12. Ankunft und Überfall
 
 
22 Anrufe in Abwesenheit, prangte es auf Istvans Handybildschirm.
„Unmöglich! Wie konnte ich nur vergessen, das Handy wieder anzustellen“, schimpfte er vor sich hin, während er die Nachrichten seiner Mailbox hastig nacheinander abhörte. Er ging dabei so schnell durch die Flughalle, dass ich ganz schön Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Die Reise-tasche baumelte ständig zwischen meinem Oberschenkel und der Kniekehle hin und her und ging mir damit immens auf die Nerven.
„Tu mir leid. Es war ja meine Idee. Ich hätte dich daran erinnern müssen, das Handy wieder einzuschalten“, schnaufte ich laufend.
Ich bekam keine Antwort, denn Istvan war ruckartig stehen geblieben, mitten vor dem Parkplatz, und starrte geschockt geradeaus. Was hatte er bloß für eine Nachricht abgehört?
Automatisch blieb ich hinter ihm stehen, ebenso plötzlich, bevor ich versuchte mich ihm zu nähern. Doch noch, bevor es mir gelang, war Istvan längst an meiner Seite, nahm mir unsanft die Tasche ab und verschwand ohne irgendeine Erklärung. Ich konnte es nicht fassen, er ließ mich einfach so stehen. Was hatte das alles zu bedeuten? Und wieso lief er beinahe in seinem Wolfstempo vor mir davon?
Es sollte mir nicht einmal genug Zeit bleiben, um mich deswegen richtig aufzuregen, denn gerade in diesem Moment ertönte hinter mir das unverwechselbare Motorenbrummen von Istvans schwarzem Camaro. Er fuhr direkt auf mich zu und für eine Sekunde dachte ich schon, Istvan würde es darauf anlegen, mich zu überfahren, doch dann bremste er den Wagen direkt an meiner Seite ab. Die Beifahrertür befand sich allerhöchstens zehn Zentimeter von meinem Knie entfernt. Ohne wirklich darüber nachzudenken, riss ich die Wagentür auf und ließ mich regelrecht auf den Sitz fallen. Noch bevor ich selbst die Tür schließen konnte, trat Istvan wieder auf das Gaspedal und die Geschwindigkeit ließ die Tür von alleine ins Schloss fallen. Und hätte ich bisher wegen alledem noch keine Panik gehabt, spätestens jetzt, wo ich in Istvans angestrengtes Gesicht sah, wäre sie wie ein saurer Schwall in mir aufgestiegen. Sein stechender Blick und sein angespannter Kiefer sorgten dafür. Er umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, als wäre es sein einziger Halt.
„Was ist bloß los? Du machst mir Angst“, war alles, was ich kraftlos hervorbringen konnte, während es mir erst nach mehreren Versuchen gelang, den Gurt anzulegen.
„Es ist eine Katastrophe, eine verdammte Katastrophe. Das schlimmste Timing aller Zeiten“, stammelte er vor sich hin, würdigte mich keines Blickes und schien gar nicht zu bemerken, dass mir seine Worte nicht wirklich etwas begreiflich machten.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst. Hast du eine schlimme Nachricht abgehört?“, fragte ich nach. Mittlerweile klang ich selbst völlig alarmiert.
„Schlimm“, blaffte er bitter, „schlimm wäre noch geprahlt“, zischte er weiter. „Die Valentins versuchen uns seit Stunden zu erreichen. Radu hat einen der geringeren Söhne Farkas überwacht, als der ein Internetcafé aufgesucht hat. Radu hat seinen Suchverlauf nachverfolgt.“ Istvan machte eine unerträg-liche Pause, die ich nicht aushielt.
„Und?“, schrie ich förmlich.
„Er hat ein paar deiner Artikel aufgerufen, besonders die aktuellen … Verstehst du?“, wollte er angeschlagen von mir wissen. Istvans Blick streifte mich kurz von der Seite. Er versuchte meine Reaktion mitzubekommen. Ich fühlte mich völlig taub, so als hätte mir jemand den Blutzufluss abgeschnürt, als mir die Bedeutung dieser Ereignisse dämmerte.
„Ja“, stöhnte ich ohne Klang, „ich verstehe … Farkas weiß jetzt, dass ich noch lebe“, bestätigte ich ihm und meine Stimme klang dabei so unbeteiligt, als würde ich über jemand anderen sprechen.
„Wenn es nur das wäre“, kommentierte er besorgt, „es ist schlimmer. Petre hat Valentin erzählt, dass ‚Die Drei‘ schon auf dem Weg hierher sind, und bei ihrem Vorsprung und ihrer Geschwindigkeit müssten sie bis zur Abenddämmerung Wien erreicht haben und bis zur Nacht …“
„… sind sie längst im Günser Gebirge“, vollendete ich seinen Satz. Istvan nickte nur schwach, als wollte er meine Schlussfolgerung gar nicht erst bestätigen.
„Was tun wir jetzt?“, war die einzige Frage, die mir einfiel. Die einzige Frage, die in diesem Augenblick zählte. Ich versuchte seinen Blick einzufangen, aber er ließ es nicht zu. Seine Angst zu sehen, wollte er mir auf keinen Fall gestatten. In einem fast kühlen Ton meinte er nur:
„Die Valentins bereiten alles vor. Die Villa liegt außerhalb der bewohnten Gebiete. So werden wenigstens keine anderen Menschen in Gefahr gebracht. Außerdem ist die Jagdvilla ganz gut zu verteidigen. Nachdem was Petre gesagt hat, kommen ‚Die Drei‘ alleine und so haben wir einen eindeutigen Vorteil. Wir sind einer mehr als sie und bis zur Nacht, wenn Petre und Radu ebenfalls eintreffen, werden wir ihnen zahlenmäßig weit überlegen sein.“
Jedes seiner Worte diente dazu, mich zu beruhigen und aufzubauen. Ich glaubte ihm, sogar mein praktisch veranlagter Verstand befand, dass er mit allem Recht behielt. Die Ausganglage für einen Kampf schien mir ganz gut zu sein. Auch wenn der Gedanke, Istvan oder meine neuen Freunde in einem Kampf mit den drei kriegerischen Werwölfen zu wissen, mir den Magen abschnürte. Aber im Augenblick hatte ich mehr Angst davor, auf der Autobahn ums Leben zu kommen, denn so, wie Istvan gerade fuhr, war mehr als verrückt. Der Tacho kam niemals unter 160 km/h und der Camaro zog so schnell an den anderen Autos vorbei, dass ich sie nur noch als verwischte Farbstreifen wahrnahm, von der Landschaft gar nicht zu sprechen.
