18. Vertrauen in die Bruderschaft
Istvan saß auf der Fensterbank der Bibliothek, tief
in eines seiner Lieblingsbücher vertieft, und ich genoss es, ihn
einfach nur anzusehen. Beinahe freute ich mich darüber, dass sich
an diesem Nachmittag zwei Frauen in die Bücherei verirrt hatten,
sodass wir gezwungen waren, unser übliches
Besucher-und--Bibliothekar-Spiel zu spielen. Aber immer mal wieder
zwinkerte er mir über den Bücherrand zu. Zum Glück verschwanden die
beiden älteren Damen im Kroatischen Saal und konnten so meine roten
Wangen gar nicht bemerken. Mit den Lippen formte Istvan das Wort:
„Abstellraum?“
Er nickte in diese Richtung, während ich
versuchte, nach den beiden zu sehen. Eifrig schüttelte er den Kopf
und rief mir tonlos zu:
„Sie haben sich gesetzt. Ein paar Bücher wurden
auf den hinteren Tisch gestellt. Wir haben genug Zeit!“
Was er alles hören konnte!
Danach zögerte ich keine Sekunde mehr. Ich
torkelte wie betrunken hinter ihm her und zog die Tür so leise wie
möglich hinter mir zu. In derselben Sekunde kamen seine Arme um
mich geschnellt und wir küssten uns hektisch, beinahe verzweifelt
ungeschickt. Wir hatten ja seit einer Stunde gänzlich die Finger
voneinander lassen müssen. Das forderte seinen Tribut. Ich atmete
etwas zu laut. Istvan legte mir erschrocken
die Hand auf den Mund. Er hatte Angst, dass die ergrauten Damen uns
gehört haben könnten. Nach einer Minute, die er nutzte, um ihr
Gespräch zu belauschen, ließ er erleichtert den Kopf gegen meine
Schulter fallen. Wir waren also aus dem Schneider. Doch jetzt
entschied er, er nicht ich, dass es zu gewagt wäre, weiterhin mit
dem Feuer zu spielen, und schob mich sanft zurück auf meinem
Stammplatz, wo ich dabei war, unzufrieden Arbeit vorzutäuschen.
Istvan dagegen kam so blitzschnell auf seinen Platz am Fenster
zurück, dass die beiden Frauen, als sie sich bei ihm
verabschiedeten, jeden Eid vor Gericht geschworen hätten, er habe
sich seit ihrem Eintreffen hier nicht von der Stelle gerührt.
Ein eindeutiger Vorteil, wenn man eine geheime
Beziehung mit einem Werwolf führt. Wenn ich mich
nur daran gewöhnen könnte, dass er nicht vor Gott und der Welt mir
gehören darf?, dachte ich, als ich ihn erneut heimlich nur
für mich betrachtete. Aber das konnte ich eben nicht. Immer
schwerer wurde es, darauf zu warten, dass wir zusammen weggehen
konnten, um wirklich, ganz offen, zusammen zu sein. Wieder einmal
in meinem Leben wurde meine Geduld auf die Probe gestellt.
Na, vielen Dank auch!
Der Plan war denkbar einfach. Istvan sollte einen
Tag und eine ganze Nacht lang mit Jakov alleine trainieren.
Schließlich war Jakov neben Valentin der erfahrenste Krieger von
allen. Nur er konnte Istvan darauf vorbereiten, wie man sich im
Kampf mit Farkas verhalten musste, um erstens am Leben zu bleiben
und zweitens ihm nahe genug zu kommen, um ihm endgültig den Garaus
machen zu können. Doch die immer noch angespannte Haltung der
beiden zueinander machte dem Plan einen Strich durch die Rechnung.
Weder mein gutes Zureden noch Valentins vernünftige Argumente
hatten zu einer Besserung dieses speziellen Verhältnisses geführt.
Sie duldeten einander, viel mehr auch nicht. Die Halbbrüder
vertrauten sich nicht wirklich.
Serafina, ja ausgerechnet sie, bat mich einen Weg
zu finden, damit die beiden Sturköpfe endlich vernünftig würden.
Zuerst wusste ich nicht wie, doch da fiel mir ein, dass Jakov und
Istvan, trotz aller Unterschiede, eine bestimmte Sache gemeinsam
hatten, und es war nicht Farkas, den ich damit meinte. Nur war es
ihnen bisher nicht einmal bewusst, dass der dun-kle, starke Jakov
und mein Istvan hinter derselben Sache her waren, die ihnen am
meisten bedeutete: die Liebe einer Frau. Istvan musste nur noch
verstehen, dass Jakovs geheime Leidenschaft für Serafina dieselbe
wundervolle Sache war, die auch das Band zwischen uns hatte
entstehen lassen. Am Abend vor dem großen Aufbruch, als Istvan
seine Campingsachen packte, um sehr widerwillig vierundzwanzig
Stunden mit Jakovs zu verbringen, sprach ich ihn vorsichtig darauf
an.
„Sag mal, ist dir eigentlich aufgefallen, dass
sich Jakov gegenüber Serafina ähnlich verhält, wie du dich mir
gegenüber verhalten hast? Damals, meine ich, als wir beide noch
dumm und unwissend waren“, sagte ich, reichte ihm seine Jeans zum
Wechseln und lächelte ihn auf eine hinterlistige Art an, die ihm
nicht entging.
„Willst du damit andeuten, dass …“ Er wagte noch
nicht einmal auszusprechen, was er gerade im Begriff war zu
verstehen.
„Denk doch mal an den Tag zurück, als Jakov das
Treffen beim Steinbruch arrangiert hat. Erinnere dich daran, wie er
sie angesehen hat, wie er sich ihr gegenüber verhalten hat. Das
dürfte dir ja nicht schwerfallen, Mr. Perfektes Gedächtnis“, feixte
ich und kniff ihn in die Rippen.
