9. Zukunft und neue
Möglichkeit
Da waren wir nun. Istvan konnte sich eine
Standpauke von Valentin in Sachen Geheimhaltung und Zurückhaltung
anhören, wie ein ungelehriger Schüler, während ich, ohne Istvans
Beisein, Valentin Vorhaltungen machte.
Schließlich hatte er mich auch noch angespornt.
Nachdem ich ihm, mit zahlreichen Auslassungen und Umschreibungen,
von unserem missglückten Annäherungsversuch erzählt hatte, begriff
er die Ernsthaftigkeit meiner wütenden Anschuldigungen. Ich konnte
auf seinem ansonsten gefassten Gesicht eine schuldbewusste Miene
aufziehen sehen. So bekam ich meine Entschuldigung von Valentin,
auch wenn ich mich dadurch keinen Deut besser fühlte.
Meine gespielt tapfere Ansage „Mehr Glück beim
nächsten Mal“ verwandelte sich mit jeder vergangenen Stunde mehr
und mehr in bloßen Galgenhumor, denn Istvan war nun wieder
übervorsichtig und todtraurig. Mir selbst ging es leider auch nicht
besser. Es gab einfach nichts, was wir uns sagen konnten, was die
Sache besser machte, und wenn wir jetzt alleine waren, wirkten wir
unsicher im Umgang miteinander. Er küsste mich auch nur noch sanft,
ohne Kraft oder Drang dahinter. Es war schön, wie es immer war,
verpasste mir aber gleichsam einen Stich. Und versuchte ich, auch
nur ein wenig fordernder zu sein, entzog er sich mir mit einem
entschuldigenden Lächeln, das so traurig und gebrochen wirkte, dass
es mich ganz krank machte. Ich konnte nur hoffen, dass die Zeit
seine Niedergeschlagenheit und Vorsicht etwas abschwächen würde. Um
unsere schwierige Zweisamkeit zu erleichtern, verbrachten wir
auffallend viel Zeit bei den Valentins, die sich darüber zu freuen
schienen.
Eine Sache hatte sich jedoch nicht geändert: Auch
nach dem Maitanz blieb Miriam mir gegenüber reserviert. Ich
versuchte mich damit abzufinden, obwohl ich mir ihr Verhalten nicht
wirklich erklären konnte. Miriam war für mich auch aus einem
anderen Grund ein rotes Tuch. Sie und Woltan waren geradezu
widerlich ineinander verschossen und zeigten es mittlerweile sehr
offen, was mich in meiner derzeitigen Situation wahnsinnig machte.
Ertragen konnte ich es nur, indem ich mich öfter entschuldigte, aus
dem Raum ging und mich entweder bei Serafina versteckte, die dem
Geturtel ebenso wenig abgewinnen konnte, oder mich zu Valentin auf
den Balkon setzte, wo ich eine weitere Lektion in Wolfsgeschichte
oder ein Gleichnis zum Thema Geduld serviert bekam. Valentin schien
geradezu besessen von dem Gedanken, mich gedul-diger stimmen zu
können. Ich wusste seine Absicht zu schätzen, war mir aber sicher,
dass er damit bloß Dünger auf unfruchtbaren Boden verstreute. Ich
war schon immer ungeduldig gewesen, besonders wenn es um Istvan
ging, das würde sich so schnell nicht ändern.
Istvan verbrachte wieder mehr Zeit mit Marius und
seinen Kartenspielen oder klemmte sich hinter eine schwierige
Übersetzung, die er erst angenommen hatte, nachdem unser Versuch
einander näher zu kommen, misslungen war. Auch ich vergrub mich in
Arbeit und traf mich nach langer Zeit wieder einmal mit Carla, die
zu meiner großen Erleichterung auf eine Inquisition verzichtete und
Istvan mit keinem Wort erwähnte. Vielleicht lag es auch daran, dass
sie Christian zu unserem Essen mitgebracht hatte. Seit die beiden
offiziell verlobt waren, waren sie noch enger zusammengeschweißt
und sie flirteten wieder derart heftig miteinander, dass man meinen
könnte, sie wären gerade frisch verliebt.
Wir waren gerade dabei, den Nachtisch zu
bestellen, als die zwei schon wieder anfingen, sich abzuküssen.
Sofort setzte ich meine ausdruckslose Miene auf, die ich dank
Miriam und Woltan zur Perfektion kultiviert hatte.
„Oh, Entschuldigung. Wir gehen dir sicher auf die
Nerven. Unsere Kollegen beschweren sich auch schon“, schmunzelte
Carla, während Christian an ihrem Ohrläppchen knabberte.
„Nein, schon O. K. Es stört mich überhaupt nicht“,
log ich unverfroren und verzog dabei keine Miene. Ich musste für
Carla aussehen, als hätte man mir Novocain verabreicht.
„Also, dann wärst du die Einzige! Sogar unsere
Eltern haben uns schon satt“, erklärte Carla weiter und kicherte,
als Christian sie erneut an der Hüfte kitzelte.
„Ja, wir können einfach nicht anders. Ich nenne es
den Verlobungseffekt. Keine Ahnung, ob man es wissenschaftlich
nachweisen kann, aber ich steh drauf“, warf Christian amüsiert ein.
Für einen ernsthaften Arzt, der auch noch Sinn für Humor -hatte,
sah er eigentlich zu gut und zu jungenhaft aus, aber Carla gefiel
das besonders.
