10. Eine seltsame
Reise
Nachdem Istvan nachgegeben hatte, überstürzten sich
die Ereignisse. Das Wochenende stand vor der Tür und Valentin
drängte uns zusehends, es für eine Reise zum Labor des Doktors zu
verwenden. Istvan wollte die Angelegenheit so schnell wie möglich
hinter sich bringen, deshalb stimmte er Valentins Vorschlag zu. Mit
Vorbehalten selbstverständlich.
Ehe ich noch richtig begreifen konnte, was mit mir
geschah, saß ich auch schon in einem Flieger nach Venedig, dem
Wirkungskreis des ominösen Doktors, zusammen mit meinem
Werwolfliebsten, Woltan und Miriam. Der Flug war kurz, aber wäre es
nach Istvan und vor allem Woltan gegangen, hätte er noch viel
kürzer sein können. Wie sich herausstellte, hassten Werwölfe das
Fliegen. Wobei das eigentliche Problem nicht der Flug selbst oder
die Höhe war, sondern das Eingesperrtsein in einer
Blechhöhle ohne Ausgang. So nannte es zumindest Woltan, der
mir erklärte, dass es sich für ihn so anfühlte, als hätte man ihn
in einen Käfig gesperrt. Jedes Tier, besonders jedes Raubtier,
verabscheut dieses Gefühl. Hielt es zu lange an, könnte
ihresgleichen daran sogar zugrunde gehen. Bei dieser Vorstellung
lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Das Bild eines
Istvans, eingeschlossen in einem Eisenkäfig, dessen grüne Augen
immer mehr verblassten, bis sie schließlich leer und ausdruckslos
geworden waren, erschütterte mich bis in Mark.
Doch zu meiner Erleichterung fiel es Istvan
deutlich leichter als Woltan, dieses unangenehme Gefühl zu
unterdrücken, schließlich erlaubte er seinem Raubtier nicht, soviel
Raum von ihm einzunehmen. Segen und Fluch zugleich, wenn man das
Problem mit seinem inneren bösen Wolf bedachte.
So war es also ausgerechnet an der zartbesaiteten
Miriam, ihrem hübschen Woltan aufmunternd den Arm zu tätscheln.
Auch wenn Istvan sich während des Flugs nicht gerade wohlfühlte,
war es etwas anderes, was ihn bedrückte und immer wieder dazu
führte, dass er seufzend aus dem Fenster des Flugzeugs
starrte.
„Nicht mehr lange, dann landen wir. Versprochen“,
säuselte Miriam hinter mir zum unzähligsten Mal, während Woltan
meinen Sitz mit seinem wild zuckenden Fuß traf. Die anderen
Flugpassagiere bemerkten zwar seinen aufgebrachten Zustand, hielten
es aber offenbar nur für einen schlimmen Fall von normaler
Flugangst.
„Wie geht es dir eigentlich damit?“, fragte ich
Istvan. „Du hast heute noch kaum etwas gesagt“, merkte ich
möglichst ruhig an, um mich ja nicht in die Bredouille zu
bringen.
„Ganz gut“, bemerkte er knapp und widmete sich
wieder dem Ausblick. Er weigerte sich, mich anzusehen. Sofort
kochte ich innerlich.
„Planst du deine charmante Laune eigentlich länger
beizubehalten?“, stichelte ich jetzt herausfordernd.
„Vielleicht“, blaffte er sarkastisch zurück.
„Vielleicht solltest du es lassen!“, schlug ich
ihm bissig vor. Ich war dabei, die Nerven zu verlieren. Eigentlich
verloren wir beide unsere Nerven.
„Wieso? Wieso sollte ich?“, wollte er von mir
wissen, sah mich dabei endlich an, die Stirn in tiefe Falten
gelegt.
„Weil ich dich verdammt noch mal darum bitte.
Deshalb“, ließ ich ihn beleidigt wissen.
Unfair, wie ich war, legte ich meinen Kopf auf
seine Schulter und fuhr mit meiner Hand über seine Brust – diese
herrlich warme Brust – vorbei an seinem Hemdknopf, bis meine
Fingerspitzen über seinem Herzen zum Stehen kamen. Jetzt müsste
sich mein Puls über die Fingerkuppen auf Istvan übertragen. Die
einzige Art von Verführung, auf die ich mich verstand. Zugegeben,
ich spielte nicht gerade anständig. Aber ist nicht in der Liebe und
im Krieg alles erlaubt?
„Nicht fair“, beschwerte er sich schwach, als
hätte er meinen Gedanken gelesen. Doch schon tauchte seine angenehm
warme Hand auf meinem Nacken auf und ich spürte, wie sein
kreisender Daumen meine Halsschlagader suchte. Die hypnotische
Berührung zusammen mit der aufsteigenden Hitze fegte auch den
letzten Rest meiner Streitlust davon, bis nur noch Platz für andere
Dinge war. Dinge, die leider noch immer außer meiner Reichweite
lagen.
Deshalb zog ich meine Hand wieder von seiner
hitzigen Brust weg und lehnte mich tief in meinen Sitz zurück. Mit
fest geschlossenen Augen versuchte ich mich daran zu erinnern, wie
man atmet, bevor ich unser schwieriges Gespräch wieder
aufnahm.
„Wirst du wenigstens versuchen, etwas
aufgeschlossen an die Sache heranzugehen?“, fragte ich resignierend
nach.
„Ich kann dir nichts versprechen. Aber ich sagte,
dass ich mir das Angebot des Doktors anhören würde, und das tue ich
auch. Mehr ist nicht drin, Joe“, versuchte er mir einzubläuen. Doch
ich wollte es nicht hören. In Gedanken malte ich mir schon aus, mit
Istvan zusammen durch Venedig zu spazieren, nachdem uns dieser
Doktor eine Art Heilmittel oder zumindest etwas, dass unsere
Ungleichheit ein wenig verbessern könnte, gegeben haben würde. So
gut wie alles war mir schon durch den Kopf gegangen: ein Heilmittel
gegen Istvans Wolfsfieber, ein verändertes Gift, das mich zu einer
Art Light-Werwolf machen könnte – Istvan davon zu überzeugen, würde
ein wahrer Kraftakt werden, vielleicht eine Möglichkeit Istvans
Alterungsprozess zu beschleunigen oder meinen künstlich zu
verzögern. Was immer es auch war, was der Doktor entwickelt hatte,
es war auf jeden Fall wert, darüber ernsthaft nachzudenken.