„Er ist zurückgewichen, das weiß ich noch“, meinte
er knapp.
„Und? Wie würdest du seinen Blick beschreiben,
wenn du es in deinem Buch notieren müsstest?“, forderte ich von ihm
zu wissen. Ich wollte ihn auf die richtige Fährte bringen. Er
dachte nach. Seine Augen wanderten suchend auf seinen
Habseligkeiten umher, dann setzte er sich erschöpft auf die
Ledercouch.
„Gott! Du hast recht. Er hat sie so angesehen, wie
ich dich damals angestarrt haben muss, nachdem ich dich
wiedergefunden hatte. Jakovs Blick war … hoffnungsvoll.
Der Blick eines vernarrten Mannes, so würde
ich es in einem Buch schreiben, Joe“, stieß er fassungslos hervor,
geschockt von seinen eigenen Worten und der untrüglichen Botschaft
darin.
„Wieso?“, fragte er. „Wieso fängst du ausgerechnet
jetzt davon an?“
„Weil ich der Meinung bin, euer Treffen ist eine
gute Gelegenheit nicht nur dafür, sich die Köpfe einzuschlagen,
sondern auch dafür, mal brüderlich zu
handeln. Hilf ihm, bitte! Der arme Junge hat doch keine Ahnung, wie
er den ersten Schritt tun soll“, seufzte ich vor mich hin. Jakov
tat mir irgendwie leid. So nahe an dem, was er sich wünschte und
doch konnte er es nicht erreichen.
Istvan wand sich.
„Joe, ich möchte mich da nicht einmischen. Das
geht nur die beiden etwas an. Und außerdem habe ich keine Ahnung,
ob Serafina überhaupt interessiert ist.
Immerhin hat sie nie …“
„Ich bitte dich!“, unterbrach ich. Es troff vor
ungläubigem Sarkasmus.
„Bist du, ausgerechnet du, blind? Ich gebe ja zu,
unsere tapfere Freundin versucht wirklich ihr Bestes, um ihn
nicht anzusehen. Aber wenn du mal genau
aufgepasst hättest, hättest du bemerkt, dass sie nicht nur jedes
Mal rot wird, wenn er sie anstarrt, sondern dass Serafina, sonst
das Selbstbewusstsein in Person, ganz unsicher wird, wenn sie ihn
dabei ertappt, wie er sie anschmachtet. Ich denke da zum Beispiel
an neulich beim Training. Du warst mit Valentin dabei, ein paar
Kampfgriffe auszuprobieren, da hat sich Jakov ganz nahe zu
Sera-fina gesetzt. Aber anstatt einfach sitzen zu bleiben, zappelte
sie die ganze Zeit herum, bis sie sich dann, ohne ersichtlichen
Grund, zu mir gesellt hat. Also: Seine Nähe macht -Serafina nervös,
egal, wie sehr sie es auch zu verbergen sucht“, fasste ich für
Istvan zusammen, der während meiner langen Erklärung immer bleicher
geworden war. Er begann es langsam wirklich zu kapieren.
„Was bin ich doch für ein halb blinder Trottel!“,
schimpfte er sich.
„Du hattest anderes im Kopf“, half ich ihm aus der
Patsche.
„Was machen wir denn jetzt? Ich meine, das ist
doch eine Katastrophe. Valentin wäre es vielleicht recht, aber Woltan wird niemals damit
klarkommen. Er kann ihn einfach nicht ausstehen … Wer weiß,
vielleicht wird ja nichts daraus“, murmelte er erleichtert.
Sein Unwille machte mich wütend. Wieso wollte er
Jakov und Serafina in ihrer stillen Verzweiflung nicht helfen so
wie ich?
Seine Einstellung brachte mich immer mehr
auf.
„Verdammt noch mal, Istvan! Wie kannst du nur so
was sagen. Dein Bruder ist unglücklich verliebt in deine älteste
Freundin und du bist nicht bereit, ihnen auch nur ein bisschen zu
helfen … Oder gönnst du deinem Bruder nicht, was du längst hast?“,
fragte ich beinahe empört.
„Und das wäre?“, verlangte er gereizt von mir zu
wissen.
„Eine Frau, die dich liebt“, sagte ich streng und
blickte fest in seine grünen Augen. Die Erkenntnis ließ ihn
zusammenzucken. Das saß!
„Wenn man es so betrachtet“, brummte er.
„Ja, nicht! Wenn man es so
betrachtet …“, wiederholte ich in sein Ohr säuselnd, „… dann musst
du mir recht geben, oder? Du solltest Jakov dabei helfen,
sein Wolfsmädchen zu bekommen, schließlich
hast du deines doch fest an der Angel“,
flüsterte ich und schlug meine Arme um seinen Hals.
„Siehst du, wie ich an deinem Haken zapple?“,
fragte ich ihn mit hochgezogener Braue, meine Lippen nahe an seine
bringend.
„Ja, ich bin im Bilde“, hauchte er und schenkte
mir sein schiefes Lächeln, das stark auf mich wirkte, ehe er
versuchte, mich zu küssen. Doch kurz bevor er meine Lippen
erreichen konnte, zog ich mich ruckartig zurück und stellte mich
vor ihn.
„Dann sei ein guter Junge und rede mit deinem
Bruder! Und danach können wir auch wieder mehr Zeit für
unsere Zweisamkeit
nutzen“, sagte ich breit grinsend. Es war verdammt schwer, Istvan
nicht wieder um den Hals zu fallen, vor allem weil er mich jetzt so
unwiderstehlich ansah. Und dann versuchte er auch noch erneut, mich
an sich zu ziehen. Ich wich einen kleinen Schritt zurück, den Kopf
spielerisch schüttelnd. Er schnaubte unzufrieden, lächelte aber
weiterhin über meine spezielle Überzeugungstaktik, die ja einer
guten Sache diente.