Als ich versuchte, die Schokoladentorte
hinunterzubekommen, ohne große Lust, beobachtet ich sie verstohlen
weiter, wie sie sich gegenseitig fütterten und einander neckten.
Ich wusste, es war selbstzerstörerisch, aber ich konnte einfach
nicht anders. Jedes Mal, wenn Carla errötete oder Christian ihre
Halsbeuge küsste, fühlte ich ein scharfes Ziehen im Magen und ein
Brennen auf meinem Nacken, das mich an Istvans Berührung erinnerte,
nach der ich mich jetzt noch mehr sehnte, als ich es ohnehin schon
tat.
Doch eigentlich war ich über den Punkt der
Sehnsucht bereits hinaus und ich genierte mich für die Eifersucht,
die ich den zwei unbestrittensten Liebespaaren in meinem Umfeld
entgegenbrachte. Normalerweise beneidete ich andere nicht wirklich
oder missgönnte ihnen ihr Glück. Aber es schien mir ungeheuer
unfair, dass Istvan und ich immer gezwungen waren, uns nacheinander
zu verzehren, während es allen anderen -dagegen so leicht gegeben
war, glücklich und zusammen zu sein. Ich hörte förmlich Martins
moralinsaure Worte in meinem Ohr: „Joe, das Leben ist nun mal nicht
fair!“
Am liebsten hätte ich bei dem Gedanken gegen etwas
geschlagen, aber in dem italienischen Lokal konnte ich nicht vor
den Augen meiner besten Freundin und ihres Verlobten plötzlich
anfangen, alles zu zerschmettern. Also hörte ich weiter mit starrer
Miene und einer Fassade aus Gleichmut und gespieltem Interesse
Carlas Erzählungen von der abenteuerlichen Wohnungssuche zu. Hätte
sie auch nur eine Frage an mich gerichtet, wäre ihr sofort klar
geworden, dass ich ihr gar nicht wirklich zugehört hatte. Aber zum
Glück reichte es ihr, wenn ich ab und an geduldig nickte und ein
neutrales „Verstehe“ murmelte. Christian sorgte ohnehin dafür, dass
sie sich nicht sehr auf mich konzentrierte.
Als ich am Abend nach dem Essen nach Hause kam,
hatte ich das Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können. Ständig
allen Leuten etwas vorzumachen und eine
Es-ist-alles-in-Ordnung-Parole auszustrahlen, war ungemein
anstrengend.
In dieser Nacht schlief ich tief und fest und war
dankbar dafür, dass ich nicht träumte. Als ich am nächsten Morgen
erwachte, wurde mir wieder bewusst, dass ich mit Istvan verabredet
hatte, dass er heute den Abend bei mir verbringen würde. Es war
eindeutig eine versöhnliche Geste, die er mit einem Essen versüßen
wollte. Natürlich hatte ich das Angebot angenommen, wusste aber
gleichzeitig, dass es schwer sein würde, ihn so lange ohne einen
der Valentins zur Ablenkung um mich zu haben.
Als Istvan bei mir ankam, war es bereits Abend. Er
hatte den Schutz der Dunkelheit genutzt und war über den Waldweg
gegangen. Ich ließ ihn herein und hielt mich, wie sonst auch, wenn
er für mich in meiner Küche kochte, von diesem Raum fern. Während
ich seine flinken Handgriffe vom Wohnzimmer aus verfolgte, fiel mir
plötzlich ein, dass ich meinen Anrufbeantworter noch gar nicht
abgehört hatte. Ich ging in den Flur und ließ das Band
laufen.
„Hello-He-Joe!“
Ich stoppte sofort den AB. Es gab nur einen
einzigen Menschen, der mich auf diese Weise begrüßte: Malz. Was
immer mir Malz zu sagen hatte, sollte Istvan nicht hören. Es konnte
gut sein, dass er das abgelehnte Jobangebot erwähnte. Ich stellte
den Ton auf die minimalste Lautstärke und hoffte, dass Istvans
Supergehör bei dem Lärm des Ofens nichts mitbekam. Leider war die
Aufzeichnung nun so leise, dass ich gezwungen war, mein Ohr an den
Lautsprecher zu drücken.
„… Alle klar bei dir? Ich habe etwas für dich. Bei
euch in der Nähe findet am Wochenende ein Frühlingsfestival statt.
Pop meets Punk. Da musst du unbedingt hin. Schreib was Schönes
darüber. Alle weiteren Infos findest du in deinen Mails. Ach ja,
das Mädchen, das ich für dich angestellt habe – meine zweite Wahl –
entpuppt sich als Glückstreffer. Sie hat was drauf, Joe! Du ärgerst
dich bestimmt schon, dass du mein Angebot abgelehnt hast. Wie kann
man nur Wien eintauschen für … Schon gut, ich reite nicht
weiter darauf herum … Machs gut, Kleines!“ Piep.
Malz konnte sich noch nie kurz halten. Jetzt war
ich äußerst froh darüber, dass ich so umsichtig gewesen war, seine
enthüllende Ansage leise gedreht zu haben. Sofort als er das
Job-Angebot erwähnt hatte, lief mir ein kalter Schauer über den
Rücken. Doch als ich bemerkte, dass die Kochgeräusche nicht
nachließen, seufzte ich erleichtert auf.
