11. Venezianisches Versteck
 
 
„Du weißt schon, dass das irgendwie verrückt ist?“, fragte ich ihn, während ich mein Gesicht zur Seite drehte.
„Die anderen starren uns ständig an“, flüsterte ich aufgebracht „und wer kann es ihnen verdenken“, fügte ich grimmig murmelnd hinzu. Schließlich lagen wir ausgestreckt in der Mitte des riesigen Versammlungssaals im Dogenpalast von Venedig auf dem Boden und starrten auf die Decke.
„Willst du nun die alten Meister richtig sehen oder willst du dich um die Meinung irgendwelcher Leute scheren, die du sowieso nie wiedersehen wirst?“, fragte Istvan. Im Grunde klang es wie eine eindeutige Aufforderung. Zum vierten Mal sah ich mich um, ob nicht doch eine Flurwache auf uns aufmerksam geworden war, dann antworte ich ihm weiterhin gedämpft:
„Natürlich will ich die Renaissancegemälde sehen, das weißt du doch. Aber ich möchte deswegen nicht von der Security aufgegriffen werden“, zischte ich. „Und wieso müssen wir dafür auf dem Boden liegen?“ Der Fußboden war verdammt kalt.
„Meine Joe“, grinste er, „sie kann nichts einfach so genießen, ohne es zu hinterfragen“, meinte er kopfschüttelnd.
„Also, das stimmt nun wirklich nicht!“, beschwerte ich mich stur. „Ich genieße dich ganz oft … Und so weit ich mich erinnere, habe ich das nie hinterfragt“, neckte ich ihn, rollte mich an seine Seite und begann ihn zu küssen. Er konnte selbst beim Küssen nicht aufhören, schief zu grinsen. Ich war mir dessen bewusst, dass er über mich lachte, aber im Moment war mir das egal. Es gefiel mir sogar.
Das lauter werdende Tuscheln der anderen Besucher holte uns in die Realität zurück.
„Die alten Meister“, erinnerte ich ihn atemlos.
„Hm. Wer?“, fragte er zerstreut. „Ach ja … Sieh doch mal!“, meinte er und streckte seine Hand aus. Istvan deute auf eine weit entfernte Abbildung eines antiken Gottes, der in seinen kräftigen Farben strafend auf uns herab sah.
„Und das! Veronese. Eine unglaubliche Komposition. Die blonde Dame als Sinnbild für Sanftmut und diese Venus als Inkarnation des Fleißes. Auch die Farbgestaltung ist magisch“, flüsterte er mir ins Ohr. Während ich versuchte, mich auf das Bild über mir zu konzentrieren, war mein anderes Ohr auf das rasche Pochen seines Herzschlags gerichtet. Zum ersten Mal verstand ich, was Istvan meinte, wenn er sagte, dass manchmal Bilder in Verbindung mit einem Herzschlag für ihn eine ganz andere, tiefer gehende Bedeutung bekämen. Jetzt ging es mir genauso. Ich würde dieses Bild nie wieder vergessen, auch diesen Moment nicht. Nicht in tausend Jahren!
Ich konnte mein Glück noch immer nicht fassen. Ich wusste auch jetzt nicht, was Istvan dazu gebracht hatte, noch einen Tag länger in Venedig zu bleiben. Aber als er es angeboten hatte, war ich vollkommen überrumpelt. Nur deshalb hatte ich nicht sofort Ja gesagt.
 
Wir hatten gerade Miriam zum Flughafen gebracht, damit sie nach München, nach Hause, fliegen konnte. Jetzt, wo ihr Urlaub zu Ende ging, wartete ihre Arbeit auf sie und Woltan bestand darauf, dass sie nicht weiter bei ihm bleiben sollte, solange die Farkas-Sache nicht endgültig geklärt war. Anders, als ich erwartet hatte, war es kein tränenreicher Abschied, sondern eine kurze Umarmung, gefolgt von einem flüchtigen Kuss. Miriam wünschte mir und sogar Istvan tatsächlich alles Gute, dann stieg sie in ihren Flieger. Wir verließen ihr Gate und warteten auf den Aufruf für unsere eigene Flugnummer, als Istvan plötzlich hochfuhr, sich entschuldigte und mit Woltan eine ganze Weile verschwand. Ich blieb mit unseren Taschen zurück und kam mir irgendwie übergangen vor.
