20. Der Ersatzkrieger
 
 
Ich kam auf dem dunklen Parkplatz an. Die einzige Lichtquelle war der Vollmond. Noch immer hatte ich Istvans letzte Worte im Ohr, bevor wir uns verabschiedeten: „Du hast den Verstand verloren. Tu, was immer du tun musst, aber ich flehe dich an, auf dich aufzupassen!“ Dann ging er wohl seiner Wege, die ihn tief in den Wald führten und ich ging meinen Weg, der mich hierher, auf einen beinahe verwaisten Parkplatz vor dem Stausee gebracht hatte. Den ganzen Nachmittag lang und auch den halben Abend hatten wir gestritten. Ich war erschöpft. Wie sehr ich es auch versuchte, ich konnte ihn einfach nicht von meinem Plan überzeugen. Was immer ich angeführt, wie ich es auch formuliert hatte, Istvan war nicht willens gewesen mich gehen zu lassen. Erst als Valentin für mich einstand, zeichnete sich eine Veränderung ab. „Du musst sie gehen lassen! Es geht um ihren Bruder“, versuchten er und ich Istvan immer wieder einzutrichtern. Aber er war nicht bereit zuzuhören. Irgendwann am frühen Abend verlor ich die Geduld. Er hatte mich sogar mit Gewalt festzuhalten versucht. Ich nahm seinen störrischen Schädel zwischen beide Hände und zwang ihn, mich anzusehen. „Sieh mich an!“, befahl ich ihm unerbittlich. „Sieh mich an, hab ich gesagt!“ Er wand sich in meinen Händen.
„Ich muss das tun. Stell dir vor, es ginge um mich. Du würdest auch keinen Moment zögern … Hab doch ein bisschen Vertauen in mich.“
„Vertrauen“, hatte er streng geblafft, „Vertrauen! Du willst mir ja nicht einmal sagen, wie du Viktor von dort wegschaffen willst. Vertrauen. Sag mir, auf welche Weise du ihn vom Zeltlager weglocken willst, dann vertrau ich dir. Vielleicht“, zischte er mich zornig an. Meine kraftlosen Hände ließen von ihm ab und fielen herunter. Aber ich sagte es ihm nicht. Ich hatte gewusst, wenn er auch nur eine leise Ahnung davon gehabt hätte, was ich vorhatte, hätte er mich im Keller der Jagdvilla eingeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Die Zeit war auf meiner, nicht jedoch auf Istvans Seite. Ihm blieben noch nicht einmal drei Stunden, ehe die Verwandlung kam. Also sagte ich ihm bloß: „Es ist ein Täuschungsmanöver. Mehr musst du nicht wissen. Mehr werde ich nicht sagen. Ich kann dir aber ver-sichern, dass ich Viktor so mindestens die halbe Nacht lang von dort weghalten kann. Der Rest liegt bei euch. Ihr müsst es in dieser Zeit schaffen, Farkas aufzuhalten und ihn vom Stausee wegzutreiben“, sagte ich und selbst für mich klang es merkwürdig gefühllos, so als würde ich mir jetzt keine Schwäche erlauben. Viktor brauchte mich. Das hatte jetzt oberste Priorität. Alles andere konnte, musste warten.
Als ich ging, versuchte er mich ein letztes Mal aufzuhalten, da passierte etwas Merkwürdiges, als hätte jeder Einzelne im Valentinrudel meine Gedanken gelesen, kamen sie hinter seinem Rücken auf ihn zu und hielten ihn fest, bevor er mich erreichen konnte.
„Du musst sie gehen lassen“, sagte jeder von ihnen: Valentin. Serafina. Jakov. Woltan. Marius. Er wehrte sich heftig, jedoch zwecklos.
„Verzeih mir“, bettelte ich voller Schuld, „verzeih mir, aber ich kann nicht anders.“ Der Blick, mit dem er mich ansah, voller Anklage, als hätte ich ihn verraten, als würde ich ihm etwas Unaussprechliches antun, brach mir fast das Herz und ließ die Tränen aufsteigen. Doch ich erlaubte sie mir jetzt nicht. Etwas eingeschüchtert von seinen wilden Befreiungsversuchen sagte ich noch: „Der Plan ist gut. Er wird funktionieren. Du darfst nur nicht davon abweichen. Komm nicht hinter mir her, sonst wird alles schieflaufen. Nur wenn du tust, was wir gesagt haben, kann mir nichts passieren. Irgendwie weißt du das auch!“
Es war das Letzte gewesen, was ich zu ihm gesagt hatte, bevor ich verschwand. Ich hatte ihn nicht geküsst, bemerkte ich jetzt voller Verzweiflung und Bedauern. Jetzt durfte erst recht nichts schief gehen, denn für mich konnte es keine Welt geben, in der ich ihn verließ, ohne ihn noch einmal zu küssen. Demnach kann es gar kein Abschied gewesen sein!
