3. Rückkehr mit
Hindernissen
„Oh Mann, das dürfte interessant werden!“
Felix und Jürgen konnten sich kaum zusammenreißen.
Sie kicherten und feixten albern herum. Ich verstand nicht, was sie
mit ihrem Kommentar andeuten wollten, aber ich bekam ein seltsames
Gefühl, das ich zu ignorieren versuchte. Ich klappte den
Reporterblock auf und begann einfach mit dem Interview, ohne weiter
auf diese Insider-Scherze der Musiker einzugehen.
„Also. Man rechnet euch zur Indie-Szene, aber wie
würdet ihr eure Musikrichtung beschreiben?“, fragte ich und begann
mit einer altbewährten Türöffner-Frage.
Während der Bassist noch zu sehr schmunzelte, um
sich konzentrieren zu können, verpasste ihm Tom einen strafenden
Blick und ging als Erster auf meine Frage ein.
„Im Grunde haben wir nichts dagegen, als Indieband
zu gelten. Aber ich finde, dass unser Sound auch sehr viel Blues
hat und sogar manchmal sehr alternativ sein kann. Wie bei ‚It’s
just me‘!
Plötzlich wurde der vorher so nervös wirkende Tom
zum Frontmann der Band und zum Interviewprofi. Die Wandlung war
unübersehbar. Er genoss diese Seite des Musikerlebens ebenso wie
die Bühnenauftritte.
„Wie habt ihr eigentlich als Band
zusammengefunden?“, wollte ich von den dreien wissen.
Jürgen preschte vor und schrie förmlich:
„Bei Bier und Pizza. Wir haben im selben Lokal als
Kellner gejobbt. So finanzieren wir unser Studium, obwohl wir jetzt
nicht mehr oft auf der Uni sind“, erklärte er mit einem breiten
Grinsen.
Ich fragte sie weiterhin nach ihrer
Entstehungsgeschichte, den Plänen für die Zukunft, ihre
interessantesten Bühnen-anekdoten.
Schon nach einer viertel Stunde hatte ich alles
zusammen. Es war genug Material vorhanden, um „Young Blood“
interessant und wohlwollend darzustellen.
Ich wollte noch zum Abschluss von jedem wissen,
welche Bands und Songs er am meisten schätzte. Diese Information
brauchte ich noch für das Bandprofil, das derzeit nur unvollständig
in unserem Online-Magazin abgebildet war.
Felix, der blonde Bassist, stand vor allem auf
britische Indie-bands, während Jürgen, der zottelige Drummer, eher
Hardrock und Metall-Bands zugetan war. Tom fiel etwas aus dem
Rahmen.
„Weißt du, ich habe eigentlich einen sehr breiten
Musikgeschmack. Ich mag Blues genauso gerne wie Rock, deshalb sind
meine Lieblingsbands sehr unterschiedlich. Ich mag vor allem die
Schweden und die Deutschen sehr. Besonders begeistert bin ich von
‚The Sounds‘, ‚Mando Diao‘ und den ‚Beatsteaks‘. Das ist aber nur
ein winziger Ausschnitt von meinen Top 100“, scherzte er und
lächelte mich auf eine merkwürdig vertraute Weise an, die mich
irgendwie verunsicherte. Ich versuchte abzulenken und sagte:
„Eigentlich hätte ich dann alles und ihr könnt
euch dann die andere Band noch ansehen. Danke euch, Jungs. Euer
Auftritt hat mir übrigens wirklich gut gefallen. Vielleicht sehen
wir uns ja einmal wieder.“
Die drei jungen Musiker lächelten mich an und
gaben mir nach der Reihe die Hand, wobei Tom der Einzige war, der
mir dabei nicht in die Augen sah.
Ich ging zurück vor die Bühne, wo die Hauptband
bereits spielte. Normalerweise wäre ich noch geblieben und hätte
sie mir angehört, aber ich hatte so ein bestimmtes Gefühl, dass ich
es für heute gut sein lassen sollte, und drängte mich in Richtung
Ausgang durch. Wieder an der frischen Abendluft, war ich froh, die
drückende Schwüle vor der Bühne hinter mir zu haben, und setzte
mich wieder auf die dunklen Holzbänke vor dem Kanal. Der Wind wehte
etwas stärker als vorhin. Ich zog meine Jacke an und nahm mir meine
Notizen vor. Das schwache Licht vor dem Flex machte es etwas
schwierig, meine -krakelige Handschrift zu entziffern, aber ich
sah, dass ich alles, was ich zum Interview notiert hatte, mühelos
abtippen konnte. Ich wollte nicht sofort wieder zurück ins Hotel,
schließlich hatte ich mehr als genug Zeit an diesem unangenehmen
Ort verbracht, und nutzte die dumpfe Ruhe vor dem Flex, um meine
Anmerkungen zum Auftritt von „Young Blood“ zu
vervollständigen.
Ich war gerade dabei, mir passendere
Eigenschaftswörter aufzuschreiben, die dem Auftritt und dem Sound
gerecht werden konnten, als sich plötzlich jemand neben mich
setzte. Erschrocken sah ich von meinen Aufzeichnungen hoch und
blickte zu meiner Rechten. Tom hatte sich, fast lautlos, an meine
Seite gesetzt und lächelte mich schief an. Ich war zu irritiert, um
etwas sagen zu können.
„Hi. Lange nicht gesehen, was?“, neckte er mich
wieder in dieser komischen Art. Er trug nicht einmal eine Jacke und
es war kalt, richtig kalt.
„Selber hi. Solltest du nicht eigentlich da drin
sein und den Auftritt sehen, den du unbedingt nicht verpassen
wolltest?“, fragte ich ihn mit hochgezogener Augenbraue. Er lachte
laut auf und schien ein bisschen rot zu werden, vielleicht war ihm
aber auch nur kalt, oder er war noch überhitzt von seinem
anstrengenden Auftritt.