Was führte er bloß im Schilde?
Woltan kam zurück, schnappte sich still und heimlich seine Tasche und ging in Richtung Gepäckaufgabe. Er sagte kein Wort zu mir. Alles, was er mir schenkte, war ein Kopfschütteln und ein zweideutiges Grinsen. Erst als er schon fast weg war, murmelte er: „Bis bald“, drehte er mir den Rücken zu und verschwand um die Ecke. Da tauchte Istvan auf, als hätten sie das Ganze, wie ein billiges Theaterstück, inszeniert.
„Was soll das? Wieso zieht Woltan alleine los? Und wieso ist er so komisch?“, fuhr ich Istvan an und musterte ihn dabei verärgert. Ich mochte es ganz und gar nicht, dass ich über alles im Unklaren gelassen wurde.
„Er hält mich für verrückt. Denke ich zumindest“, kommentierte Istvan trocken. Seine aufgesetzte Unbekümmertheit reizte mich, deshalb sagte ich auch: „Tja, weißt du, da ist er nicht der Einzige!“
„Du wirst noch bereuen, das gesagt zu haben“, warnte er mich grinsend vor. Seine grünen Augen funkelten amüsiert. Er genoss diese ganze Charade mehr als mir lieb war.
„Abwarten“, warnte ich ihn und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Na, mal sehen“, begann er. „Was würdest du sagen, wenn ich Woltan gebeten hätte, alleine nach Hause zu fliegen, damit wir noch einen weiteren Tag hier in Venedig bleiben können?“
Ich war vollkommen erstaunt und ziemlich schockiert. Diese ganze Sache passte so gar nicht zu Istvan. Sie roch viel mehr nach einer meiner Schnapsideen. Außerdem war, wie mir jetzt deutlich wieder bewusst wurde, übermorgen die erste Nacht des Vollmondes. Das konnte nur ein Scherz sein! Bestimmt.
„Du … das ist nicht dein Ernst. Übermorgen ist … du kannst nicht …“, stotterte ich verwirrt. „Hast du den Verstand verloren?“, fragte ich letztlich mit aufgerissenen Augen.
„Vielleicht“, lachte er heftig, bevor er ganz ernst wurde und sich wieder zu mir setzte.
„Joe, ich gebe zu, der Zeitpunkt ist nicht ideal“, meinte er. Die Untertreibung des Jahres, urteilte der sarkastische Teil meines Ichs.
„Aber wer weiß, wann wir wieder so eine Gelegenheit bekommen werden. Noch weiß Farkas nicht, was wirklich los ist, und solange wir noch in St. Hodas leben, wird sich an den Geheimhaltungsauflagen nichts ändern“, erinnerte er mich mit einem traurigen Unterton.
„Also könnte das hier die letzte Gelegenheit sein, für eine ziemlich lange Zeit mal einen Tag und eine Nacht zusammen zu sein, ohne so tun zu müssen, als wären wir nicht, was wir sind. Hier können wir zusammen durch die Straßen gehen, uns sogar küssen … Ich gebe zu, es ist nur ein Tag und ich gebe auch zu, dass es ganz schön unvernünftig ist. Aber verdammt, Joe“, presst er hervor, während er mich mit seinem Blick festhielt, „willst du mir etwa sagen, dass du lieber jetzt nach Hause fliegen möchtest?“ Der Klang seiner vollen Stimme machte mir deutlich, dass er Angst davor hatte, von mir zurückgewiesen zu werden. Ich musste erst darüber nachdenken und dafür musste ich von ihm weg, damit er mich nicht weiter mit seinen Augen durcheinanderbringen konnte. Deshalb stand ich auf und ging auf die Glaswand zu. Zwei Flugstarts lang kreisten meine Gedanken um seine Worte, während ich ständig seinen ungeduldigen Blick in meinen Rücken spüren konnte.
