Kapitel 8

Verschiedene Welten

Der freie Samstag war nur ein schwacher Trost, und die starre Haltung ihres Vaters ärgerte Lena. Zu gern wäre sie mit Katrin nach Nürnberg in die Disko gefahren, hätte Freunde und Bekannte getroffen, einen Abend lang einfach nur Spaß gehabt. Aber so saß sie ohne Führerschein in diesem Kuhkaff fest und war auf dem besten Weg dazu, den Hirngespinsten einer alten Frau hinterherzujagen. Trotzdem war es allemal besser, als den ganzen Tag zuhause herumzusitzen.

»Oma, kannst du mich später nach Burggaillenreuth mitnehmen, bevor du einkaufen fährst?«, bat Lena sie beim Frühstück.

»Möchtest du Katrin besuchen?«

Da Lena befürchtete, ihre Eltern könnten etwas gegen Ragnar haben, der ja in der Tat ein seltsamer Typ war, nickte sie. »Hm, tagsüber darf ich ja weggehen, oder?« Sie sah ihren Vater herausfordernd an.

Dieser brummelte mit vollem Mund seine Zustimmung und widmete sich anschließend wieder der Tageszeitung.

»Gut, dann sei in einer halben Stunde fertig«, bestimmte ihre Großmutter.

Lena zog sich eine kurze Jeans und ein rotes Top an, band ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und wartete dann draußen auf Oma Gisela, die – wie üblich – zehn Minuten zu spät erschien. Sie trug ein weites, geblümtes Kleid und einen großen Strohhut, die hüftlangen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden.

»Hast du was Größeres vor, Oma?«

»Nein, weshalb?«

»Du bist so schick.«

»Findest du?« Lachend drehte sich die alte Frau im Kreis. »Ich hatte einfach mal wieder Lust, mich hübsch zu machen.«

»Oma, du bist echt klasse.«

»Danke, Lena.« Sie zwinkerte ihrer Enkeltochter zu und stieg in ihr antikes Gefährt. Dann tuckerten sie über die Dorfstraßen ins nahegelegene Burggaillenreuth.

»Sag mal, Oma, würdest du Ragnar deine Ente noch einmal leihen?«, erinnerte sie sich plötzlich an ihr Versprechen.

»Nachdem er sie mir nicht verbeult zurückgebracht hat – ja.«

War aber verflucht knapp, dachte Lena, sagte jedoch selbstverständlich nichts.

»Super, danke!«

»Lena«, ihre Oma schmunzelte verschmitzt, »ist dieser Ragnar dein potenzieller neuer Freund?«

»Was? Wie kommst du denn darauf? Um Himmels willen – nein!«, regte sich Lena auf. »Der Typ ist total seltsam.«

»Hm, aber nach allem, was ich gesehen habe, finde ich, er sieht nicht schlecht aus. Und … wir Frauen stehen doch auf geheimnisvolle Männer, oder nicht?« Sie stupste Lena an der Schulter an und zwinkerte ihr zu.

»Pah! Geheimnisvoll – schön und gut. Aber manchmal ist er richtig unverschämt. Außerdem stehe ich eher auf blonde, muskulöse Typen über eins achtzig, und nichts davon trifft auf ihn zu.«

»Ach Lena«, Oma Gisela strich ihr über die Haare, »du wirst schon noch erkennen, dass Äußerlichkeiten nicht alles sind. Ich sage nur Kevin

»Hast ja Recht, aber trotzdem, Ragnar Winter ist so ziemlich der Letzte, mit dem ich was anfangen würde. Nicht umsonst wird er im Stift der Weltuntergang genannt.«

Das amüsierte ihre Oma sichtlich, dann zwinkerte sie Lena zu. »Viel Spaß mit deinem Weltuntergang

Entgeistert sah sie ihre Großmutter an. »Wie kommst du darauf …«

»Mach mir nichts vor, meine Süße, vor zwei Minuten kam uns Katrin entgegen, und wenn du dich mit ihr treffen wolltest, wäre sie sicher nicht weggefahren.«

»Ähm, also …« Krampfhaft suchte Lena nach einer plausiblen Ausrede.