Jetzt, wo ich eine reelle Zukunft mit Istvan
plante, hatte mein Verstand ein neues Gebiet, mit kühneren
Gedankengängen, für sich erschlossen. Noch vor ein paar Monaten,
als Farkas gedroht hatte, mich mit seinem Wolfsgift zu infizieren,
war ich in Todespanik verfallen. Doch jetzt, wo mir unter Umständen
eine ähnliche Möglichkeit angeboten werden würde, dachte ich doch
tatsächlich darüber, ganz im Ernst, nach, dieses Angebot
anzunehmen. Man konnte durchaus sagen, dass ich von dem Gedanken
besessen war, mit Istvan gleichberechtigt, solange ich nur konnte,
zusammen zu sein. Istvan hingegen war nicht imstande, diese
Veränderung in mir zu akzeptieren, wollte sie erst gar nicht
bemerken, weil das hieße, dass er sich seiner eigenen Ablehnung
würde stellen müssen. Ich hoffte händeringend, dass die kommenden
Ereignisse helfen würden, Istvan noch näher an den Punkt zu
bringen, wo ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als sich selbst so
zu akzeptieren, wie er war, so wie ich es tat. Valentin glaubte
fest daran, dass es möglich sei, also tat ich es auch.
Das Flugzeug begann in der Zwischenzeit mit dem
Sinkflug und zur allgemeinen Erleichterung landeten wir auf dem
Marco Polo Airport auf dem Festland.
Das Wassertaxi fuhr geradewegs auf den überfüllten
Markusplatz zu. Der Anblick von Venedig, La Serenissima, war
überwältigend.
Die perfekte Verschmelzung von Schönheit und
Vergänglichkeit. Die erlauchte Zerbrechlichkeit dieser Insel
erstaunte mich ein weiteres Mal, schließlich trotzte sie seit
Jahrhunderten dem zerrstörerischen Wasser. Aber mehr noch
verzauberte mich ihre kunstvolle Zartheit, die ich nur als erhabene
Grazie bezeichnen konnte. Diese bittersüße Anziehung wirkte enorm
auf mich. Das galt für diese einzigartige Stadt an der
italie-nischen Küste ebenso, wie es zehnfach mehr für meine
bedingungslose Leidenschaft für Istvan galt. Als ich mir dessen
bewusst wurde, ergriff ich, wie von selbst, seine Hand, die locker
auf dem Bootssitz lag. Zugleich schenkte ich ihm ein sanftes
Lächeln, das er zaghaft erwiderte. Er wollte gerade etwas sagen, da
kletterte Woltan euphorisch, endlich dem Flieger entkommen, auf das
Bootsheck. Er lamentierte mit ausladender Handbewegung und tiefer,
feierlicher Stimme: „Ah – Venedig!“
Miriam und ich mussten zugleich losbrüllen. Wir
lachten hemmungslos, bis uns die Tränen kamen und die Bauchmuskeln
wehtaten. Offenbar hatten wir dasselbe Bild im Kopf. Harrison Ford
als Indiana Jones, wie er in „Der letzte Kreuzzug“ klatschnass aus
dem Kanal klettert und seinen Venedig-Spruch bringt. Woltan hatte
diese Parodie herrlich gekonnt dargebracht. Genau das hatte uns
gefehlt, um die Stimmung etwas aufzulockern. Sogar Miriam legte mir
jetzt ihren Arm um die Schulter. Jeder lachte herzhaft, sogar der
Bootsmann, obwohl er nicht wusste, worüber. Nur Istvan weigerte
sich mitzumachen.
„Ach komm schon. Gib wenigstens zu, dass es
verdammt witzig war“, forderte ich freundschaftlich.
„Es war ganz komisch. Mir ist nur nicht besonders
nach Lachen zumute“, gestand er und wirkte fast, aber nur fast,
schüchtern auf mich.
„Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, erinnerte
ich ihn und kitzelte seine Rippen spielerisch, woraufhin seine
Mundwinkeln verräterisch zuckten.
„Hey, wir sind in Venedig! Auch wenn ich mir
wünschte, dass wir beide aus einem anderen Grund hier wären,
sollten wir doch das Beste daraus machen“, schlug ich versöhnlich
vor.
„Ich hatte mir schon lange gewünscht, mit dir
einmal hierher zu kommen und in Valentins Appartement zu wohnen.
Vor allem wollte ich mit dir meine
Venedigtour machen. Aber in dieser Vorstellung gab es weder
Doktoren noch irgendwelche faustischen Pakte“, meinte er
enttäuscht. Sein Blick suchte zuerst den Markusplatz nach
Vertrautem ab und forschte dann in meinem Gesicht nach einem
ähnlichen Zeichen von Vertrautheit oder Verständnis. Ich wusste
nicht, ob er auch fand, wonach er suchte, also musste ich es ihm
versichern.
„Ich weiß ja genau, was du meinst“, flüsterte ich
in sein Ohr, schmiegte mich enger an ihn, so wie Miriam an Woltan,
und wartete darauf, dass unser Boot endlich am Steg anlegen
würde.
Istvan half mir aus dem Wassertaxi auszusteigen,
als wäre ich leichter als eine Feder, während unsere Reisetaschen
auf den Holzsteg gestellt wurden. Woltan bezahlte, worauf der
kleine ältere Bootsmann etwas auf Italienisch murmelte, und schon
hetzten wir durch die engen, verwinkelten Gassen der Lagunenstadt.
Die Männer hatten es dabei so eilig, dass ich noch nicht einmal
einen richtigen Blick auf den Dogenpalast werfen konnte. An
unzähligen Touristen, Marktständen und winzigen Geschäften vorbei
kamen wir an einem unscheinbaren, schmalen Seiteneingang an, der
nicht weit vom Canale Grande entfernt lag. Dort befand sich also
Valentins Ferienappartement. Die salzige, leicht modrig riechende
Luft war überall. Selbst in dieser kleinen Seitengasse. Woltan
zückte seinen Schlüssel und wir traten einer nach dem anderen in
das dunkle Vorzimmer ein. Hier unten gab es nichts außer dem Geruch
von Holz und feuchtem Moder und der Treppe nach oben.
