26. Eine Falle
 
 
„Sie sind zurück“, rief uns Serafina zu, als sie sich weit aus dem Küchenfenster lehnte. Istvan, Marius und ich kamen sofort an ihre Seite. Gemeinsam versuchten wir aus dem Fenster zu spähen. Jakov, Woltan und Valentin liefen bereits die Treppen hoch. Unmöglich mit einem Blick auf ihre Gesichter zu sagen, ob ihre Mission erfolgreich war. Sobald Valentin bei der Tür hereinkam, überfiel ihn Istvan.
„Und? Habt ihr den Zugang gefunden?“, fragte er gehetzt.
„Ja“, beruhigten ihn Jakov und Valentin unisono. Woltan nickte bloß.
Ich ließ einen erleichterten Seufzer frei, der mir schon seit fast zwei Stunden in der Kehle saß. „Es ist sogar eine schwache Witterung von Farkas aufzuspüren. Also muss er vor Kurzem dort gewesen sein. Wahrscheinlich hat er den Brand sogar selbst gelegt und nicht einer der geringeren Söhne“, erklärte Valentin.
„Und ihr?“, wollte Jakov wissen. „Habt ihr die Aufnahme?“
Seine dunklen Augen funkelten kämpferisch, genauso versessen darauf, diese einmalige Chance zu nutzen, wie Istvan und ich.
Bedächtig übergab ich ihm das Gerät mit der Aufnahme meines Herzschlags. Istvan hatte mich bei der Aufnahme sogar einmal paar Mal geküsst, leider etwas gezwungen unter den Augen von Serafina, die mit dem Stethoskop hantierte, damit wir Passagen mit etwas schnelleren Frequenzen bekamen. Farkas sollte denken, dass ich Angst hätte. Dieser herzlose Mistkerl würde den Unterschied nicht heraushören, da war ich mir sicher. Jakov übernahm es und hörte sich die lange Aufnahme mit geschlossenen Augen an. Der frühere Jäger überprüft unserer Arbeit, schoss es mir durch den Kopf. Leider machte er ein eher unzufriedenes Gesicht.
„Was? Was stimmt nicht?“, fragte ihn Serafina bang, seine Hand langsam streifend.
„Die Aufnahme selbst ist gut. Aber er wird sofort merken, dass es künstlich ist. Es fehlt der Klang des Körpers um den Puls. Es klingt zu … sauber. Hm … müsste viel dumpfer sein …“, meinte er grübelnd.
Ich sah Istvan Hilfe suchend an. War es das? Wird es funktionieren?
„Wartet!“, sagte er messerscharf. Wir alle saßen gebannt auf dem Küchentisch und warteten auf seine Rückkehr. Er kam mit einem Rucksack zurück, den er uns allen zeigte. In den Innenraum hatte er einen Pullover gesteckt. Darauf legte er das Abspielgerät, das ihm Jakov gab. Er stellte es an und nickte Jakov schroff zu. Dieser verstand sofort, schloss konzentriert die Augen und nach einer Minute lächelte er boshaft. Mit amüsierter Stimme verkündete Jakov.
„Das haut hin. Es wird funktionieren!“
„Ja, aber wir dürfen keine Zeit verlieren“, gab Marius zu bedenken. „Wir können auf keinen Fall die Verwandlung abwarten.“ Alle stimmten zu. Also muss es noch heute sein, dachte ich.
Ich wollte dabei sein. Ein leichtsinniger Einfall, aber ich war fest dazu entschlossen. Als ich es Istvan beichtete, schüttelte er immerzu den Kopf und sah mich hart an. Erst nachdem Marius und Valentin anboten, auf mich zu achten, lenkte er ein.
Der Plan war schnell gemacht und vorbereitet. Alles geschah so, wie wir es vorab besprochen hatten. Istvan, Jakov, Serafina und Woltan bezogen etwas entfernt vor dem Zugang Stellung. Istvan ging vor, um den Köder auszulegen. Er trug einen alten Mantel meines Vaters, damit Farkas nicht sofort seinen Geruch zusammen mit meinem aufnehmen konnte. Ich sah ihm von meinem Versteck aus zu. Mit Valentin und Marius an meiner Seite kauerte ich auf einem hohen Baum und hielt mich an der Rinde fest, als wäre sie aus Kleister.