Das Essen Istvans war köstlich wie immer. Ein
Traum aus Gemüse und Kräutern. Wir waren eher schweigsam, während
wir die Mahlzeit zu uns nahmen, und wenn wir uns unterhielten, dann
über Belangloses, wie Neuigkeiten aus der Bibliothek oder meine
anstehenden Aufträge. Ich war mit meinen Gedanken ohnehin ganz
woanders und konnte nicht aufhören über Malz’ Nachricht
nachzudenken. Er hatte gefragt, ob ich meinen Entschluss bereits
bereute, doch auch wenn mich unser derzeitiger Zustand bedrückte,
empfand ich keine Reue und war mir sicher, dass ich richtig
entschieden hatte. Eine Entscheidung für Istvan kam mir immer
richtig vor. Dennoch fühlte ich eine merkwürdige Unruhe in mir, die
sich verstärkte, als ich Istvans geistige Abwesenheit an diesem
Abend bemerkte. Er schien ebenso wenig bei der Sache zu sein wie
ich. Allerdings kannte ich den Grund dafür nicht.
Istvan hatte sich vorsorglich auf die gemeinsame
Nacht vorbereitet und war mit seinen Übersetzungsunterlagen
bewaffnet. Der dicke Papierstapel wirkte auf mich fast wie ein
Bollwerk, errichtet zu seinem und zu meinem Schutz. Ich war aber
nicht minder umsichtig. Schließlich musste ich für das anstehende
Festival und über die teilnehmenden Bands recherchieren. Auf diese
Weise verging der Abend. Ich saß mit meinem Laptop auf der Couch im
Wohnzimmer und stellte meine Unterlagen zusammen, während Istvan
auf dem kleinen Tisch schräg vor mir bedrucktes Papier zerwühlte
und seine Übersetzungsversuche notierte. Normalerweise war Istvan
dabei schnell und gründlich, brauchte keine mehrfachen Versuche.
Doch heute Abend schien es schlecht zu laufen. Das Rascheln von
Papier ließ niemals nach und sein Stift strich mit deutlichem Druck
den Text durch, den er eben erst niedergeschrieben hatte. Istvan
schien sich nicht konzentrieren zu können und wirkte angestrengt
und müde. Das brachte mich dazu, noch öfter in seine Richtung zu
sehen. Sein Anblick schmerzte in meinem Inneren. Die Ellbogen auf
dem Tisch gestützt, fuhr er sich immerfort durch das Sandhaar. Die
Finger um seinen Stift verkrampften sich und sein Blick war müde
und frustriert. Er seufzte sogar derart laut, dass ich hochsah und
seinen Blick kreuzte. Ich konnte gar nicht anders. Sofort breitete
sich diese warme Aufregung in mir aus, die sich in einen
Magenkrampf wandelte, als mich sein elender Gesichtsausdruck
erreichte. Selbst das Grün seiner Augen wirkte verdunkelt.
Sofort wollte ich ihn fragen, was ihn so quälte.
Aber als mir klar wurde, dass ich seine Antwort vielleicht gar
nicht hören wollte, riss ich mich zusammen und versuchte ihm nur
ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, das er nicht schaffte zu
erwidern. Das brachte mich derart auf, dass ich meinen Blick
geradezu besessen auf den Bildschirm des Computers heftete und
nicht wieder hochsah, ehe ich mit meiner Arbeit fertig war. Nachdem
ich den Laptop abgeschaltet und alles in mein Zimmer geschafft
hatte, fand ich Istvan vor der Couch vor. Er war dabei, sein Bett
für die Nacht vorzubereiten. -Normalerweise wartet er darauf, dass
ich ihm das Kissen und die Decken brachte, doch dieses Mal hatte er
sie sich selbst besorgt. Obwohl es eigentlich nicht ungewöhnlich
war, dass ein Mann mit dem man schon monatelang zusammen war, sich
so verhielt, machte es mich doch auf unerklärliche Weise sehr
besorgt.
„Ich geh dann auch schlafen“, ließ ich ihn wissen,
weil es sonst nichts zu sagen gab.
„Gute Nacht“, wünschte er mir undurchschaubar
neutral.
Worauf ich nur noch in mein Zimmer gehen und mich
für die Nacht fertig machen konnte.
Nachdem ich ewig lange nicht hatte einschlafen
können, schlummerte ich endlich unruhig vor mich hin. Immer wieder
wachte ich auf und drehte mich aufgewühlt hin und her, sodass meine
Bettdecke vollkommen durcheinandergeriet.
Wie spät es war, konnte ich nicht sagen, doch
plötzlich fühlte ich die Anwesenheit eines anderen Menschen im
Zimmer. Im Halbschlaf erkannte ich den Honig-Wald-Geruch und
wusste, dass es sich um Istvan handeln musste. Dennoch schnellte
ich erschrocken in meinem Bett hoch, einfach deshalb, weil ich ihn
nicht erwartet hatte.
Ich sah mich aufgebracht in meinem dunklen Zimmer
um, bis ich ihn vor meinem Bett fand. Er sah nachdenklich auf mich
herab, das schwache Licht des Fensters betonte die Schärfe seiner
Wangenknochen. Istvans Anblick wärmte mich im Inneren und machte
mich im selben Moment auf hundert Arten nervös, vor allem weil er
mich so bedeutungsvoll betrachtete. Mit schnellen Strichen
versuchte ich mein Haar in Ordnung zu bringen und lehnte mich etwas
nach vor, in seine Richtung. Meine Geste führte zu dem gewünschten
Effekt. Istvan setze sich zu mir an das Ende meiner Füße. Ich
wartete gebannt und zwang mich, ruhig zu atmen.