»Ich werde deinen Eltern nichts verraten«, kam ihr Oma Gisela zuvor, »schließlich war ich auch mal jung.«

»Na, wenn das so ist.« Lena grinste breit. »Dann sei so gut und fahr mich zum Reitstall.«

»Sag bloß, du willst wieder anfangen zu reiten?«

»Nein, aber Ragnar arbeitet dort als Pferdepfleger, und ich muss ihn was fragen.«

»Also gut.«

So chauffierte Oma Gisela Lena kurzerhand zum Reitstall. Sofort sprang Lena aus dem Auto und wollte schon die Tür zumachen, als sich ihre Oma in ihre Richtung beugte. »Du kannst mich anrufen, falls du nach Hause willst.«

»Ja, alles klar. Ciao, Oma.«

»Dann mach’s gut.« Hupend fuhr ihre Oma davon.

Lena winkte ihr noch nach, dann sah sie sich um. Für sie war es ein eigenartiges Gefühl, wieder hier im Reitstall zu sein.

Eine Zeit lang hatte sie sich auf dem Reiterhof, der sich am Waldrand befand, sehr wohlgefühlt, aber mit dem Sturz vom Pferd und der neuen Reitlehrerin war ihr damals die Lust vergangen. Jetzt hoffte sie, dass die eingebildete Regine inzwischen nicht mehr hier arbeitete. Leider zerschlug sich Lenas Hoffnung schon Minuten später, denn vom Reitplatz her hörte sie eine unangenehm schrille Stimme. Die hochgewachsene Frau mit den kurzen schwarzen Haaren stand am Reitplatz und schrie eine sichtlich verzweifelte Reiterin an. Sie mochte um die sechzehn sein, und deren Pferd weigerte sich offenbar, über einen Oxer zu springen.

»Jetzt zeig dem verdammten Bock doch endlich mal, wer der Herr ist! Devera verarscht dich doch nur«, ereiferte sich Regine und gestikulierte wild mit den Händen.

Nur zu gut konnte sich Lena daran erinnern, dass Regine jedes Pferd, das nicht parierte, als »verdammten Bock« bezeichnete. Dieses Pferd, eine gut gebaute, mittelgroße braune Stute mit schwarzer Mähne, war bereits über und über mit Schweiß bedeckt, der besonders am Hals zu weißem Schaum aufgerieben wurde. Zudem schnaubte das Tier wild. Jedes Mal, wenn die Reiterin auf den hüfthohen Sprung zuritt, galoppierte sie zwar brav mit gewölbtem Hals an, stoppte aber vor dem Hindernis abrupt und warf den Kopf in die Höhe. Der Gesichtsausdruck der Reiterin wurde noch verzweifelter, denn Regine ließ sie wieder und wieder anreiten, und auch das Pferd wirkte mit jedem Versuch unwilliger. Nach drei weiteren Runden widersetzte es sich vehement, bockte und katapultierte schließlich seine Reiterin in den Sand.

»Ist dir was passiert, Tanja?« Regine klang derart unwirsch, als wäre es ein unverzeihliches Vergehen des Mädchens, sollte es denn so sein. Tanja rappelte sich auf, das Gesicht schmerzverzerrt und mit Tränen in den Augen. Dennoch schüttelte sie tapfer den Kopf. »Ich bin okay.«

»Dann gleich wieder in den Sattel«, polterte Regine los.

Die Reiterin zog die Schultern ein, beinahe hatte Lena den Eindruck, sie wolle protestieren, aber dann humpelte sie zu Devera, die panisch mit den Augen rollte, und zog sich mühsam in den Sattel.

Erneut ließ Regine Tanja anreiten, mit dem gleichen Resultat wie zuvor. Es kam, wie es kommen musste, und Tanja flog in hohem Bogen aus dem Sattel. Diesmal landete sie im Begrenzungszaun. Mit einem lauten Krachen barst das glücklicherweise morsche Holz, aber nun konnte Tanja nur mithilfe der Reitlehrerin aufstehen. Tränen rannen über ihr Gesicht.

Fluchend hielt Regine sie am Arm fest. »Wie geht’s dir?«

»Mein Rücken tut weh«, heulte Tanja los.

