Kapitel 7
Frau Winters Vermächtnis
Lena war froh über den unverhofft freien Tag und verbrachte ihn mit ihrer Freundin Katrin im Schwimmbad. Doch immer wieder kreisten ihre Gedanken um Frau Winter und die eigenartigen Vorkommnisse der letzten Nacht. Schließlich beschloss sie, alles als seltsame Zufälle anzusehen, die Stimme in ihrem Kopf war sicher ein Resultat von Übermüdung gewesen.
Am folgenden Tag ging sie morgens wieder zur Arbeit und wurde von Schwester Margareta gleich an ihren enormen Busen gedrückt. »Traurig, dass ausgerechnet du Frau Winter finden musstest. Aber so ist das Leben, auch der Tod gehört dazu.«
Lena lächelte zaghaft, und irgendwie graute ihr davor, Frau Winters Zimmer wieder zu betreten. Wahrscheinlich zog in ein paar Tagen jemand anderes dort ein. Eine Weile noch würde man an die alte Dame mit den fantasievollen Bildern und ihren abenteuerlichen Geschichten denken, aber bald wäre sie vergessen. Tränen stiegen in Lenas Augen, und vielleicht wurde sie sich in diesem Moment das erste Mal ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst. Wer würde sie – vermutlich erst in vielen Jahren – vermissen, wenn sie diese Welt einmal verließ?
»Na, komm her, Kleine!« Noch einmal drückte Schwester Margareta sie und reichte ihr schließlich ein Taschentuch. »So, jetzt atmest du kräftig durch, dann kannst du Maike bei der Gymnastikstunde helfen.«
»Okay.« Lena putzte sich die Nase und ging zum Schwesternzimmer, um Maike abzuholen.
Die beiden Mädchen waren gerade auf dem Weg zum Gymnastikraum, wo die körperlich noch halbwegs agilen Bewohner sicher schon ungeduldig warteten.
»Ach du Schande, der Weltuntergang naht!«, stieß Maike plötzlich hervor, denn aus Frau Winters Zimmer kam im Stechschritt Ragnar, gefolgt von seinem äußerst aufgebrachten Onkel.
»… das werden wir ja noch sehen!«
»Du verfluchter, geldgieriger …«, fuhr Ragnar ihn an.
Seine Augen schienen Funken zu sprühen, doch schon trat Schwester Margareta zwischen die beiden Streithähne. »Aus Respekt vor der Verstorbenen sollten Sie sich zusammenreißen!«
»Wenn aber doch dieser Erbschleicher …«, plusterte sich Georg Winter auf.
»Ich will nichts von deinem verdammten Geld«, zischte Ragnar, die Hände vor der Brust verschränkt, als müsste er sich gewaltsam davon abhalten, seinen Onkel zu erwürgen.
»Bitte klären Sie Ihre Angelegenheit außerhalb dieser Einrichtung«, verlangte Schwester Margareta energisch. »Die persönlichen Sachen von Frau Winter packen wir zusammen, und Sie können sie in den nächsten Tagen abholen.«
»Notfalls sehen wir uns vor Gericht!« Georg Winters wurstiger Finger deutete drohend in Ragnars Richtung, und dieser knirschte mit den Zähnen.
Der junge Mann stieß ein Wort hervor, und Lena war sich ziemlich sicher, dass es das isländische Pendant zu Arschloch war. Ragnar drehte auf dem Absatz um, dann verließ er beinahe fluchtartig den Gang. Georg Winter nickte zufrieden, rückte seine geschmacklose, auffallend bunt gemusterte Krawatte zurecht und murmelte: »Auf Wiedersehen.«
»Dass sie sich auch immer ums Erbe streiten müssen«, schimpfte Schwester Margareta.
»War Frau Winter denn wohlhabend?«, wollte Lena wissen.
»Nein, eher nicht.« Die Altenpflegerin schüttelte den Kopf. »Ich habe allerdings schon gestern mitbekommen, dass es um irgendwelche Edelsteine ging, die ihr Sohn in ihrem Haus oder Garten vergraben vermutet. Soweit ich mitbekommen habe, wollte Ragnar lediglich ein paar ihrer Bilder als Erinnerung, aber sein Onkel bestand darauf, sie zuvor auf verborgene Reichtümer im Rahmen zu untersuchen. Er ist durch ihr ganzes Zimmer gekrochen wie ein Spürhund.«
»Der Kerl ist echt ekelhaft.« Angewidert sah Lena dem massigen Mann hinterher, der sich an Frau Meister und ihrem Rollator vorbeiquetschte.