„Ich muss mit dir reden“, begann er. Seine ruhige,
tiefe Stimme umfasste mich wie ein warmer Lufthauch, auch wenn sein
Tonfall eher ernst war.
„Ich werde zuhören“, versprach ich etwas
verunsichert. Erst wurde es unheimlich still, dann kam er noch
etwas näher an mich heran.
„Ich weiß es“, deutete er an und durchbohrte mich
mit seinen dunklen Augen.
„Ich habe die Nachricht gehört“, fügte er noch
hinzu.
Mehr als geistesabwesend zu nicken und ihn mit
aufgerissen Augen anzustarren, konnte ich nicht tun. Deshalb war er
den ganzen Abend über so abwesend gewesen. Oh
Gott, er weiß es, wiederholte ich in Gedanken, um mir die
Bedeutung dessen einzutrichtern.
„Wieso hast du mich bloß angelogen?“, zischte er
gekränkt und schüttelte verständnislos den Kopf. „Warum hast du das
getan? Das wolltest du doch immer. Warum hast du nur abgelehnt?“,
fragte er mich eindringlich und verletzte mich damit ohne böse
Absicht sehr.
„Ich wollte dich nicht anlügen, aber es schien mir
richtig so. Du solltest nicht denken, dass du mich von irgendetwas
abhältst. Aber weißt du wirklich nicht, wieso ich abgelehnt habe?“, fragte ich ihn mit
hochgezogener Augenbraue, während ich meine Hand auf seine legte.
Istvan presste die Lippen fest aufeinander, dann meinte er:
„Das habe ich befürchtet.“ Der traurige Tonfall in
seiner Stimme in Verbindung mit der Bedeutung seiner Worte ließ
mich schaudern.
„Weißt du, wie weh es tut, wenn ich dich das sagen
höre. Ich bereue meinen Entschluss nicht. Kein bisschen. Vielleicht
war es früher einmal das, was ich wollte, aber jetzt will ich etwas
anderes …“, deutete ich an, bevor ich meinen Satz mit beginnendem
Herzrasen vollendete: „… dich!“
Dabei beobachtete ich, wie der Ausdruck auf seinem
Gesicht von blankem Entsetzen zu freudiger Überraschung
wechselte.
Während ich mich an seine Brust lehnte, was er mir
gestattete, begann ich mit einer längst überfälligen Beichte.
„Ich will eine Zukunft mit dir. Dafür entscheide
ich mich. Deshalb musste ich Malz’ Angebot ablehnen.“
Istvans Augen leuchteten merklich auf, als ich es
fertigbrachte, mich für einen Augenblick von seiner Brust zu lösen.
Er verstand die Tragweite meiner Entscheidung. Wir hatten nie
wirklich über die Zukunft gesprochen. Ich hatte mir sogar lange
Zeit nicht einmal erlaubt, darüber nachzudenken. Doch jetzt war es
raus und stand im Raum, aber nicht zwischen uns, denn zwischen
Istvan und mir hatte nichts Platz, so fest umarmte er mich. Es war
uns beiden schon lange klar gewesen, schließlich hatten wir
einander versprochen, uns niemals zu verlassen, aber eine reelle
gemeinsame Zukunft war etwas anderes, etwas Folgenschweres. Aber in
diesem Moment waren wir nur glücklich darüber, wieder zusammen zu
sein und diese schlechte Stimmung zwischen uns vertrieben zu
haben.
Nach einer Weile fühlte ich sogar seine heißen
Lippen auf meinem wirren Haar. Von diesem Gefühl angespornt, zog
ich Istvan an seinem T-Shirt in mein Bett. Seine langen,
unbekleideten Beine wärmten meine selbst durch die Decke
hindurch.
Als ich dann noch bemerkte, dass er wieder einmal
versunken mit meinen Haarsträhnen spielte, konnte ich nicht mehr
anders und begann ihn langsam und sanft zu küssen. Auch das ließ er
zu, obwohl wir in einem Bett, in meinem Bett lagen.
Nun gab es keine Anspannung mehr zwischen uns,
sondern eine friedliche Stimmung, die sich in meinem ganzen Zimmer
ausbreitete. Plötzlich, noch immer in dieses friedliche, geborgene
Zusammensein vertieft, bemerkte ich, dass Istvan Anstalten machte,
aufzustehen. Sofort zog ich an seinem Arm, ehe er noch richtig
hochgekommen war. Meine Finger bohrten sich erschrocken in sein
hitziges Fleisch.
„Das ist nicht dein Ernst!“, stieß ich fassungslos
hervor. „Du willst jetzt nicht wirklich nach unten gehen … Das
kannst du gleich vergessen. Du bleibst hier. Bei mir!“, ordnete ich
an und ließ keinen Zweifel daran, wie wütend ich wäre, wenn er es
doch wagen würde, von mir weg zu gehen. Sofort ließ er seinen
Körper erneut an meine Seite sinken, worauf sich meine verkrampften
Muskeln wieder merklich entspannten.
„Natürlich bleibe ich, wenn du darauf bestehst.
