24. Hitzewelle
 
 
„Heiß wie die Hölle“ war für mich bisher nur irgend so ein dummer Spruch gewesen. Doch jetzt, wo diese extreme Hitzwelle über uns gekommen war, wusste ich verdammt genau, was man damit sagen will. Es bedeutet, dass es schon frühmorgens derart stickig und heiß ist, dass man nicht einmal mehr atmen kann. Es bedeutet, derart zu schwitzen, dass man am liebsten mehrmals am Tag die Klamotten wechseln möchte, die man ohnehin schon kaum auf der Haut erträgt. „Heiß wie die Hölle“ war das Motto, unter dem die letzten beiden Tage gestanden hatten, und noch war kein Ende in Sicht. Der Einzige, der von dieser Qual verschont blieb, war der Mann an meiner Seite, der Werwolf, der vollkommen ungerührt weiterhin seine Jeans trug, während ich in meinen Shorts schwitzte, was das Zeug hielt. Istvan hatte sogar sein Haus mit Ventilatoren ausgestattet, um es mir angenehmer zu machen. Das Dumme war nur, es war kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. So vergingen die Tage und ich war zu erledigt von der Hitze, um geradeaus denken zu können. Wenigstens meine Aufträge konnte ich dank dem Bleimesser wieder ohne Bewachung alleine bestreiten. Ich hatte sogar ein ziemliches Zwangsverhalten entwickelt, was die Aufbewahrung dieser Wunder-Todeswaffe betraf. Zuerst wickelte ich sie in einen hauchdünnen Seidenstoff und dann kam das ganze Paket in ein ledernes Halfter. Auf diese Weise konnte ich es verhindern, dass sich Istvan, Jakov oder einer der Valentins zufällig daran schnitt, sollten sie aus welchem Grund auch immer in meiner Tasche wühlen.
Die Augusthitze war mir auch aus einem anderen Grund verhasst. Normalerweise ist es ein tolles Gefühl, jemandem körperlich nahe zu sein, dessen Temperatur um die vierzig Grad liegt. Doch jetzt war es anstrengend, genauer gesagt atemberaubend, im wahrsten Sinn des Wortes. Sofort als Istvan das -mitbekommen hatte, reduzierte er jegliche Zärtlichkeit auf ein Minimum, obwohl ich geschworen hätte, dass er genau das nicht wollte. Immerhin waren meine ungeliebten Blutergüsse endlich so gut wie verblasst und ich wollte nicht wegen einer Wetterkapriole meinen Liebhaber verlieren, schon gar nicht, weil er noch soviel mehr war als das. Langsam, aber sicher wurde es zu einer bittersüßen Folter, das Bett mit ihm zu teilen, um zu schlafen. Ganz abgesehen davon, dass man bei dieser Affenhitze noch nicht mal nachts wirklich schlafen konnte.
Ich wünschte mir nichts mehr, als mit Istvan im Wald sein zu können, wo wir geschützt von einem schattigen Plätzchen den Tag verschwenden könnten, auf die beste Art, die mir einfiel. Doch ich musste mich noch immer von dort fernhalten, denn keiner konnte sagen, wann Farkas wieder seinen Trick benutzen würde, der es ihm erlaubte, aufzutauchen und zu verschwinden, wie er es wollte. Da waren wir also, Istvan und ich, eingeschlossen in meinem oder in seinem Haus bei der schlimmsten Hitze-welle, die ich je erlebt hatte. Früher oder später würde diese Sache ihren Tribut fordern. Soviel war mir klar.
 
„Oh, du hast Eis mitgebracht. Toll! Her damit“, forderte ich mit wild fuchtelnden Fingern. Istvan lachte mich aus und stellte den riesigen Styroporbehälter voll wunderbar eiskalter Eiscreme vor mir auf seinem Küchentisch ab. Mit einem noch breiteren Grinsen schob er mir den gesamten Vorrat herüber und reichte mir einen Suppenlöffel.
„Ich denke die Eislöffel kann ich eh vergessen“, sagte er schmunzelnd und schmiss die winzigen Plastikdinger in den Mülleimer.
„Verdammt richtig, mein Freund!“
Ich stopfte mich mit der eiskalten Köstlichkeit voll, bis mir die Stirn vor Eisfrost brannte. Erst dann ließ ich den Löffel sinken und war wieder ansprechbar.
„Danke. Ich hätte keine Minute mehr ohne durchgehalten“, lamentierte ich, als wäre Eis mein Äquivalent zu einer dringend benötigten Zigarette.
„Immer gern. Es ist schon interessant zuzusehen, wie sehr dich die hohe Temperatur beeinflusst. Vor allem dein Temperament wird dadurch unberechenbar. Ich denke …“, meinte er verschmitzt, „… das gefällt mir!“ Ich war verwirrt. Was wollte er damit andeuten?
