22. Unter Wasser
Kaltes, dunkles Wasser umgibt mich. Ich bin nicht
bei Bewusstsein, dennoch weiß ich, dass ich weiterhin in meinem
nassen Grab gefangen bin. In der Ferne, so fern, ist ein Geräusch,
das nicht zu meiner Welt gehört. Auf einmal habe ich das Gefühl,
nicht länger alleine zu sein. Jemand ist bei mir.
Die Stille ist fast tröstlich. Zeitlos. Ich habe
keine Angst davor, nicht mehr zu sein. Ich habe nur noch Angst
davor, ohne ihn zu sein.
Alles andere ist egal. Zählt nicht länger.
Irgendetwas schlängelt sich um meinen Arm. Eine
Wasserpflanze?
Es zieht an mir, aber da ist kein Schmerz, fast
kein Gefühl. Es dringt nicht zu mir durch. Nicht wirklich. Das
Wasser um mich herum gerät in Bewegung. Die Dunkelheit beginnt
etwas von ihrer Vollkommenheit zu verlieren. Sie büßt an Macht ein.
Wird getrübt durch ein diffuses Licht, das sich ihr aufdrängt. Ein
Teil von mir will es verhindern, verlangt danach, weiterhin in der
Dunkelheit zu bleiben. Doch etwas lässt mich nicht, zerrt an mir.
Das Licht wird heller. Hinter meinen geschlossenen Lidern taucht
ein gleißendes Rotorange auf, als würde ich mit geschlossenen Augen
in die Sonne sehen. Mein Körper verlagert sich, wird verlagert.
Schaukelt auf dem Wasser. Schwer und leblos. Eine vertraute Wärme
spannt sich um meine Rippen. Sie umgibt mich, wärmt mich. Plötzlich
schwebe ich. Das Ende?
Nein. Ein kalter, harter Untergrund bohrt sich in
meinen Rücken. Die friedvolle Stille ebbt ab. Verblasst. Das weiche
Wasser wird von kühlen Winden abgelöst, die mich stören.
Die gefühllose Taubheit, die alle Schmerzen von
mir fernhält, stirbt ab. Der Schmerz kommt zurück. Wie mit einem
heftigen Schlag beginnt es: das Fühlen. Das Empfinden. Leben.
Sein.
Ein tiefer, furchterregender Schrei erreicht mich
zuerst. Mein Name! Dieses klagende Wimmern und der darauffolgende
Wutschrei gelten mir. Benutzt meinen Namen. Eine Stimme. Sie ist
bei mir. Gehört zu mir.
Ein heftiger Druck quetscht mir die Brust
zusammen. Sie ist übervoll mit Wasser. Das Wasser in mir drängt
nach außen, aber mein Körper ist noch nicht wach, weigert sich zu
gehorchen!
„Wach auf!“, befehle ich ihm. „Wehre dich!“,
befehle ich mir selbst.
Als ich verstehe, weiß, wer so verzweifelt um mich
kämpft, erwacht mein Kampfgeist, mein Lebenswille und mit ihnen ich
selbst.
Das Verlangen nach ihm, für ihn zu leben, ist
stark. Stark genug, um dem Druck auf meine Brust willkommen zu
heißen. Als auch noch warmer, vertrauter – geliebter – Atem in mich
gehaucht wird, will ich den Schmerz zurück. Denn ich will leben.
Will zu ihm, zu Istvan, zurückkehren. Zusammen mit diesem Gedanken
kommt der saure Schwall in mir hoch. Mit einem röchelnden Husten
verlässt er meinen Körper. Jetzt weiß ich, dass ich wieder atme.
Ich werde leben …
Ich blinzelte, noch immer benommen. Istvans traurig
beunruhigtes Gesicht war über mir und starrte mich fordernd an.
Lebe! Das Wort brannte in seinen
Smaragdaugen wie eine -Feuersbrunst. So angsterfüllt und
erleichtert sah er im selben Moment aus, dass ich sein Gesicht
berühren musste, damit ich ihn trösten konnte. Er fing meine Finger
auf halbem Weg ab, küsste jede meiner Fingerkuppen und zog mich
behutsam mit zurückgehaltener Dringlichkeit in seine Arme. Dort, an
seiner Schulterbeuge, dem schönsten und sichersten Ort der Welt,
-erlaubte ich mir zu weinen, weil ich erst jetzt mit Sicherheit
wusste, dass ich zurückgekehrt war. Ich war so glücklich, einfach
bei ihm zu sein, überhaupt zu sein, seinen
Geruch und seinen Wärme in mich und meinen nasskalten Körper
aufzunehmen, wie ich es eben noch mit seinem Atem getan hatte, dass
ich nicht anders konnte. Ich ließ die Tränen fließen. Versteckte
mich vor der Welt und erlaubte mir, den Trost meiner wahren Liebe
anzunehmen. Seine pure Existenz war ein Heilmittel, das ich jetzt
zu mir nahm.