„Bitte, könntest du etwas vom Gas steigen, ich würde gerne den heutigen Abend noch erleben, auch wenn ich diesen Wunsch vielleicht dann schon bereue“, stieß ich angsterfüllt hervor. Sogar meine Hände klammerten sich bereits um den Sitz, damit ich in den Kurven nicht derart hin und her geschleudert wurde.
„Wie kannst du jetzt nur Witze machen“, beschwerte er sich verständnislos. „Je schneller wir zu Hause ankommen, desto mehr Zeit haben wir für die Vorbereitung. Ich will dich in Sicherheit wissen, bevor ‚Die Drei‘ mit ihrem Überfall beginnen.“
„Und damit rechnest du fest.“ Es war keine Frage von mir. Ich musste es nur laut aussprechen, um mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, mich der Angst davor zu stellen.
„Wegen des Vollmonds?“, fragte ich diesmal wirklich nach.
„Ja. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die Verwandlung abwarten, damit sie als Wölfe angreifen können“, murmelte er widerstrebend.
„Jetzt versteh ich, was du mit dem grauenhaften Timing meinst“, nuschelte ich vor mich hin. Der Motor des Camaros heulte erneut auf. Istvan trieb ihn auf Hochtouren, ohne ihm einen Moment der Abkühlung zu gönnen. Eine unerträgliche Zeit lang, war es ganz still in dem engen Camaro. Was gab es denn noch zu sagen?
Istvan konzentrierte sich auf die Landstraßen, nachdem wir die Autobahn verlassen hatten, und ich verstrickte mich in meine aufkeimenden Schuldgefühlen. Wieso hatte ich nur darauf bestehen müssen, die Handys für vierundzwanzig Stunden auszuschalten? Unser Venedigtag wäre auch mit Mobiltelefonen genauso wundervoll gewesen. Wie dumm und gedankenlos von mir, materte ich mich in Gedanken unzählige Male.
„Wie konnte ich nur so dumm sein und dich zwingen, das Handy auszumachen, nur weil ich dich ganz für mich wollte? Wie kann man nur so gedankenlos und egoistisch sein?“, schimpfte ich jetzt im Flüsterton mit mir selbst und schüttelte heftig den Kopf, weil ich meine eigene Unvernunft nicht fassen konnte. Ich wollte gar nicht mehr damit aufhören. Immer wieder wiederholte ich meine Selbstvorwürfe. Erst eine hef-tige Bremsung riss mich aus meiner versunkenen Selbstanklage. Ich wurde hart gegen den Sicherheitsgurt geschleuderte, ehe ich erschrocken den Kopf nach Istvan umdrehte. Er starrte mich aufgebracht und wütend an. Noch nie war er mir so ungehalten und schön vorgekommen wie in dieser Sekunde. Das Grün seiner Augen brannte lichterloh, als er mit seiner tiefen Stimme, rau und bestimmt, eintrichterte:
„Hör sofort auf damit! Es gibt nichts, was du falsch gemacht hast und es gibt nichts zu bedauern. Ich bereue diesen Tag nicht und du sollst das auch nicht, egal, was noch geschieht.“ Er brüllte mich förmlich an. „Hast du das verstanden, Joe?“
Ich nickte eingeschüchtert und sah beschämt zu Boden. Wie konnte ich nur meine dummen Gedanken ausgerechnet vor ihm laut äußern? Das war mehr als gedankenlos von mir gewesen und es entsprach auch nicht der Wahrheit. Ich bereute natürlich keine Sekunde davon. Niemals.
„So habe ich es nicht gemeint, Istvan“, versuchte ich meinen Ausrutscher wieder gut zu machen.
„Gut“, urteilte er erleichtert, aber dennoch angespannt und ließ den Wagen wieder an. Bevor er jedoch wieder losbrausen konnte, zog ich ihn an seinem Hemdkragen zu mir herüber und legte meine Wange an seine kratzigen Stoppeln.
„So war es wirklich nicht gemeint. Ich bereue nichts. Glaubst du mir?“, flüsterte ich ihm ins Ohr. Ich hatte Angst, dass er es nicht tat.
Seine brandheiße Hand strich ganz leicht über meinen Rücken.
„Ja, ich glaube dir“, sagte er unbeteiligt, „dein Herzschlag kann nicht lügen. Er lügt nie“, brummte er zufriedener, ehe er mich sanft in meinen Sitz zurückdrängte, damit er weiterfahren konnte.
Den Rest der Fahrt musste ich deswegen nicht nur meine aufsteigende Angst unter Kontrolle halten, sondern auch der Wunsch, Istvan nahe sein zu wollen, der mit dem Hämmern meines Pulses aufgetaucht war, musste verdrängt werden. Am schlimmsten waren die letzten Kilometer über den Geschriebenstein. Die kurvigen Straßen führten leider nicht dazu, dass Istvan die Geschwindigkeit auch nur etwas verringerte. Während ich also mit einem möglichen Schleudertrauma kämpfte, hatte Istvan sich wieder auf ein absolut hohes Besorgnisniveau gepuscht. Sein Gesicht und auch sein Körper waren wieder zu der Angespanntheit vom Flughafen zurückgekehrt. Ich hätte beinahe ein Stoßgebet ausgerufen, als endlich die Abzweigung zur Jagdvilla auftauchte. Der Camaro hüpfte förmlich über die unebene Auffahrt, bis er vor dem Haus mit einem Schlingern zum Stehen kam.
„Geh sofort hinein, Joe!“, befahl er. Der Motor brummte immer noch.
„Aber, Istvan, kommst du nicht mit mir?“, fragte ich besorgt nach.