»Was ist denn jetzt mit unserer Gymnastikstunde?«, erkundigte sich die kleine Frau gespannt, nachdem sie dem unverschämten Kerl lauthals hinterhergeschimpft hatte.
»Wir sind gleich da, Frau Meister«, versicherte Maike ihr.
Die nächsten Tage zogen in einer gewissen Eintönigkeit dahin. Inzwischen war Frau Winters Zimmer wieder bewohnt, bedauerlicherweise von zwei äußerst garstigen, über achtzigjährigen Schwestern, die durch ihr permanentes Gezeter auffielen. Sehnsüchtig wünschte sich Lena das Ende ihrer Sozialstunden herbei, aber sie musste noch bis Anfang Oktober durchhalten, und das kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Seit ein paar Tagen rief Kevin wieder bei ihr an, und auch wenn Lena ihn jedes Mal wegdrückte, gab er einfach nicht auf. Inzwischen erwog sie ernsthaft, sich eine neue Handynummer zuzulegen, denn ihr Exfreund ging ihr gehörig auf die Nerven. Mit Timo kam sie auch nicht richtig weiter. Er war freundlich, spaßte mit ihr, machte jedoch keinerlei Andeutungen, dass aus ihrer Freundschaft irgendwann einmal mehr werden könnte.
An einem drückend heißen Juliabend hatte ihre Großmutter sie zum Gießen verdonnert. Leider bestand Oma Gisela darauf, das Wasser aus ihrem alten Brunnen hinter dem Haus zu holen, statt – wie normale Leute – einen Gartenschlauch zu benutzen. Doch laut ihrer Oma gediehen die Heilkräuter besser, wenn man Regen- oder Brunnenwasser benutzte. So gern Lena ihre Großmutter hatte, manchmal fand sie deren Spleens doch recht anstrengend. Also balancierte sie mit einer antiken Eisengießkanne zwischen Lavendel und Schöllkraut herum, um auf keine der Pflanzen zu treten, von denen sie selbst kaum zu sagen vermochte, ob es sich um Unkraut oder eine Heilpflanze handelte.
»Guten Abend, Lena.« Eine Stimme vom Zaun her ließ sie herumfahren.
»Was machst du denn hier?« Diese Begrüßung klang vermutlich nicht sehr freundlich, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen, weshalb Ragnar urplötzlich vor ihr stand.
Der junge Mann fuhr sich verlegen durch die grau melierten Haare. »Kann ich mit dir reden?«
»Klar.« Sie ließ die Gießkanne stehen und lehnte sich an den alten Bretterzaun, der eigentlich schon lange hätte gestrichen werden müssen.
»Wie du weißt, ist meine Großmutter gestorben«, begann er umständlich.
»Ja, rein zufällig haben Timo und ich sie gefunden«, erwähnte Lena trocken.
»Genau, und vorgestern war die Testamentseröffnung.«
»Hast du was geerbt?«
»Ja, einen Umschlag mit fünftausend Euro.« Ragnar zog seine Augenbrauen zusammen. »Meinem Onkel hat das überhaupt nicht gefallen, aber darum geht es auch gar nicht. Sie hat mir einen Großteil ihrer Bilder vermacht, und außerdem ist ein Brief aufgetaucht, in dem sie schreibt, du hättest ihr ihre letzten Tage sehr versüßt und falls du möchtest, darfst du dir auch einige Bilder als Andenken aussuchen.«
»Ich? Wirklich?«, staunte Lena, und auf einmal saß ihr ein dicker Kloß in der Kehle, der sich verstärkte, als Ragnar fortfuhr.
»Sie hat dich sehr gerngehabt und häufig von dir gesprochen.«
»Wow … ich … also ich mochte sie auch sehr«, stammelte Lena, wobei sie sich bemühte, die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln, denn vor Ragnar wollte sie nicht weinen.
»Also, wenn du möchtest, kannst du mit zum Haus meiner Großmutter kommen und dir einige Bilder aussuchen.« Unsicher sah er sie an. »Es sei denn, du willst sie gar nicht.«
Für einen Moment glaubte Lena, er wolle noch etwas hinzufügen, aber dann biss er sich auf die Lippe und schwieg.