„Was ist so witzig?“, fragte ich ihn und bemerkte,
dass ich unwillkürlich mitlachte.
„Ach, eigentlich nur ich. Ich bin mal wieder
dabei, mich so richtig vor einer tollen Frau zu blamieren“, gestand
er mir. Doch ich starrte stur vor mich hin, von seinem Kompliment
völlig überrumpelt. Ich war so dumm, so naiv. Tom flirtete mit mir,
vielleicht die ganze Zeit schon. Das hatte Jürgen und Felix so
amüsiert. Ich war der Grund für die heitere Stimmung. Ich wusste
nicht, was ich sagen sollte. Ich verstummte.
„Oh, ich hab dich vollkommen überrumpelt, oder?“,
fragte er nervös und nestelte an seine braunen Stirnhaaren
herum.
„Ich … ich, habe anscheinend keinen Sinn mehr für
diese Art der Dinge“, deute ich an und war mir sicher, dass er mich
jetzt für eine Neurotikerin halten musste und der Flirt damit wohl
beendet war.
„Interessant“, sinnierte er. „Seit wann denn nicht
mehr? Und bitte sag jetzt nicht, seit ich mit meinem Freund
zusammen bin!“ Er legte die Stirn in Falten und wartet auf meine
Antwort. Aber was sollte ich ihm sagen? Wenn ich behauptete, ich
wäre schon vergeben, wäre das, genau genommen, eine Lüge.
„Ich glaube, ehrlich gesagt, dass ich schon immer
ein wenig blind für diese Signale war. Aber
irgendwie bin ich schon …“, fing ich an und ließ den Rest des
Satzes in der Luft hängen. Ich konnte nicht sagen: Irgendwie bin ich schon mit jemand zusammen. Ich wusste
doch selber nicht, wie die Dinge jetzt standen.
„Irgendwie? Hm. Das klingt ganz gut“, meinte er
und legte dabei den Kopf schräg. Er musterte jetzt aufmerksam mein
Gesicht und ich musste mir eingestehen, dass ich ein leichtes
Prickeln fühlte. Ein attraktiver Mann sah mich an und das auf eine
sehr unplatonische Weise. Ich fühlte mich geschmeichelt, auch wenn
mir seine Avancen eher unangenehm waren.
„Tom, wir kennen uns ja gar nicht. Du weißt doch
nichts über mich!“, stieß ich hervor. Es
klang abweisender, als ich wollte. Es gab ja keinen Grund, ihn so
vor den Kopf zu stoßen. Schließlich konnte dieser sympathische
junge Mann nicht wissen, dass ich beschädigte Ware war, die immer
noch mit den Wirren ihrer ersten großen Liebe kämpfte.
„Ich weiß, was ich wissen muss. Du hast mich
umgehauen, von der ersten Sekunde an. Deshalb haben sich die beiden
so aufgeführt. Sie haben sofort bemerkt, dass du genau mein Typ
bist“, sagte er selbstbewusst vor sich hin, als wäre es das
Normalste von der Welt, einer völlig fremden Frau all diese Dinge
gleich beim ersten Gespräch zu gestehen. Es war irritierend. Tom
pendelte zwischen liebenswerter Schüchternheit und tollkühnem
Selbstbewusstsein im Sekundentakt hin und her.
Ich versuchte die richtigen Worte zu finden, aber
es wollte mir nicht so recht gelingen.
„Tom, ganz ehrlich, ich fühle mich geschmeichelt.
Aber jetzt mal im Ernst, was willst du von mir? Was, wenn ich eine
fruchtbar anstrengende Zicke bin?“, deute ich an und versuchte
damit seine Annäherungsversuche abzublocken. Es half, dass er
wenigstens nicht versuchte, näher zu kommen. Er lachte laut über
das, was ich ihm gesagt hatte, und schüttelte energisch und
amüsiert den Kopf.
„Blödsinn. Das bist du nicht, bestimmt nicht. Ein
Mädchen, das so hübsch ist wie du, Musik mag und Blondie-T-Shirts
trägt, kann keine Zicke sein“, meinte er und deute mit dem Kopf auf
mein T-Shirt.
„Außerdem ist es doch recht eindeutig, was ich von
dir will“, murmelte er vor sich hin, jetzt wieder etwas
schüchterner.
Dieses Geständnis versetzte mich in Panik. Ich
versuchte die Richtung, die unser Gespräch einschlug, sofort zu
ändern. Seltsamerweise kam mir aber nicht der Gedanke, einfach zu
gehen.
„Tom, darf ich dich was fragen?“, deutete ich an
und ignorierte damit seine letzte Bemerkung völlig.
„Ja, klar“
„In deinem Song – ‚It’s Just Me‘ – geht es doch um
eine Frau, die einen Mann verlässt, weil sie damit nicht klarkommt,
wie er nun mal ist.“
„Mhmh“, nickte er zustimmend und blickte mich
neugierig an.
„Ist dieses Thema
autobiografisch?“, fragte ich ihn und war plötzlich ganz begierig
auf seine bevorstehende Antwort.
„Es ist dir also aufgefallen. Ja, ich fürchte,
genau das ist mir passiert. Ist noch gar nicht lange her“,
flüsterte er vor sich und wirkte etwas abwesend.
„Beschissenes Gefühl, oder?“, fragte ich in die
Dunkelheit.
„Oh, ja. Das kannst du laut sagen“, stöhnte
Tom.
Und plötzlich gab es zwischen uns eine Verbindung,
einen Moment des Verstehens. Ich saß neben einem Mann, der
verstand, der etwas Ähnliches durchgemacht hatte.
