Kapitel 20
Schatten
In den kommenden Tagen fühlte sich Lena innerlich völlig zerrissen. Jetzt, da sie sich eingestanden hatte, dass sie in Ragnar verliebt war, wollte sie mehr. Doch er schien sie wirklich nur als gute Freundin zu sehen, holte sie nach wie vor zu gemeinsamen Ausritten ab und rief gelegentlich an. Auch Oma Giselas erneute Einladung zum Abendessen schlug er nicht aus. Seine Hände heilten deutlich schneller, als Oma Gisela vermutet hatte, und so blieb er auch für sie ein Mysterium. Bedauerlicherweise zeigte er keinerlei Anzeichen dafür, Lenas Gefühle zu erwidern. Sie selbst wusste überhaupt nicht mehr, wie sie mit ihm umgehen sollte, und spielte sogar mit dem Gedanken, den Kontakt zu Ragnar völlig abzubrechen. Wahrscheinlich würde er irgendwann zurück nach Island gehen und sie bestenfalls als ein Mädchen in Erinnerung behalten, das ihm einmal bei einer verrückten Schatzsuche geholfen hatte. Doch Lena brachte es nicht fertig, vermisste ihn schon, wenn er sich auch nur einen Tag lang nicht meldete, sehnte sich nach jeder noch so flüchtigen und für ihn vermutlich völlig harmlosen Berührung. Damals, bei der Heuernte, hatte sie sich furchtbar über seinen Kuss geärgert, heute wünschte sie sich nichts mehr, als seine Lippen auf ihren zu spüren.
Natürlich bemühte sich Lena, sich nichts anmerken zu lassen, denn das gebot ihr der Stolz, aber Ragnar bemerkte trotzdem, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
Auf einem gemeinsamen Ausritt durch den Herbstwald fragte er nämlich: »Habe ich dich vielleicht versehentlich verärgert? In letzter Zeit bist du manchmal so still.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich vermisse deine bissigen Kommentare.«
»Nein, du hast mich nicht verärgert.« Sie brachte ein halbherziges Grinsen zu Stande. »Ausnahmsweise nicht.«
»Oder bist du enttäuscht, weil wir Großmutters Schatz nicht finden konnten? Es tut mir leid, Lena, aber mir fällt auch nichts mehr ein.«
Verlegen spielte Lena mit den Fingern in Sahibs Mähne herum. Mittlerweile war sie gar nicht mehr so erpicht darauf, den Schatz zu finden, denn Ragnar hatte ja damals gesagt, er würde sich von dem Geld irgendwo eine Farm kaufen. Sie wollte nicht, dass er fortging, und selbst sie sehnte sich nicht mehr nach einer Reise durch fremde Länder. Und wenn doch, dann hätte Ragnar bei ihr sein sollen, aber das war sicher ein vergeblicher Wunsch. »Es ist nicht schlimm, ich glaube, man kann auch ohne Geld glücklich werden.«
»Das sehe ich genauso.« Seine Augen musterten sie prüfend, und Lena hatte auf einmal den Eindruck, er könnte in sie hineinblicken.
Vielleicht sollte ich einfach die Karten auf den Tisch legen, dachte sie. Aber sie verwarf die Überlegung rasch wieder, denn möglicherweise würde sich Ragnar dann ganz von ihr abwenden – und das würde ihr das Herz brechen. Die Freundschaft zu ihm war besser als nichts, außerdem blieb ihr die leise Hoffnung, auch seine Gefühle könnten sich eines Tages ändern.
