5. Warten auf eine Wunde
 
 
Ich schmiegte mich so fest an seine Brust, wie das Hindernis menschlicher Knochen es zuließ. Wäre er nicht zu einem Großteil Wolf oder eher mit wölfischen Kräften ausgestattet, hätte meine Umklammerung ihm die Luft abgedruckt. Aber ich wollte dieses Glück fast schon zwanghaft festhalten. Schließlich wusste ich jetzt, dass es unbeständig war, und ich rechnete immer noch damit, dass er es sich ganz plötzlich anders überlegen könnte, wieder übervorsichtig würde. Diese Furcht steckte mir noch zu tief in den Knochen. Ich versuchte diese düsteren Gedanken zu verscheuchen. Sein Körper war eine immense Hilfe dabei.
Von seinem Brustkorb ging eine strahlende Hitze aus, die meine Brust so sehr aufheizte, dass ich keinerlei Kälte fühlte. Sogar der kühle Nachtwind, der gegen meinen Rücken peitschte, war dagegen machtlos. Nichts konnte seine Wärme, sein inneres Feuer bezwingen. Die Glut meiner persönlichen Flamme überstrahlte alles, meine Angst vor dem nächsten Augenblick, meine nagenden Schuldgefühle, sogar meine feste Überzeugung, diesen Moment nicht im Geringsten zu verdienen. Das alles schien in jenen kostbaren Augenblicken vollkommen unwirklich. Nur seine Arme, die mich fest umschlossen, schienen mir real und seine weichen Lippen, die auf meinen Haaren eine Feuerspur hinterließen.
„Wie konnte ich nur so lange ohne das hier auskommen“, hauchte ich. Meine Stimme wurde von seiner Brust gedämpft.
„Mir ging gerade dasselbe durch den Kopf“, schmunzelte er. Ich konnte es zwar nicht sehen, aber am Klang seiner tiefen Stimme deutlich hören.
Ich zog Istvan ganz langsam mit mir herab und setzte mich auf den Holzboden. Wir lehnten beide mit dem Rücken an der Brüstung. Eine vertraute Erinnerung umgab unser neuerliches Zusammensein und verstärkte das Gefühl, vor Liebe und Glück über die Wiedervereinigung zu brennen.
„Ich dachte früher immer, wenn jemand behauptete, dass Liebe brennen würde, wäre das nichts weiter als ein dummes Klischee. Aber jetzt weiß ich es besser“, wisperte ich vor mich hin und legte meinen müden Kopf auf seine Schulter. Wie von selbst neigte Istvan seinen Kopf mir zu.
„Ich werde das erst einmal als Kompliment hinnehmen“, scherzte er, wurde dann unerwartet ernst und fragte mich: „Bedeutet das … bist du jetzt richtig zurück? Wirst du bleiben … bei mir?“
Blitzartig schossen mir viele Dinge durch den Kopf, die ich verdrängen wollte. Das Jobangebot von Malz, das bedeutete, wieder nach Wien ziehen zu müssen. Die Bedrohung, die -ständig hier auf mich lauerte und die ich in Kauf nehmen musste, wenn ich mich entscheiden würde, ein für alle Mal zu bleiben. Und doch, trotz all dieser Widersprüche wusste ich, dass es nur eine einzige Antwort gab, mit der ich leben konnte und wollte. Trotz aller persönlichen Verzichte und Gefahren.
Ich ergriff Istvans Hand, die locker auf seinen Knien baumelte, und verschränkte meine Finger mit seinen. Dann sprach ich zu ihm, in seine grünen, fragenden Augen, mit verschränkten Gluthänden.
„Musst du wirklich fragen, Dummkopf! Weiß du denn nicht, dass ich gar nicht anders kann. Ich bleibe dort, wo ich verdammt noch einmal hingehöre“, sagte ich halb scherzend, halb ernsthaft und drückte dabei ganz fest seine Hand. Mein Herz verriet mich natürlich. So selbstsicher war ich nicht wirklich. Die Aufregung meiner Worte ließ meinen Puls wieder etwas höher schnellen.
„Oh Joe, du machst mich fertig! Immer, wenn ich vernünftig sein will und versuche, mir keine allzu großen Hoffnungen zu machen, sagst du so etwas und meine Fantasie geht völlig mit mir durch. Ich kann mich kaum noch beherrschen“, schnaubte er, als würde ich es ihm absichtlich schwerer machen. Dann zog er mich erneut an sich, machte aber den Eindruck, als würde es ihm jetzt wieder schwerer fallen, mich um sich zu haben.