„Wie meinst du das?“
„Nun ja. Gestern warst du ständig gereizt und trotzdem hast du mehrmals versucht, mich dazu zu kriegen, Dummheiten zu machen.“ Er spielte darauf an, dass ich gestern Nacht, kurz vor dem Schlafengehen, vorgeschlagen hatte, zusammen kühl zu baden, obwohl das Badewasser kaum Auswirkungen auf die Temperatur seiner Haut hat.
„Und obwohl du kaum atmen kannst, versuchst du ständig das hier …“, flüsterte er und kam ganz dicht an mein Gesicht.
Ich schmeckte plötzlich ganz stark den Geschmack von Erdbeereis, der noch in meinem Mund war. Dann lehnte er sich vor und hielt erst knapp vor meinen Lippen an. Ich stand kurz vor dem Hitzekollaps. Dennoch wollte ich, dass er es tat. Dass er mich küsste. Er tat es. Sehr darauf bedacht, mich dabei nicht zu berühren und mein Wärmeleiden zu verstärken. Also berührten sich nur unsere Lippen, meine träge, aber süchtig nach mehr und seine vorsichtig, zärtlich und so heiß. Meine Brust stand in Flammen, als hätte jemand versucht, ein Lagerfeuer darauf anzufachen.
Istvan löste sich abrupt von mir.
„Dein Herz schlägt fruchtbar schnell!“ Er hatte es gehört. Natürlich.
„Deins auch“, sagte ich eine Hand auf seine Brust legend, um ihn daran zu erinnern, dass wir beide im selben Boot saßen, auch wenn nur einer von uns den qualvollen Hitzetod vor sich hatte.
„Das weißt du doch“, sagte er mit einem verlegenen Grinsen. Ganz sicher war ich mir nicht, aber ich glaubte gesehen zu haben, dass sein Blick gerade meine feuchten Schenkel streifte.
Deshalb ließ ich meine schwitzende Hand entspannt auf seiner Brust und wünschte mir verzweifelt, dass mein Körper in der Lage wäre zu lügen, vorzugeben, dass mir nicht vor Hitze elend zumute war und Istvan es nicht noch schlimmer machte, damit er sich in meinem Herzschlag verlieren würde und wir beide uns einen Moment lang davontragen lassen könnten. Es gelang mir nicht, den Gedanken abschütteln. Also schmiegte ich mich an ihn und kletterte auf seinen Schoß.
Ignorier den Schwindel! Zur Hölle mit der Hitze!, sagte ich mir selbst, als ich seinen Kopf umfasste und ihn so heftig küsste, dass er mich unmöglich falsch verstehen konnte. Trotzdem spürte ich sein schmerzhaftes Zögern. Seine Hände waren dabei, mein ärmelloses Top wegzuziehen. Wenn ich jetzt nicht schnell etwas richtig Gutes in die Waagschale warf, würde ich gleich ein „Bitte Joe, es ist viel zu heiß dazu. Viel zu heiß für dich jedenfalls“, hören. Ich richtete mich so hoch auf, wie ich konnte, bis sich mein Brustkorb direkt vor seinem Gesicht befand. Dann drückte ich sein Ohr gegen die Stelle meines Herzen und murmelte benommen:
„Wie klingt es? Beschreib es mir?“
Deutlich konnte ich hören, wie er scharf die Luft einsog.
Hey! Ich habe niemals behauptet, dass ich fair spielen würde!
Istvans warmes Ohr drückte sich fest und flehentlich gegen mich. Der Druck seiner Hände in meinem Rücken verstärkte sich mit jedem Pulsschlag mehr und mehr. Ich schloss die Augen, genoss jede einzelne Sekunde davon und versuchte zu ignorieren, dass sich dicke Schweißperlen von meiner Stirn lösten.
„Es …“, sagte er mit erstickter Stimme. „es klingt wie Meerrauschen in einer Muschel. Das Pochen und Rauschen deines Blutes in deinem Herzen. Und dazu deine tiefen Atemgeräusche, die jetzt immer zittriger und lauter werden. Es hört sich an … es klingt wie … du! So lebendig!“
Ich spürte, wie Istvan ganz leicht sein Gesicht an mir rieb und jeder Gedanke, der mir gerade noch durch den Sinn ging, war wie ausgelöscht. Und als ich merkte, wie er versuchte, verzweifelt meine Lippen zu erreichen, wusste ich, dass es keinen Kampf mehr geben würde. Die Sache war entschieden, zu meinen Gunsten und zu unser beider Zufriedenheit.
