30. Phönix aus der Asche
 
 
… tot sein …
Jemand zerrte an mir, immer wieder. Ich wollte nur, dass er wegging, mich mit ihm alleine ließ. Verschwinde doch endlich!
„Bitte, Joe. Lass los! Du musst ihn endlich loslassen!“, -murmelte dieser Mann immer wieder und hörte einfach nicht auf, an meinem Arm zu zerren. Dem Arm, der mich mit ihm verband. Ja, seine Hand war eiskalt. So kalt. Aber ich hatte doch geschworen, nicht loszulassen. Verstand das denn niemand!
„Ich flehe dich an. Es sind schon Stunden vergangen. Er hätte das hier nicht gewollt. Lass ihn los!“ Valentin. Es war Valentins Stimme.
„Nein. Ich habe versprochen, dass ich seine Hand nie loslassen werde. Wenn ich jetzt loslasse, dann verliere ich ihn. Versteh doch!“, herrschte ich ihn schreiend an, während er an mir zog und zog.
„Joe … er ist längst gegangen. Und das weißt du auch. Ich weiß, wie schwer das ist, aber … das hätte er nicht gewollt“, wiederholte er.
Ich sah Istvan an. Sein Körper lag bewegungslos da. Etwas in mir brach zusammen. Eine grausame Erkenntnis bahnte sich den Weg in mein Bewusstsein: Ja, ich hielt noch seine Hand. Aber es war nur noch die Hand seines Körpers und nicht mehr die seine, denn er war nicht mehr in ihm. Unwillkürlich lösten sich meine verkrampften Finger und gaben ihn frei. Sein Arm fiel einfach so zu Boden. Ich keuchte auf und stürzte mich in Valentins Umarmung. Hysterisch begann ich zu schreien, als würde ich gepeinigt. Es war alles zu viel.
Nur Valentins warmer Arm, der über meinen Rücken strich, tröstete mich, bis mir klar wurde, dass Istvan nie wieder so warm sein würde, dass ich ihn nie wieder fühlen, hören oder sehen könnte. Es war zu viel. Ich befreite mich aus Valentins Griff und kroch von ihm weg.
„Lass mich! Geh weg! Ich will deinen Trost nicht. Du hast keine Ahnung, was ich gerade verloren habe“, beschuldigte ich ihn blind.
„Das ist nicht wahr“, verteidigte er sich leise.
„Serena?“, stöhnte ich. „Du hattest ein ganzes Leben mit ihr. Ich hatte bloß ein Jahr. Ein einziges!“, keuchte ich in den Waldboden. Unerwartet brachte Valentin mich auf die Knie. Seine dunklen Augen gruben sich tief in meine.
„Ja, Joe. Aber was für ein Jahr! Die meisten haben so etwas nie“, sagte er ruhig und ich wusste, er hielt es für die Wahrheit.
„Wenn du gewusst hättest“, fuhr er fort, „dass du ihn verlieren würdest, hättest du ihn dann etwa lieber nie gehabt?“, wollte er ernsthaft von mir wissen und schüttelte mich dabei. Meine Tränen versiegten. Ich musste nicht eine Sekunde lang nachdenken. Es brach aus mir heraus und war die Wahrheit: „Doch. Ich hätte ihn immer haben wollen. Immer.“
Er ließ mich die Augen schließen. Ich war so müde.
„Ich weiß, es ändert nichts an deinem Schmerz, aber dieses Jahr, die Zeit mit ihm, die kann dir niemand jemals wegnehmen. Daran musst du dich klammern, egal, was noch geschieht.“
Ich nickte, obwohl ich gar nicht mehr wusste, wobei ich zustimmte.
„Vertraust du mir?“, fragte er mich auf unheimliche Art. Wieder nickte ich.
„Dann geh zu diesem Baum da vorn und sieh nicht wieder her, ehe ich es dir sage. Glaub mir, das ist zu deinem Besten.“ Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu streiten. Wozu auch. Also ließ ich mich von ihm zu dem Baum führen, setzte mich mitten ins dunkle Nichts und wartete. Blendete jedes Geräusch aus, außer meinem eigenen persönlichen Wimmern, das ich mit den Blättern unter mir teilte.