„Wie meinst du das? Was mach ich denn falsch? Ich möchte doch nur bei dir sein“, schluchzte ich und hatte Angst, dass unser Wiedersehen eine schlimme Wendung nehmen könnte.
„Nein, nein. Du machst gar nichts falsch“, wandte er schnell ein und schüttelte heftig den Kopf.
„Du verstehst mich falsch. Ich möchte dir, wenn du so etwas sagst, ganz nahe sein. Aber ich weiß einfach nicht, ob es schon möglich ist. Ich muss vernünftig sein, damit ich dich nicht verletze. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, vor allem in diesem Moment, aber das Problem ist leider nicht verschwunden. Ich weiß immer noch nicht, nicht wirklich, wie man es kontrolliert. Obwohl ich jetzt verhindern kann, dass es mich jetzt beherrscht. Bisher jedenfalls“, gab er nur widerwillig zu. Ich hätte am liebsten aufgeschrien, als mir klar wurde, dass Farkas, der Dämon-Vater, der ihm das angetan hatte, eine noch viel schlimmere Saat des Übels in Istvan gepflanzt hatte, als ich bisher vermutet hatte.
„Woher weißt du, dass es noch da ist?“, wollte ich von Istvan wissen und versuchte, meine Frage so unbeeindruckt wie möglich klingen zu lassen. Er zögerte mit seiner Antwort. Er rang nach den richtigen Worten.
„Eigentlich will ich dich nicht damit belasten, aber es hat mit deiner Abreise zu tun“, begann er und wurde von mir unterbrochen.
„Abreise? Ich bitte dich. Nenn den Teufel beim Namen. Meine gemeine und niederträchtige Flucht!“, wandte ich mit übertriebenem Sarkasmus und einer gehörigen Portion Ekel vor mir selbst ein.
„Joe, tu dir das nicht an. Wir beide haben Dinge getan, die wir bereuen, die nicht ganz nobel waren“, versuchte seine Honigstimme mich zu besänftigen.
„Hmpf. Das sehe ich anders“, war alles, was ich dazu meinte. „Erzähl erst mal weiter“, forderte ich. Jetzt sprach er schnell, manisch, wie im Fieber.
„Nachdem du abgefahren bist, erinnere ich mich nicht mehr richtig an die erste Vollmondnacht. Ich muss wohl die ganz Nacht gerannt sein. Erst als ich am Morgen aufgewacht bin, ist mir wieder alles eingefallen und der Schmerz kam mit ganzer Wucht. Ich wünschte, ich könnte dir das ersparen. Aber nur so verstehst du es. Als es mir wieder bewusst geworden ist, bin ich sofort nach Hause gelaufen. Ich hatte nicht erwartet, dass es mich so umhauen würde. Mein Haus, ohne dich. Zuerst dachte ich, ich würde mich zusammenreißen. Doch als ich ins Wohnzimmer kam und die Sachen sah, die du zurückgelassen hattest, da bin ich vollkommen ausgerastet. Ich hab alles kurz und klein geschlagen. Meine Wut und Frustration übernahmen die Kontrolle über mich und je mehr ich wütete, desto größer wurden mein Selbsthass und meine Schuldgefühle. Nur deshalb konnte ich es über mich bringen und sogar den Frost-Band zerstören. Ich wollte schon auf die Schallplatten losgehen, da sah ich mein Spiegelbild. Joe! Ich erkannte mich kaum wieder. Diese irisierend grünen Augen eines Halb-wolfes! … Das war nicht ich! Das war das Monster. Ich bekam Panik, als es mir klar wurde. Doch dieses Bewusstsein war notwendig. Nur so konnte ich mich damit auseinandersetzen, es so weit im Zaum halten, dass ich die Schallplatten unberührt ließ. Bevor ich noch mehr verwüsten konnte, rannte ich aus dem Haus, zurück in den Wald. Erst als ich bis zur Erschöpfung gelaufen war, ließ der Zerrstörungstrieb endgültig nach. Ich hatte es einigermaßen unter Kontrolle. Ich dankte Gott dafür, dass du nicht in der Nähe warst!“
Er schloss die Augen und versuchte die Erinnerung, die er gerade noch für mich heraufbeschworen hatte, wieder zu verscheuchen.
Wie immer fühlte ich seinen Schmerz, als wäre er ein Teil von mir. Die Verbindung war nicht im Mindesten schwächer geworden, ganz im Gegenteil. Jetzt da ich wenigstens im Ansatz wusste, wie es ist, ein Monster in sich zu haben, konnte ich seine Ohnmacht noch besser nachvollziehen.