»Verflucht, jetzt kann ich dich auch noch zum Arzt fahren«, beschwerte sich die Reitlehrerin und sah sich um. »Wo ist der verdammte Pferdepfleger?«

Ein etwa zehnjähriges Mädchen, das vom Zaun aus mit großen Augen zugeschaut hatte, quietschte verängstigt: »Ich hole ihn.«

Regine nickte grimmig, dann schien sie Lena entdeckt zu haben, wandte sich aber gleich wieder ab. Lena war froh, nicht von Regine erkannt worden zu sein, doch sie war damals erst zwölf gewesen und hatte sich doch recht stark verändert.

Schließlich kam Ragnar angeschlendert.

»Kannst du nicht einen Gang hochschalten?«, blaffte Regine ihn an.

»Was soll ich tun?«

Lena wurde den Eindruck nicht los, dass Ragnar sehr wohl wusste, was Regine von ihm wollte, denn er sah doch zu unschuldig drein und kratzte sich übertrieben am Kopf.

Die Reitlehrerin lief knallrot an, öffnete den Mund zu einer Entgegnung, fuhr jedoch in ihrem unverschämten Tonfall fort: »Bring den dämlichen Bock in die Box, ich muss seine unfähige Reiterin zum Arzt fahren.«

Besagte Tanja fing schon wieder zu weinen an, und Ragnar blickte sich suchend um. »Ich sehe keinen Ziegenbock.«

Lena unterdrückte ein Kichern, und Regines Augen verengten sich bedrohlich. »Verkauf mich nicht für dumm, du weißt sehr wohl, was ich meine!«

»Ach ja?« Provokativ sah er Regine an, die nun explodierte.

»Wenn du deinen Job behalten willst, dann tu gefälligst, was ich dir sage!«

»Ich bin nicht bei dir angestellt.« Er ging langsam auf Devera zu, redete leise auf Isländisch auf das Tier ein und kümmerte sich nicht um Regines Wutausbruch.

Diese schimpfte wie ein Rohrspatz, drohte, den Reitstallbesitzer zu informieren, und schien überhaupt nicht damit klarzukommen, wie konsequent Ragnar sie ignorierte. Ein solches Verhalten war sie mit Sicherheit nicht gewohnt, aber Lena fand, dass es ihr recht geschah.

Schließlich sah Regine wohl ein, von Ragnar keine Antwort mehr zu bekommen. Sie half der verschüchterten Tanja zum Zaun und fragte: »Du kippst jetzt aber nicht um, oder?« Als diese eilig verneinte, stapfte sie los. »Ich hole das Auto.«

Lena ging zu Tanja, die leise vor sich hin schluchzte, und drückte tröstend ihre Schulter. »Mach dir nichts draus, Regine war schon immer so.«

»Bist du … auch mal hier geritten?« Das blonde Mädchen fuhr sich über die Augen und verwischte dabei den Dreck auf ihrer Wange nur noch mehr.

»Ja, ist aber schon lange her.«

Nun kam Ragnar mit Devera am Zügel zu ihnen. »Sei ihr nicht böse, sicher hat sie einen Grund für ihr Verhalten.«

»Kannst … kannst du sie noch ein bisschen reiten?«, brachte Tanja mühsam heraus. »Ich habe gestern gesehen, wie du Comet geritten hast, das war toll! Mit ihm kommt sonst niemand zurecht, nicht einmal Regine.« Erschrocken sah sie sich um, so als befürchtete sie, die Reitlehrerin könnte sie gehört haben.

»Wenn du möchtest, kann ich das tun.« Ragnar klopfte die Stute am Hals, dann schwang er sich mit einer selbstverständlichen Eleganz in den Sattel, die vermuten ließ, dass er schon seit langer Zeit ritt.

Zunächst ließ er das Pferd im Schritt um den Reitplatz laufen, sprach leise und sanft mit ihm, wenn es vor dem Hindernis scheute. Später trabte er an. Schwungvoll zog die Stute ihre Kreise. Ragnar schien völlig auf sie konzentriert, Lena konnte keinerlei Anzeichen dafür sehen, dass er sie lenkte. Seine Hände und Beine waren vollkommen ruhig, sein Oberkörper schwang nur ganz sanft im Takt mit, und es wirkte so, als würde er das Pferd allein mit seinen Gedanken lenken. Devera entspannte sich sichtlich, schnaubte irgendwann ab und machte den Hals lang. Ragnar mied das Hindernis offenbar bewusst, schlug einen weiten Bogen darum. Unwillkürlich bewunderte Lena seinen Reitstil, denn bei Regine hatte alles immer deutlich weniger harmonisch gewirkt. Ihre Hilfen waren grob gewesen, und mit der Gerte war sie niemals zimperlich umgegangen.