„Na schön. Du hast gewonnen. Ich rede mit ihm.
Vielleicht kann ich ja wirklich … helfen.
Wer weiß?“
„Oh Mann!“, stöhnte er, „wenn du willst, kannst du
ganz schön überzeugend sein. Richtig unfair!“
Dann entdeckte ich auch noch Istvans schöne Hände
auf seinem Schoß, anstatt dass sie meine Hüften umfassten.
Oh, Jakov!, fluchte ich.
Jetzt schuldest du mir echt was!
Am nächsten Tag fand ich mich mitten im Wald
wieder. Es war Vormittag und ich hatte mich bereit erklärt, Istvan
und Jakov Essen vorbeizubringen, doch ich konnte ihr Lager einfach
nicht finden. Diesen Teil des Waldes kannte ich überhaupt nicht und
Valentins Anhaltspunkte waren für Nicht-Werwölfe wie mich nicht
gerade hilfreich. Es nützte nichts. Nach einer halben Stunde gab
ich es auf, nach der Stelle zu suchen, und rief leise abwechselnd
nach Istvan und Jakov. Nahe genug musste ich ja sein, dass sie mich
hören konnten, also blieb mir nichts anders übrig. Wie Rotkäppchen
stand ich mit dem Korb voller Essen im Wald und wartete darauf,
dass der gute oder der ex-böse Wolf mich finden würde. Konnte mein Leben noch merkwürdiger werden? Ach ja, ich war ja
eigentlich hier, um mich in das Liebesleben von zwei Werwölfen
einzumischen. Also ja, es konnte definitiv noch merkwürdiger
werden!
„Joe“, rief eine tiefe Stimme hinter mir. Es war
nicht die Stimme, die ich gehofft hatte. Jakov stand auf einer
Anhöhe ein paar Hundert Meter vor mir und winkte mich zu sich. Ich
torkelte mit meiner Verpflegung über den knackenden Waldboden und
mehrere Unebenheiten, bis ich es endlich über die Anhöhe geschafft
hatte.
Vor mir lag das Lager der Halbbrüder. Zwei Zelte,
eine Feuer-stelle und mehrere Kanister Wasser boten ein karges
Bild, das wenig einladen wirkte. Wenigstens hatte
keiner den anderen über die Landesgrenze vertrieben, stellte
ich befriedigt fest, als ich zu Istvan schlenderte, der am
Lagerfeuer saß und dabei war, Tee zu kochen. Nachdem Jakov mich zu
ihm gebracht hatte, zog er sich nicht gerade unauffällig mit
„Kleines Schläfchen vor dem Essen“ in sein Zelt zurück. Istvan nahm
mir den schweren Korb ab, stellte ihn neben sich und packte
besitzergreifend meinen Unterarm, um mich zu sich
herabzuziehen.
„Das war vielleicht eine lange Nacht“, stöhnte er
angegriffen, „und du hast mir verdammt gefehlt. Soll ich’s dir
beweisen?“, fragte er grinsend. Ohne meine Antwort abzuwarten,
begann er meine Wange zu streicheln und ausgiebig meinen Hals zu
küssen. Es war umwerfend, aber ich konnte mich nicht so recht
entspannen, mit Jakov zwei Meter vor mir und seinem absoluten
Gehör, dass nur durch eine dünne Lage Zeltstoff davon abgehalten
wurde, alles, aber auch wirklich alles zu hören. Und Istvan war der
Einzige, von dem ich wollte, dass er den Klang meines erregt
pochenden Herzens kannte. Deshalb bat ich ihn mit einem Nicken in
Jakovs Richtung, völlig ohne Worte, von mir abzulassen. Ohne dass
Istvan mich gänzlich freigab, saßen wir beieinander und aßen meine
mitgebrachten Sachen am Lagerfeuer. Als wir damit fertig waren,
stand Istvan auf, hielt mir seine Hand hin, zog mich hoch und
sprach in Jakovs Richtung, als würde dieser vor ihm stehen:
„Du kannst jetzt rauskommen und deinen Anteil
essen, wenn du willst!“ Beinahe im selben Moment hörte ich das
Ratschen des Reißverschlusses und ein leicht verschlafener Jakov
kam ans Feuer, um seinen Hunger zu stillen. Anders als Istvan
nutzte er das Feuer, um die Würstchen erst richtig lange zu braten,
bevor er sie allesamt in sich hineinstopfte. Er ließ fast nichts
mehr für Istvan über. Teilen hatte er bestimmt nie gelernt.
Eigentlich hätte mich das nicht so überraschen sollen, bei allem,
was uns Jakov über sein früheres Leben erzählt -hatte. Istvan
beobachtete ihn mit einem gewissen Unverständnis. Aber hatte früher
in seinem Blick eine Art Abneigung gelegen, so zeigte sich nun eine
gutmütige Anteilnahme, auf die ich die ganze Zeit schon gewartet
hatte. Istvan begann, seinen Halbbruder Jakov endlich als Menschen
wahrzunehmen, und versuchte, ihn aufrichtig zu verstehen. Diese
Erkenntnis rührte mich. Vielleicht war es ihnen in der letzten
Nacht doch gelungen, miteinander zu reden. Plötzlich packte mich
eine kaum bezähmbare Neugier, die ich in Jakovs Gegenwart aber
nicht stillen konnte, deshalb sagte ich zu Istvan:
„Hättest du Lust einen kleinen Spaziergang zu
machen?“ Er nickte, wischte sich die Hände an seiner Jeans ab und
nahm mich bei der Hand. Für uns handelte es sich dabei weniger um
eine romantische Geste, sondern um eine Notwendigkeit, die wenigen
Gelegenheiten auszunutzen, am helllichten Tag Hand-in-Hand zu
gehen, was in unserem Fall so gut wie nie möglich war. Bevor wir
das Lager verließen, wandte ich mich noch einmal zu Jakov um und
gab ihm einen Hinweis, der ihn strahlen ließ.