Mein Sandwolf läuft jetzt hier irgendwo herum. Dessen war ich mir sicher. Ich hoffte nur, dass er mir vergeben konnte. Er musste …
Hier in meinem eigenen Wagen sitzend, überwältigten mich die Schuldgefühle. Hätte er mit mir gemacht, was ich mit ihm getan hatte, wäre ich wütend und verletzt. Aber er muss verstanden haben. Er ist mir nicht gefolgt, stellte ich zufrieden fest. Denn es war absolut notwendig, dass er nicht sah, was ich bald tun würde. Das hätte er nie zugelassen. Aber es war die ein-zige Möglichkeit, die mir schnell eingefallen war, wie ich meinen Bruder mit Sicherheit von hier wegbringen konnte. Ich war überzeugt davon.
Deshalb atmete ich ein paar Mal tief ein, versuchte Istvans schmerzhaften Gesichtsausdruck abzuschütteln, der mich verfolgte und ging auf den Kofferraum zu. Ich wusste, dass ich dort finden würde, was ich suchte. Das Licht sprang sofort an und beleuchtete die Campingtasche, die ich jetzt immer dabei hatte, seit Istvan und der Wald zu meinem Leben gehörten. Den Schlafsack schob ich beiseite, um besser in der Tasche kramen zu können. Als hätte es nur darauf gewartet, dass ich es finden würde, schlossen sich meine Finger um das Campingmesser mit dem hölzernen Griff. Die glatte, abgegriffene Oberfläche fühlte sich vertraut an. Mit einem leichten Zögern holte ich es hervor und ließ die Klinge aufspringen.
Die scharfe Kante leuchtete merkwürdig hell im Mondlicht, wovon ich ein flaues Ziehen im Magen bekam. Ich darf jetzt nicht feige sein. Das kann ich mir nicht leisten, wenn ich Viktor da raushalten will!, erinnerte ich mich eindringlich. Mit einem heftigen Atemstoß, der meine wahren Gefühle nur allzu deutlich verriet, schob ich meinen langen Ärmel zurück, bis mein linker Unterarm freilag. Meine cremefarbene Haut sah fahlblau aus. Wenig Ähnlichkeit mit einer Mondgöttin, bemerkte ich flüchtig, ehe ich das Messer an meiner Jeans abwischte, so wie ich es immer tat, ehe ich mir eine Scheibe von einem Apfel abschnitt. Merkwürdig, wie zwanghaft manche Gewohnheiten sind. Selbst in den absurdesten Situationen beherrschen sie einen … Keine Vene, Ader, Sehnen oder sonst etwas Wich-tiges verletzen, erinnerte ich mich wieder und wieder, bevor ich meinen Arm von der Unterseite zur fleischigeren, oberen Hälfte vor mir auszustrecken. Meine linke Hand hatte sich automatisch zur Faust geballt. Es muss sein! Es muss sein!
Ich nahm das Klappmesser, setzte es an der kräftigsten Stelle meines Unterarmes an, eher ich fest die Augen schloss. Dann fuhr ich mit einem entschlossen hastigen Schnitt meinen Arm entlang. Zuerst spürte ich nichts außer dem plötzlichen Wind auf meiner feuchter werdenden Haut. Der Schmerz setzte verspätet ein, dafür umso deutlicher. Es war der Schock, mich selbst absichtlich verletzt zu haben. Vielleicht hat Istvan recht und ich hab den Verstand verloren, sagte ich mir selbst, um den Schmerz etwas entgegenzusetzen. Mein Blut fühlte ich deutlich aus der pochenden Wunde austreten. Ein scharfer, pulsierender Schmerz ließ Feigheit in mir aufsteigen. Schluss jetzt! Jetzt schnell damit zu Viktor, sonst war alles umsonst, sagte ich mir selbst und lief in Richtung Zeltlager. Ich musste noch den halben Stausee überwinden, um dorthin zu gelangen. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich etwas vergessen hatte. Ich hatte zwar das Messer schnell im Kofferraum verschwinden lassen, damit Viktor es nicht sehen konnte, auch nicht zufällig. Doch ich hatte nicht daran gedacht, dass meine Verletzung, die ich mehr oder weniger als Unfall auszugeben gedachte, viel zu verdächtig aussah. Immerhin sollte es so aussehen, als hätte ich mich zu Hause geschnitten und wäre hierher gekommen, damit er mich in die Ambulanz bringen sollte. Aber abgesehen von meinem blutverschmierten Unterarm, um den ich mein Überhemd gewickelte hatte, waren meine Sachen viel zu sauber. Zu verdächtig. Ich war mit diesem Arm von St. Hodas bis nach Rohnitz gefahren. So sollte es zumindest aussehen. Also hielt ich kurz an, um mit meiner Schnittwunde gegen die Oberschenkel zu fahren, damit die Jeans auch richtig verschmiert aussah. Danach presste ich noch kurz den unverbundenen Arm gegen meine Brust, bevor ich wieder den Stoff darüber wickelte. Das sollte reichen. Hastig und etwas benommen von meiner eigenen Tat und womöglich dem beginnenden Blutverlust, erreichte ich das Camp, wo mir ein aufgebrachter Freund Viktors entgegenkam, an dessen Namen ich mich auch nicht um alles Gold der Welt erinnern konnte.