»Komm, wollen wir galoppieren?«, rief Lena, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
Ragnar nickte ihr kurz zu, dann stoben die Pferde davon. Der schnelle Galopp ließ Lenas Sorgen für kurze Zeit verfliegen. Doch plötzlich riss der fuchsfarbene Araber den Kopf hoch und schoss in einer Neunziggradkurve ins Unterholz. Um ein Haar wäre Lena aus dem Sattel geworfen worden. Sie klammerte sich an Sahibs Mähne fest, kämpfte um ihr Gleichgewicht und zog erschrocken die Zügel an. Doch das Pferd preschte wie von Sinnen durch das Gestrüpp, Zweige zerkratzten Lenas Gesicht und Arme, und sie duckte sich über den Hals des Pferdes, um den peitschenden Ästen zu entgehen. Gleichzeitig bemühte sie sich, Sahib unter Kontrolle zu bekommen, doch er machte keinerlei Anstalten, langsamer zu werden.
»Jetzt halt doch bitte an!« Noch einmal versuchte sie, das Pferd durchzuparieren, sah sich nach einer Möglichkeit um, es in einen großen Bogen zu lenken und so die Geschwindigkeit zu verringern. Aber die Bäume standen dicht an dicht, und Lena wunderte sich ohnehin, noch nicht an einem Stamm abgestreift worden zu sein. Die Hufe des Wallachs donnerten über den Waldboden, und Lena riss die Augen weit auf.
Ein Schrei entstieg ihrer Kehle, denn vor ihnen tat sich ein Abgrund auf, und Sahib hielt genau darauf zu. Im letzten Augenblick drehte der Wallach doch noch nach rechts ab, aber das war zu viel für Lena. Bäume, Büsche, Laub und Steine wirbelten um sie herum, der Boden kam unaufhaltsam näher.
Der Sturz raubte Lena den Atem. Mit brachialer Gewalt wurde ihr die Luft aus den Lungen gedrückt, und für einen Moment tanzten Sterne vor ihren Augen. Das Donnern der Pferdehufe verklang allmählich in der Ferne, und als Lena sich mühsam auf die Seite rollte, war Sahib schon längst verschwunden.
»Verdammt nochmal, so ein Mist«, stöhnte sie. Ihr tat alles weh, doch die Prellungen waren mit einem Mal ihr geringstes Problem, denn aus dem Unterholz vernahm sie ein bedrohliches Knurren. Ein kalter Schauer lief über ihren ganzen Körper, und plötzlich erkannte sie einen ungewöhnlich großen Fuchs. Mit der Schulterhöhe eines ausgewachsenen Wolfes, den Kopf gesenkt und den langen buschigen Schwanz nach hinten weggestreckt, kam er fast geräuschlos auf sie zugeschlichen. Mehrfach blinzelte Lena, denn sie hatte das Gefühl, die Konturen des Tieres würden verschwimmen. Wahrscheinlich habe ich eine Gehirnerschütterung, dachte sie.
Ganz langsam, um das Tier nicht zu reizen, kroch sie zurück. Möglicherweise war das dieser tollwütige Fuchs, den sie schon einmal gesehen hatte. Seine Lefzen hoben sich, spitze Zähne wurden sichtbar, und erneut drang dieses tiefe Knurren aus seiner Kehle. Zu gern hätte Lena jetzt nach Ragnar gerufen, aber sie traute sich nicht, und sofern sein Pferd nicht ebenfalls durchgegangen war, würde er sie vermutlich ohnehin suchen.
»Ganz ruhig, Füchschen«, flüsterte sie und unterdrückte ein Stöhnen, als sie mit ihrem lädierten Ellbogen gegen einen Stein stieß.
Doch das unheimliche Tier kam drohend näher. Abermals verschwammen seine Umrisse, als würden die Schatten des Waldes versuchen, Formen anzunehmen, konnten sich jedoch nicht dazu entschließen. Diese dunklen Konturen, schoss es Lena durch den Kopf, das ist bestimmt seine Aura. Oma Gisela hatte immer gesagt, Wildtiere seien nicht böse, würden lediglich ihren Instinkten folgen, und solange sie sich nicht bedroht fühlten, würden sie keine Gefahr darstellen. Aber dieses Tier war anders. Lena spürte Angstschweiß ihren Rücken hinablaufen. Eine alles verschlingende Dunkelheit, bestehend aus Schwarz- und Grautönen, umgab den Fuchs.