Sowohl Lena als auch Tanja zuckten zusammen, als sie eine ungehaltene Stimme vernahmen. »Was soll das denn?«

Mit einem Autoschlüssel in der Hand stand Regine am Eingang zum Reitplatz. »Der soll ausmisten und die Pferde auf die Koppeln bringen, sonst nichts!«

»Ich habe ihn gebeten, Devera zu reiten«, erklärte Tanja kleinlaut.

»Pah, der bringt sie doch auch nicht über den Sprung!«

Tatsächlich verweigerte die Stute auch bei ihm, blieb wild schnaubend vor dem Hindernis stehen und wich dann panisch zurück. Ragnar ließ sich jedoch nicht irritieren, sprach leise in seiner Sprache mit ihr, streichelte sie am Hals und ritt schließlich noch einmal an. Mit einem gewaltigen, unkontrollierten Sprung setzte Devera über das Hindernis, und Lena hielt die Luft an, denn sie war sich sicher, Ragnar würde kopfüber in die Stangen knallen. Aber wie durch ein Wunder hielt er sich im Sattel, lobte das Pferd lautstark und ließ es am langen Zügel noch eine Runde um den Platz traben.

Anschließend stellte er sich vor Tanja. »Sie hat Angst, ich denke, sie hat schon einmal schlechte Erfahrungen beim Springen gemacht. Am besten wäre es, wenn du in ganz kleinen Schritten mit ihr anfängst und sie lobst, wenn sie auch nur einen kniehohen Sprung schafft.«

»Ach, du bist wohl der neue Pferdeflüsterer?«, höhnte Regine, ihr langes, schmales Gesicht verächtlich verzogen.

»Nein, das bin ich nicht, aber es ist allemal besser, ihnen zuzuflüstern, als sie anzuschreien.« Mit ungerührter Miene sah Ragnar sie von oben herab an.

»Dein unverschämtes Verhalten wird noch Konsequenzen haben!« Regines Zeigefinger deutete drohend auf ihn.

Auch diese Provokation ignorierte er, sprang aus dem Sattel und wandte Regine den Rücken zu. »Guten Tag, Lena.«

»Hallo.« Sie grinste verlegen, während Regine die unglückliche Tanja unsanft am Arm mit sich führte und dabei böse Blicke in Richtung Ragnar warf.

»Puh«, Lena blies die Backen auf, »die hast du aber ganz schön auflaufen lassen.«

»Sie ist ein garstiges, jähzorniges Weib. Wäre sie ein Pferd, hätte man sie sicher schon zum Schlachter gebracht.«

Lena lachte lauthals los. »Da könntest du Recht haben.« Sie räusperte sich. »Du, ich wollte wegen dem Brief von deiner Großmutter mit dir sprechen.«

»Dachte ich mir.« Unerwartet sanft streichelte er Devera über den Kopf. »Kommst du mit? Ich möchte zur Belohnung noch mit ihr spazieren gehen.«

»Ja, von mir aus.«

Ragnar löste Deveras Sattel, legte diesen über den Zaun und streifte ihr die Zügel über die Ohren. Den Hals lang gestreckt, den Kopf entspannt gesenkt, folgte die Stute Ragnar, der den Schotterweg in Richtung Wald einschlug.

Unsicher, wie sie anfangen sollte, schritt Lena neben ihm einher.

»Hat deine Großmutter dir auch geschrieben, du sollst mit mir auf Schatzsuche gehen?«, fragte sie schließlich.

Ragnar wandte sich ihr zu. »Ein verrückter Gedanke, nicht wahr?«

»Ja schon.«

»Vor allem, da du mich ja nicht ausstehen kannst«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu.

»Wie kommst du darauf …«, begann sie empört. Nach kurzem Zögern meinte sie dann jedoch: »Na ja, du machst es einem nicht unbedingt einfach, dich zu mögen. Ich denke da nur an deine Auftritte im Altenheim.«

»Mag sein.« Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte er vor sich auf den Weg, fügte jedoch keine Erklärung hinzu.

»Also, denkst du, es ist etwas dran an dem Schatz?«, drängte Lena.