„Also das ist es“, kombinierte er für sich selbst
und spielte auf meine merkwürdige Verfassung an, die ihm nicht
entgangen war.
Ich stritt es nicht ab, bestätigte seinen Verdacht
aber nicht wirklich.
Keiner von uns wusste, was er noch sagen sollte.
Das Schweigen dauerte mittlerweile zu lange. Es überschritt die
Grenze zwischen einer normalen Gesprächspause und einem unangenehm
langen Schweigemoment. Dann machte ich den Fehler und sah zu ihm
hinüber. Meine Augen trafen seinen warmen Blick. Es ließ mich nicht
kalt, aber was ich deshalb empfand, wusste ich nicht.
Ein flüchtiger Gedanke blitzte in meinem Kopf auf,
eine vollkommen absurde Vorstellung:
Wäre ich Istvan nie begegnet, wäre ich vielleicht
mit jemand wie Tom zusammen. Das Leben würde so einfach sein. Wir
würden viele Gemeinsamkeiten haben. Es gäbe nicht diese
Gefühlsachterbahn und keine Narben in meiner Seele. Und Tom, er
wäre eine gute Wahl. Das Leben würde einfacher sein.
Ich schüttelte benommen den Kopf, um diese
Gedankenfetzen zu verscheuchen. Es war mein Monster, das mich jetzt
wieder einmal versuchte zu quälen. Oder wollte es mich nur vor
weiteren Schmerzen schützen? War mein Monster gar ein Schutzengel,
den ich nicht haben wollte, weil er mich von dem fernhielt, wonach
ich mich sehnte: dem Zusammensein mit Istvan.
Tom bemerkte meine geistige Abwesenheit. Mein
Gesichtsausdruck musste sich verändert haben.
„Alles in Ordnung?“, wollte er jetzt wissen und
ich konnte echtes Mitgefühl aus seinem Tonfall heraushören.
„Ja. Tut mir leid. Ich bin in letzter Zeit keine
besonders angenehme Gesellschaft“, entschuldigte ich mich bei
ihm.
„Ach, was soll’s. Außerdem glaube ich, dass du
dich in dieser Hinsicht nicht richtig einschätzt. Immerhin sitze
ich mit dir hier draußen in der Kälte, anstatt mir den Auftritt
meiner Freunde anzusehen. Und ich bereue es nicht“, tröstete er
mich.
„Danke, nett von dir“, antworte ich und drehte
verschämt mein Gesicht zur Seite.
Der Auftritt der anderen Band musste gerade zu
Ende gegangen sein, denn die Massen strömten aus der Tür und in dem
zweiten Klubraum stellte man die Musik lauter. Wir sahen eine Weile
den vielen Leuten zu, die entweder schon den Heimweg antraten oder
nur den Ort wechselten. Nachdem der DJ die Anlage richtig schallend
gestellt hatte, konnten Tom und ich die Musik sogar hier draußen
deutlich hören.
Es wurde ein Song einer schwedischen Rockband
gespielt, die zu meinen Lieblingsmusikern gehörten. Eine ihrer
schnellen Nummern dröhnte durch die Fensterscheiben hinaus bis zum
Donaukanal, an dessen Ufer wir noch immer saßen. Als ich die ersten
Takte des Liedes von „Johnossi“ erkannte, formten meine Lippen ganz
von selbst die gesungenen Worte nach, die ich schon unzählige Male
gehört hatte. Tom neben mir fuhr plötzlich von der Bank hoch und
packte mich am Arm. Ich riss erschrocken die Augen auf.
„Das gibt es doch nicht. Jetzt sag bloß, dass du
auch ein Fan von Johnossi bist!“, schrie er mir fast ins
Gesicht.
„Doch, natürlich. Ich habe sogar ihr erstes
Konzert in Österreich gesehen, zusammen mit meinem Chef. Er mag sie
auch sehr. Es war ein fantastischer Auftritt“, erinnerte ich mich
und unterdrückte gleichzeitig eine andere Erinnerung. Als sich
Istvan damals eine Schallplatte dieser Band besorgt hatte, weil er
wusste, dass ich sie liebte und er mir zögerlich gestand, dass er
nur ihre langsameren Stücke hören könnte – sein Gehör war zu
sensible für ihre rockigeren Stücke –, sie aber dennoch mochte. Die
Erinnerung daran und an das Bild, wie wir dabei gemütlich in seinem
Bett gelegen hatten, drehte mir schmerzhaft den Magen um. Tom ließ
ich davon nichts merken, sondern formte einfach weiter die
Liedzeilen still mit dem Mund nach. Er starrte mich die ganze Zeit
dabei an. Ich war von der aufflammenden Erinnerung so abgelenkt und
überwältigt, dass ich es nicht kommen sah. Damit hatte ich, trotz
aller Anzeichen, nicht gerechnet.
Tom war näher gekommen, stand jetzt ganz dich vor
mir. Ich starrte, ohne Vorwarnung, in seine warmen Augen, die jetzt
eine fordernde Botschaft transportierten. Das war das Letzte, was
ich noch registrierte, bevor er seine Lippen auf meine
presste.
Es musste der Schock sein, denn ich wehrte ihn
nicht ab. Ich ließ Tom einfach machen. Ich ließ es zu, von Tom
geküsst zu werden. Das Monster in mir lachte höhnisch. Und
ich?