Der erste Stock bot ein ganz anderes Bild. Hinter
der dun-klen, mit Schnitzereien verzierten Tür lagen drei längliche
Zimmer, die alle stilvoll und zeitlos eingerichtet waren, als
würden die Räume ständig ihren Besitzer erwarten. Der erste Raum
fungierte als Wohnzimmer mit einem großen Bücherregal,
cremefarbenen Ledersesseln, dunklen Beistelltischchen und
Kohlezeichnungen mit venezianischen Renaissancemo-tiven. Der
-nachfolgende Raum diente als geräumiges Schlafzimmer. Und genau,
wie man es erwarten würde, waren die Wände mit venezianischem Stoff
ausgekleidet, in einem ungewöhnlichen Roségold. Das große
Doppelbett und der kleine Steinbalkon, der eigentlich in ein Museum
gehörte, hinterließen den bleibendsten Eindruck. Zuletzt bestaunten
wir das Bad mit der frei stehenden Wanne und den goldüberzogenen
Armaturen. Valentin hatte wieder einmal erlesenen Geschmack
bewiesen. Istvan stellte unsere Koffer in diesem Teil des Hauses
ab, während Woltan Miriam einen Stock höher führte, wo, wie er mir
versicherte, dieselben Räumlichkeiten eingerichtet waren wie
hier.
Ich hätte nur allzu gerne die Tür hinter ihnen
geschlossen und wäre mit Istvan im Bad verschwunden. Doch dieser
verstaute bereits unsere Sachen in den Schränken und Kommoden. Ich
half dabei und brachte meine Toilettensachen ins Badezimmer, wo ich
krampfhaft versuchte, mir Istvans Körper nicht in dieser wohlgeformten Wanne vorzustellen.
Ablenkung sollte mir helfen, darum ging ich zurück ins
Schlafzimmer, öffnete die Flügeltür und trat auf den Balkon. Vor
mir tat sich eine Wohltat für kranke Augen auf. Man sah, an einem
leicht sonnigen Frühlingstag, direkt auf den Kanal. Gondeln und
andere Boote zogen ihre Bahnen auf der -Wasserstraße, während
Menschen sich zu einem geräuschvollen, leben-digen Strom formten.
Alles war einfach … herrlich italienisch. Nein, besser noch: Es war
venezianisch. Mit Istvan könnte ich hier den Rest
meines Lebens verbringen, schoss es mir feierlich durch den
Kopf, bevor ich eine ruhige, bestimmte Stimme hinter mir
wahrnahm.
„Wir müssen jetzt gehen, Joe“, ließ er mich
wissen.
„Der Flug hatte Verspätung und der Doktor erwartet
uns bereits“, erinnerte er mich noch ernster.
Wieso musste Istvan ausgerechnet jetzt anfangen,
vernünftig bei der Sache zu sein, wo ich es gerade nicht war.
„Ja, ich weiß“, murmelte ich. Die plötzliche
Traurigkeit in meiner Stimme überraschte selbst mich.
„Wenn du doch nicht willst, dann …“, begann er
sofort, was ich wiederum unterband.
„Nein, nein. Ich komme schon. Venedig hat mich nur
ein wenig abgelenkt“, versicherte ich ihm kleinlaut.
„Ja, es hat diese Wirkung auf einen. Dem kann man
sich nur schwer entziehen“, bestätigte er gedankenvoll.
„Na davon kann ich doch
ein Lied singen, Liebling“, neckte ich ihn mit leicht erhöhtem
Herzschlag, schließlich stand er verdammt nahe bei mir auf diesem
winzigen Balkon.
Damit brachte ich, zum ersten Mal seit einer
kleinen Ewigkeit, sein schiefes Grinsen zum Vorschein.
„Darauf komme ich noch zurück“, zog er mich auf
und fügte ernster hinzu: „Wenn wir es dann hinter uns haben.“
Ich nickte leicht und nahm mir meine leichte
Brokatjacke, die ich extra für Venedig dabeihatte. Istvan musterte
mich ein letztes Mal, halb besorgt, halb angetan von meinem
Anblick, dann machten wir uns alle zusammen auf dem Weg nach
Murano, der Insel des Doktors.
In einem dieser geräuschvollen, überfüllten
Vaporetti ließen wir die Hauptinsel von Venedig zurück, hielten
kurz an der Begräbnisinsel, wo ich immer eine unerklärliche
Gänsehaut bekam, bei dem Gedanken an eine ganze Insel aus Gräbern,
und stiegen dann bei der ersten Anlegestelle auf Murano aus. Diese
Insel wirkte auf den ersten Blick nicht gerade sehr beeindruckend.
Ich wusste zwar, dank Istvans Reiseführer, dass Murano die berühmte
Glasbläserinsel war, doch die Bilder auf den Werbeplakaten
vermittelten einen verzerrten Eindruck dieses Ortes. Mir kam es
eher so vor, als handle es sich hierbei um ein altertümliches
Relikt, dessen frühere Bewohner längst ausgebüxt waren. Abgesehen
von einigen Touristen, die Glas-waren kauften oder sich die Fabrik
ansahen, traf man auf so gut wie keine anderen Menschen. Vielleicht
hatte sich der Doktor deshalb für Murano entschieden. Ich musste
zugeben, nachdem wir einige Straßen hinter uns hatten, dass es hier
doch sehr schöne Bauten gab und die Insel einen ganz eigenen,
unaufdringlichen Charme auf den zweiten Blick offenbarte.
Als wir fast die halbe Insel umrundet hatten,
kamen wir an ein paar nebeneinanderliegenden Geschäften an. Sie
alle verkauften auf winziger Fläche Glasfiguren, Vasen und Schalen
mit dem obligatorischen Murano-Etikett darauf. Der letzte Laden am
Ende der Straße hatte noch nicht einmal ein Schild, als wolle er
gar nicht erst gefunden werden. Da wusste ich, dass wir gefunden
hatten, wonach wir suchen sollten. Der Doktor benutzte ein
Glasgeschäft zur Tarnung. Neben der steinalten Holztür, die von
einer früheren Überflutung unten schon halb aufgelöst war, befand
sich ein kleines Fenster mit verstaubten Glasdelfinen und
unmodernen Vasen, durch das Woltan und Istvan ins Innere starrten.