»Nein, ich mag ihre Bilder – ehrlich. Sie haben etwas Besonderes.«
»Ja, das finde ich auch«, stimmte er zu. »Hast du heute Abend noch Zeit, oder ist dir ein anderer Tag lieber?«
»Nein, heute ist okay.« Sie sah sich suchend um. »Kannst du mich mitnehmen? Ich habe … ähm … keinen Führerschein.«
»Bist du noch gar nicht achtzehn?«, wunderte er sich.
»Doch, ich, also … ich habe ihn nur verloren.«
»Soll ich dir suchen helfen?«
Im ersten Moment stutzte Lena und dachte, er würde sie auf den Arm nehmen, aber Ragnar sah sie derart ernst und abwartend an, dass sie lachen musste. Vermutlich hatte er sich unter »verloren« einfach etwas anderes vorgestellt.
»Nein, ich habe ihn nicht verlegt. Mir wurde der Führerschein nach einem Unfall abgenommen.«
»Oh, das tut mir leid.« Dann hob er bedauernd die Schultern. »Aber ich habe auch kein Auto.«
»Und wie bist du hergekommen?«
»Gelaufen.«
»Den ganzen Weg von Burggaillenreuth her?«, fragte sie entsetzt.
»Durch den Wald ist es nicht einmal eine Stunde und ein sehr schöner Spaziergang noch dazu«, erwiderte er ganz selbstverständlich.
Lena hingegen konnte sich kaum vorstellen, freiwillig so weit zu laufen. »Hm, aber sag mal, wie kommst du denn hier so ganz ohne Auto zurecht? Die öffentlichen Verkehrsmittel sind doch eine Katastrophe.«
Er zuckte mit den Schultern. »Mit dem Bus, soweit es geht, sonst zu Fuß oder per Anhalter.«
»Hast du einen Führerschein?«
»Ja, ich kann Auto fahren.«
»Was für ein Glück, dann frage ich meine Oma, ob sie uns ihre Rostlaube leiht.«
»Rost… « Ragnar machte ein fragendes Gesicht.
»Ihr altes Auto, es wird nur noch von Rost zusammengehalten.«
»Ach so.«
»Warte einfach hier.«
Lena rannte ins Haus und platzte ins Wohnzimmer, wo ihre Oma mit einer älteren Frau saß und sie tadelnd ansah. »Lena, hast du den Zettel an der Tür nicht gesehen?«
Sie hatten vereinbart, dass Oma Gisela immer einen roten Zettel mit der Aufschrift »Bitte nicht stören« an die Tür hängte, wenn sie einen ihrer Patienten behandelte.
»Sorry, hab ich echt nicht. Du, Oma, kann ich dein Auto haben?«
»Lena, du weißt doch genau …«
»Ich will ja gar nicht selbst fahren«, unterbrach sie eilig. »Ein Bekannter ist hier, der Enkel von Frau Winter aus dem Altenheim, sie hat mir nämlich ein paar ihrer Bilder vererbt.«
»Ach wirklich?« Oma Gisela stand auf und sah zum Fenster hinaus.
Ragnar wartete noch am Zaun. »Ist er das?«
»Ja.«
»Na gut, dann hoffe ich, er hat tatsächlich einen Führerschein.«
»Soll er ihn dir zeigen?«, fragte Lena ein wenig gereizt.
»Nein, schon gut, aber sag ihm, er soll vorsichtig fahren.«
»Mach ich.« Lena spurtete in die Küche und nahm sich den Autoschlüssel vom Haken neben der Tür.
»Ich hab ihn!«, rief sie Ragnar schon vom Eingang aus entgegen und bedeutete ihm, ihr in die efeubedeckte Garage neben dem Haus zu folgen. Die alten Scharniere der Holztür knarrten, als sie diese mit vereinten Kräften öffneten. Im Inneren befand sich Oma Giselas heiß geliebte, orangefarbene Ente, außerdem Feuerholz für den Kachelofen und zahlreiche Gartengeräte. Lena warf Ragnar den Schlüssel zu, und dieser fing ihn geschickt auf, bevor er sich auf dem Fahrersitz niederließ. »Sag mal, Ragnar, woher wusstest du eigentlich meine Adresse?«
»Ich habe im Altenheim gefragt, und als die nette Pflegerin mit den roten Haaren und den vielen Ketten um den Hals gehört hat, dass meine Großmutter dir einige Bilder vermacht hat, hat sie mir gleich verraten, wo du wohnst«, antwortete er.