»Lena?« Der Kopf des Tieres wandte sich in die Richtung, aus welcher der Ruf kam. Erleichtert erkannte Lena Ragnar, doch dieser kämpfte darum, Comet unter Kontrolle zu bekommen, denn das Pferd stieg voller Panik und wollte nicht weitergehen.
»Ragnar, der Fuchs«, rief sie voller Angst.
Der Kopf des Tieres zuckte von ihr zu Ragnar, dann trat er einige weitere Schritte auf Lena zu. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie Ragnar aus dem Sattel sprang und Comet buckelnd das Weite suchte.
»Bleib ruhig, Lena, ich komme zu dir.«
»Was anderes hatte ich gar nicht vor«, versicherte sie mit dünner Stimme. Sie sah, wie Ragnar sich bückte, einen dicken Ast ergriff, den Fuchs kurz musterte und dann in einem Bogen auf sie zukam.
Jetzt waren die eigenartigen, blutunterlaufenen Augen des Fuchses auf Ragnar gerichtet.
Lenas Hände krallten sich in den Fels hinter ihr. »Bitte sei vorsichtig«, flüsterte sie.
Aber Ragnar näherte sich Schritt für Schritt, ließ den Fuchs nicht aus den Augen. Dieser knurrte ihn an, fixierte ihn mit seinen listigen Augen. Beinahe erweckte es den Anschein, als würde er versuchen, Ragnar den Weg abzuschneiden – ausgesprochen ungewöhnlich für ein Tier. Lena hielt die Luft an. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, sich abgewendet, doch sie musste hinsehen.
»Wenn ich jetzt sage, springst du auf den Stein und fliehst den Berg hinauf«, verlangte Ragnar mit gepresster Stimme.
»Nein, du kannst doch nicht …«
»Tu, was ich dir sage!«
Lena schluckte heftig, schielte nach dem etwa schulterhohen Felsen, hinter dem ein steiler Hang weiter hinauf auf einen Hügel führte. Irgendetwas sagte ihr, dass Ragnar diesen Fuchs ohnehin nicht aufhalten konnte und er es auf sie abgesehen hatte, so seltsam es auch klang.
Auf einmal ging alles ganz schnell.
»Jetzt!«, schrie Ragnar.
Lena versuchte, sich an dem Felsen hochzuziehen, glitt jedoch ab. Der große Fuchs sprang vorwärts, Ragnar warf sich dazwischen. Erneut bemühte sich Lena, auf den Felsen zu klettern, ihre Hände krallten sich in das nasse Gestein, doch ihre Füße fanden keinen Halt. Hinter sich vernahm sie ein kehliges Knurren, dann einen Schlag. Ragnar stieß einen Schrei aus, und Lena wandte sich erschrocken um. Der Fuchs stand direkt vor ihm, nur einen Satz vorwärts und er würde ihm an die Kehle gehen.
Schon duckte sich das Tier, hielt aber unvermittelt inne. Dann hob es den Kopf, fixierte das Unterholz neben sich. Dort waberten Schatten, vielleicht waren es auch Nebelschwaden, die sich zu einer menschlichen Gestalt verdichteten. Der Fuchs winselte plötzlich, zog die Rute ein, drehte um und löste sich wenige Schritte später in Luft auf. Nur einen Atemzug später war auch die Schattengestalt verschwunden. Während Ragnar noch immer wie erstarrt dastand, stieß Lena heftig die Luft aus, lehnte sich gegen den Felsen und bemühte sich, ihre zitternden Beine unter Kontrolle zu bekommen. Dann war Ragnar unvermittelt bei ihr, nahm sie in den Arm, wobei seine Augen jedoch weiterhin die Umgebung absuchten.
»Ragnar, was war das?« Dankbar für seine Nähe klammerte sie sich an ihn, hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen.