Hatte Istvan Schuldgefühle mir gegenüber, wegen dem, was auf Murano passiert war? War es ihm ernst, als er sagte, dass es ihm nur darum ging, einen ganzen Tag für uns zu haben? Das wäre wundervoll. Doch was, wenn uns die Realität auch hier einholen würde? Es war definitiv ein Angebot, das ich nicht ablehnen wollte. Und dennoch mussten wir beide ein paar Regeln festsetzen, damit dieser herrliche Rückzug aus unserer komplizierten Welt nicht zu einem Fehlschlag würde. Die Würfel -waren gefallen, es ging jetzt nur noch darum, Istvan ein paar Zugeständnisse abzuringen. Ich winkte ihn mit meinem lockenden Zeigefinger zu mir. Im Bruchteil einer Sekunde stand er dicht vor mir. Hoffentlich werden die Überwachungsbänder nicht allzu genau begutachtet, ging es mir durch den Kopf, bevor ich mich nur noch auf sein Gesicht konzentrieren konnte. Er war ungeduldig. Das Kräuseln seiner Lippen verriet ihn.
„Ich bin einverstanden“, ließ ich ihn mit unbestimmtem Tonfall wissen. „Aber ich habe ein paar Bedingungen. Nicht verhandelbaren Bedingungen“, bläute ich ihm ernsthaft ein.
„Ich höre“, meint er ruhig, grinste dabei aber bereits schief.
„Vierundzwanzig Stunden lang, von jetzt an, werden wir unser Handy ausschalten. Wir reden nicht über den Doktor, Farkas, meine sogenannten Opfer“, lamentierte ich und schrieb dabei mit Händen Gänsefüße in die Luft.
„Keine Schuldgefühle! Keine Vergangenheit oder Zukunft. Vierundzwanzig Stunden lang gibt es für uns nur das Hier und Jetzt!“
„Sonst noch etwas?“
„Ja, ich bestehe auf deine berüchtigte Venedigtour, sonst läuft hier gar nichts, mein Freund. Verstanden?“, setzte ich noch hinzu und tippte dabei anstachelnd auf seine Brust.
„Mit dem allergrößten Vergnügen, cara mia“, schrie er förmlich, riss mich in seine Arme und drehte mich so schnell, dass mir davon schwindlig wurde, aber auf wundervolle Weise.
„Zurück nach Venedig. Es gibt viel zu sehen!“, ordnete er an.
Von dieser Sekunde an lebten wir nur noch in jedem Moment ganz für den Augenblick. Das war ein völlig neues Gefühl. Wir spazierten durch die ganze Stadt, Hand in Hand, so wie es für uns sonst nie möglich war. Mit der freien Hand zeigten wir uns abwechselnd, was unsere Aufmerksamkeit erregte. Bei jeder Brücke behaupteten wir, dass diese jetzt aber die letzte sein müsste, fanden dann aber schon die nächste vor und amüsierten uns köstlich darüber. Istvan schien eine ganz neue Seite an sich zu offenbaren. Er lachte ständig, selbst über meine nicht ganz so gelungenen Bemerkungen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er die Last auf seinen Schultern tatsächlich für einen ganzen Tag vergessen könnte, doch anscheinend waren meine Bedingungen genau das, was seine gequälte Seele brauchte. Ich konnte gar nicht glauben, was ich sah, als er einen runden Platz überquerte, mich an seiner Hand mitzog, um sich an den kreisrunden Steinbrunnen zu setzen, wo er, ganz wie ein verspielter Junge, in das Wasser langte und mich damit bespritzte. Ich tat so, als sei ich deshalb verärgert und schickte ihm einen Schwall Wasser als Vergeltung. Sofort kam er hochgeschossen und begann mich über den ganzen Platz zu jagen, wobei es unmöglich zu sagen war, wer von uns lauter lachte. Natürlich hätte er mich leicht einholen könne, aber das hätte das Spiel unmöglich gemacht, deshalb scheuchte er mich weiter eine Treppe hinunter, bis ich einen winzig schmalen Durchgang erreichte, der vor der strahlenden Sonne schützte. Ich versteckte mich dort im Schatten und wartete darauf, dass Istvan am Eingang auftauchen würde, um ihn dann an seinem Hemdkragen zu mir hinabzuziehen und in diesem venezianischen Versteck ausgiebig zu küssen. Wir verschwanden minutenlang von der Bildfläche. Hier konnte man die Hand vor Augen nicht sehen, aber das war vollkommen egal. Es war vollkommen ausreichend, ihn zu spüren. Sein wilder Atem auf meinem Hals. Seine suchenden Hände in meinem Rücken, die sanft über meine Brüste strichen, raubten mir jegliches Zeitgefühl. Seine brennend heißen Lippen taten fast weh, aber ich wollte auf diese süße Qual nicht verzichten. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und holte ihn noch näher zu mir, so nahe, dass unsere beiden Pulse sich überschlugen. Erst als ein paar kichernde Jugendliche an uns vorbeikamen und unser Treiben bemerkten, ließen wir voneinander ab, um grinsend davonzulaufen. Der Nachmittag gestaltet sich etwas tugendhafter.