„Ich hatte so für dich gehofft, dass wir es für immer besiegt hätten“, flüsterte ich resigniert und umarmte ihn dabei schwach.
„Ich hatte das Gleiche für dich gehofft“, gab er zu und erwiderte meine Umarmung ebenso zögerlich. Der traurige Unterton in seiner Stimme war schrecklich. Wir versuchten uns gegenseitig zu trösten.
„Schon in Ordnung. Das ist nicht so schlimm“, log ich in edler Absicht. „Wir finden einen Weg damit umzugehen, solange wir nur …“
„… zusammen sind“, vollendete er meinen Satz und küsste mich auf die Stirn, die jetzt wieder etwas kühler geworden war.
Es musste noch immer mitten in der Nacht sein. Etwa drei oder vier Uhr morgens, schätzte ich grob. Ich fröstelte jetzt ein wenig trotz Istvans Nähe.
„Wir sollten hier nicht länger frieren“, wandte er ein und blickte dabei auf meine Gänsehaut.
„Wir?“, sagte ich irritiert und lächelte leicht. Als könnte er die Kälte auch nur ansatzweise fühlen.
„Wie auch immer. Zeit vom Turm zu kommen. Im Lager wartet ein Zelt auf dich. Das hält wenigstens den Wind von dir fern“, meinte er und strich über meine vom Wind zerzausten Haare. Istvan sprang auf und hielt mir seine Hand entgehen, die ich annahm. Dann zog er mich sanft hoch.
„Weigerst du dich eigentlich noch immer, von mir getragen zu werden?“, fragte er nun mit seinem wiedererstarkten, schiefen Grinsen. Was führte er bloß im Schilde?
„Kommt darauf an“, schickte ich voraus und wartete auf seine Reaktion.
„Sagen wir mal, ich hätte es ziemlich eilig, dich auf mein Lager zu betten, und möchte den Weg dazu entscheidend abkürzen. Wärst du dann bereit, deine Bedenken einmal beiseite-zulassen?“, fragte er weiter und sein schiefes Lächeln wurde immer breiter. Beinahe überlagerte es seinen angegriffenen Zustand.
„Für dich mache ich eine Ausnahme!“, verkündete ich und lehnte meine Stirn an seine.
„Gut“, kommentierte er meine Entscheidung und schmunzelte weiter.
Blitzschnell war er zur Brüstung gesaust und winkte mich zu sich. Ich gehorchte, auch wenn meine müden Beine zitterten. Dann, ich konnte es kaum fassen, kletterte Istvan über die Brüstung, stand nur noch auf seinen Zehenspitzen auf dem Holzvorsprung. Ich starrte ihn fassungslos an, als mir dämmerte, was er mit mir vorhatte.
„Versuch über die Brüstung zu klettern. Ich werde dich sichern, keine Sorge“, sagte er besänftigend. Ich bekam Herzklopfen, eine völlig andere Art davon. Er hörte es und -versuchte, darauf einzugehen.
„Es wird dir nichts passieren. Vertrau mir!“, verlangte er und diese Bitte ließ meine Zweifel in Rauch aufgehen. Ich ging zu ihm und kletterte mit zaghaften Bewegungen über die Brüstung. Die ganze Zeit sicherte seine rechte Hand meinen Körper. Als ich es über das Geländer geschafft hatte, war sein Arm bereits um meine Hüfte geschlungen.
„Klettere auf meine Rücken und halt dich so gut fest, wie du nur kannst!“, erklärte er mir und sein warmer Arm half mir dabei. Ich klammerte mich an seine Schultern und presste mich ängstlich gegen seinen Rücken. Mein Atem entwich nur zittrig. Ich erinnerte mich daran, dass mir irgendjemand mal erzählt hatte, dass man in schwindelerregenden Höhen niemals nach unten sehen sollte. Doch jetzt handelte ich meiner Vernunft zuwider und starrte auf den weit entfernten Boden unter mir. Der Schwindel folgte auf dem Fuß. Ich schlang meine Beine noch enger um Istvans Hüfte. Das Blut rauschte in den Ohren. Es musste für ihn noch lauter und unerträglicher sein als für mich. Ich wollte kein Feigling sein, aber gegen diese Urangst kam ich nicht an.
„Du klingst nicht gut. Sollen wir doch nicht springen?“, fragte er besorgt.