Es war finster. Weder hatte der Doktor ein Geöffnet-Schild
angebracht, noch stand irgendwo, dass geschlossen sei. Also blieb
dem achselzuckenden Istvan nichts anderes übrig, als gegen die
marode Tür zu hämmern und dabei so wenig wie möglich von seiner
Wolfskraft einzusetzen. Miriam und ich sahen uns skeptisch an. Die
ganze Situation war einfach zu absurd und merkwürdig, als befände
man sich plötzlich mitten in einem zweitklassigen Film.
Gerade wollten wir aufgeben und es woanders
probieren, da packte mich Istvan und Woltan Miriam harsch an der
Schulter. Offenbar hatten beide etwas gehört.
„Jemand hat gerade Schlüssel geholt“, erklärte uns
Woltan.
„Er kommt jetzt, um aufzuschließen“, führte er
weiter aus.
Fast im selben Moment drehte sich der Schlüssel im
Schloss und mit einem unangenehmen Quietschen und Knarren öffnete
sich die alte Tür. In den dunklen Flur fiel jetzt etwas Licht und
beschien ein fremdes Gesicht. Ein kleinerer Mann, nicht viel größer
als ich, musterte uns, einen nach dem anderen. Seine stahlgrauen
Haare bildeten einen Kranz um seine Glatze. Auch sein Bartschatten
war bereits grau. Hinter seiner randlosen Brille tauchten hellblaue
Augen auf, die versuchten, die Situation und seine Besucher
abzuschätzen. Erst nachdem die zusammengekniffenen Augen wieder
geweitet wurden, war ich mir sicher, dass er uns erkannt hatte.
Sein dünner Mund versuchte sich an einem willkommenen
Lächeln.
„Buon giorno“, grüßte er selbstverständlich.
„Buon giorno“, antworteten wir einer nach dem
anderen. Damit endeten meine Italienischkenntnisse auch
schon.
Istvan machte sich daran zu erklären, wer wir und
weshalb wir gekommen waren. Sofort flammte das Gesicht des kleinen,
schlanken Mannes auf. Er hatte uns schon erwartet und schien
plötzlich sehr erpicht darauf zu sein, uns so schnell wie möglich
von der Straße zu schaffen. Er winkte uns herein und sah sich um,
bevor er die Tür schloss. Danach knipste er eine Lampe an. Die
Glühbirne steckte in einer einzelnen Fassung, die an einem nicht
isolierten Kabel von der Decke baumelte. Dieses Geschäft war
definitiv nur Fassade. Ein Tresen -sollte auch von außen den
Anschein erwecken, dass hier Verkäufe stattfanden. Doch von innen
sah man die zentimeterdicke Staubschicht, die so gut wie alles
bedeckte, den Tresen, die halb vollen Regale und die
Glaskunstwerke. Der Doktor deutet mit seiner Hand auf uns und
murmelte etwas in Ungarisch, das Istvan übersetzen musste.
„Wir sollen hier warten“, sagte er in die Runde.
Der Doktor verschwand hinter einer weiteren maroden Tür, hinter der
bereits Licht brannte.
„Du wirst übersetzen müssen. Du weißt ja, mein
Ungarisch ist nicht das Wahre“, wandte sich Woltan Hilfe suchend an
Istvan.
„Keine Sorge, damit habe ich schon gerechnet.
Valentin meinte ja, dass der Doktor Ungarisch und Italienisch
spricht. Was mir allerdings Sorgen macht, ist, dass er hier haust.
Spricht nicht gerade für seinen
Geisteszustand“, murmelte Istvan, wo-rauf wir alle ein heftiges
Grinsen unterdrücken mussten.
Nach ein paar Minuten, in denen jeder von uns
versuchte nichts anzufassen, um nicht völlig verstaubt auszusehen,
kam der Doktor wieder. Er zog die Tür einen Spalt auf und winkte
uns hereinzukommen. Ich preschte vor, doch Istvan hielt mich
kopfschüttelnd zurück. Er wollte vorgehen und behielt mich hinter
seinem Rücken. Woltan verfuhr genauso mit Miriam. Mir kam das Ganze
übertrieben und lächerlich vor, aber ich ließ ihn gewähren.
Hinter der Tür befand sich ein winziger
Zwischenraum mit einer weiteren Tür, die aus Metall und mit einem
Vorhängeschloss versehen war. Ich konnte es mir nur so erklären,
dass man sich jetzt schon im nächsten Gebäude befand, das man aus
Platzgründen, direkt an dieses angebaut hatte. Hinter der Metalltür
erwartete uns ein Zimmer, das plötzlich wirkte, als wäre es dem
Geschäft Jahrhunderte weit voraus. Das diffuse Licht des Ladens
wurde von einem kalten Neonlicht abgelöst und Plastik und Metall
waren dunklem Holz gewichen. Der ganze Raum war ein einziges Labor.
Gleich hinter der Tür befanden sich zwei riesige Kühlschränke, der
eine war völlig -verdeckt, der andere mit einem durchsichtigen Glas
verschlossen. Auf der anderen Seite des Raums standen viele
wissenschaftliche Geräte, von denen ich nur einige benennen konnte.
Ich machte einen Gaschromatografen, eine Zentrifuge, auf der
mehrere Ampullen mit Blut eingespannt waren, und einen
Bunsenbrenner aus. Gleich vor uns befanden sich zwei lange Tische
mit einer Spüle, auf denen Mikroskope, Petrischalen und unzählige
Präparate standen. Ganz vorne auf den Arbeitsplattformen stand
jeweils ein Laptop, um einen von ihnen drapierten wir uns. Miriam
sah sich noch befangener um als ich. Der allgegenwärtige Geruch von
Formaldehyd war auch alles andere als vertrauenserweckend.
Der Doktor machte sich daran, alles, was er für
seine Ausführungen brauchen würde, vorzubereiten, während wir etwas
unbeholfen herumstanden. Dann zog der Wissenschaftler einen der
Hocker heran und setzte sich vor den Computer. Istvan blieb die
ganze Zeit über derart ruhig, dass es mich ganz nervös machte. Wie
konnte er sich plötzlich so auffällig gut zusammennehmen?