Valentin bewegte sich hier oben, als wäre er auf festem Untergrund, während Marius beinahe so unkoordiniert wie ich aussah. Ich nahm das Fernglas, das Valentin mir gegeben hatte, und versuchte alles, was in der Entfernung vor sich ging, zu beobachten. Mit leisen, vorsichtigen Bewegungen glitt Istvan aus seiner Deckung, den Rucksack über seiner Schulter. Er blickte konzentriert nach vorne auf den dunklen Fleck in all dem Grün. Der Tunnelzugang. Mit anhaltendem Atem überwachte ich jeden seiner geschickten Schritte und versuchte die Angst, dass Farkas plötzlich aus diesem schwarzen Loch auftauchen könnte, aus meinem Kopf zu vertreiben. Hinter einem kleinen Felsen legte er den Rucksack, unseren Trumpf, meine Falle, ab. Rückwärts glitt er genauso langsam und geschmeidig wieder zurück. Erleichtert atmete ich aus. Valentin musterte mich besorgt. Er brauchte ebenso wie Marius kein Fernglas. Jetzt kam der Teil, den ich am meisten hasste: das Warten.
Die Minuten zogen sich endlos dahin. Irgendwo da unten, ohne dass ich es hören konnte, klopfte mein Tonband-Herz, um ein Raubtier anzulocken, während ich hier oben versuchte, nicht vom Baum zu fallen. „Valentin“, flüsterte ich, als wäre das notwendig, „was, wenn die Aufnahme stoppt, bevor …“ Er unterbrach mich. „Dann wiederholen wir es so lange wie nötig“, wisperte er ruhig zurück. Ich wünschte, er könnte mir ein wenig von seiner Zuversicht leihen.
Ich setzte das Fernglas wieder vor meine Augen. Fast wäre ich vom Ast gekippt, als mir bewusst wurde, was meine Augen sahen. Etwas Helles kam aus dem dunklen Loch, das schräg auf der leichten Anhöhe im Waldboden klaffte. Sofort wusste ich, dass es Farkas war, da mir sämtliche Haare zu Berge standen. Auch Marius verlagerte angespannt sein Gewicht, was den Ast leicht zum Wackeln brachte. Farkas fällt darauf rein! Er schluckt den Köder!
Langsam, aber ohne sich groß umzusehen, kam Farkas aus seiner Höhle. Er wirkte verlottert wie immer. Sein Kopf war geneigt, genau so, als würde er auf etwas hören. Übermenschlich schnell hastete er auf den Felsen zu und wollte mit seinen Händen nach dem Geräusch schnappen. Aber seine Hände rafften nur den Kunststoff des Rucksacks zusammen. Verwirrt riss er ihn in die Höhe. Mit einem einzigen Ruck zerfetze er ihn und unsere Falle fiel ihm direkt vor die Füße. Ob mein Herz dort immer noch schlägt? Dieses, mein eigenes, schlug andererseits so laut und heftig, dass es mir für Valentin und Marius Ohren leidtat. Ich zuckte zurück, als Farkas mit einer unglaublichen Wut auf mein Diktiergerät eintrat. Es lag schließlich in Einzelteilen zerstreut vor ihm. Erst dachte ich, er würde tobend losbrüllen, doch dann schien ihm aufzufallen, was das Ganze zu bedeuten hatte. Denn sein Kopf schnellte hoch, um sich hektisch umzublicken. Mit einer barschen Geste beugte sich sein Körper in die Richtung, in der sich Istvan und die anderen versteckt hatten. Mir wurde übel. Warum griffen sie nicht an? Er war eindeutig allein und damit im Nachteil. Ich sah Valentin an, der sofort meine Gedanken von meinem Gesicht ablas. Aufmunternd nickte er mir zu.