„Nein, keine Chance. Wir ziehen das jetzt durch. Außerdem möchte ich bestimmt nicht wieder zurückklettern müssen“, sagte ich mit schwacher, aufgebrachter Stimme.
„Gut festhalten! Es geht los“, warnte er mich und begann seine Finger von der Brüstung zu lösen.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung sprang Istvan mit mir auf dem Rücken in die Luft. Zuerst wurden wir nach oben gepresst, doch dann fielen wir schnell mit einem zischenden Luftstrom um uns nach unten. Der eigentliche Fall dauerte nicht lange. Doch es war genug, um meinen Magen zu heben und zu senken. Auf dem beunruhigenden und zugleich aufregenden Fall breiteten sich meine langen Haare wie ein Cape über unseren Köpfen aus. Der kurze, berauschende Sturz kam mir erst richtig ins Bewusstsein, als Istvans Füße bereits den Boden berührten. So kam mein geräuschloser Aufschrei fast zu spät. Istvan ging noch nicht einmal merklich in die Knie. Ich hatte zwar schon oft gesehen, wie er als Wolf von Stein zu Stein sprang, aber noch nicht, dass er als Mensch genauso anmutig durch die Luft springen konnte.
Aber ich bekam keine Möglichkeit, mit ihm darüber zu sprechen. Denn kaum hatten wir festen Boden unter den Füßen, war er auch schon über die Straße geschnellt und in wenigen Sekunden hatten wir auch den Wanderweg weit hinter uns gelassen. Ein paar Augenblicke später standen wir schon auf der winzigen Anhöhe, die das Wolftanzlager verdeckte. Selbst mit dem Wagen hätte ich eine Weile hierher gebraucht, Istvan nicht. Ich löste mich von seinem Rücken und stand wieder auf eigenen Beinen, was ich, trotz aller Aufregung, seiner Sprintmethode vorzog. Aber ich musste zugeben, dass mir der Sprung, besonders der ängstliche Rausch dabei, sehr gefallen hatte. Ich wollte es aber nicht zur Gewohnheit werden lassen, getragen zu werden. Er wusste, dass ich damit meine Probleme hatte. Aber jetzt schien mir das alles nicht so wichtig.
Ich stand hinter Istvans Rücken und schmiegte mein Gesicht an seine Schulter, während meine Hand sich wieder mit seiner verschränkte.
„Wo ist nun dieses Lager, auf das du mich betten wolltest?“, fragte ich spielerisch. Er zeigte auf ein silbernes Iglu-Zelt, das er neben der Kiste, die er in jedem Lager vergrub, aufgestellt hatte. Er zog mich energisch in die Richtung des kleinen Zeltes und ich stolperte Istvan auf dem unebenen Unterholz hinterher. Mein Herz schlug vor Aufregung und Erwartung, auch wenn mir mein Verstand immer wieder einbläute, dass es nicht dazu kommen könnte. Nicht nach dem, was er mir vor ein paar Minuten gestanden hatte. Aber schon die Vorstellung mit ihm auf anderthalb Quadratmeter zusammen zu sein, nicht länger alleine in großen, leeren Hotelzimmern sein zu müssen, brachte mich zum Schwärmen.
Er trat vor mir ein und hielt mir den Zelteingang auf. Ich kroch durch das kleine Loch und fand mich in einem stockdun-klen Iglu wieder, in dem ich nicht das Geringste sehen konnte. Ich registrierte nur den weichen Untergrund, seinen warmen Atem und die leisen Geräusche, verursacht durch seine Bewegungen. Dann hörte ich ein leises Knacken, begleitet von einem Klappgeräusch. Es stammte von einem Benzinfeuerzeug, dessen kleine Flamme Istvan benutzte, um eine Öllampe zu entzünden. Während er die Glasabdeckung wieder aufsetzte, beobachtete ich aufmerksam sein erleuchtetes Gesicht.
Bei Kerzenlicht hatte ich ihn nur zu ganz besonderen Gelegenheiten gesehen, wie in der ersten Nacht. Seine Augen wirkten in diesem diffusen, warmen Licht sehr dunkelgrün, fast schon schwarz. Die Erinnerung ließ mich erschauern und brachte das Pochen meines Herzmuskels zurück. Er lächelte mich über die Öllampe hinweg an, als könne er genau erahnen, was in meinem Kopf gerade vorging. Die Erkenntnis, dass wir vielleicht gerade an dieselbe Nacht dachten, an die Nacht des ersten Mals ließ mich erröten und ich konnte nicht anders, als ertappt zu lächeln. Verschämt verdeckte ich mein anzügliches Grinsen.