»Ich weiß es nicht.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, und für einen Moment wähnte sie den ersehnten Kuss ganz nahe.
»Das sieht übel aus.« Zwar streichelte er vorsichtig über ihre Wange, machte jedoch keine weiteren Anstalten.
Verlegen räusperte sich Lena und tastete nach ihrem Gesicht. Sie spürte Schmutz, an ihrer linken Schläfe bildete sich offensichtlich eine Beule, und ganz sicher hatten die peitschenden Äste zahlreiche Kratzer hinterlassen. Doch dies war im Moment ihr geringstes Problem.
»Dieser Fuchs … der war irgendwie seltsam, oder?«, begann sie zögernd.
Ragnar runzelte ernst die Stirn, blickte zurück auf die Stelle, wo vor Kurzem noch der Fuchs gewesen war. »Wie auch immer … Irgendetwas noch viel Stärkeres hat ihn zurückgerufen.«
»Verstehst du das, Ragnar?«
»Nein.«
Schaudernd drückte sich Lena näher an ihn heran.
»Falls du dir nicht zu sehr wehgetan hast, sollten wir verschwinden.« Besorgt betrachtete er sie von oben bis unten. »Oder soll ich besser Hilfe holen?«
»Nein«, versicherte Lena ihm, wenngleich ihr der Sinn im Augenblick nicht gerade nach einem mehr als einstündigen Marsch stand. »Ich will hier nur noch weg.«
»Hatte ich nicht ausdrücklich befohlen, ihn in Ruhe zu lassen, bis wir alle feste Gestalt angenommen haben?« Drohend hatte sich der Schatten über dem Wesen in Fuchsgestalt aufgebaut. Luvett duckte sich, legte winselnd seine Schnauze auf den Boden. »Ich dachte, wenn wir das Mädchen haben …«
»Du sollst nicht denken. Du sollst gehorchen!« Außer sich vor Wut waberten die Umrisse der Schattenkreatur hin und her. Mal wirkte sie wie ein Mensch, dann glich sie einer grau-schwarzen Wolke, anschließend einem der vielen Felsen der Umgebung.
Luvett war nicht so stark wie sein Bruder, hatte sich für die Gestalt eines Tieres entschieden, da diese schneller zu beherrschen war und er zudem den jungen Mann hatte beobachten können, während seine Brüder sich mehr und mehr den Menschen dieser ihm fremden Welt angeglichen hatten. Sie alle waren ungeduldig, wollten den jungen Mann dazu bringen, weitere Brüder hierherzuholen, doch Everon war der Auffassung, man solle ihn auf ihre Seite bringen, statt ihn unter Druck zu setzen. Luvett jedoch war ungeduldig, sah hier eine sehr viel größere Chance für seinesgleichen. Sicher gab es auch in dieser Welt Wächter, und die Kraftlinien waren an manchen Orten stark. Dennoch waren die meisten Wesen, ob Mensch oder Tier, anscheinend kaum mit Magie vertraut, vermochten sich nicht auf Dauer wirkungsvoll gegen ihn und seine Brüder zu schützen, und bestimmt würde es hier für sein Volk sehr viel einfacher werden, die Macht zu übernehmen. Die Aussicht, mächtig zu sein, die Geschicke der Welt zu lenken, ließ seine Fuchsgestalt noch einmal anschwellen, doch Everons energische Zurechtweisung folgte sogleich. »Lass das, sonst wird jeder Narr erkennen, dass du keines dieser Waldtiere bist.«
Widerwillig nahm Luvett erneut die Gestalt eines zu groß geratenen Fuchses an und bemühte sich, sich in Geduld zu üben.
So rasch es Lenas geschundener Körper erlaubte, eilten sie durch den Wald. Da Ragnar der Meinung war, Leutzdorf liege näher, hatte sie sich dazu überreden lassen, gleich zu ihr nach Hause zu gehen. Sie bemerkte sehr wohl, dass auch Ragnar nervös war, ständig verstohlene Blicke über die Schulter warf, und als er ihre Hand nahm und ihr aufmunternd zulächelte, war sie mehr als froh.