Nachdem wir von einem finster dreinblickenden Aufseher des prächtigen Senatssaales verwiesen worden waren, setzten wir unsere Besichtigungstour durch den Dogenpalast fort. Die ganze Zeit hoffte ich darauf, die Statue des Jünglings wiederzufinden, die mich so sehr an den lesenden Istvan erinnerte, aber ich konnte sie einfach nicht entdecken. Als ich schon dachte, dass ich sie mir nur eingebildet hatte, tauchte sie unerwartet in einem der vielen Durchgänge auf. Das Erste, was mir auffiel, war, dass sie mit Istvan nicht mithalten konnte. Ihr verträumter Blick glich seinem, wenn er in einem Buch las, tatsächlich sehr. Aber abgesehen davon ließ sich keine Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern feststellen.
„Woran denkt er wohl?“, säuselte mir Istvan ins Ohr, während er mich von hinten umarmte. Ich musste mich sehr anstrengen, um nicht nach vorne zu fallen. Seine Ausgelassenheit führte dazu, dass er seine Kraft nicht mehr so zurückhielt.
„Wir werden es nie erfahren? Vielleicht träumt er ja von einer der venezianischen Kurtisanen“, schlug ich scherzhaft vor.
„Nein, er sieht nicht lüstern drein. Er ist mehr … versonnen.“
„Versunken“, korrigierte ich ihn merkwürdig überzeugt.
„Ja“, befand Istvan und legte dabei betrachtend den Kopf schräg, „du hast recht.“
„Kannst du jetzt schon Gedanken von Marmorstatuen lesen“, feixt er.
„Nein, ich kenne nur jemanden, der auch diesen Blick beherrscht“, murmelte ich und ging grinsend weiter.
 
Der krönende Abschluss von Istvans Venedigtour, ich hätte es mir denken können, war die Nationalbibliothek Marciana. Erpicht darauf, mir seine Lieblingsobjekte zu zeigen, drängte er mich ständig, mich zu beeilen. Die Ausstellungsräume waren typisch venezianisch, man konnte es nicht anders nennen. Auch hier überall die Werke von Renaissancemalern. Aber hier gab es nicht nur humanistische Gemälde, sondern viel ältere Bücher. Bücher, die in anderen Zeiten den Lauf unserer Welt verändert hatten. Hinter dickem Glas durfte man einen Blick auf eine Kopernikusschrift werfen oder seltene Mittelalterhandschriften bestaunen. Istvan wusste alles über diese Bibliothek und hielt damit nicht hinter dem Berg. Er erklärte bedächtig, geradezu ehrfürchtig, dass alles mit einer Schenkung von -Petrarca angefangen hatte, „… dem Begründer des Humanismus, dem Vater der Renaissance“, wiederholte er ständig.
„Hier gibt es sogar eine uralte Ilias-Ausgabe. Die muss man gesehen haben!“, meinte er aufgekratzt. Ich hatte mehr Freude an seiner Begeisterung als an den eigentlichen Schätzen der Bib-liothek. Ja, sein Glück ging förmlich auf mich über, als würden wir uns gegenseitig damit infizieren. Liebe ist also ansteckend, urteilte ich, als ich mir dessen bewusst wurde.
Und es hielt an. Den ganzen Tag lang. Nur einmal drohten wir fast vom Weg abzukommen.