Doch einem Werwolf bei einer Hitzewelle zu nahe zu kommen, hat seinen Preis …
 
„Mir ist so heiß“, klagte ich zum hundertsten Mal und versuchte mich auf Istvans Gesicht zu konzentrieren, dass immer wieder drohte unscharf zu werden. Wann hörte dieses verdammte Zimmer endlich auf, sich zu drehen?
„Ich weiß. Es tut mir so leid“, sagte er wiederum zum hundertsten Mal und legte mir den nassen Waschlappen auf die Stirn, der sofort wieder warm und damit nutzlos geworden war, als er ihn schon vor fünf Minuten dort platziert hatte.
Das waren die Fakten: Ich war vor zwei Stunden mitten in der Nacht wach geworden, weil ich derart schwitzte und zitterte, dass ich mich damit selbst aus dem Schlaf gerissen hatte. Istvan, der draußen auf dem Sofa schlief, um mir eine kleine Pause von seinem Feuerkörper zu gönnen, kam sofort zu mir, als er merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Bei meinem Anblick holte er kurz Luft, verschwand für zwei Minuten und kam dann mit einem Fiebermesser wieder, den ich mit zusammengekniffenen Augenbrauen bedachte.
„Ich vermute, dass du Fieber hast. Du schwitzt und trotzdem zitterst du, als wäre dir kalt. Außerdem sind deine Augen ganz glasig. Von deinen tiefroten Wangen fange ich erst gar nicht an“, sagt er ganz betroffen, als er mich drängte, das Thermometer in den Mund zu nehmen. Sein Bein zuckte heftig auf und ab, als er auf dem Bett sitzend darauf wartete, dass der Piepton ihm endlich Gewissheit verschaffen würde. Als es piepste, zog er mir das Plastikstäbchen aus dem Mund und seine Augen wurden ganz groß, als er die Zahl darauf ablas. Nicht gut!
„Wie sch-schlimm ist es?“, fragte ich ihn und versuchte das Zittern unter Kontrolle zu halten, aber ohne Erfolg.
„Neununddreißig, sechs“, sagte er bestürzt. Seine Augen suchten wild meinen ganzen Körper ab, der sich tatsächlich unter der Decke vergraben hatte. Irgendwie war mir kalt und heiß zugleich. Verdammter Schüttelfrost! Man konnte nicht sprechen, ohne dabei zu bibbern. Und eine bibbernde Stimme bedeutet einen aufgebrachten Istvan am Rande der Zurechnungsfähigkeit. Plötzlich hatte ich Angst, dass er für mich einen Doktor rufen könnte.
„Hey, das ist nur Fieber. Ich war schon mal k-krank, -w-w-weißt du. Das ist nicht so ungewöhnlich“, schwindelte ich halbherzig.
„Ja, aber ich gehe jede Wette ein, dass du vor diesen Fieberattacken nicht mit einem wie mir im Bett warst, oder?“, sagte er bitter.
„Einem wie d-dir?“, wiederholte ich leise. „Meinst du einen, den ich liebe, oder einen, von dem ich offenbar nicht die Finger lassen kann?“ Ich hoffte mit meinem unangebrachten Humor seine Laune zu verbessern und schickte ein aufmunterndes Lächeln hinterher, das er nur mit einem Brummen quittierte. Dann bekam ich noch ein warnendes „Joe!“, das mir den Rest gab. Istvan würde bestimmt durchdrehen. Eigentlich war er schon mittendrin.
„Nein, Istvan, ich will keinen Arzt“, jammerte ich, weil ihm der Gedanken förmlich an der Stirn abzulesen war.
„Ich werde einfach ein paar Stunden schlafen und du kühlst mir die Stirn. Das w-wird schon wieder“, beschwichtigte ich und versuchte ihn am Unterarm zu packen, was schwach ausfiel. Ich hatte kaum Kraft in den Gliedern. Meine Augen flehten ihn an, sodass er schließlich gegen seinen Willen zustimmend nickte. Nachdem er mir erneut den feuchten Lappen gewechselt hatte, musste ich irgendwann eingeschlafen sein und ich war mir nicht sicher, wann ich wach gewesen war und wann ich geschlafen hatte. Verschwommene Bilder reihten sich ohne Zusammenhang aneinander: Istvan, der auf einem Stuhl vor mir sitzt, das Gesicht besorgt in die Hände gestemmt. Eine unbekannte Wüstenlandschaft, in die ich irgendwie geraten bin, deren Sonne gnadenlos auf mich herabbrennt. Die Gesichter der Valentins, die um mein Bett stehen und die Köpfe schütteln, als sie mich sehen, und dann ohne ein Wort gehen. Ich und Istvan auf der Decke im Waldlager, als ich dort schlief und mir nicht -sicher war, ob seine wölfische oder seine menschliche Gestalt neben mir lag. Ich auf einer Wiese und hinter mir taucht ein sandfarbener Löwe auf, der sich mir zu Füßen legt.