»Gunda«, lachte Lena, »sie ist wirklich nett.«
Rumpelnd setzte sich das antike Gefährt in Gang, und Lena beobachtete Ragnar, der mit angespanntem Gesicht hinter dem Lenkrad saß. Offenbar hatte er Probleme mit der Lenkradschaltung, denn mehrfach krachte es bedenklich.
»Oma bringt ihn um, wenn er was kaputt macht«, murmelte sie vor sich hin.
»Was sagst du?«
»Rechts!«, schrie Lena plötzlich.
Hektisch riss Ragnar das Auto herum und fuhr in eine schmale Seitenstraße. Offenbar völlig mit der ungewohnten Gangschaltung beschäftigt, waren Ragnars Augen von der Fahrbahn gewichen, und er hätte beinahe zwei Rentner übersehen, welche die Straße überqueren wollten. Er holperte über den Gehsteig, und um ein Haar wäre Frau Leitner aus der Metzgerei auf der Motorhaube gelandet. Die korpulente Frau wedelte drohend mit ihrem Besen, und ihr Gezeter drang durch die geöffneten Fensterscheiben herein. »Kannst du nicht Auto fahren, du Trottel, du?«
»Doch nicht hier rein«, regte sich Lena auf.
»Aber du sagtest doch rechts!«
»Ich habe auch nicht gemeint, du sollst abbiegen, sondern nur nach rechts lenken. Du bist viel zu weit auf der linken Straßenseite gefahren, du Vollpfosten.«
»Voll… was?«
Lena winkte ab. »Beinahe hättest du zwei Touris umgenietet.«
»Ach wirklich?« Betreten blickte er über die Schulter, was Oma Giselas Ente schon wieder ins Schlingern brachte.
»Kannst du bitte auf die Straße schauen?« Lena klammerte sich am Haltegriff neben der Tür fest und war heilfroh, als sie knappe zehn Minuten später vor einem weiß getünchten Häuschen in Gößweinstein ankamen.
»Hier ist es.« Ragnar wischte sich den Schweiß von der Stirn, ob jetzt von der Fahrt mit dem ungewohnten Auto oder der Hitze wegen, wusste sie nicht.
»Okay, dann lass uns reingehen.«
Die Haustür stand weit offen, und Ragnars Gesicht verfinsterte sich, als sein Onkel mit großen Gesten und einem schmächtigen Männlein an seiner Seite heraustrat.
»Ich gehe davon aus, dass Sie einen guten Preis aushandeln«, verlangte er dröhnend.
Der kleine Mann mit dem spitzen Gesicht, er schwitzte sichtlich in seinem schwarzen Anzug, wischte sich hektisch mit einem Taschentuch über die lichte Stirn. »Das Grundstück ist ohne Haus, sofern Sie es in der Tat abreißen lassen wollen, nicht mehr als fünfzigtausend wert.«
Georg Winters ohnehin schon hängende Wangen fielen noch weiter herab, ein unwilliger Zug erschien um seinen Mund. »Dann strengen Sie sich an, das ist schließlich Ihr Job, und Ihnen winkt ja eine ordentliche Provision! Oder ist Ihre Makleragentur grundlos die renommierteste der Gegend?« Ohne den Immobilienmakler weiter zu beachten, wandte er sich an Ragnar. »Was willst du denn hier?«
»Lena soll sich auch einige Bilder aussuchen.«
Als würde er ein ekelhaftes Insekt betrachten, fuhren seine kleinen Schweinsaugen über Lena. »Lena, aha.«
»Sie hat sich im Altersheim um Großmutter gekümmert.«
»Pah, das machen sie alle und erhoffen sich, auch etwas vom Erbe abzubekommen.«
»Jetzt hören Sie aber mal!«, ereiferte sich Lena, doch der bullige Mann winkte ab.
»Schon gut, die Schmierereien sind ohnehin nichts wert. Je eher der Kram aus dem Haus verschwindet, umso besser, dann kann ich die alte Hütte endlich abreißen lassen.« Damit stapfte er zu seinem Auto.
»Was für ein Kotzbrocken«, zischte Lena, und Ragnar verdrehte zustimmend die Augen.