Ich fühlte seine warmen, feuchten Lippen, nahm
wahr, wie sein Mund begann, sich mit meinem zu bewegen. Ich
registrierte seinen schneller werdenden Atem an der Seite meiner
Wange, aber irgendwie fühlte ich es nicht. Es war alles, wie es
sein sollte, wenn ein Mann eine Frau küsst. Mein Gehirn urteilte
sogar, dass es ein guter Kuss sein musste, objektiven Kriterien
nach. Er machte alles richtig. Ich war
falsch, verdreht. Auch als er etwas forscher wurde und versuchte
mich zu umarmen, was durch meine fehlende Mithilfe ungeschickt
wirkte, konnte ich es noch immer nicht empfinden. Nicht wirklich.
An meinen Hüften wurde mir etwas wärmer. Der Temperaturunterschied
wurde von meinem Körper registriert und interpretiert, aber ich war
leblos, stumpf. Ich verstand nicht, warum er den Kuss nicht
abbrach. Es konnte nicht gerade aufregend sein, eine leblose Hülle
zu küssen.
Wieso konnte ich seinen Kuss nicht empfinden? Es
lag nicht an ihm. Schließlich konnte ich noch genug
Einfühlungsvermögen aufbringen, um sicher zu wissen, dass ich
früher etwas empfunden hätte. Aber jetzt,
nach Istvan, kämpfte Tom auf verlorenem Posten. Jedem anderen Mann
würde es genauso er-gehen. Es wäre vollkommen egal, um wen es sich
dabei handelt. Ich würde nie wieder einen anderen Mann küssen
können. Istvan hatte mich für alle anderen Männer dieser Welt
verdorben. Ein Teil von mir wurde verdammt wütend auf ihn, als mir
das bewusst wurde. Ich und sogar mein Körper, wir konnten nur ihn
lieben, ausschließlich. Als mich diese Erkenntnis wie ein Schlag
traf, kam ich wieder zu mir und bemerkte, dass Tom noch immer an
meinen Lippen hing. Eine Schockwelle fuhr durch meine Körper und
ich stieß ihn heftiger, als ich wollte, von mir. Er war vollkommen
überrumpelt. Ich hatte Tom so heftig von mir geschubst, dass er mit
dem Rücken gehen das Geländer vor dem Donaukanal krachte.
„Autsch, das war nicht die Reaktion, auf die ich
gehofft hatte“, stieß er etwas beleidigt hervor und verstummte, als
er mich wieder ansah.
„Oh Gott, was ist mit dir! So schlecht küsse ich
doch bestimmt nicht“, sagte er erschrocken und durchbohrte mich,
noch immer fassungslos, mit seinem Blick.
Was war mit mir?
Ich fasste mir an die Lippen, als könnte ich so
meinen Betrug ungeschehen machen, konnte aber nichts
Ungewöhn-liches ertasten. Erst als ich meine Hand zurückzog und
dabei meine Wange streifte, bemerkte ich es. Ich weinte. Tränen
liefen meine Wangen entlang. Ich wollte vor Scham im Erdboden
versinken. Dieser arme Junge! Mein Monster trieb ein gemeines Spiel
mit ihm. Doch er schien mir nicht wütend zu sein. Er sah mich nur
mitleidig an.
„Tut mir so leid“, stammelte ich verheult. „Es
liegt nicht an dir oder an dem Kuss. Es liegt an mir. Ich … ich …
bin“, stotterte ich und bemerkte, dass ich kaum verständlich
war.
„Was bist du?“, fragt er verwirrt und blieb, zu
meiner Erleichterung, weiter auf Abstand.
„Istvan Jany hat mir das Herz gebrochen. Und jetzt
bin ich beschädigte Ware“, äußerte ich laut, völlig verheult, vor
einem fremden Mann, der mich keine Sekunde zuvor geküsst hatte. Ich
sagte seinen vollen Namen, denn hier, weit weg von Zuhause, konnte
ich es zugeben, durfte ihn aussprechen. Hier gab es keinen Grund
zur Geheimhaltung und ich fühlte den inneren Zwang alles
loszuwerden, auch wenn die Adresse für solche Geständnisse völlig
falsch war. Armer Tom! Er bekam nun alles ab, was ich sorgsam in
meinen Inneren verschlossen gehalten hatte. Er war verdutzt und
vollends verwirrt, was ich ihm nicht verdenken konnte.
„Istvan, wer? Was hat er dir den Schreckliches
getan?“, fragt er und blickte, enttäuscht über die unvorhersehbare
Entwicklung, zu Boden.
„Er hat nichts gemacht.
Ich bin davon gelaufen. Tut mir so leid, es
ist nicht fair, dass du das hier alles abbekommst“, versuchte ich
mich bei ihm zu entschuldigen und deutete dabei mit den Armen auf
mich und meinen Zustand, den man nur schwer übersehen konnte.
„Tja, irgendwie hast du ja versucht, mich
vorzuwarnen. Ich habe aber nicht zugehört. Ich wollte dich so
unbedingt küssen, dass ich alles überhört habe, was dagegen sprach.
Selbst schuld“, versuchte er scherzend anzudeuten und fügte noch
selbstironisch hinzu:
„Vielleicht liegt es nicht nur an dir. Ich hab ein
Händchen für schwierige Frauen, weißt du.“
Tom lächelte gezwungen und setzte sich wieder auf
die Bank. Dann blickte er mich wieder musternd an. Ich setzte mich
zu ihm, hielt aber etwas Abstand.
„Aber eines versteh ich nicht“, murmelte er vor
sich hin. „Wenn du ihn noch liebst – sorry Kleines, aber das ist
unübersehbar –, wieso bist du dann nicht bei ihm, sondern hier und
verführst unschuldige Gitarristen?“, fragte er mich.
Ich starrte ihn erschrocken an und konnte auf
seine ironische Bemerkung nicht regieren. Ich wusste es nicht.