Woltan wurde ungeduldig, wie ich auch. Miriam
klebte so dicht an ihm, dass mir sofort klar war, dass sie Angst
bekam, jetzt wo es ernst wurde. Komischerweise konnte ich nicht
sagen, wie ich mich fühlte. Anscheinend war wieder einmal mein
Autopilot angesprungen und ließ mich ruhig werden, obwohl ich
eigentlich aufgeregt sein sollte. Als der Doktor einem nach dem
anderen anstarrte, als versuchte er uns zuzuordnen, sprang Istvan
in die Presche und übernahm die Vorstellung. Er deutet auf jeden
von uns, nannte dessen Namen und fügte eine kurze Erklärung in
seinem rasend schnellen Ungarisch hinzu. Der Doktor nickte
verständig.
„Istvan? Du wirst doch alles simultan übersetzen?
Und du lässt auch nichts aus?“, wollte ich bestätigt haben.
„Ja, ich werde nur übersetzen, was er sagt. Na ja,
manchmal muss ich schon etwas vereinfachen oder erklären, O.
K.?“
Ich nickte und Miriam tat es mir nach. Der Doktor
sah uns verwirrt an, da er nicht verstand, was sich gerade
abgespielt hatte. Istvan ignorierte seine Verwirrtheit und bat ihn,
mit seinen Ausführungen zu beginnen.
Die Stimme des Doktors ratterte mit diesem Akzent
nur so dahin, während er auf das Bild des Laptops deutete. Wir
verstanden nichts, bis Istvan eine Pause ausnutzte und übersetzte.
Es war nervig, ständig zuerst Istvans Reaktion auf das Gesagte zu
sehen und erst viel später zu verstehen, was sie ausgelöst
hatte.
Das einzige Wort des Doktors, das ich bisher
kannte, war Lykanthropie. Er benutzte
offenbar die gängige Bezeichnung für die Werwolfkrankheit, obwohl
sie doch nur als Legende galt.
Istvan drehte sich zu uns und begann mit seiner
vereinfachten Rede:
„Zuerst will uns der Doktor erklären, dass es sich
bei der -Lykanthropie nicht um ein Gift oder eine Vergiftung
handelt, wie viele von uns glauben. Die Krankheit hat eher
Ähnlichkeit mit einem Virus. Genauer gesagt, mit einem DNA-Virus,
da es, einmal in den Körper eingedrungen, dessen DNA verändert.
Dort hat er mit seinen Forschungen angesetzt, obwohl er -zugeben
muss, dass es nicht mit einem normalen Virus zu vergleichen ist, da
es die Komponente der Mondstrahlen gibt“.
Der Doktor unterbrach Istvan, um noch etwas
einzuwerfen. Daraufhin wurde Istvan ganz bleich und seine Augen
fielen fast in sich zusammen. Angespannt zischte er etwas auf
Ungarisch, woraufhin der Doktor nochmals den Kopf schüttelte.
„Was? Was ist mit dir?“, fragte ich aufgebracht
und sah ihn von der Seite an.
„Hat der Virus die DNA eines Wirtes einmal
verändert, so ist dieser Vorgang irreversibel. Jeder Versuch, den
ursprüng-lichen Gencode des Wirtes wiederherzustellen, führt zum
unweigerlichen Tod des Objektes“, führte Istvan geistesabwesend
aus. Er hatte in voller Absicht die wissenschaftliche Sprach-weise
des Doktors beibehalten, da die Botschaft so weniger grausam
schien, aber ich verstand sie trotzdem.
„Also kein Heilmittel“, folgerte ich
niedergeschlagen und versuchte ihn zu umarmen, was er mir nicht
gestattete. Er war einfach zu sehr in sich gekehrt.
„Nein, kein Heilmittel“, wiederholte er
emotionslos. Ich wurde verdammt wütend auf den Doktor, obwohl
dieser nichts dafürkonnte. Dennoch schrie ich zornige Worte in das
unbeteiligte Gesicht des Forschers, der mein Verhalten nicht
nachvollziehen konnte.
„Und weshalb sollten wir dann kommen?“
Istvan übersetzte meinen Vorwurf in abgeschwächter
Form. Seine Stimme veränderte sich jedes Mal gravierend, wenn er in
dieser anderen Sprache redete.
Der Doktor murmelte etwas, dann wandte er seine
Aufmerksamkeit Miriam und Woltan zu, die versucht hatten, nicht
aufzufallen. Jetzt standen sie im Mittelpunkt des Interesses.
„Er wird es uns später erklären“, zischte Istvan
und beantwortete meine Frage. „Jetzt will er erst Miriam erklären,
wie sie von Woltan schwanger werden kann, ohne dass dabei ein
Wolfskind entsteht“. Istvan versuchte sich wieder zusammenzunehmen
und fungierte weiterhin als Sprecher. Der Doktor ließ ein neues
Bild auf dem PC erscheinen und murmelte dazu ein paar aufgeregte,
stolz klingende Worte. Auf dem Bild konnte ich nur eine runde,
durchsichtige Kugel erkennen, die mich an einzellige Lebewesen
erinnerten, die man in Bio-Büchern zu sehen bekam. Vielleicht sollte ich die anderen darüber in Kenntnis setzen,
dass ich bloß eine Drei in Biologie hatte.
Um unbeteiligter zu wirken, übersetzte Istvan
jetzt 1:1, wie ich nach einer Weile verstand.
„Nach einigen Misserfolgen hatte ich endlich den
richtigen Ansatz. Einen Impfstoff. Aber es funktionierte einfach
nicht. Ich machte den Fehler zu versuchen, die Mutter zu
immunisieren, aber das gelang nicht, also konzentrierte ich mich
auf das Kind. Nach einigen Jahren ist es mir gelungen, ein
Impfserum zu generieren, das die Eizellen der Mutter vor dem Virus
schützt. Jedes empfangene Kind wird daher vollkommen menschlich
sein, da der Virus die Eizelle der Mutter nicht durchdringen kann.
Leider hat der Impfschutz keinen Einfluss auf die Mutter
selbst.“
Woltan und Miriam strahlten über beide Ohren.