Ungestüm stellte er jetzt die Lampe beiseite, legte sich auf die dünnen Decken auf dem Zeltboden und zog mich zu sich herab. Ich legte mich an seine Seite. Istvan konnte einfach nicht aufhören, breit zu grinsen und mich unaufhörlich anzustarren. Dann strich er mir die Haare aus dem Gesicht. Mit seiner herrlich tiefen Stimme mit dem leicht rauen Unterton, der mich immer wieder aufs Neue erstaunte, murmelte er mir etwas zu.
„Das hat mir so gefehlt. Ich glaube fast, das habe ich am meisten vermisst!“
„Was ist? Was meinst du?“ Auch ich flüsterte -seltsamerweise und verdeckte noch immer mein breites Grinsen, das mir irgendwie peinlich war.
„Das, was du da machst, mit der Hand. Wenn du auf eine ganz bestimmte Art lächelst, verdeckst du deinen Mund mit dem Handrücken oder dem Handknöchel. Dann strahlen deine blauen Augen alleine. Und ich kann dein Lächeln fühlen, ohne es eigentlich zu sehen“, gestand er mir und schloss die Augen, als würde er im Traum sprechen. Diese Geste von mir war mir nie bewusst gewesen. Aber Istvan schien sie viel zu bedeuten. Ich genoss es, dass ich das jetzt wusste.
Einfach so mit ihm dazuliegen, in diesem schwach beleuchteten Zelt, war einfach himmlisch, fast schon zu schön, um wahr zu sein.
So gerne hätte ich mich weiterhin diesem Gefühl hingegeben, diesem friedlichen Zusammensein. Doch das Bedürfnis, ihm alles zu erzählen, die ganze schreckliche Wahrheit, war ebenso stark. Ich war plötzlich gierig nach weiteren Wahrheiten, die ich aufdecken wollte, und begann ihn auszufragen. Das hatte ich schon sehr lange nicht mehr getan.
„Was war für dich am schlimmsten?“, wollte ich von ihm wissen, ehe ich mit meinen finsteren Geheimnissen hinter dem Berg hervorkommen wollte. Ich war mir natürlich bewusst, dass seine Antwort mir wehtun würde. In mir steckte vielleicht doch eine kleine Masochistin.
„Dass es so still war. Mein ganzes Leben lang waren da immer diese vielen zu lauten Stimmen, diese Geräusche, die so schwer auszublenden sind. Aber nachdem du weg warst, kam mir alles so leer und unheimlich still vor. Deinem Herzschlag nicht mehr lauschen zu können, nicht mehr zu hören, ob es dir auch gut geht, war pure Grausamkeit“, presste er gequält hervor. Dann drückte er sein Ohr an meine Brust und begann zu lauschen, so wie ein Ertrinkender nach Luft schnappt. Das Herz schlug mir bis zum Hals, also fragte ich nach der Intensität meiner Melodie.
„Allegro Vivace?“
„Allegro Vivace!“, bestätigte er zufrieden und vergrub sein Gesicht noch tiefer in dem Baumwollstoff, der meinen Oberkörper bedeckte. Ich schloss die Augen und entschuldigte mich bei ihm, dass ich danach gefragt hatte. Istvan meinte, dass es gut täte, darüber zu sprechen. Er hatte offenbar noch mehr, was er loswerden wollte.
„Eigentlich gibt es da noch etwas, mindestens genauso schlimm, aber auf eine völlig andere Weise“, flüsterte er lautlos. Ich fühlte jetzt schon die Vorankündigung des Schmerzes.
„Du musst es mir nicht erzählen“, ließ ich ihn wissen.
„Doch, ich muss. Nur so bekomm ich es aus dem Kopf. Hab ich dir eigentlich je erzählt, dass wir auch ein beinahe fotogra-fisches Gedächtnis haben?“, fragte er nach.
„Eigentlich nicht, aber ich habe mir schon so etwas gedacht. Du kannst alles, was du liest, gleich auswendig. Und du brauchst eine Karte nie zweimal anzusehen“, folgerte ich.
„Deshalb habe ich dich mir damals in mein Gedächtnis gebrannt. In der Nacht, als du mir den Anhänger geschenkt hast und ich jeden Quadratzentimeter deines nackten Körpers in mich aufgenommen habe. Dieses Bild war immer mein kostbarster Schatz. Aber als du weg warst, wurde es zu meinem schlimmsten Albtraum. Hast du eine bloße Ahnung, wie es ist, dieses Bild eines über alles geliebten und begehrten Menschen ständig vor Augen zu haben und nicht zu wissen, ob du ihn je wieder siehst?“, fragte er in die Dunkelheit hinein und ich musste mit anhören, wie die Traurigkeit wieder über ihn kam. Es trieb mir die Tränen in die Augen.