Wie hatte ich es bloß geschafft, tatsächlich
einzuschlafen. Wie hatte ich das fertiggebracht? Aber als ich die
Augen aufschlug, fand ich mich auf dem Beifahrersitz des Camaro
wieder, Istvan an meiner Seite. Er hatte mich, keine Ahnung wann,
in eine Jacke gesteckt und war mit mir hierher gefahren, zum
Krankenhaus. Sämtliche Warnleuchten gingen bei mir an und ich fuhr
hoch.
„Bist du verrückt“, krächzte ich. „Ich kann da
nicht rein-gehen. Nicht schon wieder! Wie wird das aussehen?“
„Verdächtig. Aber das ist mir gleich“, sagte er
hart.
„Es geht mir doch ganz gut“, wandte ich ein.
„Nein.“ Eine schnelle, kalte Abwehr. Sie
durchschnitt die verbrauchte und unangenehme Luft im Wagen.
„Sei doch vernünftig!“, bat ich ihn. Ich musste es
zumindest versuchen.
„Nein.“ Wieder dieser eiskalte, unversöhnliche
Ton.
„Kannst du auch etwas anderes sagen als Nein?“,
stammelte ich.
„Nein“. Das war eindeutig
… konnte er nicht. Und mit ihm zu streiten,
war zwecklos. Abgesehen davon hatte ich jetzt keine Kraft für eine
Auseinandersetzung. Er hatte sich vor Zorn und Angst fast nicht
mehr im Griff. In diesem Zustand würde er vielleicht noch etwas
völlig Unvernünftiges tun, sich vielleicht sogar verraten. Also
blieb mir gar nichts anders übrig, als ihm ins Krankenhaus zu
folgen, wo wir ein Lügenmärchen auftischten, dass ich persönlich
unglaubwürdig fand. Besonders, wenn man Istvans beherrschtes
Gesicht sah, das nicht zu unserer Unfallgeschichte passte. Ich war
angeblich ausgerutscht, auf den Steg
gefallen und beim Versuch aufzustehen, nach hinten ins Wasser
gefallen. Meine Panik und die Tatsache, dass ich nicht schwimmen
konnte, hatten zu meinem Atemstillstand geführt. Aber ich war
rechtzeitig wiederbelebt und sofort hierher gebracht worden.
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte mich schon wieder jemand, diesmal meine Ärztin. Eine Frau
Anfang vierzig.
„Ganz gut. Etwas schwach und zittrig. Die Hüfte
tut weh“, gab ich zu. Es hatte keinen Sinn zu lügen. Sie
untersuchte mich sowieso.
„Laut Ihrer Krankenakte ist das mit dem Arm aber
schon vorher passiert“, sagte sie unbeteiligt. Ich nickte
beiläufig, so als wäre nichts weiter dabei. Ein dummer Zufall,
nichts weiter.
„Scheint, als hätten Sie gerade viel Pech.“ Die
etwas mollige Frau im weißen Kittel versuchte mich aufzumuntern.
Noch nie war ich so froh, Istvan aus dem Zimmer zu haben, auch wenn
er draußen lauschte, denn das Hämatom an meiner Hüfte war unschön
und riesig. Es hätte ihm den Rest gegeben. Die Ärztin redete sonst
nicht viel. Gott sei Dank. Mein Zustand sei
recht gut, für den Vorfall, fügte sie später noch hinzu. Dennoch
wollte sie mich etwas hier behalten, nur um sicher zu gehen. Ich
stöhnte auf, was ihr nicht entging. „Nur zur Vorsicht“, versicherte
sie mir. „Und wenn Sie schon hier sind, können wir gleich die Fäden
ziehen.“ Oh, wie praktisch. Dafür ertrinkt man
doch gern!, dachte ich sarkastisch. Das wird ihm
gefallen.
Meine Ärztin ging, nachdem sie mich abgehorcht,
abgetastet und von allen Seiten durchleuchtet hatte. Wie ich
Krankenhäuser hasste. Selbst als Kind war es mir immer unangenehm
gewesen, hier meine Mutter zu besuchen. Der Geruch gab mir jedes
Mal den Rest. Furchtbar.
Im selben Moment, als sie die Tür öffnen wollte,
kam Istvan herein. Sehr unauffällig,
Schatz!
Doch sofort verebbte meine bissige Stimmung, als
ich in sein mitgenommenes Gesicht sah. Er war so geknickt. Niemand
würde ihm jetzt abkaufen, dass er nur ein Bekannter von mir wäre.
Er sah aus, als hätte ihn der personifizierte Tod gestreift. Ihn,
nicht mich. Er stürzte an mein Bett, sodass ich ganz unruhig wurde.