„Geh sofort ins Haus!“, wiederholte er streng. Dieser Befehlston gefiel mir gar nicht, aber ich schluckte meinen Unmut da-rüber hinunter und lief die Treppen zum Eingang hinauf.
Sofort, als ich mich anschickte, an die Tür zu klopfen, wurde sie von Serafina geöffnet, die ohne ein Grußwort an mir vorbei lief, gefolgt von Woltan und Marius. Gemeinsam stürmten sie in unmenschlicher Geschwindigkeit zu Istvan und begannen sich um die Villa herum aufzuteilen. Jeder von ihnen übernahm eine Seite des Hauses. Istvan verteidigte die Vorderseite, während sich Woltan der Nord- und seine Schwester Serafina sich der Südseite widmete. Für Marius blieb noch die hintere Ostfront. Ich schenkte Istvan noch einen ernsten, sehnsüch-tigen Blick, den er in derselben Weise erwiderte, ehe ich seiner Bitte folgte und in die Jagdvilla eintrat. Es gab jetzt nur noch einen Werwolf, der übrig war.
„Valentin?“, rief ich leise. Laut zu rufen, war nicht notwendig.
„In der Küche“, antworte er ruhig. Seiner Samtstimme war kein Zeichen von Aufregung oder Besorgnis anzumerken.
Ich betrat die geräumige Küche und fand Valentin neben dem Tisch vor. Die grelle Nachmittagssonne beschien den Rumänen und ließ seine dunkle Gestalt fast leuchten. Zuerst musste ich fast schmunzeln, als ich bemerke, dass er doch tatsächlich ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans trug. Das warme Wetter nahm seiner Kleidung etwas von der würdevollen Aura. Doch sobald er den Mund auftat, verschwand dieser Eindruck sofort.
„Ich habe die Ehre, heute als deine persönliche Leibgarde zu fungieren“, offerierte er mir und bat darum, dass ich mich zu ihm setzte, was ich tat.
„Danke für deinen Schutz, aber wie willst du eigentlich mein Bodyguard sein, wenn es erst Nacht wird?“, wollte ich etwas irritiert wissen.
„Du meinst, wenn ich etwas haariger sein werde?“, scherzte er. Ich nickte und unterdrückte ein unangebrachtes Grinsen.
„Sagen wir mal, dass ich so lange versuche, einen menschlichen Körper zu behalten, wie es geht, und wenn ich dann ein Wolf bin, kann ich auch ganz gut auf dich achtgeben. Versprochen“, meinte Valentin und zwinkerte mir aufmunternd zu.
„Was machen die da draußen eigentlich?“, fragte ich durch das große Küchenfenster schauend, das mir Istvan zeigte, der von einer Seite des Hauses zur anderen hin und her tigerte.
„Sie bilden einen Verteidigungsring. Jeder von ihnen übernimmt eine Himmelsrichtung und ist dafür verantwortlich, dass nichts und niemand seiner Aufmerksamkeit entgeht und den Kreis durchbricht“, grübelte Valentin laut nach. „Es ist eine altbekannte Verteidigungstaktik“, setzte er gleichgültig nach.
„Du verstehst sehr viel davon, nicht wahr?“, fragte ich weiter. Istvan behielt ich dabei immer im Blick. Dafür setzte ich mich auf das breite Fensterbrett. Valentin kam zu mir und lehnte sich daran.
„Es gehört zu meinen Aufgaben, diese Dinge zu kennen. Nur so kann ich tun, was notwendig ist. Du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Wir wenden dieses Wissen nur zur Verteidigung an … nur für gute Zwecke“, fügte er hinzu und legte mir seine Hand auf die Schulter.
„Istvan weiß doch, was er da tut? Ich meine, ich weiß, dass er als Wolf kämpfen kann, aber bis es soweit ist, dauert es noch eine Weile. Kann er auch als Mensch gegen ‚Die Drei‘ … kämpfen?“, verlangte ich mit gebrochener Stimme von Valentin zu wissen.
„Ja“, meinte er knapp und merkwürdig überzeugt.
Die nächste Stunde schleppte sich nur so dahin. Sie war unerträglich, diese Warterei auf einen Angriff. Es würde noch nicht einmal zwei Stunden dauern, dann fingen die Verwandlungen an. Von da an würde ich ganz alleine sein und niemanden haben, mit dem ich mich unterhalten könnte. Genau genommen wäre ich die ganze Nacht lang der einzige Mensch im Haus. Der Gedanke ließ ein merkwürdiges Gefühl der Einsamkeit aufsteigen, das ich dadurch verscheuchen wollte, indem ich weiter mit Valentin sprach, der geduldig meine Fragen beantwortete und meine Sorgen zerstreute. Es zumindest versuchte.
Als uns der Gesprächsstoff langsam zur Neige ging, fühlte ich eine sonderbare Verpflichtung, Valentin von meinem Traum zu erzählen. Erst seine Reaktion darauf machte mir klar, dass es unumgänglich gewesen war. Absolut überzeugt davon, dass es sich dabei um einen prophetischen Traum handeln musste, begann er sofort die Symbole des Traumes zu entschlüsseln.
„Die Prinzessin kann nur meine Serafina sein“, schlug er liebevoll vor. Ich nickte zustimmend. Diese Interpretation lag auf der Hand.
„Wer dieser dunkle Krieger ist, kann auch ich mir nicht vorstellen“, musste er missmutig zugeben. „Aber es scheint, dass er eine tiefe Verbindung mit Istvan hat, wie immer die auch aussehen mag“, sinnierte Valentin vor sich hin, während ich ihm gebannt zuhörte, wie er mir meinen eigenen Traum verdeutlichte.
„Wie hat Istvan noch mal ausgesehen?“, wollte er ein zweites Mal von mir erzählt bekommen.
„Er trug eine rote Hose, Reiterstiefel, einen Säbel, eine Ledertasche mit Emblem, dazu einen grünen Rock mit Stehkragen, der mit einem doppelreihigen Muster in Silber bestickt war … mit solchen geschwungenen Verzierungen“, merkte ich an und versuchte das Muster in der Luft nachzuzeichnen. „Auf einer seiner Schultern hing eine grüne Jacke mit Pelz. Es war eine Uniform. Unverkennbar. Da bin ich mir sicher“, setzte ich abermals hinzu.