„Es tut mir so unendlich leid“, schniefte ich. Es wühlte ihn auf und er umarmte mich noch fester, um mir zu zeigen, dass er meinen Schmerz nicht wollte. Doch es sollte noch schlimmer kommen und das auch noch durch meine eigene Schuld.
Nachdem ich schon eine Wunde empfangen hatte, musste ich nun auch noch eine Wunde zufügen. Er war schonungslos offen und ehrlich zu mir gewesen. Dasselbe schuldete ich jetzt Istvan ebenso. Ich wollte es nicht länger hinauszögern, denn das Warten auf eine Wunde ist quälend.
„Istvan“, sagte ich ernst und flüsternd.
„Ja?“
„Es gibt da einige Dinge, die ich dir noch erzählen muss. Ich möchte ganz ehrlich zu dir sein, auch wenn es mir schwerfällt. Es hat mit dem zu tun, was mich zurückgebracht hat“, deute ich kryptisch an.
„Ja?“, fragte er ängstlich. Sein Instinkt ließ ihn fühlen, dass etwas Schlimmes auf ihn zukommen würde.
„In der Nacht, bevor ich zurückgekommen bin, da …“ Ich zögerte feige. Wie sollte ich ihm nur klarmachen, dass dieser Kuss mit Tom mir nicht das Mindeste bedeutet hatte und dennoch der Auslöser für meine Rückkehr gewesen war?
„In dieser Nacht … hat mich jemand geküsst!“ Ich hatte das letzte Wort noch nicht ganz ausgesprochen, da stürmte Istvan bereits aus dem Zelt. Er floh vor mir, dem schul-digen Monster, das ihn vermeintlich betrogen hatte. Plötzlich hörte ich von draußen ein tiefes Knurren, dann einen dumpfen Schlag. Das Geräusch ließ mich zusammenfahren. Doch ich stürzte, gegen jeden menschlichen Instinkt, der vermeintlichen Gefahr entgegen.
Außerhalb des Zeltes begann bereits die Morgendämmerung und ich konnte ihn in dem Zwielicht leicht ausmachen. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und stützte sich mit einer Hand an einem dicken Baumstamm ab. Sein Kopf hing schlaff nach vorne, als würden ihn Schmerzen quälen. Der Gedanke ließ mich unvernünftig werden. Ich rannte zu ihm, riss an seiner Schulter. Er drehte sich jedoch nicht zu mir.
„Istvan, bitte hör mich an. Es ist nicht so, wie es vielleicht scheint. Du musst die ganze Geschichte kennen. Der Kuss war gar nichts. Dieser Mann ist nichts für mich“, stotterte ich panisch.
„Sei still“, befahl mir seine kälteste, eisige Stimme. Er schrie mich fast an. Sein harter Tonfall durchfuhr mich wie ein Eisblitz.
Ich fuhr erschrocken zurück. Istvan schien nun irgend-etwas um seinen Hals zu umklammern. Ich konnte nicht anders und ging an seine Seite, um zu sehen, was er da in seiner Hand hatte.
Dann erkannte ich es.
Istvan umklammerte das Orion-Medaillon. Seine Fingerknöchel waren kalkweiß. Mit geschlossen Augen murmelte er etwas vor sich hin, was ich nicht richtig verstand. Als er merkte, dass ich an seine Seite kam, riss er instinktiv die Augen auf. Wieder blickte ich in die irisierenden Augen eines Istvans, dessen Wolf, dessen finstere Seite versuchte, die Herrschaft über ihn zu erlangen. Doch sobald er meinen erschrockenen Blick sah, begann das beunruhigende Leuchten seiner Augen abzuklingen, bis nur noch das satte Grün übrig blieb, das mir vertraut war. Er atmete erleichtert auf.
„Eifersucht also auch! Starke negative Gefühle“, lamentierte er, für sich selbst theoretisierend, vor sich hin.
„Tut mir so leid, Joe. Ich wollte dich nicht so anfahren. Es ist nur so schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren, wenn es über mich kommt“, gestand er mir und kam zögernd auf mich zu.
Ich tat einen ebenso zaghaften Schritt auf Istvan zu, bis wir wieder dicht voreinander standen.