Ich dachte nur … Solange mein Problem nicht überwunden ist, sollte
ich vorsichtig bleiben, jetzt, wo wir doch ein ganzes gemein-sames
Leben haben werden“, flüsterte er vor sich hin und seine Worte und
seine leicht raue Stimme machten etwas Merkwür-diges mit mir. So,
als ob er ein Licht in mir angezündet hätte, von dessen Existenz
ich noch nicht einmal etwas geahnt hatte. -Feuer und Flammen hatte
er bisher schon oft in mir entfacht, aber nun gab es auch noch
dieses sanfte Licht, das einen durchflutet und hoffnungsvoll
stimmt.
„Ein Leben. Ein ganzes Leben. Mit dir“,
wiederholte ich verträumt. Ganz ungewollt vergrub ich mein Gesicht
in seiner Brust und versuchte krampfhaft nicht einzuschlafen, um
dieses Gefühl so lange wie möglich zu erhalten. Als er meine
Weigerung einzuschlafen mitbekam, begann er mich fest zu umarmen,
sodass seine Hitze und der starke Honig-Wald-Geruch auf mich
einwirkten. Als sogar das mich nicht zum Schlafen brachte, wickelte
er mich fest in die Decke und begann rhythmisch über meinen Kopf
und mein Haar zu streichen. Es war hypnotisch und senkte meinen
Herzschlag auf einen Ruhepuls, der jedoch ein starkes,
gleichmäßiges Herzklopfen beibehielt. In Istvans Nähe konnte mein
Herz selbst in völlig ru-higem Zustand nur kräftig schlagen,
dennoch war ich schon fast soweit einzuschlafen. Kurz bevor mir die
schweren Lider zufielen, wanderten meine Augen zum Fenster, wo ich
glaubte, einen Teil des Orion-Sternbildes zu erkennen. Halb im
Traum murmelte ich kaum hörbar: „Siehst du? Er gibt auch sein
Einverständnis.“
Ich erwachte und das hell strahlende Licht brannte
immer noch in mir. Und als ich auch noch sah, wie friedlich Istvan
neben mir schlief, wäre ich vor Glück beinahe zersprungen. Deshalb
konnte ich auch meine Finger nicht davon abhalten, sein Gesicht zu
ertasten. So behutsam ich vermochte, fuhr ich die lange dichte
Braue entlang und betrachtete Istvan eingehend. Er hatte sich nicht
sehr verändert. Lediglich sein Haar war etwas länger und durch den
Schlaf verwuschelt, was mich irgendwie rührte. Aber diese
einzigartig stimmige Mischung aus hart und zart war unverändert.
Ich lehnte nun meine Wange an seine und begann mich, beinahe wie
eine Katze, an seinen herrlich kratzigen Stoppeln zu reiben. Die
deutlich spürbare Berührung weckte ihn. Sofort sah ich das breite,
schiefe Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen.
„Guten Morgen. So darfst du mich immer wecken,
wenn du willst“, sagte er verschlafen, bevor er mich leicht an sich
drückte.
„Steh nicht auf!“, befahl ich.
„Bleib, wo du bist! Ich bin gleich zurück.“
So schnell ich konnte sprang ich hoch, die
plötzliche Frische auf meinen bloßen Füßen ignorierend, ging in die
Küche und bereite Tee für uns. Mit den dampfenden Tassen kam ich
zurück in mein Zimmer, wo Istvan gerade meine -Nachtlektüre in
Augenschein nahm.
„Proust?“, fragte er ungläubig.
„Ja, wieso? Zuerst mochte ich Eine Liebe Swanns nicht, doch mittlerweile gefällt es
mir sehr. Ich gebe es zu“, erklärte ich, reichte ihm den Tee und
setzte mich Istvan gegenüber.
„Freut mich, das zu hören. Vor ein paar Monaten
hast du dich noch standhaft geweigert, Proust eine Chance zu
geben“, erinnerte er mich mit einem selbstzufriedenen
Ausdruck.
„Ich vermute, für Proust muss man erst bereit
sein“, scherzte ich und beendete damit das Thema. Es gab
Wichtigeres, worüber ich mit ihm reden wollte.
„Sollen wir Valentin davon erzählen?“, fragte ich
unsicher und rieb mir den letzten Schlaf aus den Augen.
„Du meinst, dass wir nun ernsthaft eine gemeinsame
Zukunft planen.“
Ich nickte und trank von dem aromatischen Tee.
Istvan schien genau zu überlegen.
„Doch schon, aber vorher sollten wir selbst
einiges klären, denn für uns ist es alles andere als einfach.
Solange wir hier sind, wird sich an der Geheimhaltung nichts
ändern. Ich denke, dass es das Beste wäre, wenn wir ihn erst
einweihen, wenn alles … realistischer für
uns geworden ist“, erinnerte er mich eindringlich.
„Das weiß ich doch, aber ich ändere meine Meinung
nicht mehr. Bestimmt nicht!“ Ich schenkte ihm einen Ausdruck wilder
Entschlossenheit, den er nicht wagte anzuzweifeln.
„Wir müssen nichts überstürzen, Joe“, versicherte
er mir.
„Wir reden mit Valentin, versprochen, wenn wir
soweit sind, wenn ich …“
„Aber Istvan! Er könnte dir helfen … uns helfen“,
bedrängte ich ihn.
Ich wollte jetzt mehr denn je, dass Valentin
Istvan endlich verraten würde, wie er ihm helfen könnte, seinen
Dämon zu überwinden, auch wenn Valentin nicht von seiner
Überzeugung abließ, dass Istvan noch nicht bereit dafür sei. Ich
weigerte mich, das zu glauben.