„Ein Husar, ganz eindeutig“, murmelte Valentin vor sich hin.
„Husar? Diese ungarischen Offiziere der k. u. k. Armee? Wie merkwürdig“, nuschelte ich ungläubig. Das ergab einfach keinen Sinn. Zumindest nicht für mich.
„Ein Husar ist ein Soldat der ungarischen Reitertruppen, ein Krieger. Du hast Istvan als Krieger gesehen!“, verkündete Valentin beinahe feierlich. Er schien sich über irgendetwas sehr zu freuen. Seine beschwingte Stimmung passte so gar nicht zum Ernst der Lage, in der wir uns befanden.
„Das ist ein Zeichen. Bestimmt!“, zischte er mich an und packte dabei meine Hände. Ich fuhr erschrocken hoch. Was für ein Zeichen? Wieso war Valentin so seltsam vergnügt?
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte ich ihn und konnte nicht aufhören, ihn böse anzufunkeln.
„Oh, es tut mir leid. Das kannst du natürlich nicht verstehen“, entschuldigte er sich. „In deinem Traum hast du Istvan als Krieger gesehen, als Husar. Das könnte bedeuten, dass der Zeitpunkt gekommen ist. Er muss schon bald bereit sein, sich seiner inneren Zerrissenheit zu stellen“, erklärte er mir zufrieden, bevor er weitersprach.
„Wenn er es tatsächlich schafft, sich selbst anzunehmen, könnte er es vielleicht sogar über sich bringen, sein wahres Wesen als Krieger zu akzeptieren. Dein Traum spricht dafür. Dann wäre auch meine Unterweisung nicht ganz umsonst gewesen.“
„Welche Unterweisung? Was soll das alles heißen?“, fauchte ich aufgebracht.
„Joe, als Istvan zu mir kam, unterwies ich ihn in der Kampfkunst. Damals dachte ich noch, er könnte für unsere Sache antreten. Aber bald war klar, dass er weder bereit sein würde, sich jemandem unterzuordnen, auch mir nicht, noch dass er jemals wirklich ein Krieger sein könnte. Er weigerte sich, mit seiner Ausbildung fortzufahren.“
„War er nicht … gut?“, fragte ich widerwillig und dachte dabei an seine tiefsitzende Abneigung gegen jede Gewalt und gegen die natürliche Wildheit seines Wolfswesens.
„Nicht gut!“, blaffte Valentin rätselhaft. „Joe, er war der -beste Schüler, den ich je hatte. Der geborene Anführer. Der geborene Kämpfer. Er war zu gut. Es erschreckte ihn, wie sehr es ihm lag. Wie gut er darin war zu kämpfen. Istvan wollte es nicht wahrhaben.“
Ich fühlte plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen. Sprach Valentin da tatsächlich von meinem Istvan? Von Istvan, dem Pazifisten. Von Istvan, dem sanften Bibliothekar, den ich zu kennen glaubte, den ich ohne Zweifel liebte. Wieso hatte er mir dieses entscheidende Detail seiner Vergangenheit verheimlicht? Wieso gab es immer etwas, was er vor mir verbarg? Hatte Istvan solche Angst davor, dass die ganze Wahrheit über ihn das Bild, das ich von ihm hatte, verändern könnte? Dass es sogar meine Liebe beeinflussen konnte? Kannte er die Unabänderlichkeit meiner Gefühle für ihn noch immer nicht?
Mir drehte sich alles. Zuerst dachte ich, dass es von Valentins Enthüllung käme, doch bald wurde mir klar, dass es viel mehr an meinen düsteren Gedanken lag. Ich wünschte mir so sehr, dass ich jetzt mit Istvan nur ein paar Minuten reden könnte, doch er würde jetzt aus keinem Grund der Welt seinen Posten verlassen. So blieb mir nur, zurück ans Fenster zu gehen, durch das bereits das aufgehende Mondlicht schien. Ich versuchte, Istvan in der beginnenden Dunkelheit auszumachen. Fast hätte ich aufgeschrien, als ich ihn gekrümmt auf dem Boden entdeckte, wo er sich wild in Verwandlungsschmerzen wand. Begreifend drehte ich mich um, wo ich den vom Fieber gezeichneten Valentin, der sich zu verwandeln begann, auf dem Boden erblickte. Ehe der Mond noch ganz aufgegangen war, stand Valentin bereits als Wolf vor mir, mitten in der Küche. Seine wissenden Augen ruhten auf mir und er begann sich dicht an meine Seite zu stellen, so wie er es, wie ich nur vermuten konnte, Istvan hatte versprechen müssen. Ich vermeinte, Istvan noch weiter an seinem Wolfsfieber leidend vorzufinden, so wie es sonst auch vor sich ging. Doch aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht ganz erklären konnte, war seine Verwandlung beinahe vollkommen vollzogen. Etwas sagte mir aber, dass es mit dem zu tun hatte, worüber ich eben noch mit Valentin, dem Menschen, gesprochen hatte.
 
In den folgenden Stunden geschah so gut wie nichts. Die Valentinwölfe und mein persönlicher Sandwolf stromerten weiterhin um die Villa und richteten ihre irisierenden Augen auf -jedes Geräusch und jeden Schatten, der es wagte, sich zu regen. Valentin blieb bei mir im Haus und lag auf dem Küchenboden, wo er ab und zu von mir gekrault wurde. Wenn ich es -schaffte, mich vom Fenster und vom Blick auf Istvan loszu-machen. Es durchfuhr mich jedes einzelne Mal ein heißer Blitz, wenn seine Wolfsaugen in meine Richtung kamen und meinen besorgten Blick kreuzten. Das Mondlicht war so hell, dass der Wald in ein diffuses, tageslichtähnliches Blau getaucht war. So konnte ich, auch ohne perfektes Nachtsehvermögen, fast alles überblicken.
Obwohl es den ganzen Tag über angenehm warm gewesen war, wurde es jetzt, wo die Nacht sich immer tiefer über uns senkte, kühl, besonders, da in diesem Haus niemand künst-liche Wärme benötigte.