Keine Ahnung, wie lange ich so dagelegen hatte und versuchte, vor lauter Kummer mich selbst nicht aufzugeben, was gerade noch irgendwie gelang.
Aber irgendwann hörte ich das laute Knistern und Knacken eines Holzfeuers und schreckte hoch. Was brennt? Wer brennt?, dachte ich voller Panik und wollte mich gerade umdrehen, da hielt mich Serafina davon ab. Ihr Gesicht erschien vor mir, aber durch die Tränen erkannte ich sie kaum.
„Nein“, sagte sie gebrochen, „sieh dir das nicht an!“
„Was tut ihr da? Was verbrennt ihr?“, fragte ich bibbernd und grub meine steifen Finger in ihren Oberarm. Sie antworte nicht. Also schrie ich sie an: „Was? Sag’s mir?“
„Seine Sachen“, murmelte sie und blickte zur Seite.
„Alle? Was davon?“, verlangte ich zu wissen.
„Alles, bis auf die Bücher und Schallplatten. Alles, was seine Identität oder sein Geheimnis verraten könnte.“ Als sie das sagte, da konnte ich nicht mehr anders. Ich schob sie weg und blickte über ihre Schulter auf eine riesige, chaotische Flamme, in die all seine Sachen geworfen wurden. Von jedem von ihnen. Sie nahmen mir alles, was von ihm geblieben war. Der Anblick war zerstörend. So etwas sollte niemand sehen. Niemals.
„Er war damit einverstanden“, versuchte sie es abzuschwächen. War er? … Das hatte er also mit Valentin besprochen. Er wusste, was geschehen würde.
Ich presste die Augenlider aufeinander und wandte mich ab, bis ich etwas Hartes, Papierenes in die Hand gedrückt bekam.
„Hier“, flüsterte Serafina. Mehr sagte sie nicht, konnte sie nicht, weil sie wahrscheinlich fürchtete, dass die anderen sie dann hören würden. Ich wusste sofort, was sie in meine Obhut gab, heimlich. Es war sein Notizbuch, das sie für mich vor den Flammen gerettet hatte. Ohne nachzudenken, versteckte ich es unter meinem Shirt. Fest zog ich meine Arme um ihren Nacken und dankte ihr damit wortlos. Ich würde nie vergessen, was sie für mich getan hatte.
Schritte kamen auf uns zu, übertönten die laute Feuersbrunst. Jakov.
„Wir haben alles vorbereitet“, ließ er Serafina wissen, dann sagte er zu mir, ohne mich anzusehen: „Du kannst dich jetzt verabschieden, wenn du willst.“ Ich konnte keine Emotion in seinem Gesicht erkennen. Unmöglich zu sagen, ob er trauerte.
„Ja. Ich will ihn noch einmal sehen“, sagte ich, auch wenn ich Angst davor hatte. Sie stützten mich beide, aber ich streifte ihre Arme ab, denn ich wollte Istvan nicht auf diese Weise gegenübertreten. So sollte ich nicht vor ihm erscheinen, wenn ich ihm die letzte Ehre erweisen würde. Ich zwang alles in mir, sich zusammenzureißen, nur für diesen Moment. Für ihn.
Mit langsamen Schritten kam ich näher und musste gar nicht fragen, wo sie ihn hingebracht hatte. Wie von einem Magneten angezogen ging ich auf ihn zu. Sie hatten ihn auf ein niederes Bett aus Zweigen gelegt. Er sah aus, als würde er schlafen. Als könne er jeden Moment aufwachen, mich ansehen und sagen „Hey“, wie nur er es konnte. Doch mir dämmerte, dass das nicht geschehen würde, nie wieder. Da presste sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Zum ersten Mal, seit er gestorben war, fühlte ich es wieder. Und der Schmerz versicherte mir, dass ich noch am Leben war, ob ich wollte oder nicht. Ich atmete tief ein und aus, ehe ich mich an seine Seite setzte. Jemand hatte seine Hände über der Brust zusammengeführt.
„Es gibt ein Wiedersehen. Das muss es“, flüsterte ich ihm zu.
Ich fühlte Blicke in meinem Rücken. Ein Arm kam an mir vorbei und legte Istvan eine Münze auf die Brust. Ich sah hinter mich. Es war Marius, der versuchte, mich traurig anzulächeln.