Als Farkas in die Richtung gehen wollte, kam plötzlich Istvan, jetzt ohne den Mantel, hinter seinem Rücken auf ihn zu. Bevor Farkas sich noch umwenden konnte, packte Istvan ihn mit beiden Händen am Hals. Und eine Sekunde lang dachte ich wirklich, dass es jetzt geschehen würde, dass Istvan ihm das Genick brechen würde. Doch Farkas biss ihn, noch ehe Istvan seinen Vorteil ausnutzen konnte, in den Unterarm. Daraufhin brach die Hölle los. Jakov kam zusammen mit Woltan von vorne auf Farkas zu, während Serafina hinter der Anhöhe hervorsprang. Alle stürzten sich auf Farkas und begruben ihn unter sich. Doch dieser Mann war so unfassbar stark, dass es ihm tatsächlich gelang, unter ihnen hervorzukriechen, um einen kurzen Heuler auszustoßen, als wäre er selbst jetzt, gefangen in einem Menschenkörper, wölfisch. Eine paar Augenblicke später tauchten aus dem Tunnel Dimitri und Vladimir auf, die sich sofort auf Serafina und Jakov stürzten. Für Woltan schienen sie gar keine Augen zu haben. Der baute sich zusammen mit Istvan vor Farkas auf. Wie beim Training gingen beide in Kampfposition: fester Stand, Hände in Abwehrhaltung und alle Muskeln angespannt. Farkas ließ sich davon nicht beeindrucken und stürzte sich auf Istvan, der jedoch von Woltan abgeblockt wurde. Mit einer immensen Wucht rammte dieser sein Bein in Farkas’ Bauch. Jeder Mann wäre dabei sofort zurückgefallen, doch Farkas krümmte kurz den Oberkörper und das war’s dann auch. Mit einem einzigen Kinnhaken beförderte er Woltan auf den Boden, wo ihn Istvan aber sofort hochzog und hinter sich brachte. Jetzt konnte ich die blanke Wut in Istvans Gesicht sehen. Mit einem lauten Schrei stürzte er sich auf seinen Vater, beförderte ihn auf den Waldboden und schlug auf ihn ein. Zuerst wehrte sich Farkas kaum, doch dann biss er Istvan heftig in die Schulter, woraufhin er aufschrie, ließ sich aber nicht von ihm abschütteln, bis Farkas die Hände um seinen Hals legte und versuchte, ihm seinen Kopf brutal in den Nacken zu reißen.
Oh, Gott! Er versucht ihn zu töten! Er will ihn auslöschen!
Ohne nachzudenken, fuhren meine Finger zu dem Bleidolch, den ich an meinem Gürtel trug. Bevor ich noch versuchen konnte, mich vom Baum fallen zu lassen, klammerten sich Valentins Finger um meine Hüfte. Er drückt mir fast die Luft ab, als er mich gewaltsam festhielt.
„Ich musste es Istvan versprechen, Joe“, faselte er entschuldigend. Ich funkelte ihn böse an und versuchte sofort wieder durch das Fernglas zu sehn. Ich stöhnte auf. Sie waren alle weg. Niemand war mehr zu sehen. Was war passiert? Wie konnte sie alle so schnell verschwinden? Verzweifelt blickte ich zu Marius, der alles im Blick behalten hatte. „Nein, nein“, stammelte er aufgebracht. „Er ist nicht … Farkas ist entkommen. Istvan ist ihm hinterher. Serafina, Woltan, Jakov … sie verfolgen die anderen zwei.“ Gequält lächelte er mir zu. Ich musste bleich und elend aussehen, so wie er mich ansah. Nachdem Marius mir alles berichtet hatte, beruhigte sich meine Atmung etwas und Valentin lockerte seinen Klammergriff.
„Bitte, Valentin, ich will hier runter“, bat ich kleinlaut und klang wie ein kleines, verängstigtes Mädchen, was mir gar nicht gefiel. Marius half mir vom Baum zu klettern und Valentin nahm, ohne zu fragen, meine Hand, um mich zu führen. Er wusste, dass es für mich kaum zu ertragen war, nicht zu wissen, was gerade mit Istvan geschah, und dass ich nichts weiter tun konnte, als abzuwarten. Als ich daran dachte, was ihm alles passieren könnte, war es, als würden sich Dornen um mein Herz schlingen und immer fester zudrücken. Wir machten uns zusammen zur Jagdvilla auf. Den ganzen Weg verfluchte ich mich, da ich es war, die sie aufhielt. Nur meinetwegen mussten die anderen auf zwei weitere Kämpfer verzichten. Sich so schuldig zu fühlen, ohne etwas daran ändern zu können, war furchtbar. Wenn Istvan sich Jahrzehnte lang so gefühlt hatte, war es mehr als nachvollziehbar, dass er derart litt. Kurz, nachdem wir die Straße erreicht hatten, hörte ich ein ungeheuerlich lautes Grollen über uns. Als ich hochsah, merkte ich zum ersten Mal, dass es schon längst kein Sommertag mehr war. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel. Noch bevor ich meinen Blick wieder gesenkt hatte, begannen schon die ersten Tropfen zu fallen, die sich im Handumdrehen zu einem starken Regenschauer steigerten. Zu dritt liefen wir das letzte Stück bis zum Haus.