Woltan küsste sie liebevoll auf die Wange. Nach so vielen
Jahrzehnten und nach seiner kinderlosen ersten Ehe sollte Woltan
endlich Vater werden können, wie er es sich gewünscht hatte. Auch
Valentin würde zufrieden sein, da der Familienfluch nicht
weitergegeben werden würde.
„Nebenwirkungen?“, fragte Woltan schnell
nach.
Der Doktor bestätigte ihm:
„Keine Nebenwirkungen bekannt“. Dann waren beide
nur noch überglücklich und vergrößerten damit ungewollt Istvans
Groll. Der Doktor nahm eine Spritze aus dem Kühlschrank und fragte,
ob er Miriam gleich impfen sollte. Plötzlich erwachte der Mumm in
diesem kleinen, zierlichen Mädchen. Sie schob den Ärmel ihres
Hemdes zur Seite, ohne auch nur einmal zu zögern, dann stach der
Doktor die Nadel in ihre Haut und brachte das Serum in ihren
Körper.
Von diesem Moment an zogen sich Woltan und Miriam
zurück und lauschten nur noch mit halbem Ohr den Geschehnissen.
Istvan und ich standen verloren vor dem Tisch mit dem Laptop.
„Jetzt zu Ihnen“, übersetzte Istvan, während der
Doktor zwei Spritzen auf die hitzebeständigen Kacheln des Tisches
legte.
„Das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann.
Valentin hat sehr hohe Ansprüche, wenn es um Ihr Anliegen geht.
Doch wie gesagt, ein Heilmittel kann ich Ihnen nicht geben. Aber
als mir Valentin von Ihrer menschlichen Freundin berichtet hat, kam
ich auf eine andere Idee, die interessant für Sie sein dürfte“,
übersetzte Istvan, als wäre er bloß ein Empfänger und Sender und
würden die Worte des Doktors nicht sein Wesen erreichen. Dieser
Zustand machte mir Angst, aber ich musste wissen, wovon der Doktor
sprach.
„Ich habe viele Experimente mit dem Virus, das sie
Gift nennen, angestellt, und zuerst wollte ich es benutzen, um
etwas über die verblüffende Wirkung auf den Alterungsprozess
he-rauszubekommen. Aber schnell stellte ich fest, dass bestimmte
andere Komponenten der Krankheit mit der verzögerten Alterung
zusammenhängen, die man nicht voneinander trennen kann. Das war ein
herber Rückschlag für meine eigenen Forschungen“, übersetzte Istvan
schnippisch. Es ging ihm auf die Nerven, dass der Doktor so freudig
über all diese Dinge plauderte, die unser aller Leben so immens
erschwerten. Dennoch fuhr er fort.
„Doch da begriff ich, dass ich mit bestimmten
Komponenten des Virus herumexperimentieren konnte. Und einer dieser
Versuche hatte ein unerwartetes, aber erfreuliches Ergebnis. Es kam
ein verändertes Wolfsvirus dabei heraus. Wenn man es jemandem
verabreicht, führt es dazu, dass derjenige genauso langsam altert
wie ein Werwolf, doch besitzt er weder dessen Übersinne noch dessen
Stärke. Im Grunde also bleibt er menschlich, mit dem Unterschied,
dass bei Vollmond das Virus zu einer unvollständigen Verwandlung
führt. Das heißt, dass in den drei Nächten des Vollmondes der
Körper dieser Person am Wolfsfieber und den anderen
Verwandlungssymptomen zu leiden hat, ohne jemals eine Wolfsgestalt
annehmen zu müssen. Wie genau die Symptome aussehen, kann ich
natürlich nicht sagen, da ich keine Versuchspersonen hatte“,
scherzte der Doktor. Woraufhin ihm Istvan einen tödlichen Blick
zuwarf, der mich vor Kälte erstarren ließ.
Dann machte der Doktor einen fatalen Fehler, er
sprach mich direkt an. Istvan sprang sofort auf. Jetzt war nicht
nur sein Blick tödlich. Seine ganze Körperhaltung entsprach einer
Angriffstellung. Ich verstand seine heftige Reaktion nicht. Was
könnte der Doktor zu mir gesagt haben, das ihn derart aus der Haut
fahren ließ?
„Was hat er gesagt?“, fragte ich erschrocken.
Istvan zögerte.
„Er hat gesagt, das müsste doch genau das Richtige
für Ihre Freundin sein“, schnaubte Istvan und konnte den
vernichtenden Blick nicht vom Doktor nehmen, dessen angsterfülltes
Gesicht immer kleiner wurde.
„Schon in Ordnung“, versucht ich ihn zu beruhigen,
„er hat es bestimmt nicht so gemeint, wie es geklungen hat.“
„Doch, hat er“, widersprach Istvan meinem
Beruhigungsversuch.
„Aber Istvan, wir sind doch deswegen hier. Ich
meine, es hört sich doch gar nicht so schlimm an. Sein Vorschlag
ist zumindest eine reelle Möglichkeit, über die ich nachdenken
muss“, gab ich kleinlaut zu bedenken. Dann korrigierte ich mich
schnell: „Über die wir nachdenken müssen.“
Doch egal, was ich dazu gesagt oder wie ich es gesagt hätte, Istvan
war strikt dagegen. Mein angedeutetes Vorhaben, das Angebot des
Doktors tatsächlich in Betracht zu ziehen, reichte aus, um ihn
völlig durchdrehen zu lassen.
„Das ist nicht dein Ernst! Deswegen sind wir
bestimmt nicht hier. Nur das Heilmittel, sonst keine Kompromisse“,
presste er hervor. Vor lauter Wut konnte er nicht einmal mehr in
ganzen Sätzen sprechen.