„Könntest du bitte Viktor holen. Ich hab mich verletzt und er muss mich ins Krankenhaus fahren“, erklärte ich ihm aufgebracht und präsentierte ihm etwas zu aufdringlich meine Wunde, die er vermied anzusehen. Offenbar hatte der mittelmäßig gut aussehende Mittzwanziger, auf dessen Namen ich einfach nicht kam, etwas gegen Blut. Mir sollte es nur recht sein.
„Ich hole ihn sofort. Warte hier. Bitte“, flehte er. Ich hatte schon verstanden. Sein Blick sagte: „Folg mir bloß nicht mit dem Blut verströmenden Ding!“ Ich nickte.
Während ich den Stoff so fest wie möglich weiterhin an meine Wunde presste, wartete ich ungeduldig auf Viktor. Jetzt hing alles davon ab, dass er genauso reagieren würde, wie ich erwartete. Nachdem ich mir erlaubt hatte, einmal selbstmitleidig zu seufzen, sah ich mich schnell im Lager um und versuchte alles so schnell wie möglich zu erfassen. Ein stinknormales Sommerzeltlager lag vor mir. Zwei Lagerfeuer. An einem saß ein jüngerer Aufseher, der auf der Gitarre Country und Feelgood-Songs spielte. Einer von Martins Jugendgruppe-Typen … Es sind immer die übereifrigen Jungchristen, die sich voller Elan vor den Teenies blamieren! Bei dem Gedanken hätte ich fast hysterisch losgekichert. Offenbar war ich schlimmer dran, als ich gedacht hatte. Reiß dich zusammen, Joe! Im ganzen Camp gab es nur Jungen. Das Sommerlager wurde von den Sportvereinen veranstaltet, dem Fußball- und dem Basketballverein, alles reine Männerklubs. Das gemischte Zeltlager fand fast immer erst kurz vor September statt, bevor die Schule wieder anfing, manchmal auch mitten im Sommer. Als ich ein paar der Jungs laut auflachen hörte, weil sie mit einem kläffenden Terrier spielten, dem sie immer wieder ein Würstchen hinhielten, dann aber wieder vor der Nase wegzogen, wurde mir ganz mulmig. Welchen von ihnen würde er auswählen? Und wieso? Plötzlich wünschte ich mir, dass ich sie alle von hier fortschaffen könnte. Aber selbst wenn ich mir zig Schnittwunden zugefügt hätte, würde das keinen von ihnen veranlassen, mit mir zu kommen und schon gar nicht mir zu glauben. Viel eher würde ich aufgrund eines solchen Verhaltens in der Klapse landen und das zu Recht. Was ich hier gerade aufführte, war schon nahe dran … Viktor!, stellte ich ungeheuer erleichtert fest.
Er kam besorgt auf mich zugelaufen. Von seinem sons-tigen sonnigen Gesichtsausdruck war nichts zu sehen. Er trug kurze Shorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Sommerzelt-lager – Vorsicht! Aufseher!“ Bei diesem Anblick wären mir fast die Tränen gekommen, aber auch ein Lachkrampf. Eigentlich kämpfte ich mit beidem. Keine Ahnung, wieso.
„Hey, was ist denn passiert?“, fragt er außer Atem. Er musste den halben See überrundet haben, um zum Eingang zu kommen.
„Hab beim Abendessenmachen nicht aufgepasst. Bin ziemlich heftig abgerutscht. Und das auch noch mit dem großen Küchenmesser!“
O. K., ich übertrieb ein wenig, aber je mehr Mitleid er mit mir hatte und je schlimmer er meine Verletzung vermutete, desto eher war er bereit zu tun, worum ich ihn bitten würde.