Istvan hatte uns ein Restaurant fürs Abendessen ausgesucht und dabei auf alle Klischees verzichtet. Wofür ich ihm dankbar war. Es lag weder in der Nähe des Markusplatzes, noch servierte es völlig überteuerte Gerichte für naive Touristen. Das kleine Lokal in einer Seitengasse wurde noch von einer einheimischen Familie betrieben. Auf karierten Tisch-tüchern, bei natürlichem Kerzenschein stellte der Kellner, ganz ohne -Glacé-Handschuhe, köstliche Fischgerichte, eine Wasserkaraffe und Wein in einem Kelch ab. Schon den ganzen Tag über war alles herrlich normal gewesen. Anfangs hatte ich mir Sorgen gemacht, Istvan könnte mich dazu drängen in eines der Designergeschäfte mit den bekannten italie-nischen Namen zu gehen, um mir einen teuren Aufzug für ein überkandideltes Abendessen zu besorgen. Doch ich hatte, zu -meiner großen Erleichterung, unrecht. Istvan blieb ganz er selbst, so wie ich ihn am meisten liebte, in Jeans und einem leichten T-Shirt. Sogar auf eine Rasur hatte er verzichtet. Diese sandfarbenen Stoppeln luden förmlich dazu ein, sich daran die Wangen zu kratzen. Aber noch riss ich mich zusammen. Auch wenn die Kerze zwischen uns das Flackern seiner Augen gefährlich günstig untermalte.
„Der gewürzte Fisch war einfach fantastisch. Das ganze Restaurant ist fantastisch“, sagte ich und nahm einen Schluck vom Chianti. Nicht mein erster.
„Schön, dass es dir gefällt. Ich wusste, dieses echte Ambiente ist das Richtige für dich. Du passt sehr gut hierher, fällt mir gerade auf“, meinte er nachdenklich und schien mich aufmerksam zu betrachten. Ich begann unbewusst an mir he-rumzuzupfen und zwirbelte meine Haare nervös im Nacken zusammen.
„Nicht“, stieß er unabsichtlich hervor, seine Hand kam über die Tischmitte, bevor sie wieder schnell auf seinem Schoß verschwand. Ich ließ den lockeren Knoten ruckartig los und meine Haare fielen mir wieder über die Schultern.
„Es ist nur … So siehst du aus wie … wie eine Venus“, flüsterte er verschämt. Woraufhin ich sofort die Hitze in meine Wangen strömen fühlte. Ich musste knallrot sein.
„Du übertreibst schamlos. Ich kann nicht einmal annähernd mit einer dieser Schönheiten auf den Gemälden mithalten und das weißt du“, versuchte ich zu beschwichtigen.
„Das liegt wohl im Auge des Betrachters.“ Mehr sagte er nicht mehr dazu. Ich konnte nicht anders, als zu bemerken, dass Liebe wohl irgendwie doch die Sehkraft beeinträchtigen musste. Aber solange das bedeutete, dass Istvan mich liebte, sollte es mir recht sein.
„Wirst du jemals anfangen, mich klar zu sehen?“, dachte ich laut nach, ohne eine Antwort zu erwarten. Doch ich sollte eine bekommen. Eine Antwort, die in der Lage war, dem heutigen Tage eine schlechte Wendung zu geben.
„Hast du Angst davor, dass ich anfangen könnte, dich anders zu sehen, wenn du älter sein wirst als ich? … Das musst du nicht“, erklärte er überzeugt. Seine Selbstsicherheit beunruhigte mich.
„Ja, vielleicht nicht in den ersten Jahren. Vielleicht da noch nicht. Aber was ist mit später? Was, wenn ich aussehe, als wäre ich deine …“ Ich konnte diesen Satz nicht einmal beenden.
„Das ist nur das Äußere, Joe. Du wirst immer noch du sein“, meinte er gelassen. Dass er mich jetzt noch eingehender betrachtete, verschlimmerte meine aufkommende Unruhe.
„Woher willst du wissen, dass es deine Gefühle für mich nicht doch verändert, wenn ich eine fünfundvierzigjährige Frau bin und du aussiehst, als wärst du gerade einmal dreißig?“ Ich konnte ihm einfach nicht glauben, auch wenn ich es gerne wollte. Es schien mir zu abwegig. Geradezu unmöglich.