»Weshalb will er denn das Haus abreißen lassen?«, wollte sie wissen. »In so schlechtem Zustand scheint es nun auch wieder nicht zu sein.«
»Ich gehe davon aus«, spekulierte Ragnar, »dass er die ominösen Edelsteine irgendwo im Keller eingemauert oder im Garten vermutet.« Ragnar deutete auf den Minibagger, der sich neben der Einfahrt befand. »Vermutlich gräbt er jetzt alles um.«
»So wie der aussieht, lässt er lieber graben.«
Sie gingen auf das Haus zu, und an Ragnars angespannter Miene erkannte sie, dass er sich noch immer über seinen Onkel ärgerte.
»Hier sind die meisten ihrer Bilder«, erklärte er mit gepresster Stimme, als sie das Wohnzimmer betraten. An altmodische Möbel gelehnt, standen jede Menge Gemälde, zum Teil gerahmt, zum Teil auch aufgerollte Leinwandstücke. Im Haus roch es muffig, so als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen.
»Ich geh raus«, meinte Ragnar plötzlich. »Sag Bescheid, wenn du dir etwas ausgesucht hast.« Er stürmte zur Tür hinaus und ließ Lena zurück, die langsam zwischen den Bildern umherwandelte. Die meisten zeigten fantastische Landschaften, Wasserfälle, weite Ebenen, ein anderes hielt ein edles, graues Pferd mit wallender Mähne fest, die es herrisch in den Wind warf.
»Ob das eines der Pferde der Tuavinn sein soll?«, murmelte Lena vor sich hin. Sie fragte sich, ob sich Frau Winter schon früher Geschichten über dieses magische Land Elvancor ausgedacht hatte, denn die meisten ihrer Kunstwerke zeigten diese ungewöhnlichen Landschaften, die zu keinem Land passen wollten, das Lena kannte. Zu ihrer eigenen Verwunderung hätte sie die Bilder noch stundenlang betrachten können, denn fast alle passten zu den Geschichten von Frau Winter. Hier die schattenhaften Gestalten der Rodhakan, in graue Umhänge gehüllt, ihre Gesichter nur schemenhaft erkenntlich, dort vielleicht die Bergseen von Avarinn oder die gigantischen Wasserfälle, von denen sie so gerne gesprochen hatte.
»Hast du etwas gefunden?«, ertönte dann jedoch die Stimme von Ragnar aus dem Garten.
»Ja, gleich!« Schließlich entschied sich Lena für das Bild mit den Wasserfällen, das ihr schon im Altenheim gefallen hatte, und jenes, auf dem das graue Pferd abgebildet war. Sie klemmte sich die Bilder unter den Arm und trat ins Freie.
»Denkst du, deine Großmutter würde mir in den nächsten Tagen noch einmal ihr Auto leihen?«, fragte Ragnar, nachdem sie die Bilder auf der Rückbank verstaut hatten. »Ich muss die restlichen Gemälde mit in meine Wohnung nehmen. Onkel Georg befördert sie sonst nur in den Müll.«
»Solange ich ihr nichts von deinem eigenwilligen Fahrstil erzähle«, scherzte Lena.
Als Ragnar kritisch die Stirn runzelte, versicherte sie: »Ja, ich denke schon, Oma ist cool drauf.«
Wieder zuhause stieg Lena, nachdem Ragnar das Auto glücklicherweise unbeschädigt in die Garage gefahren hatte, aus, schnappte sich ihre Bilder und fragte dann der Höflichkeit halber: »Möchtest du noch etwas trinken?«
»Nein, ich laufe nach Hause.« Er zögerte sichtlich, dann reichte er ihr einen Briefumschlag. »Der ist für dich. Ich weiß nicht, was meine Großmutter für dich niedergeschrieben hat, aber du darfst nicht vergessen, sie war schon sehr alt und etwas wunderlich. Nimm ihre Worte nicht zu ernst.«
Lena drehte den weißen Umschlag in der Hand. »Ich denke, du weißt nicht, was drinsteht?«
»Das nicht«, stimmte er zu, »aber … ich gehe davon aus, es wird dem ähneln, was in meinem stand. Wie auch immer, ich gehe jetzt.« Damit machte er ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt und zog von dannen.
»Seltsamer Typ«, flüsterte Lena, steckte den Brief in ihre Hosentasche und brachte die Bilder ins Haus.