Seine Frage schien mir vollkommen logisch und doch hatte ich keine
vernünftige Antwort parat, außer:
„Das ist kompliziert“, flüsterte ich
niedergeschlagen vor mich hin.
„Ist es doch immer“, wandte er abgeklärt ein,
worauf ich ihm ins Wort fiel.
„Glaub mir, das hier ist anders. Du hast keine
Ahnung, wie anders“, deutete ich an und bereute meinen Versprecher
sofort.
„Ach was!“, widersprach er. „Du bist eine Frau, er
ist ein Mann, oder?“, fragte er rhetorisch und konnte dabei seinen
etwas gereizten Unterton nicht verbergen.
Eigentlich hätte ich auf sein Oder antworten
müssen, denn genau da lag der Hund begraben. Istvan war nicht nur
ein Mann. Er war so viel mehr als das. Und doch war das nicht das eigentliche Problem.
„Ja, es ist eine Mann-Frau-Kiste, aber eine ganz
verzwickte“, erklärte ich ihm und hörte eine leise Stimme, die mir
zuflüsterte, ich solle ab jetzt besser die Klappe halten und
endlich verschwinden.
„Sieh mal, ich weiß ein bisschen was übers
Verlassenwerden, wie du dir ja denken kannst, aber bei mir und
meiner Ex-Freundin war es unvermeidlich. Sie konnte mich nicht so
nehmen, wie ich war. Das hätte nie funktioniert. Also frag dich nur
diese eine Sache: Kannst du ihn so lieben, wie er ist? Ist die
Antwort ja, dann krieg deinen Hintern hoch und schnapp ihn dir.
Wenn er kein Idiot ist, nimmt er dich zurück.“
Er beendete seine Rede, indem er die Arme
selbstsicher vor der Brust verschränkte. An diesem Musiker war ein
fähiger Therapeut verloren gegangen. Er schien gar nicht mehr
gekränkt. Sein Interesse an mir war offensichtlich verflogen oder
von seinem Mitgefühl für meine Lage verdrängt worden. Gut.
Ich dachte eine Sekunde über seine Worte, seine
Frage nach, dann hallte es in meinem Kopf ganz laut nach: Ja, ja,
ja, das kann ich. Ich liebe ihn. So wie er ist. Sogar mein Körper
wusste es, war sich dessen sicher. Die Reaktion auf Toms Kuss war
mein letzter, der überzeugendste Beweis. Ich musste es nur noch
laut aussprechen, um es zu besiegeln.
„Ja, das tue ich“, antworte ich nach einer halben
Ewigkeit und blickte Tom, erstaunt über meine eigenen Worte und den
festen, überzeugenden Klang in ihnen, an. Er atmet laut aus und
stand dabei auf.
„Na, dann mach dich mal auf die Socken. Du kannst
diesem … Istvan ausrichten, dass er ein Glückspilz ist. Oder
warte … erzähl ihm besser nichts von mir“, riet er mir zum
Abschied und ging zurück in den Klub. Ich hatte ein starkes
Bedürfnis mich bei ihm zu bedanken und stolperte ihm nach. Noch
bevor er den Eingang erreichte, tippte ich ihm auf die Schulter.
Ich drehte ihn sacht herum und küsste ihn kurz auf die Wange.
„Danke“, hauchte ich. Ohne Toms Reaktion
abzuwarten, rannte ich, als wäre der Teufel hinter mir her, die
Treppen vor der Brücke hoch und schnappte mir das erste Taxi, das
mir entgegenkam.
Im Hotel angekommen, konnte ich meine Unruhe kaum
bezähmen. Jetzt wollte ich so schnell wie möglich wieder nach Hause
zu Istvan. Ich musste mich aber noch gedulden, da ich nicht vor dem
nächsten Tag aus dem Hotel auschecken konnte. Ich fluchte ein paar
Mal laut, als ich, wenig geschickt, versuchte, meine Ungeduld in
den Griff zu bekommen. Mein Puls raste die halbe Nacht lang, als
wäre ich in einem Kriegsgebiet und müsste ständig auf der Hut vor
den umliegenden Gefahren sein. Natürlich tat ich kein Auge zu und
die Zeit wollte nicht vergehen. Ich hatte alles schon gepackt und
war bereit zur Abreise, da war es noch nicht mal drei Uhr.
Irgendwie musste ich mich ablenken. Da fiel mein Blick auf den
Reporterblock und ich schnappte mir die Notizen, begann das
Interview abzuschreiben und feilte noch an der Konzertkritik. Die
Besprechung war eine einzige Lobeshymne. Einerseits, weil ich die
Musik der Band und ihren Auftritt tatsächlich gelungen fand, und
anderseits, weil ich etwas bei Tom gutmachen wollte. Also wurden
meine Beschreibungen seines Talents fast schon schwärmerisch. Dabei
schwang sehr viel Dankbarkeit mit. Schließlich hatte ein
anderer Mann erreicht, dass ich endlich so
weit war, zurückzukommen. Endlich. Nur deshalb konnte ich es nicht
bereuen, dass ich von ihm geküsst worden war. Auch wenn ich
deswegen Schuldgefühle hatte.
Aber schon nach einer Stunde war ich mit den
Texten fertig und auch das Korrekturlesen dauerte viel zu kurz. Es
wollte einfach nicht Morgen werden. Ich war sehr aufgeregt und
aufgekratzt. So hatte ich mich das letzte Mal gefühlt, als ich noch
ganz klein gewesen war und den Heiligen Abend und die Bescherung
kaum hatte erwarten können. Aber das hier war schlimmer. Es stand
so viel auf dem Spiel und ich wusste ja noch immer nicht, was mich
bei meiner Rückkehr erwarten würde, ob er noch genauso empfand, ob
ich ihm von diesem Abend erzählen sollte, ob er überhaupt noch da
sein würde. Ich fing an zu grübeln, Angst zu haben. Ich hatte zu
viel Zeit zur Verfügung. In meinem Fall war das immer negativ.