Nichts“, zischte er jetzt eindringlich, kam immer näher auf mich zu. „Gar nichts kann meine Gefühle für dich verändern. Hörst du! Nichts. Und außerdem …“ sagte Istvan jetzt wieder in einem lockeren Tonfall, „… habe ich nichts dagegen später mal deinen jugendlichen Liebhaber zu geben. Eigentlich …“, murmelte er nachdenklich, seine Stimme wurde dabei ganz tief und verführerisch, „… finde ich die Vorstellung richtig reizvoll!“
Er schenkte mir sein schiefes Grinsen und vertrieb damit für den Moment meine Ängste, auch wenn er nicht vermochte, sie gänzlich auszulöschen. Während er seine Hand auf meine legte, konnte ich nicht aufhören, die Augen zu verdrehen. Und obwohl ich es gar nicht wollte, musste ich jetzt auch grinsen. Mein zukünftiger Toyboy wusste einfach zu gut, wie er mich dazu brachte, nach seiner Pfeife zu tanzen. Jetzt galt es nur noch, die gemeinsame Nacht mit soviel Anstand und Zurückhaltung wie möglich zu überstehen. Keine leichte Aufgabe.
 
Das Badewasser war herrlich. Nach einem langen, ereignisreichen Tag wie heute war es ein wahrer Segen, die Anspannung des Spazierens, Staunens und der Konzentration mit warmem Wasser abspülen zu können. Nun endlich entspannten sich die verkrampften Nackenmuskeln und mein Körper spreizte sich genussvoll in dieser Schwerelosigkeit. Ich vergaß mich selbst und die schwierigen, aufreibenden Gespräche der letzten Tage. Fast hätte ich sogar ihn vergessen, aber nur fast. Mein Körper verlangte danach, das wundervolle Entspannungsgefühl auszudrücken, und ich ließ es zu.
Plötzlich vernahm ich Istvans dumpfe Stimme hinter der Tür, die meine Trance durchbrach.
„Joe, könntest du bitte aufhören, derart wohlig zu stöhnen!“, ermahnte er mich flehend.
Prompt richtete ich mich ertappt auf. Ein Schwall von Wasser schwappte über den Rand der Wanne und benetzte den marmornen Boden.
Oh, durchfuhr es mich. Es war doch nur ein leiser Seufzer der Erleichterung gewesen, nichts weiter, und kaum hörbar. Aber es war offenbar genug, um von ihm gehört zu werden.
Was es wohl in ihm ausgelöst hat, wenn er sich deshalb gleich beschweren muss und um Einhalt bittet?
Bei diesem Gedanken verspürte ich sofort den unbezähmbaren Drang, ungezogen zu sein. Doch zuerst entschuldigte ich mich. Halbherzig.
„Tut mir leid. War keine Absicht. Ich versuche, es sein zu lassen.“
Ich war froh, dass er mich jetzt nicht sehen konnte. Jetzt, wo ich mir meiner Nacktheit nur allzu bewusst war. Das Ein-zige, was ich konnte, war absurd breit zu grinsen, als ich, in voller Absicht, einen leisen, lang gezogenen – wohligen – Seufzer durch die Nase ausstieß. Und dabei dachte ich ganz fest an ihn. Daran, wie das Geräusch ihn seine Fäuste ballen ließ.
Istvan war noch in derselben Sekunde ganz nahe an die Tür gekommen. Der Schatten seiner Füße war im Türspalt deutlich zu erkennen. Diese wunderbar raue Stimme sprach jetzt geradezu geschockt mit mir.
„Joe?“
„Ja?“, fragte ich gedehnt. Abwartend.
„Versuch’s weiter … und … streng dich mehr an. Bitte!“
Ich lachte bereits schallend. Glücklich.
 
Als ich mit meinem T-Shirt und den Bauwollshorts bekleidet aus dem Badezimmer kam, war Istvan bereits im Bett. Er hatte das Laken seiner Bettseite so fest um seinen Körper geschlungen, als wäre es ein Kokon. Wie eine ägyptische Mumie eingepackt, wartete er darauf, dass ich mich zu ihm legte. Bei diesem Anblick musste ich sofort wieder lächeln. Mittlerweile taten mir schon die Wangenmuskeln weh.
Er erwartete bestimmt von mir, dass ich ebenso züchtig zu Bett gehen und das zweite Laken zu meinem Schutzpanzer formen würde.
Aber das konnte er vergessen, ich hatte ganz anderer Pläne. Schließlich waren die vierundzwanzig Stunden noch nicht ganz rum und ich würde den Teufel tun und ihn so einfach davonkommen lassen.
„Sorry, Mister, aber das wird nicht funktionieren“, warnte ich ihn schmunzelnd vor.
Istvan verzog den Mund und versuchte mich mit einem Stein erweichenden Hundeblick zu beschwichtigen. Nun spielte er nicht fair, aber das konnte ich schon aushalten.