„Für die Heimreise. Damit sie gut geht“, erklärte er.
Dann gab jeder von ihnen ein Münzstück dazu. Und sprach Abschiedsworte, deren Sprache ich nicht verstand, vielleicht erinnere ich mich auch nur nicht mehr daran. Ich starrte immer nur seine Hände an.
„Willst du ihm nicht etwas von dir mitgeben? Das ist Brauch bei uns. Und ich bin mir sicher, er hätte gerne etwas von dir dabei. Besonders von dir“, flüsterte Valentin. Alle nickten und starrten auf mich. Was sollte ich ihm mitgeben? Das Einzige, was ich ihm wirklich je hatte schenken wollen, war ich selbst gewesen. Aber das hatte er nicht gewollt. Er hatte darauf bestanden, dass ich weiterleben sollte.
„Was soll ich ihm geben?“, fragte ich sie verzweifelt.
„Etwas von dir …“, meinte Jakov. „… was er geliebt hat.“ Da wusste ich es. Ich hielt Jakov meine Hand hin und deutete auf sein Messer. Er spannte sofort seine Finger darüber und sah panisch aus. Aber ich ließ nicht locker. Winkte ungeduldig mit der Hand. Ich wartete solange, starrte ihn in Grund und Boden, bis er es mir langsam und vorsichtig übergab. Als ich meine Hand um das Messer schloss, atmeten alle ein. Und als ich es an meinen Hals führte, hielten alle den Atem an. Jakov sah aus, als würde er mich anspringen. Ich führte die Klinge nahe an meine Kopfhaut. Sie war kalt und ernüchternd. Dann schnappte ich mir die erste Strähne, die ich in die Finger bekam, und schnitt sie ab.
Erleichtert nahm Jakov mir das Messer weg. Ich kehrte ihnen den Rücken zu und begann damit meine Haarsträhne zwischen seine Finger zu flechten, dann führte ich seine kalten Hände, die noch immer so schön waren, wieder ineinander und küsste sie.
Mein Abschied.
„Ich kann nicht dabei sein, wenn ihr …“, mehr brachte ich nicht fertig, als ich Marius mit der Fackel sah. So schnell ich konnte, lief ich wieder in die Dunkelheit und versteckte mich hinter dem Baum.
Dort hielt ich das Buch, sein Buch, so fest in beiden Händen, dass ich meine Knöchel knacken hörte. Niemand würde mir dieses Buch wegnehmen. Niemand würde es verbrennen. Niemand. Lieber sterbe ich, dachte ich, als zuzulassen, dass es ebenfalls in Flammen aufgeht.
Am Horizont zog unaufhaltsam der Morgen herauf, doch der tiefe Wald bot noch genug Schatten, um im Schutz der Dunkelheit unbemerkt hinter die dichten Bäume zu schlüpfen.
Ich entfernte mich immer weiter vom Feuer, das mir mit jeder einzelnen Flamme erneut das Herz brach, um mich hinter einer Baumgruppe auf den kalten Waldboden fallen zu lassen. Ich fühlte nicht die geringste Kraft in meinem tauben Körper. Selbst meine Finger zu bewegen, schien eine sinnlose Kraftanstrengung zu sein. Nur die Hoffnung auf einen Blick in das Buch, in sein Vermächtnis, in alles, was mir von ihm geblieben war, auf seine vertrauten Seiten, hauchte mir wieder Leben ein.
Ich öffnete es und las das Erste, was ich sah:
„Ihr Herzschlag beschleunigt sich schon beim Klang meiner Stimme … Gott, alleine dafür liebe ich sie …“ Ich konnte nicht weiterlesen.