»Ich muss zugeben, ich weiß es nicht.« Ragnar verwuschelte Deveras schwarze Mähne. »Aber wie meine Großmutter aus Island immer gesagt hat: Es gibt viele Dinge auf der Welt, die wir für unmöglich halten und die doch wahr sind.«

»Dann meinst du, wir sollen ernsthaft nach den Edelsteinen suchen?«, hakte Lena zweifelnd nach. Auch wenn ihr der Gedanke letzte Nacht noch gut gefallen hatte, jetzt wusste sie nicht, ob es tatsächlich sinnvoll war, sich auf solch eine Aktion einzulassen.

»Sagen wir’s mal so«, Ragnar kickte mit dem Fuß einen dicken Stein ins Gebüsch. »Wir haben ja nichts zu verlieren. Großmutter meinte, sie habe den Ort gemalt, an dem die Edelsteine versteckt seien. Wir könnten die Bilder heraussuchen, die Orte der Umgebung darstellen, um herauszufinden, ob sich dort der vermeintliche Schatz befindet.« Mit einem zynischen Zug um seinen Mund legte er den Kopf schief. »Es sei denn, ich bin dir derart zuwider, dass du auf deinen Anteil verzichten möchtest.«

»Pah!« Lena warf ihre Haare zurück. »Ich denke, ich werde dich ertragen – schließlich winkt ein großer Gewinn.«

Wie es aussah, war Ragnar nicht beleidigt. Er grinste, wobei seine Zähne weiß aufblitzten. »Also, lass uns mit der Schatzsuche beginnen. Ich schlage vor, wir bringen Devera zurück, dann sehen wir die Bilder durch, die ich in meiner Wohnung habe. Ach ja«, fügte er noch hinzu, »das Auto deiner Großmutter brauche ich nicht mehr. Mein lieber Onkel Georg hat mir die Bilder vorbeigefahren. Sein Kommentar war: Dann ist der Müll endlich aus dem Weg.«

»Ein Wunder, dass eine so nette Frau wie deine Oma ein solches Ekel zur Welt gebracht hat.« Sie sah dabei auch Ragnar an, biss sich anschließend jedoch auf die Lippe.

Auch er räusperte sich nur, zupfte an Deveras Zügeln und drehte um.

Nachdem das Pferd auf der Weide war, folgten sie einem schmalen Feldweg, der sich hinter den Stallungen und dem Reitplatz vorbei bis zu einer kleinen Holzhütte erstreckte. Ragnar schloss die Tür auf und machte eine einladende Handbewegung, wobei er spöttisch eine Augenbraue hob. »Willkommen in meinem Reich.«

Viel Platz bot das Holzhaus nicht gerade. Die Wohnküche stellte den größten Raum dar, eine angelehnte Tür gab den Blick auf ein winziges Schlafzimmer frei, eine zweite Tür führte vermutlich ins Bad. Durch das alte Holz wirkte alles recht düster, aber trotzdem fand es Lena auf den ersten Blick gemütlich, wenngleich ihre Schwester Ragnars Behausung als entsetzlich unordentlich bezeichnet hätte. An einem Bücherregal lehnten eine ganze Reihe Bilder, auch auf dem abgesessenen, braunen Sofa lagen kleinere Exemplare, außerdem zahlreiche Kleidungsstücke und einige Zeitschriften.

»Also gut.« Lena begann, sich die Bilder anzusehen. »Dann sollten wir die Gemälde aus unserer Gegend aussortieren.«

»In Ordnung.«

Nach und nach inspizierten sie sämtliche Ölbilder und auch die kleinen, teilweise in Mappen steckenden Bleistiftzeichnungen und machten einen Stapel mit fantastischen Bildern und einen weiteren mit jenen aus der Region. Als die Abenddämmerung bereits hereinbrach, hatten sie eine ganze Reihe an Ölgemälden vom Walberla, der Ruine Neideck und anderen Sehenswürdigkeiten herausgesucht.

Lena klopfte sich ihre staubigen Hände an der Jeans ab. »Ich sollte dann mal gehen.« Sie holte ihr Smartphone heraus, dann stöhnte sie laut. »Shit, der Akku ist leer. Kannst du mir deins leihen?«

»Ich besitze keines.«

»Kann ja auch ein einfaches Handy sein, ich muss schließlich nicht ins Internet.«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen schielte Ragnar auf Lenas heiß geliebtes Smartphone, das sie zum letzten Geburtstag von der gesamten Verwandtschaft geschenkt bekommen hatte. »Was auch immer das genau ist, ich besitze so etwas nicht.«

»Wie? Du hast kein Handy?« Lena war, gelinde gesagt, entsetzt.