„Auch das klappt nicht“, feixte ich, während ich mich auf die Bettkante setzte. Ich lehnte mich weit über ihn, um die Bettlampe auf seiner Seite abzuschalten. Dabei streifte meine Brust seinen Oberkörper und meine Haarspitzen kitzelten seinen Hals. Er schloss die Augen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Aber anstatt auf meine Seite des Bettes zurückzukehren, blieb ich mit meinem Kopf auf seiner Brust liegen und begann es mir gemütlich zu machen.
„Siehst du“, sagte ich zu ihm. „Es funktioniert überhaupt nicht“, meinte ich weiter und begann mit meinen Fingern das Laken an seiner Körperseite zu lockern, um dann ein weinig ungeschickt mit unter die Decke zu schlüpfen. Es war sengend heiß unter seinem Laken. Leider machte mich diese Hitze sofort müde und schläfrig. Gähnend umschlang ich mit einer Hand seine Körpermitte.
„Du spielst nicht nur verflucht unfair, sondern scheinst dabei auch noch halb einzuschlafen“, beschwerte er sich ein wenig gekränkt.
„Keine Sorge, ich werde nicht einschlafen, wenn du darauf bestehst. Ich dachte eigentlich, du wärst froh darüber, dass mich deine Wärme einschlummert“, feixte ich schlaftrunken.
„Ja und nein. Einerseits möchte ich, dass du jetzt sofort einnickst und nicht weiter deine – wie soll ich’s nennen? – Verführungsnummer weiterverfolgst. Der andere Teil von mir wünscht sich, dass du die ganze Nacht so weitermachst“, gestand er seufzend. „Der kleine Masochist in mir will anscheinend von dir gequält werden“, scherzte Istvan und begann meine Schulter zu umklammern.
Ich dachte lange über seine Worte nach. Waren sie ein Angebot? Sollte ich wählen und entscheiden, wie einfach oder wie schwierig diese Nacht werden würde?
Ich bettete mein Kinn auf seine Brust und betrachtete ihn nachdenklich. Seine Augen schienen ebenso zwiespältig wie seine Worte. Er würde beide Möglichkeiten akzeptieren, aber auch bei beiden leiden, das lag auf der Hand. Und obwohl ich nichts lieber tun wollte, als die halbe Nacht mit seiner und mit meiner Beherrschung zu spielen, gewann meine noblere Seite. Verdammt sei die Vernunft, schimpfte ich innerlich.
Istvan sah mich weiterhin an, mit einem Blick, der einen schmelzen lässt und die Knie weich macht. Gut, dass ich jetzt nicht stehen muss, schoss es mir durch den Kopf.
Dann strich er mir über den Scheitel und wickelte meine Haarsträhnen um seine Finger. Ich legte meinen Kopf schräg auf seinen glühenden Brustkorb. Dabei hielt ich ständig seinen Blick. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, als wäre ich in einem grünen Wald verloren gegangen. Ich musste blinzeln, als wäre ich hypnotisiert, dann war ich wieder Herr meiner Sinne. Teilweise zumindest. Ich zog mein Gesicht an sein Kinn he-ran und wartete auf sein Entgegenkommen, das sich sofort einstellte. Unserer Lippen trafen sich und mein Herz ritt wieder im Galopp. Es brauchte fast übermenschliche Kraft, um mich von seinen Feuerlippen zu lösen.
Atemlos wünschte ich ihm: „Gute Nacht.“
Die Entscheidung war gefallen und er war erlöst.
Wir beide waren es.
Erschöpft schlief ich ein. Die Gelöstheit des Bades war längst dahin.