„Es gibt auch noch Kuchen. Jede Menge davon. Ganz
unten.“
„Oh, toll! Danke dir“, meinte er amüsiert mit
einem Zwinkern.
„Falsche Adresse, mein Lieber …, dank Serafina!
Sie hat ihn für dich gebacken. Honigkuchen. Dein Lieblingskuchen,
nicht wahr?“, sagte ich breit grinsend und machte mich an Istvans
Seite aus dem Staub, ohne seine Antwort abzuwarten. Jakovs dunkle
Augen hatten merklich aufgeleuchtet. Das war Antwort genug gewesen.
Auf einer nahen Lichtung machten wir es uns,
einander zugewandt, auf einem umgefallenen Baumstamm bequem.
Während unseres ganzen Gesprächs konnte ich nicht anders, als an
der grob gezackten Rinde des Stammes herumzufummeln.
„Und?“, platzte es aus mir heraus. Er wusste
sofort, worauf ich hinaus wollte.
„Wir haben geredet. Als ich damit angefangen habe,
hat er zuerst versucht, mir den Arsch aufzureißen, damit er
nicht mit mir über sie reden muss. Typisch
Jakov eben!“, grummelte er kopfschüttelnd.
„Ja, ein klassischer Jakov. Aber hat er es dann
zugegeben oder hat er sich rausreden wollen?“, fragte ich
neugierig.
„Nein, nein. Er hat es schon zugegeben. Na ja, um
ganz ehrlich zu sein, hab ich ihm dabei nicht wirklich eine Wahl
gelassen. Ich habe ihm unmissverständlich klar gemacht, dass ich zu
Serafina gehen werde, um ihr Bescheid zu stoßen, wenn er jetzt
nicht mit der Wahrheit herausrückt … Für diesen Bluff habe ich eine
Faust in den Magen kassiert“, schmunzelte er und hielt sich den
Bauch.
„Von Prügeln war nie die Rede“, zischte ich, „ihr
solltet nur miteinander reden. Von Mann zu Mann. Von Bruder zu …“
Ich stöhnte auf. „Was auch immer!“, murmelte ich. Ein großes Stück
Rinde löste sich von Baum ab. Meine ungeduldigen Finger waren
schuld.
„Hey, kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Nach
dem schlimmsten Gerangel haben wir dann losgelegt. Mit dem Reden.
Ich hätte die Prügel allerdings vorgezogen“, meinte er
ironisch.
„So schlimm?“, lachte ich hart.
„Schlimmer! Dieser Kerl hat nicht die geringste
Ahnung davon, wie man sich Frauen gegenüber verhält. Das kann ich
dir sagen. Und ja, ich bin mir durchaus bewusst,
dass dieser Spruch von mir kommt. Wie auch immer. Er denkt
doch tatsächlich, dass er erst anfangen kann, um Serafina als
Gefährtin zu werben, wenn er als Alpha ein
eigenes Rudel aufgebaut hat. Man sollte doch denken, dass er diesen
ganzen Farkas-Rudel-Schwachsinn hinter sich gelassen hat, und dann
das!“, stieß er fast schon wütend hervor. Als er seine Fassung
wiedergefunden hatte, wagte ich es, ihn weiter auszufragen.
„Ja, und was hast du ihm dann geraten. Ich meine,
wie hast du ihm klargemacht, dass diese antiquierten, verqueren
Regeln gar nicht mehr gelten?“
„Ich habe ihm gesagt, dass ich mir selbst eine
menschliche Gefährtin genommen habe, ohne ein Rudel, Alpha hin oder
her. Und dass selbst Woltan eine Verlobte hat. Wir könnten selbst
entscheiden, mit wem wir zusammen sein wollen, unabhängig von
unserer Stellung im Rudel oder anderen äußeren Umständen.
Schließlich sei er ja deswegen bei uns, um endlich frei zu sein,
also solle er sich zusammennehmen und Serafina klar machen, dass er
an ihr interessiert ist.“
„Hat er es verstanden?“, fragte ich zweifelnd und
erinnerte mich unwillentlich daran, dass Istvan sich mir gegenüber
anfangs nicht auf diese Weise verhalten hatte. Er hatte mir
Freundschaft vorgeschlagen, mich über unsere gemeinsame
Vergangenheit belogen und mir eine gefühlte Ewigkeit lang nicht zu
nahe kommen wollen.
„Ich denke, ja. Aber ob er meinen Rat angenommen
hat, wird sich noch zeigen“, sagte Istvan und senkte seinen Blick.
Jetzt kratzte auch er an der Rinde herum.
„Wie lautete dein Rat?“, frage ich etwas
zögerlich.
„Im Grunde habe ich ihm geraten, genau das
Gegenteil zu tun, was ich bei dir gemacht habe, als mir klar
geworden ist, dass du es für mich bist … Ich habe ihm geraten, zu
ihr zu gehen und Serafina ganz offen zu sagen, was er für sie
empfindet, auch wenn es ihm schwerfällt.“
Seine Stimme wurde dabei ganz merkwürdig sanft.
Der leicht raue Unterton kam stärker durch und es war, als würde er
mich alleine damit schon berühren. Wie schaffte er das nur
immer?
„Ich kann nicht glauben, dass du ihm das gesagt hast“, hauchte ich fassungslos.
„Ich auch nicht. Aber hey, du wolltest unbedingt,
dass ich mich als großer Bruder aufspiele. Ich denke nicht, dass
wir so eine heikle Sache alleine in Jakovs Händen lassen sollten.
Die Entscheidung liegt bei Serafina. Falls er tatsächlich den Mumm
hat, es ihr zu gestehen. Sie wird schon wissen, was das Beste ist.