»Zeig mal her.« Oma Gisela besah sich die Gemälde, dann nickte sie anerkennend. »Schön, aber ich dachte gar nicht, dass dir so etwas gefällt.«
»Ich weiß nicht, normalerweise sind Ölbilder nicht unbedingt mein Ding, aber hinter diesen hier steckt eine Geschichte und Frau Winter … Irgendwie war sie wirklich sehr nett.«
»Das freut mich, Lena.« Lächelnd drückte Oma Gisela Lenas Arm. »Willst du sie aufhängen?«
»Ja, ich nehme ein paar meiner alten Poster herunter.«
»Das nenne ich mal eine gute Idee.« Oma Gisela tippte Lena auf die Nasenspitze und wirkte recht erfreut.
Zunächst stellte Lena die Bilder neben die Heizung, dann erinnerte sie sich an den Brief, den Ragnar ihr gegeben hatte. Sie setzte sich auf ihr Bett und riss ihn auf. In schnörkeliger, altmodischer Handschrift bedankte sich Frau Winter für Lenas Aufmerksamkeit und ihre gute Pflege. Ein schlechtes Gewissen überkam Lena, denn zu Anfang war sie doch häufig von der alten Frau genervt gewesen. Als sie weiterlas, stutzte sie plötzlich.
… ich habe Ragnar gebeten, dir einige meiner Bilder als Andenken zu überlassen. Mein Haus geht an Georg, denn obwohl er kein guter Mensch ist, so bleibt er doch mein Sohn und hat in den letzten Jahren meinen Pflegeplatz mitfinanziert. Ragnar dagegen möchte ich etwas anderes, möglicherweise noch viel Wertvolleres geben. Ich würde mir wünschen, dass er es ist, der den Schatz der Tuavinn findet, auch wenn ich nicht weiß, ob die Edelsteine Elvancors hier bei uns von Wert sind. Wie ich dir erzählte, hat Maredd meine Erinnerung verblassen lassen, aber ich glaube, ich habe den Ort, an dem die Steine verborgen liegen, schon einmal gemalt. Es ist nur eine flüchtige Erinnerung, von der ich nicht weiß, ob sie dem wirren Geist einer alten Frau entspringt. Findet die versteckten Edelsteine, und vielleicht öffnen sich auch für euch eines Tages die Pforten nach Elvancor. Ich glaube, Maredd nahm damals die zweite Hälfte des Amuletts an sich, mit ihm hättet ihr die Grenzen zu diesem magischen Reich überschreiten können. Letzte Nacht fiel mir wieder ein, was es damit auf sich hat. Es besteht aus zwei identischen Teilen, die sich ineinanderfügen, und erst wenn das geschehen ist, gibt es seine Magie frei, und man kann nach Elvancor übertreten.
Das Amulett! Lena wusste gar nicht, was daraus geworden war, doch dann las sie zunächst einmal weiter.
Du bist etwas Besonderes, Lena, das habe ich von Anfang an gespürt. Bitte hilf Ragnar, er ist fremd hier. Mehr als meine Bilder und die vage Hoffnung, den Schatz zu finden, kann ich ihm nicht vererben, und auch du sollst einen Teil davon abbekommen. Ich wünsche euch alles Gute.
Amelia Winter
Seufzend ließ sich Lena nach hinten auf ihr Bett sinken. Sie sollte also diesem seltsamen Enkel von Frau Winter bei der Suche nach Edelsteinen helfen, die es höchstwahrscheinlich überhaupt nicht gab. Jetzt konnte sie auch Ragnars eigenartige Bemerkung verstehen – wahrscheinlich hatte er einen ähnlichen Brief erhalten.
»Warum ausgerechnet ich?«, stöhnte sie. Andererseits – am Ende gab es diese Steine und Lena wäre ihre Geldsorgen los. Sie sah zur Decke empor. Vielleicht konnte sie dann doch noch ihre Reise machen, erst später studieren, irgendwo in Berlin in einem schicken Apartment, nicht in einer engen Studentenbude.