Die Zweifel begannen an mir zu nagen. Würde ich in
offene Arme zurückkehren, oder erwartete mich ein verbitterter,
abweisender Istvan, der mir nicht vergeben konnte? Oder noch
schlimmer, was, wenn er seine Meinung nicht geändert hätte? Würde
ich dann weiterhin mit jemand leben müssen, der mich zwar liebte,
aber nicht zulassen konnte, von mir geliebt und berührt zu werden?
Das wäre die Hölle, der schlimmstmögliche Fall. Nur das nicht, bettelte ich gedanklich vor mich hin und
ruhte meinen Kopf auf dem Kissen aus. Ich wollte aber auf keinen
Fall einschlafen. Doch irgendwann packte mich der Schlaf und riss
mich wieder in einen Traum, den ich sofort wiedererkannte.
Ich lag zusammen mit Istvan auf der grauen Decke.
Jetzt erst sah ich, dass es das Wolftanzlager sein musste. Die
Bäume und die Umgebung bekamen in diesem Traum deutlichere Konturen
und genau wie das letzte Mal trug ich die Zweigkrone auf dem Kopf.
Auch dieser unwiderstehliche Zwang, auf etwas zuzugehen, kam über
mich und ich folgte dem Ruf und ließ Istvan schlafend auf der Decke
zurück. In diesem Traum wurde mir auch bewusst, dass ich nur ein
dünnes Nachthemd anhatte und dass es schon Frühling sein musste,
denn es war mir nicht kalt. Vielleicht war ich auch so von seinem
schlafenden, glühenden Körper aufgewärmt, dass die Kälte des Waldes
mir nichts anhaben konnte. Ich bog langsam, fast schon schwebend
vom Weg ab und sah in der Ferne diese Flamme. Doch dieses Mal
loderte sie nicht bedrohlich vor mir, sondern schien sich vor mir
zurückzuziehen, als hätte ich sie vertrieben oder irgendwie
besiegt. Und dennoch bekam ich diese Panik, die mich zurück zu ihm
trieb. Ich lief durch den Wald in Richtung des Lagers und erwartete
schon, die Decke verlassen vorzufinden, wie beim letzten Mal. Doch
als ich dort eintraf, war er noch da, friedlich schlafend, und auch
die Zweigkrone war noch immer auf meinem Haupt. Erleichtert ließ
ich mich zu ihm herab und berührte seine unbekleidete Schulter. Er
erwachte und lächelte sanft. Dann setzte er sich auf und lachte
vertraut, als er die Krone auf meinen Kopf wiedererkannte. Ich
musste auch lachen und umarmte ihn fest. Er zog mich fest an sich
und flüsterte ohne Groll: „Wieso bist du weggegangen?“
„Ich weiß es nicht“, antworte ich und umarmte ihn
noch fester. Ich wollte seine unfassbare Wärme für mich
konservieren.
„Jetzt bist du ja wieder da“, wisperte er mir ins
Ohr und küsste mich auf die Stirn. Doch da bekam ich plötzlich so
ein scheußliches Gefühl. Im Traum wurde mir klar, dass das alles zu
schön war, um wahr zu sein. Ich schloss ihn erneut in die Arme, um
mich dieser trügerischen Fata Morgana erneut hinzugeben, aber es
gelang nicht mehr richtig. Enttäuscht zischte ich ihm ins
Gesicht.
„Nein, ich bin noch nicht wieder da!“
Ich sagte es entsetzt und er sah mich verwirrt an.
Dann stand er auf und wollte weggehen, als ich völlig geschockt von
seinem Vorhaben mit meinen Armen, die ihn festhielten, Einspruch
gegen seine Absicht erhob.
„Dann komm endlich zurück“, fauchte er mich an und
stürmte mit einer beinahe schon absurden Geschwindigkeit von mir
weg und in den tiefen Wald hinein.
Der Schock weckte mich auf. Was für ein
merkwürdiger Traum. Ich wusste nicht, welche Version dieses Traums,
der mich immer wieder heimsuchte, mich mehr verstörte, entschied
aber, dass die Version, in der er verschwunden blieb, grausamer
war.
Normalerweise hätte ich mich über meinen Traum
aufgeregt, aber als ich jetzt auf die Zeiger meiner Armbanduhr
blickte, legte sich meine Aufregung. Es war endlich Morgen. Ich
wusch mir schnell das Gesicht, putzte meine Zähne und legte ein
wenig Make-up auf, das die Spuren der letzten, beinahe schlaflosen
Nacht verdecken konnte.
Eigentlich sollte man versuchen, so gut wie
möglich auszusehen, wenn man einen Mann wiedererobern wollte. Doch
für diese Raffinesse hatte ich weder die Geduld noch die
Fähigkeiten. Ich selbst musste genügen. Dann schnappte ich mir
meine Taschen und ging zur Empfangslobby. Ich hatte Glück, der
Concierge war pünktlich. Mit einer übertrieben eiligen Geste
stürzte ich auf ihn zu und bat ihn, meine Rechnung fertig zu
machen. Er war überrascht von meiner Eile.
„Verzeihung, junge Frau, aber der Computer ist
noch nicht einmal hochgefahren. Sie müssen sich ein paar Minuten
gedulden“, entschuldigte er sich.