 
Ich wandle durch die Flure des Senatssaales, die Werke alter venezianischer Meister über mir. Panisch erreiche ich die schwere Flügeltür. Ich habe Angst, dass er immer noch hinter mir her ist. Deshalb reiße ich die Tür heftig auf. Als ich sie -durchschreite, befinde ich mich völlig unvermittelt im Wald wieder. Einem Wald, dessen Bäume und Hügel ich kenne. Von meinem unbekannten Verfolger getrieben, hetze ich weiter. Das Unterholz kracht und bricht durch meinen unsteten Laufschritt. Ich neige den Kopf nach hinten, um nach dem Schatten hinter mir zu sehen, da pralle ich gegen ein Hindernis. Aber es ist kein Baumstamm, sondern ich bin gegen den Rücken eines Mannes gelaufen. In vollkommen absurder Geschwindigkeit wendet er sich um und bietet mir verbeugend seine Hand an, dich ich ergreife. Sein Griff stellt mich so mühelos auf die Beine, dass mir davon ganz schwindlig wird. Alles beginnt sich zu drehen, wird unscharf. So gelingt es mir nicht, den Mann deutlich zu sehen. Etwas in mir weiß aber, dass die Anwesenheit des Fremden die Angst vor meinem Verfolger auslöscht. Ich versuche ihn anzusehen. Seine Beine stecken in einer fremdartigen, roten Hose, die wiederum in Reitstiefeln steckt. Der Oberkörper ist von einem straff sitzenden grünen Rock bedeckt, der mit weißen oder silbernen Verzierungen bestickt ist. Das doppelreihige Muster kommt mir seltsam bekannt vor. Auf seiner linken Schulter hängt eine grüne Pelzjacke. Er trägt Säbel und eine lederne Tasche. Erst als ich bemerke, dass seine grünen Augen zu seiner grünen Uniform passen, weiß ich, wer vor mir steht. Ich kann mir nur nicht erklären, wieso er in einer alten Offiziersuniform steckt.
Alles wird immer absurder. Und obwohl ich den Wunsch habe aufzuwachen, kommt mir alles sonderbar real vor.
Ich gehe auf den Mann zu, von dem ich nun fühle, dass es Istvan ist, doch es gelingt mir nicht, ihn zu erreichen. Ehe ich vor ihm stehe, blitzt und donnert es fürchterlich. Ein stür-mischer Wind zieht auf. Er lässt die Blätter tanzen und wirbeln. In einem dichten Blätterwirbel erscheint ein anderer Mann aus einer anderen Zeit. Der muskulöse, junge Krieger kommt auf uns zu. Alles an ihm wirkt dunkel und männlich, wirkt bedrohlich. Er ist barfuß und hat nur ein einfaches Langhemd an, das von einem Gürtel zusammengehalten wird, der seine Waffen trägt. Seine braunen Augen wirken entschlossen, als er immer näher kommt. Sogar sein schulterlanges, dunkles Haar scheint kriegerisch. Ich will instinktiv zurückweichen, doch eine sanfte Hand hindert mich daran. Zuerst denke ich an Istvan, doch die Hand, die mich berührt hat, ist weiblich. Hinter meinem Rücken taucht eine Frau auf, die ich nur als orientalische Prinzessin erkennen kann. Ihre dunkle, geschmeidige Haut leuchtet förmlich. Gelbe Seide verhüllt ihren schlanken, grazilen Körper und Teile ihres Gesichts. Doch diese warmen, dunklen Augen wirken zu vertraut auf mich. Die Schönheit verlässt uns, geht auf den dun-klen Krieger zu und nimmt ihn bei der Hand. Sie führt ihn vertrauensvoll zu uns. Mit einem Lächeln steht sie vor Istvan und ergreift die Hände beider Männer. Mit einer ernsthaften Geste führt sie beide zusammen. Istvan und der Fremde reichen sich die Hand. Daraufhin legt sich umgehend der Wind, und der letzte Donner verhallt.
Alle sind verschwunden. Ich bin wieder allein. Vor mir türmt sich die Flügeltür inmitten des Waldes auf. Ich fühle den Zwang, sie zu öffnen. Als ich es endlich schaffe sie aufzustoßen, stehe ich vor einer Feuerwand, die mir die Haut verbrennt. Der Schmerz lässt mich aufschreien, bis ich bemerke, dass ich längst nicht mehr nur im Traum schreie.
Keuchend war ich hochgeschreckt und hatte mich an Istvan geklammert, der sofort wach geworden war, um mich zu schützen und zu trösten. Aufgebracht berichtete ich ihm von meinem Traum, den wir beide nicht verstehen konnten. Erst nach einer vollen Stunde in Istvans beruhigenden, besänftigenden Armen gelang es mir, wieder einzuschlafen. Doch in dieser langen Stunde quälte mich der angstvolle Gedanke, dass es sich um mehr handeln könnte als nur um einen Traum.