„Oh, das tut mir leid. Ist es sehr schlimm?“, fragt er fürsorglich. So ruhig und besorgt kannte ich ihn gar nicht. Jetzt war ich doppelt so froh, dass ich hergekommen war und getan hatte, was ich tat.
„Na ja, es geht so. Aber könntest du mich bitte in die Ambulanz bringen. Ich fürchte, es muss genäht werden, und ich glaube nicht, dass ich damit die ganze Strecke bis nach Wart schaffe“, meinte ich, ihm die Wunde hinhaltend, damit er sich davon überzeugen konnte. Er verzog das Gesicht beim Anblick von so viel Blut und einer klaffenden Wunde. Ganz brüderlich sagt er dann:
„Selbstverständlich fahre ich dich. Es war ja schon echt dumm, selbst hierher zu fahren. Wieso hast du mich nicht einfach angerufen?“, wollte er berechtigterweise von mir wissen.
„Ich konnte mein Handy nirgends finden“, log ich wie aus der Pistole geschossen. Diese Lügensache klappt bei mir unter Stress offenbar besser, bemerkt ich etwas irritiert.
„Aha. Na dann lass uns mal schnell fahren“, bemerkte er knapp. Er überprüfte kurz seine Hosentaschen nach seinem Autoschlüssel. Offenbar waren sie da, denn er zog mich an der Schulter meines unverletzten Armes weiter. Mit schnellen Schritten gingen wir schweigend zum Wagen, wofür ich dankbar war. Ich hätte jetzt nicht plaudern können. Meine Gedanken kreisten um eine Handvoll Wölfe, die bestimmt schon auf dem Weg hierher waren oder längst um den See herum lauerten und auf die Ankunft von Farkas und seinen zwei Kriegern warteten. Wie hätte ich das Viktor je erklären können. Nein, Valentin hatte recht. Die einzig mögliche Art, damit umzu-gehen, war zu lügen. Hätte mein Bruder Bescheid gewusst, hätte ihn das nur noch tiefer in alles mit hineingezogen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Viktor mich im Auto. Diese Frage hatte ich in den letzten Stunden schon zu oft gehört, um darauf noch spontan reagieren zu können.
„Bis auf die schmerzende Wunde, alles prima“, merkte ich mit einem aufgesetzten Grinsen an, das er erwiderte, ohne an seiner Echtheit zu zweifeln.
Wir fuhren schnell. Aber wir rasten nicht. Schneckentempo wäre mir lieber gewesen. Denn je schneller wir dort waren, desto eher würde Viktor darauf drängen, wieder zurück ins Zelt-lager zu wollen. Aber genau das war nicht der Plan.
„Könntest du etwas langsamer fahren“, bat ich ihn. „Von der Geschwindigkeit wird mir ein wenig schlecht“, log ich erneut. Ich hielt mir den Bauch und versuchte möglichst schwach auszusehen.
„Ja, kein Problem“, sagte er und verbrachte den Rest der Fahrt damit, die längere Zeit auszunützen, um seiner Frau Paula zu sagen, was passiert war und wo er sich befand. „Sie hält sich tapfer. War ja klar“, hörte ich ihn am Mobiltelefon sagen, wo-raufhin er mir zuzwinkerte. Viktor war schon immer der Optimist von uns beiden.
Zu schnell fanden wir einen Parkplatz. Um diese Zeit war der Platz fast leer gefegt. Wir gingen zum Haupteingang, wo uns ein übermüdeter Pförtner zur Begrüßung zunickte. Leider kannte sich Viktor hier ebenso gut aus wie ich, weil unsere Mutter viele Jahre hier als Krankenschwester gearbeitet hatte. Ich hoffte inständig, dass er wegen dieser Sache nicht meine Eltern auf ihrer Reise stören würde. Es war besser, wenn sie davon und von so vielen anderen Dingen in meinem Leben nichts mitbekamen. Besser für sie und besser für mich. Viktor bugsierte mich in den Aufzug zur Notaufnahme, wo ich feststellte, dass mein Hemd mittlerweile komplett mit meinem Blut vollgesogen war. Sieh einfach nicht hin!, empfahl ich mir selbst. Es half. In der Notaufnahme angekommen, ließ ich mich erschöpft auf einen der hässlichen Plastikstühle fallen. Sofort umwehte mich der grauenhafte Krankenhausgeruch, der verhinderte, dass ich Carla öfter hier besuchte. Der beißende Geruch des Linoleums zusammen mit dem Desinfektionsgestank drehte mir den Magen um und zum ersten Mal fühlte ich mich tatsächlich verwundet, als gehörte ich hierher. Gut, wenn ich abgespannt und grün im Gesicht bin, dann behalten sie mich vielleicht länger da.