Ich trug noch immer das leichte T-Shirt, das mir jetzt viel zu dünn vorkam. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Strickjacke in Serafinas Zimmer, ständig begleitet vom Wolf Valentin. Auch wenn ich mit Istvan in seiner Wolfsform sprach, konnte ich es irgendwie nicht mit Valentin tun. Ich käme mir dabei komisch vor, urteilte ich. Zu meinem Erstaunen hatte Serafina mehrere Jacken, zur Tarnung natürlich, von denen ich mir eine leichte blaue Strickjacke schnappte und überstreifte. Noch bevor ich die Treppe zum Erdgeschoss erreicht hatte, hörte ich das laute Aufheulen von mehreren Wölfen. Ohne den Schock in meinem Inneren zu sehr zuzulassen, stolperte ich die Treppen hinunter, meinem Bodyguardwolf hinterher, und stürmte auf das Küchenfenster zu. Zwei weitere Wölfe begannen sich um das Haus zu verteilen und wurden von allen, auch von Istvan, mit einem freudigen Wolfsheulen begrüßt. Der eine Wolf war grau mit weißen Flecken und schien mir auch aus der Entfernung recht groß. Ihm folgte ein kleinerer, gescheckter Wolf.
„Petre und Radu“, murmelte ich halblaut. Valentin stupste mich mit der Schnauze an. Er wollte damit meinen Verdacht bestätigen.
 
Irgendwann in dieser Nacht, ich konnte nicht einmal sagen, wann und wie, war ich auf der Küchenbank eingeschlafen. Am frühen Morgen weckte mich Istvan, der mit einer dampfenden Tasse Kaffe auf mich zukam.
„Morgen … wenigstens hast du geschlafen. Valentin hat mich abgelöst, damit ich etwas ausruhen kann. Er meinte, du würdest auch mit mir reden wollen … Du hast noch nicht mal bemerkt, dass Serafina neben dir schläft, oder?“, fragte er sanft lächelnd und strich mir über die Wange.
Ich nickte verschlafen, ehe ich auf der anderen Seite der Bank Serafinas langen, schlummernden Körper sah. Ich nahm einen gierigen Schluck vom Kaffee, bevor ich mich räusperte.
„Ich muss mit dir reden, aber nicht jetzt. Es gibt etwas, was momentan viel dringender ist. Ich muss heute in die Redaktion. Wir haben eine lange Konferenz am Vormittag und einen Fototermin am Nachmittag. Wie soll ich das machen?“, fragte ich unschlüssig.
„Es wäre mir zwar lieber, wenn du hier bleiben würdest, aber wie ich dich kenne, ist das keine Option. Sobald Serafina ausgeschlafen hat, kann sie dich begleiten. Und keine Sorge, sie wird auf Abstand bleiben. Sie weiß sehr gut, wie man jemanden beobachtet, ohne dabei gesehen zu werden“, antwortete er mir ernst.
 
Und genauso verhielt es sich. Serafina brachte mich nach Hause, wartete geduldig auf mich, bis ich mich umgezogen hatte, fuhr mit deutlichem Abstand hinter mir her, parkte vor der Redaktion und wartete stundenlang, während mir eine nicht enden wollende Sitzung drohte, die letzten Nerven zu rauben. Doch ich hielt durch. Sogar am frühen Nachmittag schaffte ich es, den Fototermin im Rathaus so professionell wie möglich hinter mich zu bringen. Normalerweise hätte ich viele zusätzliche Schnappschüsse gemacht, die vielleicht lebendigere Pressebilder abgaben, doch heute verzichtete ich darauf.
Als ich aus dem Rathaus kam, wartete Serafina schon in Istvans Camaro mit angelassenem Motor darauf, dass ich ihr in meinem Sportcoupé zur Jagdvilla folgen würde. Schon von der Einfahrt aus, konnte man den Verteidigungsring, der mir schon fast vertraut geworden war, erkennen.
Auch diese Nacht unterschied sich kaum von der letzten. Nichts geschah. Es war fast schon enttäuschend. Wieso nur griffen sie nicht an? Sie waren ohne Zweifel in diesen Wäldern. Istvan und Woltan hatten sie auf einem Patrouillenlauf bereits erschnüffelt. Die Werwölfe führten das Zögern der Drei auf ihre deutliche Überzahl zurück. Istvan war anderer Meinung. Schließlich hatten das Valentinrudel und besonders „Die Drei“ schon ganz andere Herausforderungen angenommen, wie Istvan mir einmal erzählt hatte. Es musste etwas anderes dahinterstecken. Aber worum es sich dabei handelte, blieb vorerst noch im Dunkeln.
Am dritten und letzten Tag des Vollmondes brachte mich Woltan nach Hause, wo ich einige Sachen für die kommende Nacht und Arbeit holen wollte. Ich bestand darauf, dass er vor meinem Haus auf mich warten sollte, damit ich ein paar persönliche Telefonate mit meinen Eltern und Carla führen konnte. Dabei brauchte ich keine Lauscher. Ich überzeugte meine Eltern und sogar Carla davon, dass alles in bester Ordnung sei. Mein Talent zu lügen hatte sich deutlich verbessert. Nach einer kurzen Dusche packte ich gerade meine Sachen zusammen, als ich ein Geräusch von unten hörte. Laute Musik ertönte aus der Anlage. Ich dachte, dass Woltan vielleicht ungeduldig geworden war, und ging die Treppe hinunter. Doch ich sah niemanden. Bevor ich das Treppengeländer wieder erreicht hatte, hielt mir jemand von hinten den Mund zu und befahl: „Shht!“
Sofort überschlug sich mein Herzschlag, von dem ich hoffte, dass Woltan ihn trotz der Musik hören könnte.
„Nicht schreien! Ich werde dir nichts tun, aber du musst still sein, ja“, verlangte eine dunkle, bestimmt klingende Männerstimme, die sich dennoch jung anhörte. Ich nicke automatisch, worauf er die kräftige Hand von meinem Mund entfernte. Ich wollte mich umdrehen, aber er hinderte mich daran.