„Gedulden“, wiederholte ich sarkastisch, „haben
sie eine Ahnung“, deutete ich an und setzte mich zum Warten auf die
Couch gegenüber dem Eingang. Nachdem ich, geschätzte zwei
Frauenzeitschriften nervös durchblätternd lang, gewartet hatte,
hielt ich es nicht länger aus und bat ihn nochmals, sich zu
beeilen. Er war etwas genervt von meiner Rastlosigkeit und
vertröstet mich abermals. Ich nickte nur und rollte mit den Augen.
Nach weiteren endlosen fünf Minuten kam er zu mir und überreichte
mir den Ausdruck mit der Hotelrechnung. Ich überflog kurz das
Papier. Er hätte mir genauso gut zehn falsche, überteure Posten
anführen können, ich hätte es nicht bemerkt. Als ich den
Rechnungsbetrag entdeckte, steckte ich ihm mehr als den gesamten
Betrag bar in die Hand und wartet nicht einmal auf mein
Wechselgeld. Als er damit zurückkam, war ich längst auf dem Weg zur
U-Bahn, um mein Auto aus der Parkgarage abzuholen.
Etwas ungelenk bugsierte ich die Koffer von der
U-Bahn-Station zum passenden Parkdeck. Das Glück war an diesem
Morgen offenbar auf meiner Seite, denn mein Auto stand noch auf
seinem Platz. Ich hatte irgendwie damit gerechnet, dass es
vielleicht gestohlen worden sein könnte. Aber ich irrte mich. Ich
schmiss die Koffer in den Kofferraum. Die Laptop-Tasche und meine
Handtasche landeten auf dem Beifahrersitz. Zuerst nahm ich mir die
Wien-Karte aus dem Handschuhfach, suchte mir den besten,
schnellsten Weg aus der Stadt heraus und versuchte dann mir die
wichtigsten Abbiegungen und Ausfahrten zu merken. Ich war mit den
Wiener Straßen nicht mehr so vertraut und wollte mich nicht
ausgerechnet heute verfahren.
Als ich eine gute Route gefunden hatte, startete
ich den Motor und, Wunder über Wunder, ich hatte noch genug Benzin
im Tank, um ohne Zwischenstopp nach Hause zu kommen.
Ich war so fahrig und aufgeregt, dass ich den
Motor beim Ausparken abwürgte. Es war klar, irgendwie musste ich
einen Weg finden meine Aufregung unter Kontrolle zu bringen und mir
die Zeit während der Fahrt nicht mit endlosen -Grübeleien künstlich
zu verlängern. Ich stellte das Radio an und suchte FM4. Als ich den
Sender fand, lief ein Song, den ich schon ein- oder zweimal gehört
hatte. Der Refrain war bekannt genug, sodass man ihn mitsingen oder
zumindest die Melodie summen konnte. Das war meine Strategie für
die Fahrt. Ich würde mich mit Musik ablenken und auf die Liedtexte
konzentrieren. Das sollte funktionieren.
Als ich endlich die Autobahn erreicht hatte, raste
ich so schnell, dass ich mich nur auf der Überholspur aufhalten
konnte. Normalerweise hielt ich es dort nicht lange aus, doch jetzt
konnte ich das Auto gar nicht schnell genug beschleunigen. Ich
wollte es unbedingt noch vor Mittag nach Hause schaffen. Gezwungen
und ohne es mit Freude zu tun, sang ich mit dem Radio mit und
tippte ständig nervös auf das Lenkrad, dem Bass oder den Drums der
jeweiligen Lieder folgend.
So richtig unwohl fühlte ich mich erst, als ich in
Lockenburg ankam und nur noch der Geschriebenstein zwischen mir und
meinem Ziel lag. Den Wald, in dem er lebte, so nahe zu wissen, ließ
die Unruhe erneut unkontrolliert ausbrechen. Ich stellte das Radio
dummerweise ab und sofort begannen die aufgebrachten Gedanken zu
strömen.
Was, wenn er mich hasst? Was, wenn er gar nicht
mehr da ist? Was, wenn … was, wenn … Es ratterte wie ein Bohrer in
meinem Kopf.
Doch dann fiel mir der Traum der vergangenen Nacht
wieder ein. In ihm hatte ich Istvan wieder gefunden, mehr noch, er
hatte sogar forsch und fordernd von mir verlangt, endlich
zurückzukommen. Ich hoffte inständig, dass dieser Traum -keine
falschen Hoffnungen schüren sollte, sondern eher eine Art
prophetische Botschaft an mich war, ähnlich dem Traum, der mich ja
erst von hier, von ihm, weggeführt hatte.
Ich klammerte mich an diese Hoffnung und
Vorstellung. Schließlich wusste ich, dass, wenn er noch immer
dachte, dass er sich von mir fernhalten müsse, ich gezwungen sein
würde, noch viel überzeugender zu sein, als je zuvor. Ich konnte
mir jetzt keine Zweifel oder Unsicherheiten leisten und verbannte
deshalb jede Unsicherheit aus meinem Herzen und aus meinen
Gedanken, die ihn und mich betrafen. Zurück blieb nur die feste
Überzeugung, dass wir wieder zusammen sein mussten, komme, was
wolle, und dass ich alles dafür tun würde. Das gab mir Kraft und
ließ mich auch dann nicht zaudern, als ich den Berg hinter mir
hatte und auf Rohntiz zuraste. Im Dorf angekommen, versuchte ich
wenigstens annähernd die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten.
Doch auf der Straße nach St. Hodas gab ich dann sofort wieder
Vollgas.