Ungeschickt fingerte ich mit einer Hand meine Versicherungskarte aus meiner Brieftasche und gab sie Viktor, damit er die Sache am Empfang regeln konnte. Man gab ihm ein paar Zettel, die er schnell mit mir durchging. Ich antwortete etwas zögerlicher, als ich es normalerweise getan hätte, um Zeit zu schinden. Etwa so:
„Sind Sie gegen dies oder jenes allergisch?“
„Ich bin mir nicht sicher, Viktor. Bin ich dagegen allergisch? Ich weiß nur, dass ich gegen Meeresfrüchte allergisch bin. Hmm …“ Ich war anstrengend. Also füllte Viktor die meisten Sachen selbst aus. Leider kannte er meine Krankengeschichte gut genug, um das zu können.
Danach kam ein gepflegter Mann um die vierzig mit großen vertrauenswürdigen Augen und schütteren Haaren, der sich als mein behandelnder Arzt entpuppte. Er führte mich in eines der Behandlungszimmer, die wenig einladend waren.
„Also, wie haben Sie das denn angestellt, junge Frau?“ Ich konnte es nicht leiden, wenn man mich gönnerhaft junge Frau nannte, oder wie Farkas: Mädchen. Und sofort als ich an ihn erinnerte wurde, wurde mir mein Arzt unsympathisch und ich begann, ihm kurz und knapp zu antworten.
„Küchenunfall!“, raunte ich unzufrieden.
„Sie müssen besser aufpassen, wenn sie mit scharfen Messern hantieren.“
Ach ja, das ist ja ganz was Neues. Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht, oder was?
Ich ließ seinen Rat lieber unkommentiert und nickte nur verständig. Aber selbst Viktor fiel auf, dass ich mich nicht sonderlich nett benahm. Er schob die Schuld wohl auf meinen Zustand und lächelte mich weiterhin aufmunternd an.
Der Arzt begann meinen Arm, der dank des festen Stoffes, den ich draufgepresst hatte, aufgehört hatte zu bluten, auszupacken.
Das Hemd landete im Eimer für medizinische Abfälle. Mit schnellen, automatisierten Bewegungen reinigte er meinen Unterarm und sah sich den Schaden an. Ein dunkler Schnitt verlief über meinen Muskel, den ich tief genug gemacht hatte, um die Haut schwerwiegend zu beschädigen, ohne aber echten Schaden anzurichten.
„Ja, das muss genäht werden“, sagte er vor sich hin. „Da haben sie ja ganze Arbeit geleistet“, fügte er hinzu, als hätte ich ihm mit meinem Auftauchen die ganze Schicht verdorben.
„Tja, ich mache keine halben Sachen“, sagte ich bitter. Ich konnte es mir nicht verkneifen. Irgendetwas an ihm erinnerte mich an Farkas, auch wenn ich nicht wusste, was. Vielleicht brauchte ich auch nur jemanden, den ich angreifen konnte, weil ich im Inneren vor Angst tobte. Weil ich nicht wusste, ob es Istvan gut ging, ob er noch lebte.
Ob Farkas sein Opfer gefunden hatte. Ich seufzte schwer, als der Arzt mir die Spritze mit dem Betäubungsmittel gab. Offenbar die Retourkutsche für meine unangebrachte Bemerkung, denn sie tat verdammt weh. Unser Hausarzt konnte das viel besser.
Ohne ein weiteres Mal zu einem Gespräch anzusetzen, arbeitete er still vor sich hin. Führte mit dieser Mischung aus Schere und Nadel seine Stiche aus, die ich auf meiner tauben Haut ohne Schmerzen wahrnahm. Kurz bevor er fertig war, kam eine Schwester hinzu, die sehr aufgebracht wirkte. Sie hatte schwarzes Haar, das sie als Bob trug, war etwa in meinem Alter und sehr hübsch.
„Wir bekommen gleich zwei Unfallopfer. Ein Autounfall. Sie werden bald da sein“, sagte sie mit einem bestimmten Gesichtsausdruck, den Doktor Unsympathisch sofort verstand.
„Frau Paul, sie müssen wohl etwas warten. Wir sind unterbesetzt, deshalb möchte ich sie bitten, wieder im Warteraum Platz zu nehmen, bis wir dann alles fertig machen. Ich möchte sie mir noch mal ansehen, ehe wir sie entlassen können“, meinte er. Und an der Art, wie er es sagte, hörte man, dass er diese Sätze schon sooft gesagt hatte, dass sie ihm gar nicht mehr bewusst waren.