»Nein, ich mag die Dinger nicht, außerdem hat man hier ohnehin keinen Empfang.«

»Aha!« Erst jetzt begutachtete sie den Raum ein wenig genauer und blickte Ragnar mit in die Hüften gestemmten Händen an. »Sag mal, hast du am Ende auch keinen Fernseher und keinen Computer?«

»Nein.« Mit verschränkten Armen lehnte Ragnar an der Wand und sah sie herausfordernd an. »Ein großer Teil der Menschheit verblödet durch diese technischen Errungenschaften.«

»Wohl auch eine Weisheit von deiner isländischen Oma?«

»Das kann schon sein.« Jetzt war sein Gesicht wieder so verkniffen, wie es Lena aus dem Altenheim kannte.

Seufzend hob sie ihre Arme. »Okay, und wie soll ich dann bitte meiner Oma Bescheid sagen, dass ich nach Hause will?«

»Es ist nicht weit bis zu eurem Dorf. Du könntest laufen.«

»Hast du sie nicht alle?«, fragte Lena und schüttelte entrüstet den Kopf. »Das dauert mindestens …«, sie fuchtelte wild in der Luft herum, »… keine Ahnung, bestimmt eine Stunde. Außerdem müsste ich durch den dunklen Wald.«

»Und was ist das Problem daran?«

Obgleich keinerlei Provokation aus Ragnars Worten herauszuhören war, reagierte Lena unwirsch. »Hallo – ich bin eine Frau, und die sollten nicht unbedingt allein im nächtlichen Wald rumlaufen.«

»Hm.« Als hätte Lena ihm etwas völlig Neues offenbart, fuhr Ragnar sich über das Kinn. »Ist das in diesem Land tatsächlich so gefährlich?«

»Ähm, na ja …«, stammelte sie, »hier passiert eigentlich kaum etwas, aber man weiß ja nie. Und abgesehen davon, ich kenne nicht einmal den Weg.«

»Ich könnte dich begleiten«, schlug er vor.

Verwirrt blinzelte Lena ihn an. Der Gedanke, allein mit Ragnar Winter durch den Wald zu spazieren, begeisterte sie nicht allzu sehr, aber hätte er ihr an die Wäsche gewollt, wäre hier genügend Gelegenheit gewesen. »Ich weiß nicht.«

»Unter keinen Umständen würde ich dir zu nahetreten«, versicherte er ihr, hob, Unschuld beteuernd, beide Hände und musterte sie mit seinen seltsamen dunkelgrauen Augen. »Du bist ohnehin nicht unbedingt nach meinem Geschmack.«

»Na, herzlichen Dank«, schnappte sie empört nach Luft und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. »Und was ist dein Geschmack?«

Gelassen hob er die Schultern. »Ich mag reifere Frauen, keine zickigen Mädchen. Außerdem gefallen mir lange, blonde Haare.«

»Sag mal, was bist du eigentlich für ein Machoarsch?« Sichtlich verwirrt runzelte er die Stirn.

»Macho – eingebildeter Kerl, keine Ahnung, wie das in deiner Sprache heißt.«

»Ich habe doch nur gesagt, dass ich eine andere Art von Frauen attraktiv finde. Schließlich hattest du ja Angst, ich könnte dir etwas antun, oder nicht?«

»Ja … nein … keine Ahnung!« Lena wusste selbst nicht, was mit ihr los war. Eigentlich hatte sie nicht das geringste Interesse daran, Ragnar zu gefallen. Andererseits, so wie er sie darstellte, als dummes Mädchen, das kratzte dann doch ganz gehörig an ihrer weiblichen Ehre. »Lass uns einfach gehen«, verlangte sie unwirsch, und als er zögerte, fügte sie spöttisch hinzu: »Nein, ich habe keine Angst, dass du mich hinter einen Busch zerrst und vergewaltigst. Aber falls du es versuchen solltest, trete ich dir dahin, wo es richtig wehtut. Ich habe mal einen Selbstverteidigungskurs gemacht.«

Seine einzige Antwort bestand darin, seine linke Augenbraue zu heben, dann zuckte er mit den Achseln und ging hinaus.