Wie frustriert und wie sehr an die Wand gedrängt
sollte Istvan denn noch werden?
Aber meine Abmachung mit Valentin konnte ich nicht
brechen. Es war eine Art Versprechen, so etwas bindet. Valentin
musste Istvan selbst davon erzählen. Ich fluchte ein paar Mal
innerlich und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Dann riss
Istvan mich aus meinen abschweifenden Gedanken.
„Dir ist schon bewusst, dass wir erst daran denken
können, wenn Farkas aus der Welt ist“, stellte Istvan klar, wobei
er seinen Kiefer durch den Druck seines Gebisses überstrapazierte.
Meine Zähne wären jedenfalls bei diesem Kraftakt zersprungen.
„Istvan“, ich sagte seinen Namen und nahm sein
Gesicht in meine Hände.
„Kannst du das wirklich? Er ist doch trotz allem
dein … dein Vater.“
Das letzte Wort ließ ihn seine Augen schließen,
damit ich die Wut und Verachtung für Farkas darin nicht sehen
musste.
„Nein. Das ist er nicht,
nicht einmal annähernd. Valentin war seit dem ersten Tag, an dem
ich ihn kennenlernte, mehr Vater, als Farkas je sein könnte. Ich
hasse ihn. So sehr, dass es mir Angst macht. Aber am meisten hasse
ich, dass er uns im Weg steht. Um das zu ändern, werde ich tun, was
ich tun muss!“
Sein kühler, fester Ton ließ nicht die Spur eines
Zweifels erkennen. Ausgerechnet Istvan so reden zu hören, war Angst
einflößend. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, kam ich
zur selben Überzeugung. Natürlich wollte ich ihn wie schon so oft
fragen, wie genau er Farkas, einen Werwolf,
töten wollte, aber dieses Geheimnis wurde noch immer eisern vor mir
gehütet. Kein Mensch durfte je davon erfahren, es sei denn, die
Valentins würden ihre Meinung darüber ändern, was Istvan nur recht
wäre.
„Ich weiß, dass es sein muss. Ich will nur nicht,
dass du es bist. Dich in dieser Gefahr zu wissen, es sich bloß
vorzustellen, macht mich ganz krank.“
So schnell ich konnte, umarmte ich ihn ganz fest,
umklammerte mit meinen Beinen seine Hüften. Er verschränkte seine
Arme dabei derart fest hinter meinem Rücken, als wollte er mich wie
eine Efeuranke umschlingen. Dagegen hatte ich nichts …
„Können wir nicht einfach so bleiben? Für … sagen
wir … ein oder zwei Jahre.“ Ich fühlte sein Schmunzeln, aber auch
seinen tiefen, traurigen Atemzug.
„Keine Einwände“, flüsterte ich ihm ins Ohr und
küsste ihn tief im Nacken. Dann küsste Istvan mich richtig, noch
bevor der Tag anbrach.
Der Freitag zog nur so vorüber. Das
Pop-Punk-Festival war ein voller Erfolg gewesen und ich hatte die
halbe Nacht und den frühen Morgen mit dem Schreiben der Beiträge
verbracht, weshalb ich lange ausschlief. Als Istvan mich durch
einen Anruf aufrüttelte, er rief eigentlich nur selten an, war es
schon fast Mittag. Wir sollten an diesem Nachmittag bei den
Valentins vorbeischauen. Ich freute mich darauf, da mir jetzt
Woltan und Miriam nicht mehr derart zusetzen würden.
Mein Sportcoupé stoppte in einem Waldstück kurz
nach Rohnitz, wo Istvan darauf wartete, abgeholt zu werden. Er sah
sich ausgiebig um, ehe er in mein Auto einstieg. Sein Verhalten
wirkte fast paranoid. Wer sollte sich außer uns hier schon
herumtreiben?
„Lange nicht gesehen“, begrüßte ich ihn
halbernst.
„Fast zu lange“, meinte er gespielt ernst und
ignorierte absichtlich den ironischen Klang meiner Bemerkung. Ich
lehnte mich vor, wobei der Sicherheitsgut spannte, und küsste ihn
sanft und lange. Schließlich mussten wir auf diese Vorteile im
Hause Valentin verzichten. Supergehör sei
Dank, fügte ich sarkastisch in Gedanken hinzu.
Sobald Istvan begann, meinen Kuss zu erwidern,
ging mein Verstand allerdings auf Urlaub.
„Können wir nicht einfach eine Weile parken?“, schlug ich atemlos vor.
Istvan seufzte.
„Wir werden schon erwartet. Auch wenn ich dich
jetzt nur ungern daran erinnere.“
Er schenkte mir eine Andeutung seines schiefen
Lächelns, das es mir noch schwerer machte, den Motor anzulassen.
Aber genau das tat ich und dann fuhren wir den kurzen Weg bis zur
Jagdvilla. Sobald ich geparkt und den Motor abgestellt hatte,
schnellte Istvans aufgerissener Blick in meine Richtung. Seine
grünen Augen funkelten überrascht und fast schon ungläubig.
„Was hörst du?“, folgerte ich aus seinen
Verhalten.
„Streit!“
Istvan presste das Wort hervor, als wäre es das
Absurdeste, was man hier überhaupt hören könnte.
„Und?“, fragte ich etwas verständnislos
nach.