Ich nickte, plötzlich ganz zufrieden, die Liebenswürdigkeit in Person, weil dieser Doktor, dessen wahren Namen ich nicht kannte, und der unglückliche Verkehrsunfall mir das geschenkt hatten, was ich am meisten brauchte: mehr Zeit!
Die Zeit im Warteraum verging nur schleppend, doch ich war dankbar für jede öde Minute, auch wenn mir die unbekannten Unfallopfer leidtaten. Doch für Viktor war es eine glückliche Fügung des Schicksals. Bis der Doktor, von dem Viktor behauptete, er würde Stefan mit Nachnamen heißen, zurückkam, war es fast schon Mitternacht. Er sah sich sein Werk an, verband gut meinen Arm und gab mir letzte Hinweise, wie ich mit der Wunde umzugehen hatte. Jetzt hatte ich einen handflächenbreiten, weißen Verband um den Arm. Zum Fädenziehen sollte ich dann wiederkommen, was ich mit einem unzufriedenen Brummen hinnahm. Ich war nur froh, dass ich den Arzt nicht kannte und dass weder Carla noch Christian aufgetaucht waren. Das hätte diese ganze Farce noch viel, viel schlimmer gemacht.
Viktor wirkte müde und erschöpft, aber er wusste ja gar nicht, wie sehr er sich glücklich schätzen konnte, den Abend in der Notaufnahme verbracht zu haben. Ich war so erleichtert, als wir um ein Uhr nachts zu Viktors Pick-up zurückgingen, dass ich fast schwebte.
„Sag, was hat er dir gespritzt? Du wirkst so … na ja, fast high!“
„Nichts. Ich bin nur froh, dass ich mich nicht tatsächlich verstümmelt habe“, sagte ich schmunzelnd. Woraufhin Viktor sich selbst sein berühmtes Lachen nicht verkneifen konnte.
„Verstehe“, sagte er den Kopf mit einem Grinsen schüttelnd.
Wir setzten uns beide in den Wagen. „Sag mal, wirst du jetzt noch zurückfahren? Ich meine … lohnt sich das? Um diese Uhrzeit. Fahr doch lieber nach Hause zu Paula und schlaf dich aus. Verdient hast du es dir. Schließlich musstest du heute Samariter spielen“, schlug ich vor und versuchte nicht allzu drängend zu klingen.
„Ich weiß nicht. Bin schon ziemlich kaputt. Außerdem würde ich lieber in meinem eigenen Bett schlafen als auf einem unebenen Zeltboden.“ Ich sagte nichts. Gab ihm das Gefühl, dass er selber entschied.
„Du hast ja recht. Ich werde anrufen und sagen, dass ich erst morgen wieder komme. „Wie du meinst“, sagte ich gleichgültig. Im Inneren jubelte ich. Als er den Leiter des Lagers anrief, hätte ich vor lauter Freude anfangen können zu tanzen, doch dann wanderten meine Gedanken umgehend zu dem wichtigsten Menschen in meinem Leben, den ich verletzt hatte und der jetzt vielleicht mit seinem Vater um sein Leben kämpfte oder darum, dessen Leben zu beenden. Beide Vorstellungen ließen mich erschauern. Es darf ihm nichts passieren! Das darf nicht unser letzter Augenblick zusammen gewesen sein, flehte ich verzweifelt und ruhte meine Stirn an der kalten Fensterscheibe des Autos aus. Viktor ließ ich denken, dass ich eingeschlafen wäre, so konnte ich mit meinen traurigen Gefühlen alleine sein. Mit Gefühlen, die er nicht verstanden hätte.
Erst als der Wagen abrupt zum Stehen kam, wurde ich aus meinen sorgenvollen Gedanken gerissen. „Wir sind da, Joe“, sagte er mir. Er hatte an der Straße vor unserem Elternhaus gehalten, um mich wecken zu können.
„Danke, für alles. Den Rest gehe ich zu Fuß“, sagte ich unvermittelt. Ihm entging nicht, dass ich mit einem Schlag munter war. Seine hellen Gesichtszüge verzogen sich verständnislos.
„Bist du sicher?“, fragte er.
„Ja“, sagte ich, „die frische Luft wird mir gut tun“, flunkerte ich, obwohl ich hoffte, dass es tatsächlich so sein würde. Eigentlich ging es nur darum, Viktor glauben zu lassen, ich würde in Richtung unseres Elternhauses gehen, während ich nur zu Istvan wollte. Als sein Auto um die Ecke gebogen war, wartete ich kurz, dann rannte ich schnurstracks zu Istvan.