„Nein, nicht umdrehen! Du sollst nur eine Botschaft für mich übermitteln und mir einige Frage beantworten“, sagte er gefasst.
„Also, ich werde nicht ausrasten, wenn du das befürchtest“, stöhnte ich mit gespielter Selbstsicherheit und versuchte, meinen Angreifer im Spiegel am Ende des Flurs zu erkennen, aber meine eigene Gestalt verstellte mir den Blick.
„Du hast also wirklich Mumm. Gut, das vereinfacht die Sache“, brummte er zufrieden.
Er, wer immer es auch war, umklammerte weiterhin meine Arme, damit ich mich nicht umwenden konnte. Erst als ich eine dunkle, lange Strähne an meiner Wange erspähte, wusste ich, wer mein Angreifer war. Nur ein Name kam mir in den Sinn: Jakov.
Jakov, der schwarze Wolf, hielt mich in meinem eigenen Haus gefangen, um mich als Kurier zu gebrauchen. Weshalb auch immer, er wollte mich offensichtlich nicht töten. Obwohl das für mich absolut keinen Sinn machte, schließlich war mein Tod doch beschlossene Sache für Farkas, beruhigte diese Erkenntnis meine Panik. Auch wenn diese ganze Vorgehensweise in keiner Weise zu Farkas’ rücksichtslosem Gehabe passte.
„Was willst du von mir, Jakov?“, fragte ich wütend und demaskierte ihn. Er ignorierte, dass ich ihn beim Namen -nannte, als wäre es ihm egal.
„Zuerst die Botschaft. Ich biete deinem Gefolge ein Treffen an. Keine Hintergedanken. Dieses Treffen ist ein einmaliges Angebot. Verstanden?“
Ich nickte. Jakov fuhr ohne Zögern fort.
„Dieses Zusammentreffen ist nötig, um ein paar wichtige Dinge zu klären. In zwei Stunden sollen sich das gesamte Valentinrudel, Istvan und du beim alten Steinbruch einfinden … dann reden wir.“
„Ich?“, stieß ich fassungslos aus. „Ich soll dabei sein?“
„Ja. Du bist mein Sicherheitspfand. Deine Anwesenheit garantiert, dass deine Seite keine Dummheiten macht. Und betrachte es als eine Geste des guten Willens, dass ich dir kein Haar gekrümmt habe“, flüsterte seine heisere Stimme nahe an meinem Ohr.
„Ich werde deine Botschaft übermitteln. War’s das jetzt?“, zischte ich ungeduldig und versuchte, mich aus seinem Klammergriff zu befreien. Von seiner ungebetenen Nähe bekam ich fast einen Hitzschlag.
„Nein, noch nicht ganz. Ich habe noch ein paar Fragen. Persönliche Fragen“, begann er in einem merkwürdig bedrückten Tonfall, der für mich keinen Sinn ergab.
„Du und er … wie ist das zwischen euch?“, knurrte er widerwillig.
Ich war verwirrt und wusste nicht, worauf er hinaus wollte.
„Wie meinst du das? Fragst du tatsächlich, ob wir ein Paar sind oder …?“ Jakov unterbrach mich frustriert. „Ich will wissen, warum er mit dir zusammen ist? Wieso dieses ganze Theater, nur für eine Gefährtin?“, fragte er verständnislos.
„Er liebt mich. Wir lieben uns“, presste ich, beleidigt über seine merkwürdigen Worte, hart hervor.
„Dann geht es nicht nur darum, dass du ihm … gehörst?“
„Nein!“, zischte ich sofort gekränkt hervor. Entsetzt über das Wort „gehören“.
„Istvan schützt doch nicht seinen Besitz. Er will verhindern, dass ihr mir etwas antut, weil er mich liebt, weil ich ihm etwas bedeute. Verstehst du das denn wirklich nicht?“
„Vielleicht doch“, flüsterte er mehr zu sich selbst.
„Nur noch zwei Fragen, dann bist du mich los. Weißt du, was mit Istvans Mutter passiert ist?“
„Ja“, antwortete ich kaum hörbar. Wollte Jakov mir mit dieser speziellen Frage drohen?
„Farkas hat sie getötet“, hauchte ich gebrochen. Zum ersten Mal bekam ich tatsächlich Angst.
„Der weibliche Werwolf in Valentins Rudel. Ist sie seine Tochter?“, wollte er nun wissen. Seine Stimme hatte einen kaum wahrnehmbaren, hoffnungsvollen Klang, der mich hellhörig machte.
„Ja, Serafina ist Valentins Tochter. Ich dachte, du wüsstest das“, sagte ich vor mich hin. Noch immer konnte ich ihm nicht ins Gesicht sehen. Langsam kam es mir lächerlich vor. Schließlich wusste ich, dass es Jakov war.
„Nein, ich bin ihr nie begegnet. Abgesehen von damals, als sie mir den Arsch aufgerissen hat. Als wir euch angegriffen haben. Sie ist sehr stark, diese Wölfin. Das kann man ohne Zweifel sagen“, murmelte er bedeutungsvoll vor sich hin.
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Die Erinnerung an den ersten Angriff der Drei Werwölfe gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingserinnerungen. Bestimmt nicht. Es fühlte sich merkwürdig an, mit Jakov über Serafina zu reden, aber es war ja nicht so, als ob ich die Wahl hätte, seine Fragen nicht zu beantworten.
Ohne Ankündigung ließ er mich los und noch bevor es mir gelang mich umzudrehen, war Jakov schon an der Hintertür des Wintergartens, wo ich einen kurzen Blick auf ihn erhaschen konnte. Als ich Jakovs Gestalt erkannte, sein Gesicht wiedererkannte, wäre ich beinahe in die Knie gegangen. Dort stand, ohne Zweifel, der Krieger aus meinem Traum.