Und obwohl ich genau wusste, dass es das mit
Abstand Dümmste war, was man in diesem Moment machen konnte,
wanderten meine Augen wie von selbst zu den Spritzen. Ich sah sie
erwartungsvoll an. Als Istvan meinen Blick folgte, riss er die
grünen Augen fassungslos auf. Dann konnte er es nicht mehr mit mir
und den Spritzen im selben Raum aushalten. Er stürzte durch die
Türen. Ich versuchte ihm zu folgen, obwohl ich wusste, dass es
sinnlos war. Bis ich die Außentür erreicht hatte, war er längst um
die Ecke gebogen und in ein paar Sekunden würde er sich schon auf
der anderen Seite der Insel befinden. Woltan war mir gefolgt und
stand dich hinter mir. Ehe ich noch etwas sagen oder fragen konnte,
meinte er:
„Versuch es auf der anderen Seite von Murano. Du
findest ihn bestimmt bei der Basilika di Santa Maria e Donato. Die
kannst du gar nicht verfehlen.“
Woltan hatte recht, diese Kirche konnte man nicht
übersehen. Sie stand frei, direkt am Meer, und war ein
wunderschöner, rötlich brauner Backsteinbau. Sie wirkte fast schon
zu perfekt und stimmig. Als wäre sie ein Modell und kein von
Menschenhand errichtetes Bauwerk. Die weißen Säule und zahlreichen
Rundbögen wirkten sehr alt und machten den selbst für Venedig
ungewöhnlichen Eindruck, zeitlos zu sein. Doch kein Istvan war hier
zu finden. Ich ging auf die andere Seite der -Kirche, die direkt
vor dem Wasser lag. Dort sah ich ihn sofort. Er saß
zusammengekauert auf einer Bank und umklammerte mit den Händen die
Bankkante. Ich seufzte einmal ganz tief und nahm all meinen Mut
zusammen, bevor ich es wagte, mich in seine Nähe zu begeben. Obwohl
er natürlich genau wusste, dass ich jetzt vor ihm stand, sah er
nicht zu mir hoch.
„Ist hier noch frei?“, fragte ich unschuldig, als
wäre ich eine fremde Touristin, die höflich darum bat, neben ihm
sitzen zu dürfen.
„Gib dir keine Mühe. Das funktioniert nicht“,
wisperte er gekränkt vor sich hin.
„Was funktioniert dann?“, wollte ich ruhig und
versöhnlich wissen.
„Wenn du genauso entsetzt wärst über diese ganze
Sache wie ich.“
„Aber das wäre gelogen. Ich möchte ehrlich zu dir
sein. Natürlich habe ich Angst und mache mir Gedanken. Aber sie
beherrscht mich nicht … meine Angst. Ich treffe meine Entscheidung
nicht wegen meiner Ängste, sondern trotz ihnen. Und ich glaube
wirklich, dass dieses Mittel etwas Gutes sein könnte. Vielleicht
ist es … die Lösung“, sinnierte ich und setzte mich zaghaft an
seine Seite.
Er schüttelte immer wieder den Kopf.
„Du siehst jetzt nur die guten Seiten, aber was ist mit den Nebenwirkungen, dem
Wolfsfieber. Denkst du auch daran?“, führte er gewichtig an.
„Aber ich habe es doch bei dir gesehen. Ich weiß,
was mich erwartet“, wandte ich ein, biss aber erneut bei Istvan auf
Granit.
„Du hast nicht die geringste Ahnung. Es zu sehen,
ist etwas vollkommen anderes, als es selbst durchzumachen!“, schrie
er mich an. Er tobte im Inneren. So aufgebracht und wütend hatte
ich ihn noch nie gesehen. „Und jetzt will ich nichts mehr davon
hören, Joe. Genug jetzt!“
Es war ihm todernst. Jedes Wort triefte vor
Ablehnung und Verletzbarkeit. Ich ging zu weit. Und würde sogar
noch weiter gehen müssen.
„Nein, es muss nicht unbedingt so sein. Du bist
eben ein unverbesserlicher Schwarzmaler. So muss es nicht ablaufen.
Bei Serafina, bei Woltan scheint es …“, fing ich an, bevor er mir
das Wort abschnitt.
„Ja“, schnaubte er. „Es scheint! Aber was, wenn es
so wie bei mir ist? Oder noch schlimmer?
Was dann? Hm?“, knallte er mir vor den Latz. Istvan verschränkte
siegessicher die Arme vor der bebenden Brust. Ich versuchte ruhig
zu bleiben, sprach mit besänftigender Stimme, auch wenn ich ihn
kaum erreichen konnte hinter seinen hohen Mauern.
„Vielleicht ist es der Preis, den ich zahlen
muss“, sinnierte ich gedankenversunken. Ernsthaft und nachdenklich
starrten wir uns beide an, jeder von uns wich keinen Zentimeter von
dem eingenommenen Standpunkt ab. Auch wenn es nur da-rum ging,
einander für immer zu gehören, schien es uns beinahe zu
entfremden.
„Als ob du nicht schon genug bezahlt hättest, nur
weil du bei mir bist“, flüsterte er mit gesenktem Kopf. Dann, in
diesem bedrückten Tonfall, mit seiner herrlichen Stimme, fügte er
hinzu: „Du wirst noch genug aufgeben müssen, genug verlieren, wenn
wir tatsächlich zusammen weggehen werden.“
Eine beengende Stille entstand, weil ich wusste,
dass er damit recht hatte. Aber am meisten störte mich der Mangel
an Vertrauen, den Istvan noch immer meinem Entschluss
entgegenbrachte.
Ich musste mein Temperament zügeln, so gut ich
konnte, jetzt, wo er nicht dazu imstande war. Wir standen auf und
gingen auf die Kirche zu. Keiner von uns hielt es mehr auf der Bank
aus.
„Ich weiß, du meinst es gut. Aber mit dem Serum
könnte ich so vieles. Das würde alles ändern. Endlich könnte ich an
deiner Seite kämpfen, mit dir Istvan. Ich würde für mich selbst
einstehen und müsste mich nicht weiter hinter den Valentins
verstecken, oder …“
„Du denkst, das wäre es
wert? Du denkst, dein Eigensinn ist es wert, das Wolfsfieber
auszustehen? Ich habe ja viel übrig für deine Unabhängigkeit, aber
das geht zu weit. Das ist schon fast … selbstzerstörerisch!“, zischte er und ich konnte sehen,
wie sein schönes Gesicht von Wut verzerrt wurde. Seine Augen
brannten lichterloh, seine Hände zitterten. Istvan hatte seine
Aufregung und seinen Zorn beinahe nicht mehr unter Kon-trolle.