„Die Valentins streiten sich nie, Joe. Nicht so
jedenfalls.“
Er schien noch immer erschüttert über seine
Entdeckung.
„Worum geht es?“, wollte ich wissen und stieg
gemeinsam mit ihm aus.
„Ich weiß es nicht. Es scheint schon seit einer
Weile so zu gehen. Es wird zu viel durcheinandergeredet“, sagte er
und behielt seinen Kopf schräg in Richtung des Hauses und der
Geräusche.
„Was jetzt? Sollen wir lieber gehen?“
„Nein. Ich muss wissen, was da drinnen los
ist.“
Sofort bekam ich eine bestimmte Ahnung, dass
Istvan mir nicht alles sagte. Er stürmte so schnell zur Villa, dass
ich ihm kaum folgen konnte. Dann riss er die Tür auf und ließ sie
offen. Also trat ich ein und versuchte mein schlechtes Gefühl zu
verdrängen. Doch in dem Moment, als ich das Wohnzimmer mit dem
erloschenen Kamin betrat, verdreifachte sich -dieses scheußliche
Gefühl, und was ich sah, bestätigte meine Befürchtungen. Istvan
platzte in einen handfesten Familienstreit, mit mir im Schlepptau.
Sofort verstummten alle und die Stimmung wurde noch
unangenehmer.
Marius schien mir am unbeteiligtsten und lungerte
auf dem Fenstersims, um ja nicht Partei ergreifen zu müssen.
Valentin stand neben Serafina. Beide wirkten zerschlagen und
schienen irgendwie in der Defensive, während Woltan vor seinem
Vater mitten im Raum stand und vor Wut kochte. Ich hätte nie
gedacht, dass sein schönes, gleichmäßiges Gesicht derart finster
und verzerrt aussehen könnte. Aber so stand er nun vor mir und
blicke auf Istvan und mich.
„Was ist hier los?“, verlangte Istvan zu wissen
und blickte alle nacheinander an.
„Frag ihn!“, forderte Woltan lautstark und zeigte
mit dem Finger auf Valentin.
„Valentin. Wovon spricht Woltan? Was geht hier
vor?“, fragte Istvan und umklammerte vorsorglich meine Hand. Ich
konnte die Anspannung am Druck seines Griffs um meine Finger
nachempfinden.
„Es bringt nichts, wenn wir alle die Wände
hochgehen. Ich werde dir alles erklären, Istvan, aber zuerst lass
mich die Sache mit meinem Sohn klären“, bat Valentin und war um
einen versöhnlichen Ton bemüht.
„Da gibt es nichts mehr zu klären. Los, erzähl’s
ihm! Bringen wir es hinter uns. Vielleicht kann ich ja beim zweiten
Mal verstehen, welcher Teufel dich geritten hat, Vater, diese Sache
vor mir … vor uns allen zu verheimlichen“, zischte Woltan und ließ
sich trotzig in den riesigen Sessel vor dem Kamin fallen. Er
schmollte beinahe hörbar. Istvan zog mich zur Couch, fast, als wäre
ich gewichtslos, und setzte sich mit mir hin. Sera-fina nahm neben
uns Platz. Sie machte auf mich den Eindruck zwischen den Stühlen zu
sitzen und blieb deshalb so unauffällig wie möglich.
Ohne zu zögern, kam Valentin an Woltan vorbei und
stellte sich vor den staubigen Kamin. Das ist also
die Ausstrahlung eines Rudelführers, eines Alphas, dachte
ich für mich selbst, Valentins stolze Haltung beobachtend. Dann
begann er mit seiner Erklärung und irgendetwas sagte mir, dass
niemand, nicht einmal Woltan, wagen würde, ihn zu unterbrechen.
Seine ehrerbietige Beherrschung und sein ernster Samttonfall
sorgten dafür.
„Ich gestehe, ich habe meine Bemühungen um ein
Heilmittel nicht aufgegeben. Es ging mir dabei vor allem um dich,
Istvan. Ich wollte dir keine falschen Hoffnungen machen. Aber in
den letzten Jahren, eigentlich Jahrzehnten, habe ich einen
Wissenschaftler verpflichtet, der in verschiedene Richtungen
geforscht hat und dabei auch eigene Wege gegangen ist. Ich habe dem
Doktor gestattet, innerhalb gewisser Grenzen eigenständig zu
agieren. Nach unzähligen Misserfolgen und Fehlschlägen ist ihm
kürzlich ein Durchbruch gelungen. Er wollte am Telefon nicht sehr
ausführlich werden. Das hatten wir so verabredet. Der Doktor
versicherte mir aber, dass er zwar nicht gefunden hat, wonach wir
ursprünglich auf der Suche waren. Aber seine neueste Entwicklung
kann angeblich Ergebnisse vorweisen, die in unserem Sinne sind. Er
bat mich umgehend zu ihm zu kommen und ich soll auch meinen Sohn
und besonders dich, Istvan, mitbringen.“
Valentin machte eine bedeutsame Pause und ließ uns
Zeit, alles zu verdauen.
„Wer ist der Doktor?“,
fragte Istvan skeptisch, worauf ich zwischen ihm und Valentin hin
und her sah.