Wir waren klatschnass, als Marius die Tür zur Villa aufstieß. Valentin zog mich zum Wohnzimmer und machte sich daran, den Kamin anzumachen. Um nicht weiterhin unnütz zu sein oder den Verstand zu verlieren, half ich ihm wortlos dabei, das Holz aufzustapeln, während er versuchte, das Feuer anzuzünden. Bald wurde es warm. Aber es würde noch eine ganze Weile dauern, bis unsere Sachen nicht mehr an uns kleben würden. Marius kam herein, noch immer mit dieser Mitleidsmiene für mich, die ihn wie einen älteren Onkel aussehen ließ. Er hatte ein paar Sachen von Serafina in der Hand und legte sie zu mir aufs Sofa. Aber ich wolle mich nicht besser fühlen. Ich wollte nicht, dass ich es jetzt trocken und bequem hatte, während sie da draußen waren in dieser Sintflut, um die Konsequenzen zu tragen für etwas, das ich mir ausgedacht hatte. Ich fühlte mich so elend. Selbst als Valentin, dem ich für sein anhaltendes Schweigen dankbar war, mit einer Tasse Tee kam und sie mir reichte, stellte ich sie unbenutzt neben mich und starrte nur ins Feuer. So lange starrte ich da hinein, dass ich anfing, in den Flammen Muster zu erkennen. Ich glaubte zu sehen, wie ein feuerfarbener Wolf mit einem schwarzen rang, beide die Ohren angelegt und wild knurrend. Immer wieder vermeinte ich zu sehen, wie die schwarze Bestie den Feuerwolf in den Nacken biss. Als Valentin sich zu mir setze und mich damit aus meiner Trance riss, bemerkte ich, dass mir Tränen in den Augen brannten. Aber ich erlaubte ihnen nicht, sich zu lösen. Ich werde nicht weinen, nicht solange ich nicht weiß, was mit ihm geschehen ist. Ich befahl es mir immer wieder. Die Dornenkrallen marterten weiter mein Herz, dennoch erlaubte ich mir nicht, Valentins Trost anzunehmen. Ich konnte förmlich spüren, wie es ihn drängte, mir seine Schulter anzubieten. Das verdiente ich nicht. Ich hatte sie alle in Gefahr gebracht. Wofür? Für die winzige Chance, Farkas zur Hölle zu schicken? Es hätte mir klar sein müssen, dass er nicht ohne ein Ass im Ärmel kommen würde. Ich hätte es wissen müssen.
„Es ist alles meine Schuld, nur meine. Meine Schuld“, wimmerte ich.
Valentin schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen. Genau wie ich, starrte er stur ins Feuer. „Doch!“, beharrte ich tonlos.
Jetzt kam auch noch Marius ans Feuer, setzte sich mit -neuen, trockenen Kleidern davor und starrte mich an. Ich wich seinen sanften Augen aus. „Das stimmt nicht“, sagte er leise. „Es war eine gute Idee. Wir mussten es versuchen. Lass jetzt den Mut nicht sinken. Vielleicht haben sie es ja geschafft“, sprach er auf mich ein.
Als ich Valentins Stimme hörte, war es so, als wäre sie ganz weit weg. Eine Erinnerung an einfachere Zeiten. „Marius hat recht. Du weißt doch gar nicht, ob der Plan nicht doch funktioniert hat. Wirf jetzt nicht vorzeitig die Flinte ins Korn, nur weil du gesehen hast, dass Farkas Istvan an die Kehle gegangen ist. Er ist stark. Und du bist wahrlich nicht der Typ, der aufgibt, Joe!“
Valentin hatte recht. Ich war keine Frau, die aufgab. Istvan hatte sogar zu mir gesagt, ich wäre eine Kämpfernatur. Er glaubte an meine Stärke, also, wer war ich schon, ihm zu widersprechen.
„Du hast recht, Valentin“, sagte ich so zuversichtlich, wie ich konnte.