 
Erst vor Kurzem hatte ich noch versprochen, niemanden bloßzustellen, doch ich würde meine Versprechungen brechen. Auch wenn es gegen meine Natur war, so zu handeln. Doch ich würde es tun. Ich würde tun, was ich tun musste. Schon der verschwommene Blick auf seine Handschrift ließ die Tränen erneut über mein Gesicht strömen. Trauer und schiere Verzweiflung drohten mich erneut zu überwältigen. Doch dann sah ich, welchen Schaden meine Tränen auf den dünnen Papierseiten anrichteten. Tropfen fielen auf seine Worte und begannen sie zu verwischen. Seine Gedanken, aufgelöst von meiner Trauer. Seine Worte drohten von meiner Verzweiflung vernichtet zu werden. Das durfte ich nicht zulassen. Hastig wischte ich mir die Tränen mit der flachen Hand weg. Meine nassen Augen trocknete ich so gut ich konnte mit dem Ärmel meiner Jacke, die mir irgendjemand angezogen haben musste.
Ich wollte in diesem Moment nichts mehr sehen, außer seinen Gesichtszügen, die ich in meiner Erinnerung heraufbeschwor, und nichts mehr hören, außer seiner Stimme, die mit jeder Zeile zu mir zurückströmte. Mit der Erinnerung an den Klang seiner Stimme kam mir auch wieder die Absicht in den Sinn, die ihn ursprünglich zum Schreiben dieser Zeilen veranlasst hatte. Er hatte begonnen, dieses Buch zu schreiben, um alles festzuhalten. Damit jemand wie er Hilfe und Trost aus seinen Kenntnissen schöpfen würde und um sich selbst einen sicheren Hafen zu schaffen. Also beschloss ich diesen Teil seiner Aufzeichnungen Serafina zu übergeben, so wie er es gewollt hätte. Aber im Grunde war ich die Einzige, die den Trost dieser Zeilen verstand und brauchte. Mir wurde klar, dass ich nicht zulassen konnte, dass irgendjemand außer mir las, was er über mich, über uns, geschrieben hatte. Deshalb entfernte ich die Seiten, die er verfasst hatte, seit wir uns begegnet waren, und steckte sie in die Innentasche meiner Jacke, ganz nahe an mein Herz. Doch so wie es nun war, konnte ich den Rest des Buchs nicht lassen. Es gab noch kein Ende. Es war unvollendet. Wie sollte eine verlorene Seele, jemand wie Istvan, daraus Trost finden. Deshalb schrieb ich mit seinem Stift auf die letzte leere Seite:
„Wer immer das hier liest: Vergib dir selbst und finde jemanden, der dir das Gefühl gibt, dass du jeder Vergebung wert bist. Liebe jemanden, so wie ich es tat. Du wirst es nicht bereuen.“
Und als ich damit fertig war, wusste ich, dass ich die Wahrheit geschrieben hatte. Ich fühlte so etwas wie Hoffnung, ganz schwach. Jetzt waren es unsere Worte, die einem Fremden auf seinem schwierigen Weg – dem Weg des Wolfs – helfen sollten.
Ich stand auf. Was blieb mir anderes übrig. Die Morgensonne vor mir. Der erste Tag ohne ihn.
Alle Tage von nun an würden schwer sein, nie wieder vollständig.
So wie ich nie wieder vollkommen ganz oder ich selbst sein würde.
Serafina kam zu mir, voller Sorge um mich. Es würde das letzte Mal sein, dass wir uns sahen.
„Was wirst du jetzt tun, Joe?“
Ich legte die Arme um mich, versuchte die kühle Morgenbrise zu verscheuchen, versuchte vorzugeben, dass meine Gedanken nicht voll von ihm waren, sodass es mir nicht gelang, mich auf ihre Stimme zu konzentrieren.
„Was wirst du jetzt tun, Joe?“, wiederholte sie.
„Überleben“, sagte ich ihr.
„Ich halte meine Versprechen.“
Ohne mich umzudrehen, ging ich weg. Ich ging in den aufkeimenden Morgen, den Kopf voll mit Erinnerungen, und versuchte den einzigen Ort zu erreichen, von dem ich wusste, dass ich dort immer einen Teil von ihm finden würde.
Als ich endlich auf dem Turm war, ließ ich mich auf dem Boden nieder, schloss die Augen und es war genau wie damals. Ich fühlte, wie seine Arme sich um mich legten, um mich zu wärmen. Und ich fühle mich so geborgen und sicher, wie man sich nur fühlen kann. Es war, als würde sein warmer Atem noch immer mein Ohr streifen.
Ich würde immer wieder hierher zurückkehren. Und ich würde immer warten. Auf ihn. Immer.