Aber wenn sie ihn nicht abweist, dann wird sich einiges verändern“, sinnierte er vor sich hin, bevor er
breit lachend hinzufügte: „Ich hätte nie gedacht, dass ich je so
ein Gespräch führen müsste. Wirklich nicht!“ Ich lachte jetzt mit
ihm.
„Arme, ahnungslose Serafina! Wir hetzen ihr den
liebeskranken Jakov auf den Hals und sie hat noch keine Ahnung, was
auf sie zukommt“, prustet ich weiter los. Ich fiel fast vom Stamm,
hätte Istvan mich nicht am Oberarm gestützt.
„Stell dir Woltans Gesicht vor, wenn sie ihm eine
Chance gibt?“, stieß er atemlos hervor. Wir konnten beide kaum noch
atmen vor lauter Lachkrämpfen. Als Istvan und ich wieder zu Jakov
ins Lager kamen, war es fast unmöglich bei seinem Anblick nicht zu
grinsen.
„Alles in Ordnung mit euch?“, fragte er mit
krauser Stirn.
„Ja, alles in Ordnung … Loverboy“, stieß ich
unabsichtlich hervor. Ich konnte mir nicht helfen. Es musste
einfach raus. Jakov stand blitzartig auf, das markant schöne
Gesicht blickte böse und er schnaubte: „Du hast es ihr gesagt!“ Er
klagte Istvan ganz offen dafür an.
„Hey, es war ihre Idee.
Wenn du also jemanden fertigmachen willst, dann bin ich der
Falsche. Doch wenn du auch nur im Traum daran denken solltest, ihr
zu danken, dann musst du an mir vorbei“,
sagte er ernst, aber ernst im Scherz.
„O. K. Hab schon verstanden. Sie ist meine gute
Fee und du die Leibwache dazu“, sagte er schmunzelnd, die Hände in
einer ergebenen Geste von sich gestreckt.
„Genau“, bestätigte Istvan, „ich muss dich warnen,
sie wird erst Ruhe geben, wenn du und Serafina aneinander kleben
werdet wie Fliegen an Honig.“ Mit einer vollkommen natürlich
wirkenden Geste hatte Istvan Jakov dabei brüderlich auf die
Schulter geklopft, während seine glücklich ausgelassenen Augen mich
ansahen.
Als ich sie auf diese Weise sah, kamen sie mir zum
ersten Mal wie Brüder vor. Sie erinnerten mich an Viktor und mich,
wenn wir uns wieder einmal aufzogen. Auch Jakov lächelte gelöst.
„Nichts dagegen!“, sagte er und blickte Istvan und mich sichtlich
dankbar an. So etwas kannte er bisher
nicht, verstand ich: Unterstützung und
aufrichtige Freundschaft ohne Hintergedanken.
Zum ersten Mal, seit ich von Jakov und Istvan
zusammen geträumt hatte, kam mir die Traumbotschaft real vor. Ja, wir standen nicht in einem windigen Wald,
Istvan war kein Husar, Jakov kein archaischer Krieger und Serafina
stand nicht als Prinzessin in der Gegend herum und dennoch kam mir
die Szene seltsam bekannt vor. Die zwei Halbbrüder mitten im Wald,
die sich anerkennend mit der Hand auf die Schulter klopften und
begannen, einander zu vertrauen und füreinander einzustehen. Ich
fühlte mich plötzlich, trotz aller -Kampfvorbereitungen und
schlechter Aussichten dank eines Gegners wie Farkas, richtig
zuversichtlich. Mit einem solchen Paar zu unserer Verteidigung
hatten wir mehr als nur eine gute Chance, mit dem Leben
davonzukommen.
Bald darauf luden uns die Valentins zu einer
Filmnacht ein. Zuerst war ich ziemlich überrascht, dass eine
Werwolffamilie tatsächlich so etwas abgrundtief Normales tat, doch
dann dachte ich mir, dass es mehr mit meinen Vorurteilen gegenüber
ihren übernatürlichen Besonderheiten zu tun hatte als mit sonst
etwas, deshalb sagte ich begeistert zu. Ich war sogar verdammt
neugierig, was für Filme wir ansehen würden. Als ich dann mit
Istvan auf dem Sofa saß und Woltan den ersten Film einlegte, hätte
ich fast laut losgelacht. Das durfte doch nicht wahr sein! Sahen
sich diese Familie aus lauter Werwölfen doch wirklich und
wahrhaftig einen Gruselfilm nach dem anderen an, unter anderem
einen Film mit dem Titel „Der Wolfsmensch“. Sollte das eine Art
Insiderhumor sein, den ich nicht verstand? Ich versuchte mir meine
Verwunderung nicht anmerken zu lassen, doch als alle gemeinsam,
abgesehen von Jakov, sich völlig amüsiert über den alten
Werwolf-Streifen lustig machten, konnte auch ich mir das Lachen
nicht verkneifen. Für Menschen, die perfekte Hollywoodfilme des 21.
Jahrhunderts gewohnt waren, wirkten die Spezialeffekte mehr als
lächerlich und die Masken des Wolfsmannes waren derart skurril,
dass man meinte, man würde auf einem Kindergeburtstag den Aufpasser
geben. Und dennoch war der Film nicht wirklich schlecht. Das fanden
auch die Valentins, auch wenn sie nicht aufhören konnten, am
laufenden Band Witze zu reißen.
Spätestens seit Marius angefangen hatte, sämtliche
Dialoge mit verstellter Stimme nachzuäffen, inklusive der
weib-lichen, brüllten wir alle vor Lachen. Ich konnte kaum noch der
Handlung folgen, aber sie war eher dramatisch, so weit ich sie
mitbekam. Fast den ganzen Film lang ging das so weiter. Doch
plötzlich verstummte sämtliches Gelächter, als der Held getötet
wurde. Er starb, weil er zu dem geworden war, was alle Anwesenden
außer mir als ihre Existenz bezeichnen konnten. Man hätte eine
Stecknadel fallen hören können, als in der letzten Szene eine
unheimliche Zigeunerin auftrat und ein paar bedeutungsvolle Worte
von Schicksal, dornigem Weg und Erlösung erzählte. Mir lief eine
Gänsehaut das Rückgrat entlang. Wie musste es erst für Istvan und
die anderen sein?