„Und Istvan … er wird durch diese Tür kommen. Ob er Farkas erledigt hat oder nicht … aber er wird durch diese verdammte Tür kommen und dann soll er nicht sehen, dass ich geheult habe. Er wird sehen, dass ich an ihn geglaubt habe. Das wird er“, flüsterte ich nickend. Valentin erwiderte mein Nicken leicht lächelnd. Dieses Mal gelang es mir, sein Lächeln zaghaft zu erwidern, und ich trank den lauwarmen Tee. Die Dornenranken in meiner Brust lockerten sich, aber verschwinden würden sie erst, wenn ich in die grünsten Augen blicken konnte, die ich je gesehen hatte.
Eine kleine Ewigkeit später peitschte der dichte Regen noch immer gegen die Fenster, dennoch hörte ich es sofort, als die Tür sich öffnete. Erstaunlich laut fiel der Regen hinter den triefend nassen Heimkehrern auf den Boden. Ich schreckte vom Sofa hoch. Valentin und Marius folgten mir. Sofort als wir uns sahen, stürmten wir aufeinander zu und rissen uns gegenseitig in die Arme. Er lebt! Er lebt! Die Dornen fielen von meinem Herzen ab, als hätte es sie nie gegeben. Selbst so nass war er noch ganz warm und roch herrlich nach feuchtem Wald und Honig. Ich öffnete kurz die Augen, genoss diesen Moment und stellte erleichtert fest, dass es auch allen anderen gut ging. Sie waren nass, aber gesund. Jakov hielt Serafina im Arm. Woltan drückt kurz seinen Vater und Marius klopfte ihm auf die Schulter. Und die ganze Zeit ließ ich Istvan nicht los, krallte meine Finger in seinen Rücken. Ich hatte nicht geheult. Ich hatte ihn wieder, ganz nahe bei mir. Jetzt ging es mir wieder gut, war ich wieder ganz ich selbst, war die Kämpfernatur und nicht das Häufchen Elend.
Sanft schob er mich von sich, damit er mich auf die Stirn küssen konnte.
„Sie hat doch keine gefährlichen Dummheiten versucht?“, fragte er Valentin, als er mir prüfend ins Gesicht sah.
„Nein“, log Valentin, was ihm aber niemand anmerkte. Ich drehte mich um und dankte ihm wortlos. Er war ein echter Freund geworden. Dann sah Istvan mich wieder an. Seine Augen waren ungewöhnlich dunkel und ich konnte nicht sagen, ob es ihm wirklich gut ging.
„Was ist passiert?“, fragte ich ihn und blickte auch zu Serafina, die frustriert zu Boden sah, ebenso wie Jakov.
„Oh, nein“, murmelte ich. Ich ahnte es bereits, aber manche Dinge muss man laut hören, bevor man imstande ist, sie zu glauben.
„Leider doch. Sie sind wieder entwischt. Dabei war es so knapp. So knapp“, stöhnte Istvan, den Arm um mich gelegt.
„Mein Plan war wohl doch nicht so genial, was?“, grollte ich bitter.
„Dein Plan war gut, das Wetter war es nicht. Bei diesem Wolkenbruch ist die Sicht so gut wie null und der Regen verwischt alle Spuren“, erklärte er mir griesgrämig.
„Und eine Witterung zu finden, kannst du auch vergessen“, blaffte Jakov gereizt dazwischen. Woltan und Serafina tauschten einen ihrer typischen Zwillingsblicke aus, bevor Serafina sagte:
„Es war einfach Pech. Niemand kann was dafür. Es hätte genauso gut funktionieren können.“
„Wir hätten mal den Wetterbericht prüfen sollen“, meinte Woltan.
Ich zog Istvan ans Feuer, damit seine Sachen trocknen konnten. Alle folgten uns. Marius setzte sich auf seinen hinteren Fensterplatz. Jakov und Serafina lehnten sich gegeneinander gepresst gegen die andere Fensterbank. Woltan und Valentin zogen sich Sessel heran, um nahe am Feuer zu sitzen, und überließen Istvan und mir damit das Sofa. Lange sagte niemand etwas. Alle erholten sich von den Strapazen und dem Fehlschlag. Istvan strich mir mit seiner Hand übers Haar und schien sich in seine eigenen Gedanken zu vertiefen, während ich mir die Fernbedienung schnappte, um den Fernseher anzumachen. Keiner schien davon Notiz zu nehmen, bis sie bemerkten, dass ich die Wetterseiten des Teletextes durchsah.
Es war nicht zu übersehen, direkt bei den wichtigen Kurzmeldungen. Unwetterwarnung mit ergiebigem Regen und mög-lichen Überflutungen für die gesamte Region. Die ganzen nächsten Tage sollte es so weitergehen. Istvan setzte sich auf. Alle starrten jetzt auf den Bildschirm.