Irgendwann schwirrte mir der Kopf von diesem ganzen Wirrwarr, das nicht den geringsten Sinn ergab. Deshalb wusste ich zuerst auch nicht, dass es tatsächlich die Stimmen von Istvan und Valentin waren, die sich im Flur unterhielten. Waren sie gerade in diesem Zimmer gewesen? Hatte Valentin mich in diesem Zustand gesehen? Bitte nicht! Ich wusste es aber nicht, nicht mit Sicherheit.
„Es ist nicht das, wonach es aussieht, Istvan.“
„Was redest du? Natürlich hat sie Fieber!“, zischte er zurück.
„Ja und nein. Es ist Pseudofieber. Eine weitere kleine Eigenheit von uns, die nur auftritt, wenn wir Menschen – Frauen – bei extremer Hitze zu nahe kommen. Serena und mir ist es auch ein paar Mal passiert“, ließ ihn Valentin mit seiner beruhigend sanften Stimme wissen. Istvan stellte flüsternd eine Frage, weil er offenbar fürchtete, ich könnte mitbekommen, dass er Valentin angeschleppt hatte. „Wieso hast du mir bisher nie davon erzählt? Das wäre hilfreich gewesen, als sie versucht hat … na ja, du weißt schon“, hörte ich ihn verlegen stammeln. Gott, war das peinlich! Ich wollte jetzt nicht mit ihm tauschen. Plötzlich war auch Valentin kaum zu verstehen, was mich nur noch mehr dazu brachte zu lauschen.
„Ich kann mir kaum vorstellen, wie die letzten Tage für dich gewesen sein müssen“, sagte Valentin merkwürdig. Herrje, wie meint er das denn?
„Sie die ganze Zeit um dich zu haben, während sie dermaßen schwitzt. Ich wette, du bist fast durchgedreht bei ihrem Duft. Ich weiß echt nicht, wie du das Wunder bewerkstelligen hättest sollen, dich von ihr fernzuhalten, wenn sie so stark auf dich wirkt. Ich für meinen Teil konnte es nicht. Nicht bei meiner Serena.“ Ich hatte Valentin noch nie so offen von seiner Beziehung zu seiner Frau sprechen hören, jedenfalls nicht, wenn es ihr Intimleben betraf. Langsam kam ich mir bei meiner Lauscherei schäbig vor, konnte es aber nicht lassen.
„Gott, Valentin, also ist es meine Schuld?“, fragte Istvan kleinlaut.
Nein, verdammt! Ist es nicht. Los, sag’s ihm, Valentin!
„Soweit ich weiß, gehören dazu noch immer zwei. Und außerdem ist es halb so schlimm, wie du glaubst. Sie wird noch ein paar Stunden fiebrig sein. Aber morgen, spätestens, ist es vorbei. Wenn es ihr schlimmer geht, kannst du ihr ein Eisbad machen. Doch eigentlich sollte das nicht nötig sein.“ Istvan musste irgendein Gesicht gezogen haben, denn Valentin sagte gleich darauf: „Jetzt schau mal nicht so finster drein. Manchmal macht man Dummheiten. Das ist menschlich, mein Freund. Und ist es nicht genau das, was du immer sein wolltest? Menschlich?“
Valentin war so geschickt. Er konnte einen in Bedrängnis reden, wie niemand sonst. Istvan antwortete nicht darauf.
„Das, was zwischen dir und Joe heute Abend passiert ist, ist für mich so ziemlich das Menschlichste, was es gibt. Jedenfalls hat Serena das immer behauptet. Und in diesen Dingen hatte sie eigentlich immer recht. Meine Frau.“ Bei den letzten Worten hatte sich seine Stimme verändert. Er sprach mit einer solchen Zuneigung von ihr, dass man kaum glauben konnte, dass sie schon so lange nicht mehr lebte. Aber für Valentin würde sie immer lebendig sein, das wurde mir in diesem Moment bewusst. Nur wieso war Istvan so still?
Sie gingen in ein anderes Zimmer, sodass ich sie nicht mehr hören konnte. Ich wartete, bis ich die Tür zuschlagen hörte, und rief erst dann nach Istvan, der sofort wie der geölte Blitz auf der Matte stand.
„Was ist? Brauchst du etwas? Kannst du nicht schlafen?“
„Nichts. Nein und nein“, antworte ich so schnell, dass es ihm ein kleines Lächeln abrang. „Es scheint dir besser zu gehen“, stellte er befriedigt fest und setzte sich zu mir aufs Bett.