Da ich über den Waldweg musste, dauerte alles länger. Erst als ich im Garten ankam, erlaubte ich mir zu verschnaufen. Dort zögerte ich keine Sekunde, ehe ich das verlassene Haus betrat. Dort, im vom Mondlicht erleuchteten Dunkeln fiel mir ein, dass ich noch ein paar Stunden warten müsste, eher er zurückkommen würde. Frustriert ließ ich mich auf die Ledercouch fallen und landete unglücklicherweise auf meiner linken Hand. Autsch! Das tat weh. Jetzt musste ich doch mit Schmerzmittel aushelfen. Ich holte mir zwei Tabletten aus Istvans unbenutztem Medizinschrank, dann legte ich mich wieder auf die Couch, wo ich sofort einschlief, obwohl ich mir geschworen hatte, genau das nicht zu tun, ehe ich wissen würde, dass es ihm gut ging. Vielleicht wirkten die Tabletten durch den Blutverlust stärker. Ich schlief wie eine Tote. Das Geräusch einer aufgerissenen Tür schreckte mich auf. Innerhalb einer Sekunde saß ich aufrecht. Ich wusste, dass er mich hier erwarten würde, so wie er wusste, dass er mich hier finden würde. Egal, was gestern auch geschehen war. Sofort kam ich hochgeschreckt, als ich ihn kommen sah. Wir fielen uns tonnenschwer erleichtert in die Arme. Wir schlangen sie ganz fest umeinander. Ich spürte keinen Schmerz. Kein bisschen.
„Gott sei Dank“, keuchte ich noch immer atemlos von der anstrengenden Nacht, die hinter mir lag. „Es geht dir gut … Und den Valentins?“
„Denen auch. Keine Sorge“, versicherte er zufrieden, doch schon verschwand dieser Eindruck und seine Nasenflügel kräuselten sich missbilligend.
„Du hast geblutet!“, sagte er entsetzt.
Vorsichtig und unwillig zog ich meinen Unterarm von seiner Schulter, um Istvan meinen einbandagierten Arm zu zeigen.
„Was hast du bloß angestellt?“, fuhr er mich an.
„Es war die einzige Möglichkeit, Viktor mit Sicherheit von dort fernzuhalten“, führte ich zu meiner Verteidigung an. „Die Warterei im Krankenhaus hat ewig gedauert“, stöhnte ich, um seine Vergebung bemüht.
„Was hast du eigentlich gemacht? Dir ein Messer in den Arm gejagt?“, blaffte er sarkastisch.
„Gut geraten“, sagte ich unabsichtlich.
„Du hast sie doch nicht mehr alle! Niemand hat verlangt, dass du hier den Märtyrertod stirbst, Joe … du wolltest ihn doch nur von dort wegschaffen und eine Weile ablenken“, murrte Istvan hilflos.
„Mach so was nie wieder!“, warnte er mich drohend. Ich nickte störrisch. Wie konnte ich ihm das denn versprechen? Wäre es um ihn gegangen, hätte ich noch ganz anderer Sachen gewagt. Aber das musste er nicht unbedingt wissen. Vor allem jetzt nicht.
„Jetzt vergiss meinen Arm“, begann ich mit einer wegwerfenden Geste. „Was ist passiert? Wie konntet ihr das Schlimmste verhindern? … Konntet ihr doch, oder?“
„Ja. Wir waren gut vorbereitet, trotz meiner Ablenkung … das galt mir …‘ und wir waren einfach schlauer als sie. Dumm, wenn man sich immer nur auf seine eigene Stärke verlässt und dabei fast seinen Verstand vergisst“, faucht er zynisch.
„Wie genau, Istvan?“ Mir ging die Geduld aus, wie immer.
„Jakov und Serafina haben Vladimir und Dimitri in Schach gehalten. Und ich muss zugeben, dass sie ein unschlagbares Wolfsteam sind. Sie können die Züge und Angriffsbewegungen des anderen blitzschnell erfassen … Woltan diente uns als Geheimwaffe. Sollte sich solange zurückhalten, bis er benötigt würde. Valentin und ich kümmerten uns um Farkas.“
„Und Marius?“, fragte ich verwirrt.
„Marius sorgte ausschließlich für den Schutz des Zeltlagers. Er sollte dafür sorgen, dass kein Wolf dem Lager zu nahe kam. Falls Farkas doch noch jemanden in seinem Tross versteckt hielt … hat er aber nicht. Aber ich muss gestehen, einmal wurde es brenzlig. Vier Jungs, etwas 13 oder 14 Jahre alt, haben sich heimlich rausgeschlichen, um zu rauchen. Farkas hatte sie sofort im Visier. Zog in immer engeren Kreisen um die Gruppe. Nur einer von ihnen war wirklich in Gefahr. Denn zwei der Jungen waren schmächtig, einer trug eine Brille. Nicht gerade Farkas’ Beuteschema. Aber der Rädelsführer von ihnen, Kai nannten ihn die anderen, passte genau in Farkas bevorzugtes Ersatzkriegerbild. Er war größer, ein Anführertyp. Hatte im Gegensatz zu den drei anderen nicht die geringste Angst davor, erwischt zu werden.“
„Wie habt ihr es verhindert? Verhindert, dass er ihn sich holt?“, wollte ich wissen.