In meinem Haus stand dieser dunkle, große Mann mit schulterlangen Haaren. Sein Deckhaar war nach hinten genommen und mit einem Lederband zusammengebunden. Seine männlich starke Ausstrahlung ließ mich ihn sofort, im Bruchteil einer Sekunde, als den Krieger meines Traums wiedererkennen, der soeben aus meinem Wintergarten verschwunden war. Benommen schlenderte ich zur Musikanlage und machte die dröhnende Musik aus, die ich während Jakovs Befragung vollkommen ausgeblendet hatte. Nur ein paar Sekunden später erschien schon Woltan, der meinen erhöhten Puls doch noch gehört hatte, und stürmte an meine Seite. Er musterte gekonnt die Umgebung, ehe er mich aufgeregt fragte:
„Was ist mit dir passiert? Hier riecht es nach …“
Ich unterbrach ihn, ging gar nicht erst auf seine Frage ein.
„Wir müssen sofort zu euch nach Hause. Ich habe eine Botschaft zu überbringen.“
 
Die Meinungen waren geteilt. Die Stimmung zum Zerreißen gespannt, seit ich mit meiner Botschaft für Aufruhr gesorgt hatte. Die Valentins konnten sich nicht darüber einig werden, ob sie nun zu dem Treffen gehen sollten oder nicht. Radu, Marius, Petre, Woltan und Serafina waren entschieden dagegen. Valentin sprach sich eindeutig dafür aus, vor allem, nachdem ich ihm unter vier Augen erzählt hatte, dass ich Jakov als den anderen Krieger aus meinem Traum wiedererkannt hatte. Istvan stand hinter mir und hörte aus der Entfernung unser Gespräch. Sofort als er verstand, was ich damit angedeutet hatte, kam er zu uns. Etwas an dieser Wendung beschäftigte ihn zusehends.
„Joe, bist du dir sicher, dass er es war? Jakov, meine ich“, fragte er mich zum x-ten Mal.
„So sicher, wie man nur sein kann. Bei einem Traum“, bestätigte ich.
„Dann werden wir hingehen“, beschloss Istvan über alle Köpfe hinweg und erntete für seine Ansage abfällige Blicke. Woraufhin er versuchte, in einem ruhigeren Tonfall seine Entscheidung zu rechtfertigen:
„Seht doch mal. Wir sind eindeutig in der Überzahl. Es sind also sie, die ein Risiko eingehen, nicht wir. Und was immer sie besprechen wollen, ich kann nur für mich sprechen, aber ich will es hören. Ich will es wissen. Ihr nicht?“
Jeder überlegte für sich. Ich konnte sehen, wie sich besonders Woltan und Serafina Istvans Worte zu Herzen nahmen, bevor sie schließlich zustimmend nickten. Die anderen älteren Mitglieder des Rudels fügten sich eher widerwillig, als Valentin ein Machtwort sprach. So machten wir uns in allerletzter Minute auf zum stillgelegten Steinbruch.
 
Als wir bei den zackigen Felskanten ankamen, standen sie schon da: die gefährlichsten Krieger der Werwolfwelt, -Dimitri, Vladimir und an ihrer Spitze Jakov. Istvan hatte, nachdem ich ihn hatte überreden können, mich mitzunehmen, wie es ja von Jakov ausdrücklich verlangte worden war, eine Verteidigungsformation für mich ausgeklügelt. Ich kam mir dabei vollkommen bescheuert vor. Zum ersten Mal im Leben konnte ich nachempfinden, wie sich ein Promi bei einem offiziellen Auftritt fühlt. Denn ich ging eingekeilt zwischen ihnen allen. Istvan und Valentin vor mir, Marius hinter mir und Woltan und Serafina an meinen Seiten. Nur Petre und Radu blieben zurück und deckten auf dem Hügel vor dem Steinbruch unseren Rücken. Ich war nicht die Einzige, die unseren Auftritt für völlig überzogen hielt. Sofort bemerkte ich das unterdrückte Grinsen bei Jakov. Seine Mitkämpfer machten sich gar nicht erst die Mühe, ihr abfälliges Lächeln zu verbergen. Dabei fiel es mir erst bewusst auf. Ich sah „Die Drei“ zum ersten Mal in ihrer menschlichen Gestalt. Natürlich hatte ich sie mir schon oft vorgestellt, aber meine Fantasie konnte mit der Realität nicht mithalten. Niemals hätte ich gedacht, dass Dimitri, der Weißrusse, derart hellhäutig und kühl wirken würde. Er trug sein helles Haar komplett abrasiert und sein Profil war eindeutig russisch. Irgendwie erinnerte er mich an einen Schwimmer, den ich einmal im Sportkanal gesehen hatte. Sein langer, schlanker Körper mit den breiten Schultern verstärkte diesen Eindruck. Was ich jedoch als Erstes wiederkannte, waren seine eiskalten hellblauen Augen, die mich schon als Wolf voller Hass angefunkelt hatten. Es waren Augen, die gar nichts anders ausdrücken konnten als Hass und Verachtung. An seiner Seite stand der andere Krieger russischer Abstammung. Vladimir, der mit Abstand Größte und Stärkste von ihnen. Schon durch seine abgetragene Jeans konnte man die festen Oberschenkel erahnen. Sein unbekleideter Oberkörper war ein einziger Muskelberg. Auch er wirkte furchterregend und gefährlich. Seine längeren, weizenblonden Haare waren struppig, so als würde er nur alle heiligen Tage mit dem Kamm durchfahren. Sein Gesicht hatte kantige Züge, die einer wütenden Fratze glichen. In dem Moment, als wir ankamen, murmelte er ständig etwas auf Russisch, das mir, obwohl ich es nicht verstand, wie die schlimmste Schimpf-attacke aller Zeiten vorkam. Jakov unterschied sich so sehr von seinen Kampfbrüdern, dass es unmöglich schien, es nicht zu bemerken. Nicht nur, dass er Schuhe trug wie die Valentins, Jakov war auch der Einzige, der sich unter Menschen bewegen konnte, ohne sofort aufzufallen. Sie würden nur einen gut aussehenden jungen Mann bemerken. Er hatte dabei so gar keine Ähnlichkeit mit Istvan und zum Glück auch nicht mit Farkas. Jakov war die Art Mann, die Carla als Frauenmagnet bezeichnen würde. Denn er war groß, dunkelhaarig, hatte männlich ansprechende Gesichtszüge mit einem markanten Kinn, einen schlanken, durchtrainierten Körper und vorsichtig blickende, dunkelbraune Augen, die eine gewisse Anziehungskraft ausüben konnten, wenn man dafür empfänglich war, was aber nicht auf mich zutraf.