„Es geht schon“. Es war nur die Halbwahrheit, aber alles, was er hören wollte und mir abnahm, war gut. Ich holte tief Luft und befreite mein Gesicht von klebrigen Haarsträhnen, die an mir hafteten.
„Das war doch Valentin … Und was sagt der Wolfsdoktor?“
„Sehr witzig … du kannst wieder sticheln. Ein gutes Zeichen.“
Hat Istvan gerade einen Scherz gemacht?! Ich muss Fieber haben.
„Er sagt, dass du Pseudofieber hast. So etwas Ähnliches wie Hyperthermie. Das ist, wenn sich der Körper durch eine äußere, übermäßige Wärmeeinwirkung – ich fürchte, in diesem Fall durch mich – überwärmt, bis fieberartige Symptome auftreten. Valentin meinte, dass bis morgen alles wieder normal sein sollte.“
Ich versuchte die Information zu verdauen und war ihm dankbar, dass er es auf eine sachliche Ebene gebracht hatte. Von Istvan zu hören, dass ihm Valentin alles dadurch erklärt hatte, dass ihm dasselbe mit seiner verstorbenen, geliebten Frau des Öfteren passiert war, wäre im Moment zu viel gewesen.
„Na gut. Dann schlaf ich das Pseudofieber einfach weg. Das krieg ich hin, wenn du mir Gesellschaft leistest“, schlug ich vor und hob die Decke auf der anderen Seite an. Er legte sofort den Kopf schräg.
Ich wartete jeden Moment ein weiteres „Joe!“ zu hören.
„Ich kann sonst nicht einschlafen, Istvan. Ganz ehrlich nicht“, klagte ich mit sanfter Stimme. Ob er die Lüge durchschaut?
„Na gut. Aber ich bleibe unter meiner eigenen Decke“, -stellte er klar.
Wir legten uns beide zum Schlafen. Ich hatte keinen Schüttelfrost mehr und meine Temperatur, die er natürlich noch mal kontrollierte, war deutlich gesunken.
Es war stockfinster und ich wusste, dass er genauso wenig eingeschlafen war wie ich, als ich sagte:
„Ach übrigens, ich wusste ja gar nicht, dass du so auf meinen Geruch anspringst.“ Ich konnte es mir nicht verkneifen und biss mir fest auf die Lippe, um nicht loszulachen. Istvan lag stocksteif da, mit dem Rücken zu mir.
„Ich wollte nicht, dass du es in den falschen Hals bekommst, dass ich dich mehr als gut riechen kann. Ihr modernen Frauen seid da ein bisschen empfindlich.“
„Ich denke, wir wissen beide, dass ich nicht wie die meisten Frauen bin. Und ich bin auch nicht besonders empfindlich. Also mach dir keinen Kopf deswegen. Du bist schließlich auch kein normaler Mann.“
Ich konnte hören, wie er mehrmals nachdenklich atmete, eine seiner Eigenheiten, wenn er sich nicht sicher war, was er von dem halten sollte, was ich über seine Werwolfbesonderheiten gesagt hatte.
„Dann irritiert es dich nicht. Ich mein, dass ich so stark auf deinen Geruch reagiere, wenn du … wenn dir heiß ist?“
„Hattest du heute Nachmittag das Gefühl, dass es mich gestört hat?“, murmelte ich leise und wurde ganz rot. Das Fieber hatte damit nichts zu tun. Ich war froh, dass ich an die Wand starrte. Das machte dieses Gespräch so viel leichter.
„Nein“, gab er verhalten zu. Und nur, weil ich das wusste, weil ich wusste, dass er es zugeben konnte, war es mir endlich möglich, richtig einzuschlafen, um mein Fieber zu kurieren.