„Na toll!“, blaffte Woltan genervt. „Das werden ja schöne Nächte, um als Wolf herumzulaufen. Gibt es auch gute Nachrichten?“, fragte er sarkastisch.
„Wie man es nimmt“, antwortete Valentin gefasst. „Solange es da draußen derart schlimm ist, können wir Farkas unmöglich verfolgen. Aber er wird uns nicht angreifen. Auch nicht als Wolf. Soviel zu den guten Nachrichten. Die schlechten Nachrichten kennt ihr schon. Es ist alles andere als angenehm, bei diesem Unwetter durch den Wald zu streunen. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns nach der Verwandlung ausschließlich in der Nähe des Hauses aufhalten. Es ist ja mehr als unwahrscheinlich, dass jemand so dumm ist, in den nächsten Tagen im Wald aufzutauchen. Außerdem können wir Joe so am besten schützen, solange wir an die Wolfshaut gebunden sind“, äußerte er und alle nahmen seinen Vorschlag an.
Also würden wir die nächsten Tage hier bleiben, das war klar. Ich legte meinen Kopf auf Istvans Schulter und flüsterte: „Aber wird es euch nicht schwerfallen, euren Instinkt zu unterdrücken?“
Er verzog kurz schmunzelnd den Mund. „Ja, aber wer mag schon ein nasses Fell, auch wenn man nicht friert.“ Ich versuchte über diesen lahmen Scherz nicht zu lachen, aber ein leichtes Schnauben trotzte er mir doch ab. In dieser Nacht schliefen wir alle gemeinsam im Wohnzimmer, als wären wir Soldaten im Krieg, und diese Vorstellung jagte mir gewaltige Angst ein, sodass ich mich, trotz der vielen schlafenden Körper um uns herum, ganz eng an Istvan drängte. Im Schlaf zog er mich an sich und schlang die Arme fest um mich, sodass ich wenigstens fähig war, etwas Ruhe zu finden.
Den ganzen nächsten Vormittag verbrachten wir mit improvisierten Besorgungen. Ich packte soviel Sachen ein, wie ich konnte, da ich nicht wusste, wie lange ich gezwungen war, in der Jagdvilla auszuharren. Istvan schloss die Bibliothek, obwohl bei diesem Regen sowieso kaum jemand sein Haus verließ. Immer wieder fragte er mich besorgt, ob ich auch mein Messer bei mir trug. Es machte ihn nervös, dass ich in den nächsten drei Nächten niemanden bei mir hatte außer sechs Wölfen. Als wir am Nachmittag, nachdem ich die letzte Arbeit erledigt hatte, bei der Jagdvilla ankamen, begannen sich schon die ersten Anzeichen des Wolfsfiebers zu zeigen. Besorgt strich ich Istvan über die Stirn, als wir über die Schwelle traten. Ich stellte die Taschen ab und musterte ihn. Er zog die Stirn kraus.
„Bei dieser Bewölkung wird es sehr lange dauern, bis die Verwandlung einsetzt“, warnte er mich. „Dann lass uns versuchen, ob wir es dir nicht leichter machen können“, schlug ich vor und schenkte ihm mein Lächeln, das aufrichtige, starke Lächeln, das ich nur für ihn zustande brachte. Ich nahm seine beiden Hände in meine und zog ihn zum Gästezimmer, das Valentin für uns vorbereitet hatte. Er folgte mir, ohne zu zögern. Ich schloss die Tür hinter uns und begann ihn bis auf die Boxershorts auszuziehen. Schon jetzt war sein ganzer Körper von einem feinen Schweißfilm überzogen. Ruhig legte ich ihm die Hand auf die Brust, damit er sich nicht rührte. Er gehorchte mir und seine grünen Augen verfolgten jede meiner Bewegungen. Ich nahm die Waschschüssel mit dem Wasser und tunkte den Lappen in das kühle Nass, wrang ihn aus und begann Istvans Stirn, Brust, Schultern und Arme damit abzuwischen. Mit einem wohligen Laut ließ er es über sich ergehen und ich war mir sicher, dass es wenigstens etwas half. Als die Schmerzen schlimmer wurden, war ich etwas überrascht, dass es so schnell ging und er die ganze Zeit dabei in der Lage war, mit mir zu reden und mich bewusst anzusehen. Er hatte Schmerzen, aber er kontrollierte sie und nicht umgekehrt. Ich saß die ganze Zeit über auf der Bettkante und kühlte ihm immer wieder die Stirn und den Oberkörper. Als ich ihm ein weiteres Mal den Lappen auf die Stirn legen wollte und mich über ihn beugte, hielt er mich mit seinen Augen fest.