Ich fuhr nicht mal zu mir, um meine Sachen
abzusetzen oder mich umzuziehen. Sofort bog ich in seine Richtung
ab, atmete tief ein und hielt die Luft an, als ich meinen Wagen vor
der Bücherei parkte. Ich stieg aus und fühlte die Taubheit meiner
Beine, die nach der langen Fahrt steif waren. Dennoch stürmte ich
auf die Bücherei zu, wo ich ihn vermutete. Doch schon vom Bordstein
aus sah ich das Schild. Er hatte die Bibliothek vorübergehend
geschlossen. Es überraschte mich nicht und dennoch war ich
enttäuscht. Aber es wäre dort ohnehin ein schwieriges Wiedersehen
gewesen, wenn sich tatsächlich jemand in die Bücherei verirrt haben
sollte.
Sein Haus, war mein zweiter Gedanke. Ich nahm die
Abkürzung und stand schneller als erwartet vor der mit Efeu
bewachsenen Steinmauer. Der vertraute Anblick ließ mich
erschaudern. Genau hier war es gewesen, als ich ihn verlassen
hatte. Genau hier hatte er es in meiner Stimme gehört und in meinen
Augen gelesen, dass ich gehen würde, dass ich gehen musste. Die
Erinnerung schnürte mir die Kehle zu. Ich schüttelte den
schmerzhaften Gedanken von mir. Ich brauchte meine Stimme, brauchte
ihre Überzeugungskraft. Mit geschlossenen Augen atmete ich ein und
aus, dann drückte ich das Gartentor auf und trat auf die Veranda.
Ich hörte keine Geräusche im Haus. Wenn er da
wäre, wüsste er schon, dass ich hier stehe, schoss mir durch
den Kopf.
Ich wollte schon den Türknauf in die Hand nehmen,
da begann das schmerzhafte Herzrasen. Angst und Aufregung
vernebelten mir die Sinne. Ich beschloss mich erst zu beruhigen,
ehe ich mich dem stellte, was mich da drin erwarten würde. Mit dem
Rücken lehnte ich mich an die Wand neben der Tür und versuchte mich
mit bewusstem Atmen zu beru-higen. Nach einer Weile half es. Als
ich mich von der Wand abstützte, streifte mein Blick das Fenster
und ich konnte sehen, dass etwas in diesem Haus anders war, dass
etwas ganz und gar nicht stimmte.
Ich legte meine Hände an die Schläfen und presste
mich gegen das Fensterglas, um besser sehen zu könne. Als ich es
dann erblickte, setzte mein Herz aus und ich bekam fast einen
Herzschlag.
Beinahe alle seine Möbel waren umgekippt, manche
sogar kaputt geschlagen. Seine Kohlezeichnungen waren von der Wand
gerissen worden und lagen in Fetzen auf dem Boden, während Teile
davon noch an der Wand geheftet hingen. Es war ein trostloser,
erschreckender Anblick. Alle seine Sachen, sein Zuhause so zerstört
vorzufinden. Ja, mein Monster hatte ganze Arbeit geleistet. Ich
wusste sofort, dass das hier sein Werk war, oder besser gesagt,
mein Werk. Schließlich war ich der
Feigling, der weggerannt war. Nicht eine Sekunde lang kam mir in
den Sinn, dass es die Überreste eines Einbruchs oder gar eines
Angriffs sein könnten. Nein, dann wären nicht auch seine
Zeichnungen zerfetzt worden. Ich musste jetzt hinein, obwohl ich
wahnsinnige Angst verspürte, ihn inmitten dieses Chaos zu
entdecken.
Ich öffnete die Tür und das Erste, was ich sah,
war, dass die Verwüstungen im Inneren des Hauses noch schlimmer
waren. Es betraf beinahe jeden Raum, sogar die englische
Bibliothek. Alles lag in Trümmern. In der Bibliothek hatte er
mehrere Regale umgekippt, nur die Schallplatten waren unberührt,
wofür ich ein Stoßgebet zum Himmel schickte.
Aber an der Türschwelle lag ein Gedichtband von
Frost, aus dem Istvan beinahe jede Seite herausgerissen hatte. Was
hatte ich bloß angerichtet? Wie konnte ich ihm so
wehtun? Ich war tatsächlich ein Monster. So etwas tut man
doch nicht jemandem an, den man liebt.
Wie sollte ich das alles wieder gutmachen?
Ich zögerte, doch dann tat ich es doch. Ich betrat
das Schlafzimmer. Seltsamerweise war hier kein Anzeichen seiner
Zerstörungswut zu finden. Das Zimmer machte den Eindruck, als hätte
er es seit meiner Abreise nicht einmal betreten. Sogar das
Bettlaken lag noch auf dieselbe Weise, wie ich es zuletzt gesehen
zu haben vermeinte. Es war gespenstisch und ich bekam bei diesem
Anblick Gänsehaut.
Einer plötzliche Eingebung folgend, ging ich zum
Schreibtisch und öffnete die Schublade, doch das schwarze Notizbuch
lag nicht, wie vermutet, an seinem üblichen Platz. Da kam mir ein
scheußlicher Gedanke, der erneut Wunden in mein geschundenes Herz
schnitt.
Hatte er es gar vernichtet wie alles andere?
Konnte er das tatsächlich über sich gebracht haben? Ich schluckte
einen dicken Kloß hinunter. Meine Rückkehr würde noch viel
schwieriger werden, als ich befürchtet hatte. Doch wo war er?
Er musste noch irgendwo hier sein. Ich konnte
fühlen, dass er nicht weggegangen war. Aber wo versteckte er sich?
Ich würde ihn nie finden, er hatte so viele Möglichkeiten. Ich
musste ihn irgendwie dazu bringen,
mich zu finden. Aber wie -sollte ich das
anstellen?
Welcher Ort wäre bedeutend genug, dass Istvan
nicht widerstehen könnte, der ihn sofort davon überzeugen würde,
dass ich zurück war?
Dann tauchte ein Bild vor meinem geistigen Auge
auf, zusammen mit meiner Erinnerung an sein Gesicht:
der Turm.