Schneller, als es mein Verstand erfassen konnte, drängte er mich
wutschäumend an die Wand. Er schnaubte merklich und ich fragte
mich, wie lange er den Dämon in seinem Inneren halten könnte, bevor
er durchbrechen würde. Aber dazu kam es nicht. Erklären konnte ich
es mir nur so, dass Istvans Wut rein war,
dass er mit dem Grund seines Zorns, mit seiner Überzeugung, nicht
uneins war, weshalb das Wolf-im-Mann-Phänomen keinen Zugang zu
Istvans Bewusstsein bekam. Dieser wütende Mann war Istvan.
Seine Arme keilten mich mittlerweile ein und sein
Blick nahm mich gefangen, folternd, anklagend.
„Hast du schon mal gebrannt?“
„Du meinst, außer mit dir?“, neckte ich
unpassenderweise atemlos, um seiner Einschüchterung wenigstens
etwas entgegen zu wirken. Istvan reagierte nicht darauf, ignorierte
es vollkommen.
„Hast du schon mal richtig
gebrannt, Joe?“, fragte er wieder und seine Augen wanderten derart
wild hin und her, dass ich Angst bekam und nicht antworten konnte.
Ich wusste ohnehin nicht, was ich sagen sollte. Im Moment würde so
gut wie alles falsch sein.
„So wird es sich anfühlen. Und das ist noch das
Beste. Später, wenn die Krämpfe einsetzen, wirst du dir wünschen,
nie geboren worden zu sein. Deine Muskeln werden zu Stein.
Du versteinerst. Und das ist keine
verdammte Metapher!“ Er machte eine dramatische Pause, ließ das
Gesagte auf mich wirken. Dann griff er wieder an.
„Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn deine Adern
versuchen, die Haut zu durchbrechen? Hast du auch nur die geringste
Vorstellung davon, wie elendig schmerzvoll die eigentliche
Verwandlung ist?! Ich habe nicht einmal Worte, um diese Qualen zu beschreiben. Und ich spreche fünf
Sprachen!“
Er war nun schonungslos offen zu mir. Soviel gab
er sonst nicht von sich preis, schon gar nicht von dieser Seite
seines Wesens, aber hatte mich Istvan früher schonen wollen und
deshalb die wahren Schmerzen abgeschwächt, so beabsichtigte er
jetzt, dass ich begriff, wovor er mich schützen wollte.
Unbedingt.
Ich bemerkte aber nicht länger, dass er dadurch
versuchte, mir Angst zu machen, für mich. Ihn irgendwie trösten zu
können, war jetzt der einzige Gedanke, der für mich noch zählte. Es
fiel mir nichts Besseres ein, als meine Stirn an seine zu lehnen
und sein Gesicht sanft und behutsam in meine Hände zu betten.
Istvans angespannter Kiefermuskel zuckte unter meiner
Berührung.
„Verstehst du nicht? Der Doktor meinte, es könne
dir drei volle Nächte lang so gehen, ohne Erlösung, weil die
Verwandlung ausbleibt. Verlang das nicht von mir“, flehte er
gebrochen, seine Augen fest geschlossen, damit ich nicht sehen
musste, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Es war zwecklos, denn vor
meinem geistigen Auge sah ich es: das flackernde Glühen seiner
Smaragdaugen. Mir schnürte es die Kehle zu, das Bild seines
Schmerzes. Ich verstummte im Bewusstsein meiner Schuld.
„So etwas tu ich dir nicht an. Und ich werde den
Teufel tun und zulassen, dass du es dir selbst antust. Dafür habe
ich dich nicht aus dem Wasser gezogen. Dafür nicht! Du sollst nicht
so ein Leben haben … so eines wie ich. Bitte, tu mir das nicht an!“, flehte er angestrengt und umfing
meine zu Fäusten geballten Hände.
Die zurückgedrängten Tränen hörte man der Rauheit
seiner Stimme an. „Ich habe Istvan beinahe Tränen
in die grünen Augen getrieben, schrie mein Inneres
aufgebracht. Mein Herz bekam durch die Erkenntnis einen Knacks,
einen weiteren.
„Verzeih mir! Verzeih mir!“, bat ich immer wieder
und küsste manisch seine Wangen, gefolgt von seinen Wangenknochen,
den Punkt unter seinen Augen, die ich anbetete, und zuletzt überzog
ich seine Stirn mit meiner streifenden Unterlippe.
Er beruhigte sich langsam, misstraute aber meinem
schnellen Meinungsumschwung weiterhin.
„Um es zu besiegeln, sag mir, dass du dir niemals,
unter keinen Umständen, dieses Mittel spritzt“, verlangte er von
mir zu hören. Er zwang mich, es auszusprechen, und umklammerte
dabei meine Schultern mit seinen kraftvollen Händen.
„Sag es, Joe.“ Istvan wartete ungeduldig.
„Na gut. Ich werde das verdammte Zeug nie nehmen.
Zufrieden?“
„Ja“, stieß er deutlich erleichtert hervor.
Die Konsequenzen dieses Versprechens fegten etwas
in mir leer. Ich befreite mich aus seiner Umklammerung und saß
wieder auf der Bank vor dem trüben Wasser. Um zu wissen, dass er
auf mich zukam, musste ich mich erst gar nicht umdrehen, denn ich
fühlte ihn bereits näher kommen. Mein Rücken richtete sich wie von
selbst auf. Nun war es an ihm, mich zu trösten. Schließlich gab ich
einiges mit dieser Entscheidung auf. Vielleicht legte er gerade
deshalb seine Hand mitfühlend auf meine Schulter.
„Da ist noch etwas“, begann er zögerlich, bevor er
an meine Seite kam und sich zu mir setzte.
„Ich liebe deine Menschlichkeit. Das will ich
nicht verlieren“, vertraute er mir verhalten an.
Ich vergrub mein Gesicht in seiner Schulterbeuge,
umklammerte seine Taille und verstand. Wie könnte ich ihm je etwas
nehmen, das ihm soviel zu bedeuten schien?
Auch wenn das bedeutete, selbst, wenn es uns
gelingen würde, eine gemeinsame Zukunft zu haben, unser Glück wäre,
besonders unsere gleichrangige
Gemeinsamkeit zeitlich beschränkt. Denn ich würde viel schneller
altern als Istvan. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte,
wie man überhaupt mit so etwas fertig werden konnte. Doch vielleicht zählt die Intensität der gemeinsamen Zeit mehr
als die tatsächliche Dauer, tröstete ich mich
halbherzig.