wehendem Umhang – ebenfalls ein Schwert in der Hand. Dieser beschleunigte nun seine Schritte, machte einen Bogen, sprang geschmeidig auf einen Felsen und fiel schließlich das eigenartige Geschöpf von hinten an. Dieses polterte laut keuchend auf den Waldboden, nur ein paar Schritte von Lena entfernt, dann rührte es sich nicht mehr.

»Du bist tot«, sagte der Mann mit der Kapuze.

Lena konnte nur dastehen und stumm und mit aufgerissenen Augen auf die Szene blicken. Unwillkürlich musste sie an Frau Winters Erzählungen denken. Dass es klüger gewesen wäre davonzurennen, wurde ihr sofort klar, als sich das Gesicht des Mörders in dem Umhang ihr zuwandte.

»Also ich … ich habe nichts gesehen«, stammelte sie und spürte dabei, wie ihre Knie weich wurden.

Da war der finstere Kerl auch schon bei ihr, und als er sprach, glaubte sie kurz, seine Stimme zu erkennen, hatte jedoch viel zu viel Angst, um weiter darüber nachzudenken – schließlich war sie soeben Zeugin eines Mordes geworden und würde vermutlich in den nächsten Sekunden das nächste Opfer werden.

»Läufst du immer mit heruntergelassener Hose durch den Wald?«, fragte der Mann jedoch nur zynisch.

Lena entfuhr ein entsetztes Quietschen. Eilig zog sie ihre Hose hoch, und als der Mann seine Kapuze zurückschlug, wusste sie gar nicht mehr, was sie denken sollte. Vor ihr stand Ragnar, Frau Winters Enkelsohn. Auch diese seltsame, vermeintlich tote Gestalt erhob sich nun wieder. Bei näherem Hinsehen erinnerte sie Lena verblüffend an einen der Uruk-hai aus dem Film Der Herr der Ringe.

»Ich … also was …«, stotterte sie.

Ragnars Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, während er dem Uruk-hai auf die Schulter schlug. »Kann es sein, dass dich der gute Rolf erschreckt hat?«

Das vermeintliche Ungeheuer zog sich nun die Maske vom Kopf, strich sich durch die schulterlangen, blonden Haare, die ihm verschwitzt am Kopf klebten, und lachte. »Hi!«

»Hi.« Ganz langsam kam Lena wieder zu sich, sie straffte die Schultern und sah Ragnar herausfordernd an. »Rennt ihr immer in so einem Aufzug durch die Gegend?«

»Eigentlich nicht. Wir haben nur ein LARP-Event dieses Wochenende.«

»Ein was?« Lena starrte ihn verwirrt an.

»LARP«, erklärte Rolf, noch immer sichtlich amüsiert. »Live Action Role Play. Wir treffen uns ein Wochenende lang und stellen bestimmte Szenen aus Büchern oder Computerspielen nach. Diesmal ist Herr der Ringe das Thema. Ich spiele einen Uruk-hai, Ragnar einen Waldläufer.«

Ragnar deutete vage in den Wald. »Dort hinten sollten einige Elfen und Hobbits sein.«

»Wie nett!« Lena schüttelte den Kopf. »Sag mal, ihr habt sie doch nicht alle, oder?«

Rolf, der Uruk-hai, grinste jedoch nur breit. Der Statur nach konnte er tatsächlich als Fantasy-Ungeheuer durchgehen, denn er war äußerst kräftig gebaut und – ohne Maske – nicht einmal unattraktiv mit seinem Dreitagebart und dem freundlichen Grinsen im Gesicht. Lena schätzte ihn auf Mitte bis Ende zwanzig.

»Ob du’s glaubst oder nicht, das macht wirklich Spaß.« Er klopfte auf seinen bedrohlich wirkenden Säbel. »Das ist übrigens nur Schaumstoff! Falls du Lust hast, komm doch einfach zu uns ins Lager und sieh dir an, was wir so treiben. Wir sind echt ein netter Haufen.« Sein Blick wanderte interessiert über sie. »Wie heißt du eigentlich?«

Ohne sich vorzustellen, stapfte sie los. »Nein danke, kein Bedarf!« Inzwischen war es ihr äußerst peinlich, mit heruntergelassener Hose vor Ragnar und einem verkleideten Uruk-hai gestanden und sich komplett zum Narren gemacht zu haben. Daher verabschiedete sie sich hastig und eilte nun durch den Wald zurück. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die beiden ihr hinterhergrinsten.

»Mensch, Lena, wo warst du denn so lange?«, rief Katrin ihr schon entgegen, als sie die in den Stein gehauenen Stufen hinabgeeilt kam, die hinauf zu der alten Keltensiedlung führten. Katrin sah sich unbehaglich um. »Es ist schon fast stockdunkel, da bin ich nicht gern im Wald. Wer weiß, wer sich hier alles nachts herumtreibt.«

»Tja, du würdest dich wundern.« Noch einmal wandte sich Lena kopfschüttelnd zum Keltenwall, dann erzählte sie ihrer Freundin von ihrer höchst eigentümlichen Begegnung.