Stumm wanderten sie durch den Wald, und nach einer Weile verrauchte Lenas Zorn auf Ragnar. Obwohl sie in dieser Gegend aufgewachsen war und als Kind oft im Wald gespielt hatte, hätte sie den Weg nach Hause nicht gefunden. Ragnar dagegen fand sich wie selbstverständlich zurecht, verharrte nur hier und da kurz, warf einen Blick um sich und ging dann zielgerichtet weiter. Es hatte schon gedämmert, als sie losgelaufen waren, aber jetzt wurden die Schatten noch länger, und der Wald war bald von einem unheimlichen Zwielicht erfüllt. Zudem waren allerlei Geräusche zu hören, die Lena nicht zuzuordnen wusste. Um nichts in der Welt hätte sie es zugegeben, aber ihr war äußerst unbehaglich zu Mute, und auch wenn sie froh war, nicht allein zu sein, war sie sich nicht ganz im Klaren darüber, ob sie sich in Ragnars Gesellschaft wohlfühlte. Was wusste sie schon über ihn? Gut, er war Frau Winters Enkel, kam aus Island und arbeitete momentan hier als Pferdepfleger. Aber vieles an ihm war dennoch mysteriös. Seine seltsamen Wutausbrüche, seine zynische Art und gleichzeitig dieser sanfte, liebevolle Umgang mit seiner Großmutter oder auch mit diesem schwierigen Pferd. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Aus dem Augenwinkel heraus musterte sie ihn verstohlen. Im Halbdunkel stach sein markantes Profil deutlich hervor. Sein schmales Gesicht, die gerade Nase, das markante Kinn. Geschmeidig schritt er über den weichen Waldboden, und es kam Lena auf einmal so vor, als würde er Teil dieses Waldes sein, mit Büschen und Bäumen verschmelzen.

»Okay, Lena, langsam drehst du echt durch«, murmelte sie vor sich hin.

»Hast du etwas gesagt?« Ragnar wandte sich ihr zu, und auf der Stelle lief sie knallrot an, denn sie hatte ihn sicher auffällig angestarrt. Doch sie war froh um die Dunkelheit, die ihre glühenden Wangen verbarg.

»Fürchtest du dich?«

»Nein, wie kommst du denn darauf?«

»Es muss dir nicht unangenehm sein.« Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah in die Wipfel hinauf. »Die meisten Menschen fürchten sich heutzutage in der Natur, auch wenn ich das nicht verstehe. Mir hingegen jagen eher Großstädte Angst ein.«

»Echt?«, stieß Lena überrascht hervor. »Ich würde so ziemlich alles dafür tun, aus diesem Kuhdorf rauszukommen und in einer großen Stadt zu leben.«

»Gefällt es dir hier nicht?« Langsam schlenderte er weiter.

»Na ja«, erwiderte sie gedehnt, »hier ist absolut nichts los. Bis man in eine Disko oder eine vernünftige Kneipe kommt, muss man eine halbe Weltreise unternehmen, und ohne Auto bist du völlig verloren.«

»Das ist in Island nicht anders. Man kann aber lernen, an anderen Dingen Freude zu finden.«

»Was denn?«, hakte Lena nach. »Vielleicht an Kuhscheiße und Traktoren?«

»Nein, eher nicht.« An seiner weicheren Stimmlage erkannte sie, dass er lächelte. »Aber diese Wälder, ich finde sie wunderbar. Auch die isländische Landschaft, die Berge, Vulkane, das Meer und die endlose Weite haben ihren Reiz, und ich liebe mein Land, aber seitdem ich hier bin, fühle ich mich im Wald sehr wohl und weiß seine Ruhe zu schätzen.«

»Aha«, murmelte sie, hob den Kopf und ließ ihre Augen über die Baumkronen wandern. Okay, der spinnt mal wieder, dachte sie jedoch.

»Sieh nur.« Abrupt hielt Ragnar an, fasste Lena an den Schultern und drehte sie um neunzig Grad nach links.

»Was denn?«

»Psst!« Ragnar legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Dort auf der Lichtung.«

Zuerst wollte Lena ihn ungeduldig anfahren, aber dann erkannte sie, was er meinte. Langsam trat ein Rehbock aus den Büschen hervor, stellte sich, den Kopf hocherhoben, ins Licht der ersten Sterne und blieb wie eine Statue stehen.