»Dieser Fuchs«, begann Lena noch einmal nach einer Weile, »ist das vielleicht eine Art Geist?«
»Nein, das glaube ich nicht, denn du hast ihn ja gesehen, ohne mich zu berühren.«
»Da hast du wohl Recht«, räumte Lena ein. »Aber was könnte es dann sein?«
»Wenn ich das nur wüsste.« Ratlos blickte Ragnar sich um. »Möglicherweise etwas, das einem Geist nahe kommt, nur … Ich habe den Eindruck, es ist böse und aggressiv, und gleichzeitig …« Er beendete seinen Satz nicht, zog lediglich die Augenbrauen zusammen.
»Was gleichzeitig?« Tapfer bemühte sich Lena, mit ihm Schritt zu halten, was ihr nur schwer gelang, denn zum einen legte er ein ordentliches Tempo vor, zum anderen schmerzte ihre linke Hüfte unerträglich.
»Ich weiß auch nicht«, entgegnete er knapp.
»Kann man etwas gegen diese … Dinger tun?«
»Verdammt, Lena, ich habe keinen blassen Schimmer«, fuhr er sie an, woraufhin sie sich auf die Lippe biss und betreten zu Boden blickte.
»Es tut mir leid.« Ragnar hielt sie fest und umarmte sie ganz kurz und vorsichtig. »Schon seit einiger Zeit habe ich mich beobachtet gefühlt, Schatten gesehen. Bisher sind sie immer vor mir zurückgewichen, aber jetzt habe ich den Eindruck, sie werden stärker, dichter.« Er räusperte sich und sah sie traurig an. »Wahrscheinlich ist es das Beste, ich verschwinde von hier.«
»Nein«, entfuhr Lena ein entsetzter Ausruf. »Diese Dinger werden ja kaum nur deinetwegen hier sein.«
»Ich befürchte doch«, gab er kaum hörbar zurück.
»Wie meinst du das?«
Der Griff von Ragnars Hand wurde fester, und er zog sie energisch weiter. »Komm jetzt, es ist besser, wenn du bald zuhause bist.«
»Ragnar!«
»Lena, ich kann das nicht erklären«, sagte er unwirsch. »Und es ist besser, wenn du bestimmte Sachen nicht weißt.«
»Ich dachte, wir sind Freunde«, entgegnete sie verletzt.
»Ja, und deshalb will ich dich auch beschützen.«
Sein Blick über die Schulter ließ sie beinahe dahinschmelzen, aber dennoch war sie wütend, weil er ihr so vieles verheimlichte.
»Diese Schattengestalten sind doch übernatürlich, oder nicht?«
Unschlüssig hob er die Schultern, und Lena warf ihm einen kritischen Blick zu. »Ich kann es dir ehrlich nicht sagen.«
Inzwischen hatten sie das Dorf und das Fachwerkhaus ihrer Großmutter erreicht, und Lena war erleichtert, denn langsam konnte sie tatsächlich nicht mehr weiter. Hastig schloss sie die Tür auf. Vielleicht war es naiv, aber hier fühlte sie sich sicher, auch wenn sie befürchtete, Türen und Mauern würden diese mysteriösen Kreaturen nicht aufhalten.
»Lena, was ist denn mit dir passiert?«, rief ihre Großmutter erschrocken aus, als sie ins Haus traten.
»Ich bin vom Pferd gefallen.« Ein Blick in den Spiegel entlockte Lena jedoch auch ein: »Ach du Schande!«
Ihre linke Gesichtshälfte wies zahlreiche Schürfwunden auf, die Schläfe war blau und grün angelaufen. In ihren Haaren hingen Blätter und Ästchen, ihre Kleider waren völlig verschmutzt.