 
Am nächsten Morgen sah die Welt ganz anders aus. Zumindest wackelte sie nicht mehr so sehr und ich fühlte mich um einiges besser. Als ich die Augen aufschlug, wollte ich nur eins, richtig lange und ausgiebig duschen. Mir sämtlichen getrockneten Schweiß vom Körper waschen und in saubere Klamotten schlüpfen. Istvan musste schon lange vor mir aufgestanden sein. Ich dachte erst, dass er in die Bibliothek gegangen wäre, und wunderte mich etwas deswegen. Es war nicht das, was ich von ihm erwartet hätte. Doch ich nahm mir die Zeit des fortgeschrittenen Vormittages, um mich im Bad wiederherzustellen. Erst nach einer geschlagenen Stunde fand ich, nach einem kritischen Blick in den Spiegel, dass ich so weit war, wieder der Hitze zu trotzen. Mit dem Bademantel bekleidet ließ ich das Schlafzimmer hinter mir, um endlich etwas Koffein in mein System zu bekommen. Doch als ich das Wohnzimmer betrat, staunte ich nicht schlecht. Alleine hier hatte er zwei weitere Ventilatoren aufgestellt, also insgesamt drei. Ich entdeckte noch ein riesiges Ungetüm in der Küche und vor dem Schlafzimmer wartet ebenfalls ein silbernes Teil, das er vermutlich draußen gelassen hatte, um mich nicht zu wecken. Einer Ahnung folgend ging ich zum Gefrierschrank und zog ihn mit geschlossenen Augen auf. Als ich sie öffnete, bestätigte sich mein Verdacht. Der halbe Platz war belegt mit unzähligen Eisbechern. Alle Sorten und Marken, die ich kannte, waren vertreten. Das alles konnte er nur in Wart besorgt haben, als er sehr früh, nach einer kurzen Nacht, aufgestanden war. Ich dachte nur eins, als ich mich umsah: „Wie könnte ich diesen Mann nicht lieben!“
Anstatt auf seine Rückkehr zu warten, hinterließ ich ihm einen Zettel, auf dem stand, dass ich bis zum Öffnungsschluss der Bibliothek wieder da sein würde. Nachdem ich mich angezogen und fertig gemacht hatte, schnappte ich mir die Autoschlüssel. Es war so unendlich nervig, jedes Mal von ihm zu mir gehen zu müssen, nur um meinen Wagen abzuholen, weil niemand mein parkendes Auto, das dort die ganze Nacht stehen würde, vor seinem Haus sehen durfte.
Als spazierte ich mit einer Sonnenbrille geschützt langsam bis zu meiner Garage und bugsierte mich in das dampfende Auto. Für eine anständige Klimaanlage, die tatsächlich kühlte, reichte mein Budget nicht. Ich war mir nicht sicher, ob das, was ich vorhatte, Istvan gefallen würde, aber ich musste es tun. Seit meinen wirren Fieberfantasien ging mir dieses eine Bild von dem Löwen, der sich zu meinen Füßen legt, nicht mehr aus dem Kopf. Je öfter ich mir den Löwen ins Gedächtnis rief, desto sicherer war ich, dass er grüne anstatt dunkler Augen hatte, und die Art, wie er sich so vertrauensvoll vor mich legte, war ebenfalls vertraut. Ich hatte einen Verdacht. Aber den konnte ich nur bestätigen, wenn ich Martin aufsuchte.
 
Als ich im Pfarrheim von Rohnitz ankam, waren etwa zwei Dutzend Kinder im Garten, die sich gegenseitig mit Gartenschläuchen abspritzten oder in winzigen Schwimmbecken planschten. Als mir ein kleines braunhaariges Mädchen auf den Schuh trat, hielt ich es fest.
„Was macht ihr hier denn alle?“, fragte ich sie. Wovon sie nicht begeistert war.
„Heute ist doch Kindertag. Das weiß doch jeder!“, raunte sie und flitzte wieder zurück zu dem kühlen Wasserstrahl, was ich ihr, trotz ihrer Frechheit, nicht verdenken konnte. Kindertag …? Ach, ja. An Kindertagen, eigentlich Kinder-Hitzetagen, spendiert die Kirche den Kindern Eis und sie durften im schattigen Garten spielen, wenn es im Sommer besonders heiß war. Ich kämpfte mich durch die schreienden und planschenden Energiebündel, bekam dabei reichlich Wasser ab, das zu meiner Enttäuschung lauwarm war, und betrat die Hinterzimmer des Pfarrhauses, wo ich einen triefenden, völlig erledigten Martin vorfand, der mich begrüßte und dann stöhnte:
„Nie wieder Kinder-Hitzetag! Das halten meine Nerven nicht aus. Und ich bin Pfarrer!“ Er ließ sich auf die Bank plumpsen, als wäre es die erste Minute des Tages, an der er sitzen konnte.
„Du siehst ganz schön geschafft aus. Soll ich eine Petition für dich einreichen, die es dir erlaubt bei Kinder-Hitzetagen nach Ungarn auszuwandern, ohne dass dir die kleinen Monster folgen dürfen“, neckte ich ihn und setzte mich auf die Bank vor ihm. Es gelang mir nur mäßig, das spöttische Grinsen zu verbergen, das heftig in meinen Mundwinkeln zuckte.
„Ja, lach du nur! Aber vielleicht mach ich das wirklich. Dann würdest du staunen“, warnte er mich atemlos. Martin konnte nicht einmal einer Fliege damit drohen, sie an die Wand zu klatschen. So war er nun mal.