„Der Doktor ist Ungar. Er hat an der
Ignaz-Semmelweis-Universität, in Budapest …“, diese Erklärung war
für mich gedacht, „… Medizin studiert und kann Tätigkeiten auf dem
Gebiet der Mikrobiologie und Virologie für amerikanische
Eliteuniversitäten vorweisen. Soviel zu seiner Reputation. Als ich
ihn verpflichtete, traf ich ein Abkommen mit ihm: Ich wahre seine
Identität unter allen Umständen und er darf die Erkenntnisse seiner
Forschungen für seine eigenen Studien verwenden, solange er dadurch
nicht unsere Existenz enthüllt. Ich stelle ihm sogar ein
Privatlabor zur Verfügung und finanziere seine Bemühungen, im
Gegenzug versucht er alles Denkbare, um ein Heilmittel oder
zumindest eine Möglichkeit zu finden, dass Woltan mit einer
Menschenfrau ausschließlich menschliche Kinder bekommen
kann.“
Valentin blickte liebevoll auf seinen Sohn, der
immer noch nicht verwinden konnte, dass er darüber im Unklaren
gelassen worden war.
„Aber das ist doch gut, oder? Ich meine, das hast
du dir doch immer gewünscht“, erinnerte ich Woltan
versöhnlich.
„Darum geht es nicht“, meinte er scharf und
knapp.
„Doch, genau darum geht es, Sturkopf“, murmelt
Serafina kaum verständlich.
Istvan war merkwürdig ruhig geworden. Ich zog
leicht an seinem Hemdzipfel, bis er reagierte.
„Wenn es vorrangig um Woltan geht, wieso besteht
der Doktor dann auf meiner Anwesenheit?“, begann er irritiert. „Du
weißt doch, dass ich nur an einer Heilung interessiert bin. Außer
einem Gegenmittel werde ich mich auf nichts einlassen“, bemerkte er
geheimnisvoll und sein Blick streifte mich kurz. Valentin kam
näher, setzte sich auf den Tisch und fixierte uns jetzt beide mit
seinen kraftvoll dunklen Augen.
„Ich kenne deine Bedenken, das weißt du. Doch was
kann es schaden, sich anzuhören, welche Möglichkeiten der Doktor
dir, euch bieten kann.“
„Nein“, stieß Istvan stur hervor.
„Nein, nicht, wenn sie dabei im Spiel ist“, sagte
er und drückte dabei meine Hand so fest, dass sie taub wurde. Die
beiden redeten über mich, als wäre ich gar nicht anwesend. Das
machte mich verdammt wütend, doch dann verflog dieses Gefühl, wurde
verdrängt.
Jetzt erst verstand ich. Wenn es nicht um Heilung
des Wolfsfluchs ging, sondern eher um eine Art von
Schadensbegrenzung oder, wie es sich in Woltans Fall anhörte, um
einen biochemischen Ausgleich zwischen Mensch und Werwolf, hatten
ich und mein Körper sehr wohl damit zu tun. Vielleicht sogar mehr,
als mir lieb war. Bestimmt mehr, als Istvan lieb war, soviel war
sicher. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Kein Wunder,
dass Istvan derartig ablehnend auf das Angebot reagierte.
Aber noch größer als die Angst, meine Angst, war
die Neugier, besonders in Hinblick auf diese ungeahnten
-Möglichkeiten, von denen nicht einmal Valentin genau zu wissen
schien, worum es sich dabei handeln könnte.
Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte,
sah ich zuerst Valentin und danach Istvan in die Augen, es war, als
blicke man von einem nächtlichen in einen taghellen, grünen Wald.
Valentins erwidernder Blick war erwartungsvoll. Hoffnungsvoll.
Istvans Ausdruck erinnerte mich eher an eine verschreckte,
launische Katze.
„Joe, wie siehst du das Ganze?“, fragte Valentin,
worauf mich alle Werwölfe im Raum mit ihren Augen durchbohrten.
Diese aufdringliche Aufmerksamkeit war mir unangenehm. Ich
versuchte mit aufgesetzter Objektivität zu reagieren.
„Ich denke, man sollte schon wissen, was man
ablehnt … Ich meine, es kann ja nicht schaden, diesen Mann
anzuhören.“
Sofort wusste ich mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen im Raum aufgehört hatten zu
atmen. Woltan, weil er mir trotz seiner Wut, darüber belogen worden
zu sein, vollkommen zustimmte, und Istvan atmete nicht mehr, weil
ihn meine angedeutete Absicht im Inneren erschütterte.
„Istvan“, sprach ich ihn besänftigend an, „denkst
du nicht, nach vorletzter Nacht sind wir es uns schuldig, alle
Pfade auszuforschen. Selbst die, die uns, die dir unbeschreitbar
oder gar unmöglich erscheinen?“
Er schüttelte leicht den Kopf und senkte den
Blick. Ich intensivierte meinen Blick, zwang ihn vor allen
Anwesenden, mich anzusehen, und folterte ihn regelrecht mit meinen
flehenden Augen.
Er schnellte von der Couch hoch, lehnte sich mit
den Armen am Kamin an und bettete seinen Kopf auf den Stein.
Lange sagte niemand etwas, als befänden wir uns in
einem luftleeren Raum. Mir kam es fast wie eine Ewigkeit vor.
Erst als Istvan sich wieder umdrehte und sich
dabei durchs sandige Stirnhaar fuhr, begann sich die Luft vor
Spannung aufzuladen. Fast vermeinte man ein Knistern zu hören, als
Istvan verkündete:
„Aber wir hören uns nur
an, was er zu sagen hat … Das meine ich verdammt ernst!“