»Gebrochen hast du dir aber hoffentlich nichts?«, erkundigte sich Oma Gisela besorgt.
»Nein«, erwiderte Lena.
»Lena, ich muss jetzt gehen. Im Reitstall wird man sich Sorgen machen, wenn die Pferde allein zurückkommen.« Ungeduldig trat Ragnar von einem Bein aufs andere.
»Oma, kannst du ihn fahren?«
»Soll ich mir nicht lieber deine Verletzungen ansehen?«
»Nein, ich komme zurecht.« Die Vorstellung, dass Ragnar allein zurück durch den Wald lief, machte ihr Angst. Am liebsten wäre es ihr ohnehin gewesen, wenn er bei ihr bliebe, doch die Sache mit den Pferden leuchtete ihr ein.
»Hier wird dir nichts geschehen«, flüsterte er ihr ins Ohr, als er sie kurz umarmte.
Zwar fragte sie sich, wie er sich da so sicher sein konnte, aber Lena selbst hatte ja auch dieses Gefühl. Nachdem Ragnar und ihre Großmutter gegangen waren, humpelte sie ins Bad. Als sie ihre Kleider auszog, zeigten sich zahlreiche Prellungen und weitere Schürfwunden. Ihre linke Hüfte war tiefblau angelaufen, und als Lena unter die Dusche stieg, brannte das Wasser auf der offenen Haut. Die ganze Zeit überlegte sie, was diese Schatten von ihr oder Ragnar wollten. Weshalb war er der Meinung, sie seien hinter ihm her? Lena überlegte schon, ihre Oma zu befragen. Schließlich kannte die sich mit spirituellem Zeug aus und konnte ihnen weiterhelfen. Andererseits traute sie sich nicht. Zu verrückt klang das, was ihr und Ragnar widerfahren war. Mit einem tiefen Seufzen lehnte sie sich gegen die Wand der Dusche und ließ das warme Wasser über ihren Körper laufen.
Zumindest hat er sich zwischen mich und diesen Schattenfuchs gestellt, dachte Lena, was ein wohliges Kribbeln in ihrer Magengegend verursachte. Dann muss ich ihm ja doch etwas bedeuten. Die böse kleine Stimme, die ihr zuflüsterte, für ihn wäre es trotz allem nur Freundschaft, ignorierte sie.
Als Oma Gisela zurückkehrte, verabreichte sie Lena noch einige Kräutersalben und Tinkturen, die sie auf ihre Verletzungen streichen sollte.
»Na, das Pferdchen hast du aber ordentlich geärgert, wenn es dich so gründlich abgesetzt hat«, war der Kommentar ihrer Großmutter.
»Es hat sich erschreckt.«
»Hm.« Oma Gisela betrachtete ihre Enkelin kritisch. »Vielleicht solltest du einfach ins Bett gehen, Lena, du siehst völlig erledigt aus.«
»Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee.« Es war erst kurz nach sieben, aber sie konnte sich tatsächlich kaum noch auf den Beinen halten.
»Morgen gehst du nicht zur Arbeit«, schlug Oma Gisela vor. »Ich entschuldige dich nachher bei Frau Käppler.«
»Du bist ein Schatz, Oma.«
Um sich von den Schattengestalten abzulenken, schaltete Lena den Fernseher ein, doch ihre Gedanken wanderten stetig zu Ragnar. Er war ganz allein in der Hütte am Wald. Was, wenn die mysteriösen Kreaturen dort auftauchten und ihm etwas antaten? Ihr war klar, dass sie nicht schlafen konnte, bevor sie ihn gesprochen hatte. Als er nicht ans Telefon ging, wurde sie unruhig, doch wenigstens antwortete er auf ihre SMS. Alles okay. Pferden get auch guud. Erleichtert schloss sie die Augen, und auch wenn sie wirre Albträume plagten, so war sie doch erleichtert, fürs Erste diesen Wesen entkommen zu sein.