„Ein abgesprochenes Manöver. Marius hatte ja diese Schutzengelfunktion. Als er die Lage begriff, begann er vor dem Zelt der Aufseher etwas umzuschmeißen, keine Ahnung was. Einer der älteren Aufseher kam, um nach dem Rechten zu sehen. Marius hat dann immer weiter Geräusche gemacht, so eine Art tönerne Brotkrumenspur zu den Ausreißern. Als der Ältere die vier entdeckt hatte, steckte er sie umgehend zurück in ihre Zelte und hielt sicherheitshalber Wache, damit sie nicht noch einmal ausbüxen konnten. Farkas war wütend! Aus Rache legte er sich mit Valentin und mir an. Doch er hat zu spüren bekommen, dass ich jetzt ein stärkerer und gefährlicher Wolf bin als früher. Damit hatte er nicht gerechnet, dieser Bastard! Vermutlich hat er es deshalb nicht aufs Äußerste angelegt. Ihm kam zum ersten Mal der Gedanke, dass er verlieren könnte. Weil Valentin auch noch da war, zog er sich zurück … leider! Leider konnte ich nie nah genug an ihn herankommen und es zu Ende bringen. Er weiß, wie man seinen Hals schützt … Er ist also abgezogen. Hat Vladimir und Dimitri mit einem Heulen zurückgepfiffen. Wir sind ihm dann bis nach Ungarn gefolgt, um sicherzugehen. Aber vorerst ist er weg. Seinen Ersatzkrieger kann er bis zum nächsten Monat vergessen!“, sagte er, seinen Hohn und Spott nicht verbergend.
„Radu wird seine weitere Fährte überwachen und uns warnen, falls er erneut so dumm ist, sich uns zu nähern“, fügte er noch hinzu.
„Ich bin froh, dass es so glimpflich abgelaufen ist. Dieser Junge, Kai … wie sieht er aus?“
„Dunkles, mittellanges Haar. Ein großes Muttermal über der Braue …“
„Dachte ich’s doch“, unterbrach ich ihn. „Ich kenne ihn flüchtig. Er ist in der Mannschaft, die Viktor manchmal trainiert. Und der arme Junge hat nicht die leiseste Ahnung, dass er heute Nacht dem Teufel von der Schippe gesprungen ist“, murmelte ich für mich und lehnte mich an Istvans Brust. Die Augenlider waren so schwer.
„Seit du mit mir zusammen bist, bekommst du nicht viel Schlaf, was?“
Ich konnte nicht einmal richtig den Kopf schütteln. Er zog mich weiter an sich. Nur schemenhaft bemerkte ich, dass er sich mit mir auf dem Sofa zum Schlafen legte. Der Honig-Wald-Geruch, den er mitgebracht hatte, machte, dass alles wieder gut wurde. Selbst die nervigen Schmerzen in meinem Unterarm nahmen jede Minute, in der ich an seiner Brust lehnte, ab, bis sie nur noch ein schwacher Eindruck im Hintergrund waren. Istvans wärmendes Feuer war viel stärker als alle körperlichen Schmerzen der Welt.
Den Großteil des Morgens verschlief ich und kam zu spät zur Arbeit. Wäre ich auch nur zehn Minuten später dran gewesen, hätte ich den Politiker verpasst und mit dem angeforderten Bandschnittfoto wäre es nichts geworden. Aber selbst dann hätte ich noch immer die überzeugende Ausrede mit dem verletzten Arm gehabt. Und dennoch war es klar, ich bekam diese Sache mit dem Doppelleben immer weniger gut hin. In Gedanken begann ich es bereits, den Clark-Kent-Effekt zu nennen. Schließlich arbeitete der auch als Reporter. Doch es gab auch gute Neuigkeiten. Die letzte Vollmondnacht würde heute zu Ende gehen und Farkas war mit seiner Meute weit genug aus der Stadt geflohen. Ich konnte also der letzten Verwandlungsnacht gelassener entgegensehen. Manchmal muss man eben nehmen, was man kriegen kann! Und solange das Istvan mit einschloss, war das mehr als genug. Für mich jedenfalls.