Jakov war, trotz seiner angenehmeren Erscheinung, der eindeutige Anführer. Deshalb kam er auf Valentin und Istvan zu, deren Körper sich daraufhin sofort anspannten.
„Ich werde für meine Leute sprechen. Wer spricht für euch?“, fragte Jakov ruhig, ganz Herr der Lage.
„Valentin und ich sprechen gemeinsam für uns“, antworte ihm Istvan ebenso sicher mit seiner festen Stimme, die mir so vertraut war.
„Gut“, urteilte Jakov unbeeindruckt. „Sollten die beiden auf Russisch fluchen, versucht es zu ignorieren. Es ist nur so, dass Vladimir und Dimitri gegen dieses Treffen sind und es gefällt ihnen gar nicht, dass sie nicht verstehen können, was ich mit euch bespreche“, erklärte Jakov und sah dabei merkwürdig bedeutungsvoll zuerst in Valentins und dann in Istvans Gesicht. Ich konnte ihrer Reaktion nicht sehen. Ich spähte auf ihre Rücken, was mir gar nicht schmeckte. Die beiden sprachen also kein Deutsch, ging es mir durch den Kopf.
„Kommen wir gleich zur Sache. Das Wichtigste sollten wir zuerst klären. Keiner von uns will eine Enttarnung riskieren. Also seid ihr damit einverstanden, dass keine Kampfhandlungen in den bewohnten Gebieten stattfinden?“, fragte Jakov ernsthaft.
Ich konnte es nicht fassen. Darum ging es bei diesem Treffen, um Geheimhaltung und um Schutz der Menschen. Seit wann scherte sich Farkas um den Schutz der schwachen, minderwertigen Menschen, wie er sie immer nannte?
„Einverstanden“, nahm Valentin seinen Vorschlag an und schien erleichtert.
„Ich hoffe nur, dass ihr euch anders als damals in Rumänien an die Abmachung halten werdet“, fügte er bitter hinzu.
Ich halte immer mein Wort. Die Abmachung damals hast du nicht mit mir getroffen, wie du dich bestimmt erinnerst“, knurrte Jakov. Seine heisere Stimme war gespickt mit Andeutungen, die ich nicht verstand. Ich erinnerte mich dunkel da-ran, dass Istvan mir erzählt hatte, dass Farkas die Verhandlungen in Rumänien selbst geführt hatte. Deshalb waren Jakov und Istvan sich auch nicht begegnet.
„Es wird sich ja noch zeigen, ob dein Wort etwas wert ist“, zischte die schöne weibliche Stimme von Serafina, die zum ersten Mal hinter ihrem Vater hervortrat und Jakov herausfordernd ansah.
Irgendetwas an ihrem Verhalten oder an ihren Worten ließ Jakov einen Schritt zurückmachen. Er wirkte dabei fast schon ergeben, so als bezeuge ein Ritter seiner Dame den nötigen Respekt. Ich war mir nicht sicher, ob das jemanden außer mir aufgefallen war. Auch der Blick, mit dem Jakov Serafina musterte, war alles andere als neutral. Vielleicht war Jakov auch nur nicht gegen außergewöhnliche Schönheit immun und ich interpretierte zu viel in diese Geste hinein.
„Ich versichere dir, mein Wort ist etwas wert“, sagte Jakov aufrichtig.
„Das wäre etwas ganz Neues“, murrte Woltan, dem es gar nicht gefiel, dass Jakov seine Schwester direkt ansprach.
Alles schien gesagt und wir machten uns schon zum Gehen bereit, als Istvan, dessen Gesicht ich endlich wieder sehen konnte, mir einen merkwürdig nachdenklichen Blick zuwarf, ehe er sich noch einmal umdrehte.
„Jakov?“, sprach Istvan ihn an.
„Ja?“
„Kann ich noch kurz mit dir unter vier Augen sprechen“, bat Istvan mit soviel Höflichkeit, wie ich sie ihm in Gegenwart eines Farkas-Kriegers niemals zugetraut hätte. Jakov kam alleine näher.
„Ich habe mich gefragt, ob du überhaupt weißt, dass du ein Leitwolf bist?“, wollte Istvan von ihm wissen. Wieso fragte er ihn das, war Jakov nicht der unbestreitbare Anführer der Drei?
„Ich meine, ist dir klar, dass du auch ein Alpha bist wie ich und Valentin und wie … er“, setzte er flüsternd hinzu und packte Jakov fest am Unterarm. Die beiden funkelten sich gegenseitig lange an.
Er hat mir nie gesagt, dass ich ein Alpha bin, wenn du das meinst. Aber ich weiß es. Er hat mir auch nie gesagt, wieso er dich als Nachfolger vorzieht“, murmelte Jokov daraufhin gekränkt.
„Er sagt überhaupt vieles nicht“, setzte er noch kraftvoll hinzu. Die russischen Werwolfe begannen langsam nervös zu werden, dennoch sprach Istvan weiter mit Jakov, wobei er immer wieder einen kurzen Blick nach mir warf, als würde ihn mein Anblick an etwas Wichtiges erinnern, das noch gesagt oder getan werden müsste.
„Wieso hast du Joe nach ihr und mir gefragt? Und wieso musstest du sie an das Schicksal meiner Mutter erinnern?“, verlangte Istvan jetzt mit Nachdruck, deutlich aufgebracht, zu wissen. „Ich muss es wissen, Jakov?“
„Ich hatte meine Gründe“, gab er unnachgiebig zurück. „Und es ist nicht nur das Schicksal deiner Mutter gewesen“, wisperte er widerwillig. Seine dunkelbraunen Augen wurden ganz betroffen, bevor er sich wieder zurückzog und mit seinen Kriegern im Spalt des Steinbruchs verschwand. Kurz bevor er nicht mehr zu sehen war, drehte sich Jakov um und blickte ein letztes Mal in unsere Richtung. Aber er sah weder Istvan noch mich an. Sein Blick galt ganz alleine Serafina.