»Er wittert uns«, flüsterte Ragnar ihr ins Ohr. »Mach keine hastige Bewegung.«

Sein warmer Atem streifte ihre Wange, und unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Regungslos verharrten sie, waren ganz in dieser Stille gefangen, und die Welt um sie herum schien verborgen in der Dunkelheit. Irgendwann senkte der Rehbock den Kopf und begann zu fressen. Kurz darauf gesellten sich auch noch zwei Rehe auf die Lichtung. Ragnar machte Lena mit einer Handbewegung auf ein Kaninchen aufmerksam, das im Sternenlicht nur wenige Schritte von ihnen entfernt vorbeihoppelte. Als es sich auf die Hinterläufe stellte und dann mit einem mächtigen Satz im Unterholz verschwand, schlich sich ein Lächeln auf Lenas Gesicht, und sie drehte sich zu Ragnar um.

»Und, hat so etwas nicht auch seinen Reiz?«, fragte er.

»Ja, kann schon sein.« Lena räusperte sich, befreite sich aus Ragnars Griff, und die Rehe, vermutlich hatten sie die Bewegung registriert, sprangen mit mächtigen Sätzen davon. »Ein cooler Diskoabend ist mir aber trotzdem lieber.«

»Schade.« Ragnar seufzte tief, dann machte er sich erneut auf den Weg.

»Gehst du nicht gerne abends weg?«, erkundigte sich Lena verwirrt.

»Nein.«

»Was tust du denn dann? Hockst du nur zuhause rum – und noch dazu ohne Computer und Fernseher?«

»Das kommt dir wohl merkwürdig vor«, lachte er. »Es ist ja nicht so, dass ich niemals ausgehe. In Island habe ich mich regelmäßig mit Freunden getroffen, und ich mag diese Mittelalterveranstaltungen, die es bei euch so häufig gibt. Aber ich bin auch ganz zufrieden, wenn ich allein im Wald bin, ausreite oder mit Zelt und Rucksack wandern gehe.«

»O Mann, du bist echt ein Freak«, stöhnte Lena.

Inzwischen hatten sie Lenas Heimatdorf erreicht. Im Schein der Straßenlaterne sah sie, wie sich sein Mund zu einem Grinsen verzog. »Das könnte ich von dir ebenfalls sagen. Wie kann man sich freiwillig mit einer Unmenge von schwitzenden Menschen in einen viel zu engen Raum quetschen und seine Ohren mit dröhnendem Lärm malträtieren, den manche als Musik bezeichnen?«

Für einen Moment wusste Lena nicht, was sie entgegnen sollte. Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, wie jemand in ihrem Alter, und Ragnar war ja lediglich drei Jahre älter, lieber im Wald herumspazierte, als sich abends zu amüsieren.

»Sind in Island alle so drauf wie du?«

»Nein, vielen der jungen Leute, mit denen ich in der Schule war, geht es so wie dir.«

»Gott sei Dank«, stieß sie hervor. »Ich dachte schon, alle Isländer hätten einen an der Klatsche.«

»Ich vermute, dieser Begriff bedeutet nichts Schmeichelhaftes«, spekulierte er mit einem schiefen Grinsen.

»Nicht wirklich«, bestätigte Lena.

Unvermittelt spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. »Wir haben unterschiedliche Vorstellungen vom Leben, aber mich stört das nicht. Möchtest du trotzdem mit mir Großmutters Schatz suchen?«

»Ja, schon«, grummelte Lena.

»Dann sollten wir gleich morgen weitermachen.«

»Nein, morgen kann ich nicht, ich muss arbeiten«, erklärte Lena mit wenig Begeisterung. »Und abends sind wir bei meiner Schwester eingeladen, sie feiert ihren Geburtstag.«

»Gut, dann übermorgen?«

»Okay.«

»Falls ich dann mein Motorrad schon habe, hole ich dich gegen Mittag ab«, bot Ragnar an.

»Alles klar.« Lena öffnete die Gartenpforte und ging zur Haustür. Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie Ragnar im Wald verschwand, und unwillkürlich musste sie an ein wildes Tier denken, das mit der Dunkelheit verschmolz.