Okay, Lena, du spinnst!, schalt sie sich selbst. Trotzdem wanderten ihre Gedanken während des ganzen Abends zu dem Brief. Erst ein Anruf von Katrin lenkte sie ab. Ihre Freundin wollte morgen mit ihr in die Disko gehen. Lena sagte freudig zu, aber nachdem sie aufgelegt hatte, erinnerte sie sich an etwas und schlenderte ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern vor dem Fernseher saßen. Ihre Mutter blätterte nebenbei in einem Modemagazin, ihr Vater hielt eine Bierflasche in der Hand und rief laut: »Antwort B, du Trottel! Antwort B, mein Gott, wie kann man denn so dämlich sein?«
»Kommt was im Fernsehen?« Sie ließ sich auf der Lehne neben ihrem Vater nieder. Dessen Augenbrauen hoben sich kritisch.
»Was willst du, meine liebe Tochter?«
»Ich? Nichts!« Sie bemühte sich um eine unbeteiligte Miene, aber bedauerlicherweise kannte ihr Vater sie nur allzu gut.
Er stellte den Ton leise und richtete sich auf. »Hast du was ausgefressen?«
»Nein.« Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger. »Ich möchte nur morgen mal wieder ausgehen.«
Sofort holte ihr Vater tief Luft und setzte zu einem Protest an, deshalb versuchte Lena, ihm zuvorzukommen. »Nur mit Katrin, die trinkt oder raucht garantiert nichts.«
»Wir hatten ausgemacht, ein halbes Jahr keine Disko und keine Feten mehr«, erinnerte ihr Vater sie streng.
»Ja, ich weiß«, beklagte sich Lena, »aber mir fällt hier echt die Decke auf den Kopf!«
»Man kann sich auch anders beschäftigen«, warf ihre Mutter ein.
»Und mit was bitte?« Lena schnaubte verächtlich. »Vielleicht jeden Abend in die Röhre glotzen oder Trecker zählen, bis man eingeschlafen ist?«
»Du kannst Katrin hierher einladen«, schlug Manuela vor. »Dann könnt ihr euch eine DVD anschauen oder … vielleicht abends spazieren gehen.«
Völlig entgeistert sah Lena ihre Mutter an. »Spazieren gehen? Sag mal, bin ich schon sechzig? Am Ende schlägst du noch vor, wir sollen uns nachmittags nach Gößweinstein in die Wirtschaft setzen und uns mit irgendwelchen scheintoten Touristen den Magen mit Sahnetorte vollschlagen.«
»Da wird immerhin nicht gekifft.« Die Augen ihres Vaters verengten sich bedrohlich.
Oma Gisela, die bisher geschwiegen hatte, schaltete sich nun ein. »Darauf würde ich nicht meinen letzten Euro verwetten, und ich weiß nicht, ob die unzähligen Bierchen, die viele der Stammtischbrüder in sich hineinlaufen lassen, nicht schlimmer als ein Joint sind!«
»Du wieder!«, bemerkte Manuela spitz.
»Wie auch immer«, polterte Lenas Vater, »wir bleiben dabei, diesen Sommer gibt es keine Disko für dich.«
»Mensch, Papa!« Lena spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. »Jetzt sei halt nicht so streng, ich habe mir echt nichts mehr zu Schulden kommen lassen.«
»Das will ich auch hoffen.«
»Ich möchte doch nur diesen einen Abend weg.«
»Keine Diskussionen mehr.« Demonstrativ schaltete Dieter die Quizshow wieder lauter und blickte in den Bildschirm.
Wutentbrannt sprang Lena auf und stellte sich vor ihn. »Du weißt aber schon, dass ich volljährig bin!«
»Aber nicht erwachsen, das hast du ja deutlich gezeigt. Und solange du hier wohnst, hast du dich an Regeln zu halten, junge Dame.«
»Verdammt, Papa, das ist … das ist …« Auch wenn Lena bewusst war, wie wenig erwachsen sie im Augenblick wirken musste, stürmte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür lautstark zu. Natürlich hatte sie nach dem Unfall einem Ausgehverbot zugestimmt, aber da jetzt schon über drei Monate vergangen waren, hatte sie absolut keine Lust mehr, jeden Abend zuhause zu sitzen. Zudem war sie ja gar nicht an dem kaputten Auto schuld. »Kevin, ich bringe dich um«, knurrte sie, als es abermals klingelte und Kevins Name auf ihrem Display erschien. Trotzig drückte sie ihn weg und warf ihr Smartphone aufs Bett.
»Also gut, dann gehe ich eben mit Ragnar auf Schatzsuche«, grummelte sie vor sich hin.