Während ich noch mit dem negativen
Stimmungsumschwung kämpfte, waren bereits alle anderen, außer
Istvan und mir, zum Essen in die Küche verschwunden.
„O. K., ich gebe zu, die letzte Filmwahl war
angesichts unsere Lage etwas gewagt“, sagte er nach einer kleinen
unangenehmen Pause.
„Ach, meinst du wirklich“, blaffte ich sarkastisch
zurück.
„Es ist wohl keine gute Idee, wenn ich dir
erzähle, dass ich den Film seit seiner Uraufführung in den USA
kenne“, meinte Istvan lapidar.
„Ach, meinst du“, wiederholte ich noch bissiger.
Doch jetzt mussten wir beide grinsen, weil er meinen bösen
Gesichtsausdruck nachmachte.
„Lass das! So sehe ich gar nicht aus, wenn ich
sauer bin“, beschwerte ich mich und verschränkte die Arme fest vor
der Brust.
„Doch tust du! … Aber irgendwie bist du
unglaublich süß, wenn du aussiehst, als möchtest du mir am liebsten
die Haut abziehen“, schmunzelte er und gab mir einen flüchtigen
Kuss auf die Wange, während er meine verkrampften Arme von der
Brust löste, um sie sich um den Hals zu legen.
„Wenn du denkst, dass du mich so rumkriegst, dann
…“, warnte ich ihn.
„… Dann was?“, fragte er. Doch ich hatte schon
vergessen, worum es mir eigentlich ging, als er mit seinen Lippen
über meine Wange strich.
„Na, dann … dann … ach, nichts!“, nuschelte ich
völlig aus dem Konzept gebracht und drängte mich an ihn. Erst als
ich begann, ihn immer wieder und wieder zu küssen, hörte ich die
unterdrückten Lacher aus der Küche. Ich schreckte von der Couch
hoch und zog Istvan mit mir zum Balkon. Der einzig mögliche Ort für
Privatsphäre.
„Neulich die Abstellkammer in der Bibliothek und
hier der Balkon. Man könnte denken, wir hätten keine
Selbstbeherrschung“, murmelte er in meinen Nacken, während er mich
umfasst hielt.
„Ich finde, Selbstbeherrschung wird ohnehin
überschätzt“, stellte ich klar. Doch dann tauchte, obwohl er doch
wissen musste, dass wir jetzt hier alleine sein wollten, Valentin
auf. Istvan ließ mich nicht los, rückte aber weit genug von mir ab,
damit es Valentin in unserer Gegenwart aushalten konnte.
„Es tut mir wirklich leid, aber Serafina hat mich
gebeten, dich zu fragen, ob du kurz zu ihr hochkommen könntest“,
rechtfertigte er seine Störung und meinte mich damit.
„Oh, natürlich“, sagte ich und begann Istvan
loszulassen. -Etwas, an das ich mich nie gewöhnen
werde, dachte ich dabei.
„Ich werde solange Istvan Gesellschaft leisten.
Lasst euch Zeit“, sagte er noch, als ich schon fast aus der Tür
war. Ich nickte noch schnell, dann lief ich die Treppen hoch.
Serafinas Zimmer war das letzte am Ende des langen
Ganges. Die Tür war geschlossen. Ich klopfte und lugte vorsichtig
durch den Spalt.
„Kann ich reinkommen?“
„Ja, klar. Entschuldige, dass ich euch stören
musste, aber ich brauche unbedingt jemanden zum Reden. Und du bist
die Einzige, mit der ich darüber sprechen kann“, sagte sie
niedergeschlagen. Von ihrer ausgelassenen Stimmung während der
Filmvorführungen war nichts mehr übrig. Ich ging so schnell ich
konnte zu ihr und zog die Tür fest hinter mir zu. Weil ich ahnte,
worum es ging, stellte ich, ohne zu fragen, ihr Radio an, laut
genug, dass es unsere Stimme beinahe überdeckte. Einer dieser
bedrückenden Schmusesongs lief gerade. Wie
passend!
„Kann es sein, dass es um Jakov geht?“, sagte ich
ganz offen, während ich mir den Stuhl ihres Schreibtisches
heranzog. Serafina saß mir gegenüber auf ihrem schmalen Bett. In
ihrem Zimmer war kaum noch zu erkennen, dass man sich in einer
Jagdvilla befand. Sie hatte es mit vielen modernen Kunstdrucken
geschmückt und ihre Möbel waren schlicht, aber dennoch praktisch
und modern. Schwedisch.
Sie schlug sofort die Augen nieder, als sie den
Sinn meiner Frage ausmachte.
„Ja“, sagte Serafina kaum verständlich.
„Er hat also doch den Mut gefunden“, nuschelte
ich.
„Was?“
„Ach, nichts“, meinte ich knapp. „Worum geht es
denn genau?“, fragte ich, so als hätte ich keine Ahnung. Das Lügen
war mittlerweile fast schon zu einfach. Unheimlich!
„Jakov, er … er will … er hat gefragt, ob … Jakov
ist …“ Sie setzte ständig an, konnte aber keinen Satz vernünftig zu
Ende bringen, also half ich ihr etwas weiter: „… ist schrecklich
verliebt in dich!“
Serafina riss ihre wunderschönen Augen weit auf
und fixierte mich verblüfft.
„Woher weißt du …?“
„Ich bitte dich, wie sollte ich nicht wissen, dass
er sich nach dir verzehrt“, unterbrach ich sie und klang schon
etwas selbstgerecht. Sorry, Serafina,
dachte ich, aber ich lebe damit schon länger als
du.