„Ich weiß, es ist reichlich schäbig von mir, hier nur aufzutauchen, weil ich dich um einen Gefallen bitte, vor allem wenn du auf die kleinen Monster da draußen aufpassen musst, aber ich würde gerne in das Taufregister reinsehen, wenn’s dir nichts ausmacht?“, bat ich um Ernsthaftigkeit bemüht. Er runzelte die Stirn und fragte ohne Umschweife: „Wieso das denn?“
„Ich würde gerne den Eintrag über meine Großmutter sehen. Also müsste ich das Taufbuch von den 20ern einsehen. Und bitte frag mich jetzt nicht, wieso, denn ich kann’s dir nicht erklären“, sagte ich wohl wissend, dass genau solche Äußerungen erst recht neugierig machen. Aber ich war das Lügen satt und es war einfach zu heiß!
„Na fein, von mir aus. Du weißt ja, wo mein Büro ist. Der Schlüssel ist in der Schublade und die Bücher in dem kleinen Zedernschrank dahinter. Tu dir keinen Zwang an. Ich kann dir nicht helfen, denn eigentlich dürfte ich die Bande keine Sekunde aus den Augen lassen, aber ich brauchte nur eine Minute ohne Sonne und ohne Gebrüll“, murmelte er abgekämpft. Ich nickte und wartete, bis er mit verbissenem Gesicht nach draußen ging. Man hätte meinen können, er würde in die römische Arena zu den Löwen geschickt.
Apropos Löwe! Ich musste mich ranhalten, wenn ich eine Antwort auf meine Fragen haben wollte. Ohne weiter zu zaudern, ging ich in Martins karges Büro und schnappte mir den alten Schlüssel, der auch brav das Zedernschränkchen öffnete, in dem die Taufbücher nach Jahreszahlen sortiert lagen. Ich fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, bis sie bei den -20er-Jahren zu stehen kamen. Dann schnappte ich mir das schwere, alte Buch und huschte mit meinen Augen so schnell wie möglich über die handschriftlichen Einträge. Es sollte nicht schwer sein, Istvan zu finden, denn der Name war nicht besonders verbreitet, wenn ich mir die anderen männlichen Vornamen ansah, die vor meinen Augen auf und ab tanzten. Die gezackte alte Schrift war ein kleines Hindernis, aber man gewöhnte sich daran. Endlich!
„Istvan!“ Es war ganz deutlich zu erkennen. Tag der Taufe. Taufspruch. Da war es …
Ich war noch nicht einmal wirklich überrascht. Irgendwie wusste ich immer schon, dass mein Sandwolf eine Löwenmähne verbarg. Istvan wurde am 5. August geboren und somit war sein Sternzeichen „Löwe“. Ich hatte beinahe aufgeschrien vor Glück. Ich hätte das hier schon viel früher tun müssen. Das Timing war ideal, unglaublich geradezu, denn gestern war der 5. August gewesen. Also würde ich ihm verspätet zu seinem Geburtstag gratulieren, den er damit verbracht hatte, seine fiebrige Freundin zu umsorgen. Ich dachte darüber nach, was ich ihm schenken könnte, aber mir wollte selbst hier, in dieser wundervoll kühlen Kirche, zuerst nichts einfallen. Denn es war mehr als unwahrscheinlich, dass ich ihm vor Ende der Hitzewelle noch einmal so nahe kommen könnte. Also dachte ich darüber nach, worüber er sich freuen würde. Dabei fiel mir wieder ein, wie überwältigt er damals gewesen war, als ich ihm den Orion-Anhänger geschenkt hatte. Ich hatte ihm immer schon etwas eingravieren lassen wollen, was uns aber nicht verriet, und jetzt kam mir die passende Idee. Also fuhr ich schnurstracks in die Bibliothek, wo er mir die Tür aufhielt, da er das Geräusch meines Wagens erkannt hatte.
„Du siehst heute schon viel besser aus“, ließ er mich erleichtert wissen. Wir standen zwischen Tür und Angel.
„Als wäre nichts gewesen“, bekräftigte ich und tippte auf meine Brust.
„Sag, wenn ich dich um einen ungewöhnlichen Gefallen bitten würde, würdest du es tun, ohne Fragen zu stellen?“, verlangte ich kryptisch von ihm.
„Wenn es dir wirklich wichtig wäre, dann ja“, sagte er viel umgänglicher, als ich erwartet hatte, und strahlte mich mit seinen Smaragdaugen an.
„Gut, denn ich möchte dich bitten, mir den Anhänger für ein paar Stunden zu leihen“, murmelte ich und sah auf die leichte Erhebung seines T-Shirts. Das gefiel ihm nicht wirklich. Er legte ihn nie ab. Nie!