„Du kannst es mir jetzt erzählen. Ich habe mich im Griff“, sagte er, fast schon zu neutral. Ich war noch zu erschrocken, um gleich zu sprechen.
„Wirklich, Joe, ich will es wissen. Alles!“, ermunterte er mich.
„Na gut. Du musst aber verstehen, dass ich echt am Ende war. Es war der erste Tag, an dem ich mich halbwegs wieder als Mensch gefühlt habe. Ich war auf einem Konzert, wieso ist jetzt nicht mehr wichtig.“ Das Jobangebot klammerte ich bewusst aus. „Ich habe mich mit einem Musiker unterhalten. Wir haben darüber geredet, wie es ist, wenn man verlassen wird oder wenn man jemand verlässt, auch wenn man noch liebt. Dann, ohne Vorwarnung und ohne, dass ich es wollte, hat er mich geküsst.“
Istvan hielt deutlich die Luft an. Die Wunde, die ich schnitt, ging tief. Ich konnte den klaffenden Schnitt förmlich in seinen Augen sehen. Schnell bereute ich meine übertriebene Wahrheitsliebe, jetzt, wo ich in Istvans verletztes Gesicht sehen musste, während ich sprach.
„Hast du den Kuss erwidert?“, verlangte zu wissen und presste die Lippen fest aufeinander. Seine Anspannung war greifbar. Meine ebenso.
„Nein, aber ich habe ihn nicht abgehalten, nicht gleich. Aber Istvan, ich kann nicht bereuen, dass es passiert ist“, sagte ich ihm ins Gesicht. Er starrte mich an, als ob ich jemand Fremder wäre. Fast wäre ich geflohen, aber ich musste seinen Eindruck richtigstellen. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände, doch er versuchte sich dagegen zu wehren, drehte den Kopf zur Seite.
„Ich bereue es deshalb nicht, weil ich diesen schrecklichen Kuss nicht gefühlt habe. Ich empfand gar nichts. Als wäre ich eine leblose Hülle. Da verstand ich. Ich konnte bei diesem Mann nichts empfinden, wie auch bei jedem anderen Mann. Der einzige Mann, dessen Kuss ich fühlen kann, durch und durch, mit ganzer Seele, bist du. Als mir das klar wurde, habe ich mich sofort auf den Weg zu dir gemacht. Dieser völlig bedeutungslose Kuss hat mich zu dir zurückgebracht“, fasste ich für ihn zusammen und beobachtete angestrengt, wie er zu verstehen begann. Meine Worte wirkten wie Treibsand. Er ging darin unter, konnte sich ihnen nicht entziehen, bis er verstand. Dann nahm er meine Hand von seiner Wange und drücke sie wortlos. Das genügte mir.
„Nur deshalb bist du zurück?“, fragte er verwirrt.
„Nein, nicht nur deshalb. Ich bin vor allem deinetwegen zurückgekommen. Es klingt total verrückt. Aber in dieser Nacht, eigentlich eher gegen Morgen, hatte ich einen merkwürdigen Traum von dir. Wir waren hier“, erklärte ich ihm und deute mit meiner freien Hand auf das Lager und den Wald, der es umgab.
„Du warst in meinen Träumen immer verschwunden. Aber in diesem Traum bist du zurückgekommen und hast es auch energisch von mir gefordert, ‚Dann komm endlich zurück‘, hast du mich angefahren. Da habe ich nicht mehr lange gefackelt. Die armen Leute auf der Autobahn hatten Todesangst vor meinem Fahrstil“, scherzte ich.
„Komisch“, stieß er hervor.
„Was?“
„Ich bin gestern hier gesessen und habe beinahe dasselbe vor mich hingesagt“.
„Seltsam“, stimmte ich ihm zu, dachte aber nicht weiter darüber nach.
 
Ich begann wieder zu frösteln, deshalb besorgte Istvan einige Zweige und Steine und machte ein Lagefeuer, an das ich mich setzen konnte, um mich zu wärmen. Wir hatten währenddessen nicht gesprochen. Ich ließ ihn jedoch keine Sekunde aus den Augen, als könnte er sich auflösen, wenn ich ihn nicht mehr im Blickfeld hätte.
Ich hatte das bestimmte Gefühl, dass er etwas Zeit brauchte, um alles, was ich ihm erzählt hatte, zu überdenken. Auch fühlte ich, dass er noch immer Schuldgefühle hatte, weil ihm dieser Rückfall vor mir passiert war. Doch ich war fest überzeugt, dass sich seine Schuldgefühle nicht mit meinen Gewissensbissen messen konnten.