Sie konnte sich gar nicht mehr in den Griff
bekommen und starrte mich fest an. Serafina wollte eine Erklärung,
also gab ich sie ihr.
„Serafina, eigentlich habe ich es schon gewusst,
seit er mir damals bei mir aufgelauert hat und die Sprache auf den
weiblichen Valentin-Werwolf kam. Endgültig sicher war ich mir dann, als er es zugegeben hat … mehr
als nur einmal“, betonte ich, während ich mich mit verschränkten
Händen zu ihr nach vorne lehnte.
„Joe! Wieso hast du mir denn kein Sterbenswort
gesagt?“, verlangte sie von mir zu wissen. Ja, wieso eigentlich?
Ich überlegte.
„Sieh mal, ich finde, das stand mir einfach nicht
zu. Es musste von ihm kommen … Aber jetzt mal ganz ehrlich, warst
du wirklich so überrascht darüber?“, fragte ich sie und machte
keinen Hehl aus meinen Zweifeln. Sie sah ertappt auf ihre
Bettdecke. Das sagte schon fast alles.
„Na siehst du“, fügte ich hinzu. „Aber viel
wichtiger ist doch, wie du zu ihm stehst!“
„Ich weiß es nicht“, sagte sie wie aus der Pistole
geschossen. Es kam so schnell, dass ich mir sicher war, dass es
ernst gemeint war.
„Manchmal, wenn er in meiner Nähe ist, wenn er
zu nahe ist, dann … es macht mich nervös.
Ich werde dann rot, ohne dass ich es will. Und als er gesagt hat,
dass er … dass, er in mich verliebt sei, da
hat etwas in meiner Brust gezuckt“, gab sie widerwillig zu. Ihre
Augen huschten unsicher hin und her und sie sprach in einer
gehetzten und unsicheren Weise, die ganz neu an ihr war. Wenn es um
Jakov ging, fehlte es Serafina völlig an ihrer berühmten
Selbstsicherheit. Auch das sprach Bände.
„Für gewöhnlich heißt das, du empfindest auch
etwas für ihn. Aber was, das musst du wissen“, versuchte ich ihr zu
erklären.
„Ja, er ist sehr stark und ich finde ihn auch
…“
„… attraktiv“, beendete ich für sie. Wir beide
mussten verstört lächeln, weil es so offensichtlich war. Jakov
musste man attraktiv finden. Etwas in Serafina löste sich und sie
sprach jetzt offener über sich. Ich ließ sie einfach reden, weil
ich dachte, es wäre so am besten.
„Und wenn er mich ansieht, dann werde ich manchmal
ganz warm. Er hat so einen warmen Blick. Das hat mich völlig
umgehauen. Ich meine, wenn man bedenkt, wie er aufgewachsen ist und
was er schon alles hinter sich hat, scheint es einem unmöglich,
doch … ich glaube, dass er wirklich ein guter Mensch ist.“
„Und ein guter Mann für
dich?“, fragte ich weiter.
„Vielleicht“, gab sie mit einem unsicheren Lächeln
zurück und wurde ganz rot. Oh ja, sie war eindeutig auch verliebt.
Zweifel ade!
„Also, was hast du ihm geantwortet, als er bei dir
war?“, wollte ich jetzt neugierig wissen und setzte mich zu ihr
aufs Bett.
„Ich habe Jakov gesagt, dass ich nicht wüsste, ob
ich für ihn dasselbe empfinde. Dass es zu schwierig ist, wegen
meiner Familie, vor allem wegen Woltan. Er schien enttäuscht. Aber
als er gehen wollte, hab ich ihn zurückgehalten und um etwas Zeit
gebeten.“
Serafina schien sich jetzt, wo sie sich ihrer
Gefühle bewusster war, über sich selbst und über ihr Verhalten
Jakov gegenüber zu ärgern. Ängstlich packte sie mich bei der Hand
und fragte:
„Ich habe es doch nicht vermasselt, oder? Er wird
es sich doch nicht anders überlegen, weil ich noch Zeit brauche?“
Sie war ganz aufgeregt, deshalb versuchte ich, so besänftigend wie
möglich auf sie einzureden.
„Keine Sorge. Den Jungen hast du fest in deinen
Bann geschlagen. So leicht gibt Jakov dich nicht auf. Darauf gehe
ich jede Wette ein. Nimm dir die Zeit, die du brauchst … und in der
Zwischenzeit versuch, ihm etwas näher zu kommen! Nach meiner
Erfahrung mit Istvan genügt schon die Nähe des anderen, um Licht in
das Dunkel des Gefühlschaos zu bringen.“ Ich zwinkerte ihr
geschwisterlich zu, damit sie auch verstand, dass ich auf ihrer und
auf Jakovs Seite war.
„Danke. Fürs Zuhören, meine ich. Und auch dafür,
dass du ihn dazu gebracht hast, zu mir zu kommen. Auch wenn das
alles noch komplizierter macht, bin ich froh darüber“, sagte sie
kopfschüttelnd, als würde sie sich selber nicht verstehen. Dann
ließ sie meine Hand wieder los.
„Ich gehe dann wieder hinunter zu Istvan. Wir
sollten sowieso aufbrechen. Es ist schon spät.“ „Machs gut“,
verabschiedete ich mich. „Ja, du auch“, wünschte sie mir noch. Dann
hatte ich es eilig, zu Istvan zu kommen, um ihm die gute Nachricht
zu überbringen, aber in der Küche fand ich nur Jakov, der noch eine
zweite Portion Nachtisch aß. Die anderen mussten schon ins Bett
gegangen sein.
„Na, immer noch nicht satt?“, fragte ich Jakov
neckend.
„Kaum“, meinte er knapp und sah mich nur von der
Seite an.