Das wollte ich nicht. Mir war meine sarkastische Stimmung lieber.
So konnte ich mir zumindest vormachen, dass alles nicht so schlimm
war. Aber wenn er mich so ansah, war es unmöglich, nicht Angst zu
haben. Als die Schritte der Ärztin auf dem Flur verklangen,
überfiel ich ihn.
„Wie konntest du mich retten? Wie war das möglich?
Was ist passiert, als ich …“ Diese Fragen brannten mir auf der
Zunge, aber er unterbrach mich umgehend. Er sprach ganz
aufgebracht.
„Als ich dich untergehen sah, konnte ich mich
endlich von ihm losreißen.“ Ich sah den Kampf in seinen Augen, den
die nur allzu frische Erinnerung wieder heraufbeschwor.
„Dieser … er hat mich solange von dir ferngehalten, dass ich
schon dachte …“
„Es wäre zu spät“,
ergänzte ich für mich, weil er es nicht aussprechen konnte. Tränen
brannten in seinen Augen. Sein Anblick tat mir viel mehr weh als
meine wunde Hüfte.
„Aber du hast mich rausgezogen. Rechtzeitig.“ Ich
versuchte ihn zu beruhigen, ohne ihn anzufassen. Das wäre jetzt
nicht gut, dachte ich. Zuviel! Er schüttelte immer wieder den Kopf.
Wem galt das?
„Irgendwie ist es mir gelungen, ihn
niederzuschlagen. Und als ich nach dir getaucht bin, waren Woltan,
Jakov und Sera-fina schon da. Sie haben ihn
vertrieben … Es tut mir so leid. Wir hätten viel besser auf dich
aufpassen müssen. Ich hätte nie …“, murmelte er in die weißen
Laken. Er konnte den Satz nicht beenden. Mit schwachen Fingern
strich ich ihm übers Haar.
„Nein. Daran hat’s nicht gelegen. Er muss
irgendeinen Trick haben, wie er im Wald auftauchen kann, ohne eine
Spur zu hinterlassen. Damit konnte doch niemand rechnen. Niemand!
Auch du nicht“, meinte ich ruhig. Meine eigene Gelassenheit kam mir
werkwürdig vor. So als erlaubte mir mein Körper nicht, vor ihm
zusammenzubrechen. Ich nahm es an. Dankbar. Wer wusste schon, wie
lange es anhalten würde. Womöglich würde mich der Schock dann
erreichen, wenn ich schon gar nicht mehr damit rechnete. Immer
wieder schüttelte Istvan uneinsichtig den Kopf. Das alles war nicht
gut. Er durfte jetzt nicht den Mut verlieren. Alleine die Tatsache,
dass er mich hergebracht hatte, war im Grunde ein Fehler. Das
verstieß gegen sämtliche Geheimhaltungsregeln, da war ich mir
sicher. Das einzig Gute an der Sache war, dass ich so endlich die
juckenden Fäden loswurde.
Istvan war gerade dabei, anständigen Kaffee für mich zu organisieren, während
ich mich daranmachte, mich selbst in Ordnung zu bringen. Ich war
ein einziges Chaos: blass, klamme, zerzauste Haare und man hatte
mir netterweise eine OP-Kleidung gegeben, weil meine Sachen zu nass
waren. Gerade zog ich das Oberteil an, da kam ausgerechnet der
Mensch ins Zimmer, von dem ich nicht wollte, dass er wusste, dass
ich überhaupt hier war. Carla in all ihrer OP-schwesterlichen
Herrlichkeit.
Wir standen uns plötzlich gegenüber. Sie in
rosafarbenen und ich in blauen OP-Klamotten, als wollten wir zum
Vorsprechen für eine Arztserie. Sie schenkte mir einen
vernichtenden Blick, indem sie ihre Mandelaugen ganz eng
zusammenzog. Dann sagte sie angriffslustig:
„Man erzählt sich, dass du neuerdings zu Unfällen
neigst.“ Ich ließ mir den Schock, den ihre Worte auslösten, nicht
anmerken und band stattdessen beiläufig meine Haare zusammen.
„Wer sagt das?“, fragte ich mit einem gezwungenen
Lächeln.
„Kollegen“, blaffe sie. Dann atmete sie tief ein.
„Sag mir nur eins … hat das etwas mit einem gewissen Jemand zu tun,
der Probleme mit gefährlichen Leuten hat?“ Carla schnaubte fast.
Ich mied ihren Blick.
„Du weißt, wenn es so wäre, müsste ich dich
anlügen … also lassen wir das Thema lieber ganz“, schlug ich
vor.
„Das Thema!“, wiederholte sie höhnisch. Fast
schockiert klang sie.