Erst als er sich ebenfalls an das Feuer setzte, mir gegenüber, und mich über die Flammen hinweg ansah, traurig und müde, da wusste ich, dass ich es nicht so stehen lassen konnte. Es war Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen und nichts ungesagt zu lassen.
„Sei ehrlich, bitte“, verlangte ich von ihm.
„Kannst du mir verzeihen?“, fragte ich ängstlich mit deutlicher Panik in der Stimme.
„Nicht nur diesen dummen, bedeutungslosen Kuss. Ich meine, kannst du darüber hinwegkommen, wie ich gegangen bin?“
Ich schluckte ein paar Mal und wartete auf Istvans Antwort, auf sein Urteil.
Er sah mich lange und mit einem ernsten Ausdruck an, dann antworte er auf meine schwierige Frage.
„Eigentlich gebe ich dir keine Schuld. Daran liegt es nicht. Ich nehme dir auch den Kuss nicht übel. Auch wenn ich schon beim Gedanken daran aus der Haut fahren könnte! Verzeihen ist nicht das Problem. Ich habe nur ständig so ein scheußliches Gefühl, dass ich dich jederzeit wieder verlieren könnte. Noch einmal würde ich das nicht überleben. Deshalb musst du es mir versprechen. Du musst es mir schwören Joe!“
„Was?“, fragte ich zaghaft.
Er stand auf. Das Feuer beleuchtete seine Gestalt. Dann stellte er sich direkt vor mich hin.
„Schwör mir“, verlangte er scharf, „dass du mich nie wieder verlässt!“
Er hatte mich an den Schultern hochgezogen und starrte mich fordernd an. Sein Blick versengte mich wieder.
„Ich schwöre es dir, wenn du mir im Gegenzug versprichst, uns nie wieder aufzugeben, egal, was passiert. Lass nie wieder zu, dass irgendetwas zwischen uns kommt, noch nicht einmal wir selbst!“, befahl ich Istvan eindringlich und ließ damit keine Zweifel an meinen Absichten, so wie er es zuvor schon getan hatte.
„Ich schwöre“, sagte Istvan sehr ernsthaft und fügte hinzu, „solange dein Leben nicht in Gefahr ist.“
„Nein, Istvan“, protestierte ich heftig, „so funktioniert das nicht. Alles oder nichts“, gab ich ihm mit fester, überzeugter Stimme zu verstehen und zog mich nun weit von ihm zurück.
„Verlang das nicht von mir, Joe. Ich kann nicht wider mein Gewissen handeln.“
„Nicht einmal für uns? Für mich?“, fragte ich weiter nach und ließ Istvan merklich wissen, mit Absicht, dass ich über seinen Einwand enttäuscht und traurig war.
„Das ist nicht fair“, beschwerte er sich mit dem trotzigen Ton eines kleinen Jungen.
„Ja, ich weiß“, gab ich zu und kam wieder näher, ganz nahe.
Dann küsste ich ihn mehrmals. Zuerst am Hals, dann auf die herrlich kratzigen Wangen. Zum Schluss gab ich ihm einen zarten, unschuldigen Kuss auf den Mund. Ich behielt eine Hand in seinem Nacken und umklammerte mit der anderen sein Kinn. Dann wusste ich ganz plötzlich, was ich zu sagen hatte.
„Istvan. Ich schwöre dir, dich niemals wieder zu verlassen. Komme, was wolle. Bis der letzte Atemzug aus meinem Körper entweicht … Denn von jetzt an hast du mich am Hals, Orion“, verkündet ich und starrte dabei unablässig in seinen feurig grünen Blick.
„Als hätte ich jetzt noch eine Wahl“, beschwert er sich atemlos und lächelte kaum merklich.
„Joe. Ich schwöre, immer an uns zu glauben, und ich werde niemals zulassen, dass etwas, egal, was oder wer, uns entzweit.“
Mit seiner tiefen, festen Stimme erreichte mich sein Schwur und durchflutete mich, wie Leben spendendes Blut meinen Körper am Leben hält. Um unsere Schwüre zu besiegeln, küssten wir uns in einer innigen Umarmung.
Jetzt galt es nur noch eines zu tun, außer ein paar Stunden zu schlafen. Wir mussten aus unserer Höhle kommen und uns dem Leben und seinen Herausforderungen stellen. Nicht länger alleine oder einsam, sondern gemeinsam, zusammen.