Er wirkte etwas schlecht gelaunt. Ich konnte mir
schon denken, warum. Ich setzte mich zu ihm und strich seine
halblangen Haare von seinem rechten Ohr, damit ich ihm etwas
zuflüstern konnte, von dem ich nicht wollte, dass es noch jemand
anderer mitbekam. Zuerst schreckte er davor zurück, dass ich ihn so
selbstverständlich berührte, aber als er hörte, was ich ihm ins Ohr
flüsterte, änderte sich seine Einstellung gehörig.
„Gib ihr Zeit. Sie ist auch verliebt, aber ich
glaube, sie hat Angst davor“, tuschelte ich so leise ich konnte.
Sein ganzer Körper spannte sich an, als er verstand, was ich ihm
damit sagen wollte. Gib nicht auf! Sie wird dich
lieben, wenn sie soweit ist!
Als ich wieder aufstand und in seine tiefdunklen
Augen sah, hätte ich fast gesagt, dass sie geschmolzen waren, so
sehr brannten sie. Dann verfinsterte sich sein Blick für eine
Sekunde, als er mich fragte:
„Wirklich?“
„Ja, wirklich!“, bestätigte ich. Erst dann
erlaubte er sich, sich darüber zu freuen. In Jakovs Fall hieß das,
eine weitere Portion Kuchen mit Eis, die er breit grinsend
vertilgte. Wie konnte man nur so essen und die Figur eines
Olympia-Athleten haben?
„Jetzt schulde ich dir aber wirklich was“, sagte
er mit vollem Mund. Er konnte einfach nicht aufhören, blöd zu
grinsen. Hatte ich auch so ausgesehen, als Istvan und ich
zusammengekommen waren?
Ich hoffe nicht!
„Sorg dafür, dass Istvan am Leben bleibt, dann
sind wir quitt“, versuchte ich so neutral wie möglich zu
sagen.
„Ich tue, was ich kann! Versprochen“, sagte er
ernst. Doch das Grinsen verschwand einfach nicht.
Jakov bei seinem Eisgelage zuzusehen, machte mich
doch ganz schön müde, also stand ich auf, um Istvan zu suchen. Ich
wollte endlich nach Hause ins Bett. Aber er war nicht im
Wohnzimmer. Auch nicht in Valentins Büro. Er konnte eigentlich nur
auf dem Balkon sein. Noch immer?, dachte
ich skeptisch, ging aber zielstrebig in diese Richtung. Doch bevor
ich die Veranda betreten konnte, hinderten mich aufgebrachte
Stimmen daran. Ich konnte mich gar nicht einkriegen. Es verschlug
mir die Sprache, wie sie miteinander redeten. Das hatte ich nicht
erwartet. Istvan stritt mit Valentin. Lautstark. Sie schrien sich
fast an, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass
man sie vielleicht hören könnte. So sehr waren sie in Rage. Ich
versuchte kein Geräusch zu machen und presste mich an den
Mauervorsprung, um alles mitzubekommen. Irgendetwas sagte mir, dass
ich jetzt niemanden wissen lassen sollte, dass ich mithören
konnte.
„Es geht hier nicht nur um dich, Istvan! Oder um
sie! Ich habe auch noch andere, um die ich mich kümmern muss. Egal,
wie gern ich sie habe, sie ist keine von uns. Und niemand, der
keiner von uns ist, darf je über das Geheimnis Bescheid wissen.
Niemand!“, schrie er Istvan ins Gesicht, als hätte er ihm das schon
zum unzähligsten Mal klarmachen wollen. Istvan tobe. Ich merkte das
an der Art, wie seine Stimme, sonst ein starker Strom aus dunklen
Wohlklängen, völlig aus der Fassung geriet. Er knurrte ja
beinahe.
„Gottverdammt! Versteh doch endlich, dass sie zwar
keine von uns ist – dem Himmel sei Dank dafür! –, aber dass sie
jedes Recht hat, es zu wissen. Noch nie hat jemand unser Geheimnis
besser gehütet, als sie es getan hat. Sie ist mehr als nur einmal
knapp mit dem Leben davongekommen, weil einer von unserer Art sie
bedroht hat. Sie hätte jedes Recht, uns ans Messer zu liefern. Aber
das würde sie niemals tun. Niemals. Und nicht nur, weil sie mich
liebt. Sondern auch, weil sie euch das niemals antun würde. Wir
können ihr vertrauen. Vollkommen.“ Plötzlich veränderte sich
Istvans Stimme. Er sprach, als hätte er Tränen in den Augen. Bemüht
ruhig und respektvoll zu klingen, hörte ich ihn sagen: „Bitte! Ich
flehe dich an! Bitte, lass es mich ihr
sagen. Sie wird es nie gegen uns verwenden. Es geht mir nur um
ihren Schutz!“
Eine lange unheimliche Stille herrschte plötzlich.
Niemand sagte etwas. Niemand bewegte sich. Dann hörte ich ein paar
sanfte Schritte.
„Istvan, mein Junge. Du weißt doch, dass ich alles
tun werde, damit ihr nichts geschieht. Das ganze Rudel sorgt dafür.
Versprochen. Aber bitte mich nicht noch einmal darum! Das ist das
einzige Geheimnis, das du nicht mit ihr teilen darfst. Ich muss
dich nicht dran erinnern, was alles geschehen kann, wenn es
nicht gewahrt wird“, sagte Valentin
eindringlich. -Seine Samtstimme war sanft, aber ungewöhnlich
unnachgiebig. Er würde es Istvan nicht erlauben, egal, wie sehr
dieser ihn auch darum bitten würde.
Ich hörte Istvan lange und tief seufzen. In meiner
Brust schnürte sich etwas zusammen.
Was zur Hölle ist dieses Geheimnis? Und wieso will
Valentin, der sogar bereit ist, mich um den Preis seines eigenen
Lebens zu beschützen, nicht, dass ich es weiß?