„Ich liebe dich“, sagte er, einfach so. Jetzt wünschte ich mir verzweifelt, dass er etwas mehr anhätte. Ich atmete angespannt aus. „Ich muss dich jetzt küssen“, warnte ich ihn vor, bevor ich näher kam. Er zögerte, hielt mich an den Schultern fest.
„Ob das eine gute Idee ist“, gab er zu bedenken und deute auf seine krampfenden Muskeln. Wir hatten nur noch Minuten, bevor er sich auf den Boden werfen und seinen Körper mit dem eines Wolfes vertauschen würde. Dennoch sagte ich: „Du kannst mir nicht sagen, dass du mich liebst, und mir dann nicht erlauben, dich zu küssen. Das wäre grausam, Istvan.“ Ich meinte es ernst.
Vorsichtig, als wäre er plötzlich zu Glas geworden, beugte ich mich erneut über sein Gesicht. Kurz bevor ich ihn erreichte, strich ich noch einmal über meine Lippen, nur um sicherzugehen, ob ich nicht irgendeinen Riss auf den Lippen hatte, denn schon der könnte womöglich eine Verwandlung auslösen. Istvan bewegte sich keinen Millimeter, verfolgte die Spur -meiner Finger auf meinen Lippen. Ich sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, mich nicht berühren zu können. Also erlöste ich uns beide, indem ich meine Lippen vorsichtig und sanft auf seine senkte. Er keuchte ganz leise, als mich sein Mund beinahe verbrannte. Ganz leicht nur schob ich meine Lippen zwischen seine und erlaubte mir dieses Gefühl zu genießen, bevor ich mich sehnsüchtig nach mehr von ihm löste. Kaum saß ich wieder aufrecht, zuckte er zusammen. Die Verwandlung, sie kam jetzt. Endgültig. Ich fuhr zurück, als er vom Bett fiel und er sich vom Mann zum Wolf wandelte. Als der Sandwolf vor mir stand, presste er seine Stirn gegen mein Schienbein, bevor er so lange winselte, bis ich ihm die Tür öffnete.
Die ganze Nacht über streiften die Wölfe, meine Wölfe, um die Jagdvilla. Nur ab und an ließen sie ein Heulen hören, das sich im Rausch des Regens verlor. Ich schlief wie eine Tote. Einer der Valentinwölfe blieb immer bei mir im Haus. Sie wechselten sich etwa alle drei Stunden ab. Und wenn Istvan an der Reihe war, spürte ich es, auch wenn ich bereits schlief. Den ganzen Vollmondzyklus lang ging das so. Farkas oder sein Rudel ließ sich wie erwartet nicht sehen. Doch, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, änderte sich das Wetter auch nach den Vollmondnächten nicht. Es war eines der schlimmsten Unwetter, die wir je hatten. Ein paar Kilometer weiter war es derart heftig, dass ein paar Orte komplett überflutet waren. Wir blieben zwar vom Schlimmsten verschont, aber im Gegensatz zu allen anderen, wünschte ich kein Ende des Regens herbei. Denn in meinem Fall bedeutet das Ende des Regens das Ende der trügerischen Ruhe. Sobald der letzte Tropfen gefallen war, würde alles von vorne losgehen. Farkas hatte Istvans Geburtshaus abgefackelt. Daraufhin hatten wir ihm eine Falle gestellt. Jetzt war er wieder am Zug. Mir graute davor, was er als Nächstes tun würde. Aber eines war mir klar, selbst jetzt, wo Istvan seine Arme um mich gelegt meinen Nacken küsste, spürte ich es ganz deutlich. Die Uhr tickte. Wie lange wir es auch hinauszogen, wir standen kurz vor dem Sturm. Einem Sturm, der uns entweder von dem Bösen befreien oder in dem wir davongefegt würden. Ich zog Istvans Arme noch fester um mich und versuchte mich ganz auf seine Wärme zu konzentrieren. Aber dennoch hörte ich sie. Die Uhr. Sie tickte. Tickte. Tickte. Tick … tack … tick … tack …