„Es würde mir viel bedeuten, wenn du …“ Ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Sofort als die Worte „mir viel bedeuten“ ausgesprochen waren, nahm er ihn ab. „Pass aber gut da-rauf auf“, forderte er von mir, als er die Kette über meinen Kopf streifte. Ich wollte gerade meine Haare über die Kette heben, als mir einfiel, dass er das vielleicht auch tun wollte. „Würdest du …“, sagte ich und er wusste sofort, was ich meinte. Seine warmen, weichen Finger kamen um meinen Hals und legten sich in einen Bogen um meine Schulter, ehe sie mit einer einzigen Geste mein Haar über den Kettenrand strichen. Als ich mich umdrehte, um zu gehen, hauchte er mir zum Abschied einen Kuss auf den Scheitel.
Mit klopfenden Herzen rannte ich zum Wagen.
Ein paar Stunden später wartete ich nervös und aufgeregt darauf, dass Istvan wieder nach Hause kommen würde. In dem Moment, als ich ihn auf der Veranda hörte, schreckte ich hoch und riss die Tür auf, um ihm in die Arme zu fallen. Er fing mich auf und lachte fast erschrocken, aber nur fast, weil er mich gehört haben musste. Es war so schwer, ihn zu überraschen. Aber heute würde es mir gelingen. Bestimmt.
„Deine Begrüßungen verbessern sich von Mal zu Mal. Das muss man dir lassen, du hältst dein Wort“, neckte er mich. Ich reagierte nicht auf seinen Seitenhieb, sondern zog ihn an der Hand in die Küche, wo schon ein italienisches Menü auf uns wartete. Es leben die italienischen Restaurants!
„Hab ich irgendetwas nicht mitgekriegt? Befindest du dich immer noch in einer Art Fieberwahn?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Na ja. Eigentlich bin ich ja einen Tag zu spät, aber gestern sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen, was ich immer noch nicht bereue, Mr.! Und außerdem wusste ich da noch nicht Bescheid. Kurz gesagt … Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte ich überschwänglich und umarmte ihn von der Seite. Die Jahreszahl lassen wir weg!
„Woher, woher …“, stammelte er verwirrt. „Ich weiß, du denkst, dass du so schlau und undurchschaubar bist. Aber mal ehrlich, ich habe auch meine Quellen“, sagte ich verschmitzt und ließ, genau wie es an meinen Geburtstag vor ein paar Monaten getan hatte, Istvan im Unklaren darüber, woher ich den Tag wusste.
„Ach, und jetzt kann ich es dir ja wiedergeben“, sagte ich absichtlich beiläufig, als ich seinen Anhänger samt Kette aus meiner Minirocktasche zog. Er hielt die Hand auf und ich ließ das Schmuckstück hineingleiten. Wir beide sahen jetzt auf den Anhänger, der mit dem Orionsymbol nach oben in seiner Handfläche lag. Ich legte meine Hand unter seine, was eine elekt-rische Welle durch meinen Körper jagte.
„Dreh ihn um!“, bat ich ihn. Er sah mich kurz forschend an, suchte nach einem Hinweis in meinen Augen, aber alles, was er dort finden konnte, waren meine Aufregung und Gefühle für ihn.
Er wendete ihn und sah auf das eingeprägte Symbol auf dem Silber.
„Das ist ein Symbol für das Sternzeichen Löwe“, sagte ich und er fuhr mit dem Fingern bedächtig über den kleinen Kreis, der unter einer geschwungenen Schleife lag.
„Gefällt es dir?“, wollte ich wissen. Er war so still. Ich hatte Angst, dass er es doch nicht mögen könnte.
„Ja. Ich finde es schön. Danke“, murmelte er und sah noch immer darauf. „Darf ich es dir umlegen“, fragte ich, weil ich ihm so endlich wieder in die Augen sehen konnte, die nicht fähig waren, mich zu belügen. Er nickte. Ich nahm die Kette, öffnete sie und schloss sie wieder in seinem Nacken, was echt schwer war, weil ich ihm dabei direkt in die flackernden, grünen Augen sah. Er hielt den Atem an, während ich es tat. Es gefällt ihm!, stellte ich erleichtert fest.
„Wieso der Löwe? Du hältst doch eigentlich nichts von Ast-rologie“, fragte er nach und hinderte meine Hände daran, seinen Nacken zu verlassen, in dem er seine Finger um meine Handgelenke schloss.
„Das hat nichts mit Astrologie zu tun. Ich fand nur schon immer, dass du das Herz eines Löwen hast. Und es gefällt mir, dass dieses Herz für mich schlägt“, flüsterte ich und schlug die Augen nieder, weil ich das eigentlich nicht so offen sagen hatte wollen, aber gegen die Macht seines Blickes kam ich nicht an.
„Sieh mich an, Joe“, bat er sanft. Ich hob meinen Blick und verbrannte mir zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen die Finger, weil mich der Mann meiner Wahl, meines Herzens auf diese bestimmte Weise ansah, nach der man sich nur küssen konnte.