Ich blieb stumm. Nestelte weiter an meinen Haaren
he-rum. Ich wusste schlichtweg nicht, was ich sagen sollte. Das war
Carla! Ihr konnte ich die Tarngeschichte nicht auftischen, wollte
ich gar nicht.
„Oh, du schweigst … Verstehe! Treffer ins
Schwarze, häh? … Dann rede ich und du hörst zu. Keine Ahnung,
warum du nicht von ihm loskommst, bei all dem Ärger.“ Sie fuhr in
der Luft über meinen Körper. Beweisstück A der
Anklage.
„Aber eines weiß ich … und das ist kein blöder
Spruch“, zischte sie. „Wer mit der Gefahr lebt, wird durch sie
umkommen.“ Jetzt kam sie auf mich zu und setzte sich zu mir aufs
Bett, direkt neben mich.
„Und wer mit ihr schläft, sowieso!“, fügte sie
unerbittlich hinzu und es war absolut klar, was und wen sie damit
meinte. Ich wollte sagen: Es ist nicht so, wie es
aussieht. Aber was hätte das schon gebracht? Sie würde mich,
uns, unsere ganze Situation nie verstehen. Nicht mal im Ansatz. Wie
sollte sie auch. Deshalb sagte ich nur: „Ich habe mich entschieden
und ich kenne die Konsequenzen. Dennoch kann ich nicht anders. Wir
gehören zusammen. Nichts kann das ändern. Ich erwarte nicht, dass
du das verstehst. Aber ich hoffe, du kannst es respektieren.“ Das war die reine Wahrheit, mehr oder
weniger. Carla schloss die Augen, schüttelte resigniert den Kopf
und stand wieder auf. „Ich kümmere mich um die Papiere. Warte hier
solange“, sagte sie noch immer enttäuscht, bevor sie ging und die
Tür schloss. Kurz herrschte angenehme Ruhe, Stille. Doch sie wurde
je unterbrochen, als ich Carlas Stimme erneut auf dem Flur vor
meinem Zimmer hörte.
Die Tür war nicht ins Schloss gefallen und musste
einen Spalt offen stehen, denn ich hörte fast jedes Wort, das sie
sprach.
„Da ist er also! Der Mann der Stunde“, blaffte sie
höhnisch. „Dass du es wirklich wagst, sie hier in diesem Zustand
anzuschleppen.“
Gott, sie spricht mit Istvan! Wieso sagt er denn
nichts?
„Auch bei dir dieses Schweigen. Langsam geht es mir auf den Geist. Kann den
keiner von euch endlich mal sagen, was Sache ist“, stöhnte Carla
auf. So in Rage kannte ich sie gar nicht, so furienhaft.
Sie musste große Angst um mich haben. Dennoch
sollte sie ihm nicht derart zusetzen. Sah sie denn nicht, dass er
völlig fertig war.
„Ich schwöre dir, dass alles, was sie dir
nicht sagt, nur zu deinem Besten ist“,
flüsterte er sanft. Allein wie seine Stimme klang. Ich wäre schon
längst auf seiner Seite. Aber Carla?
„Oh, wie großzügig. Soll ich mich mit einem
Obstkorb bedanken? Hör mir mal gut zu Mr. Unwiderstehlich, das da
drin ist meine beste Freundin, die ich noch nie so gesehen habe.
Zuerst schwebt sie auf Wolke 7, ist kaum wiederzuerkennen, dann
haut sie ab und ich finde sie völlig verstört in diesem Hotel
wieder. Und zur Krönung kommt sie zu dir zurück, um nun ständig
verletzt zu werden. Da komm ich nicht mehr mit. Ehrlich nicht. Und
es gefällt mir nicht.“ Ich hörte selbst von dieser Entfernung, wie
schwer Carla atmete. Hilf ihr Istvan, hilf ihr zu
verstehen! Bitte, beruhige sie, flehte ich.
„Es gefällt mir genauso wenig. Bitte glaub mir!
Sie so sehen zu müssen, ist unerträglich. Aber ich weiß nicht, was
ich noch machen soll. Egal, was ich tue, immer scheint sie dafür
bezahlen zu müssen … Ich hasse das. Wenn ich glauben könnte, dass
ich sie beschützen könnte, indem ich gehe, dann
-würde ich gehen. Das würde ich, Carla! Oh Gott, du hast ja
keine Ahnung, wie sehr ich mir wünsche, dass das alles vorbei ist.
Vielleicht ist es doch meine Schuld, weil ich nicht mehr ohne sie
leben kann. Aber ich … ich kann sie nicht mehr aufgeben. Ich kann
einfach nicht!“, stammelt Istvan aufgebracht. Mein Herz pochte
schmerzhaft. Wie sie so aufeinander losgingen, all diese traurigen
Worte meinetwegen, war zu viel für mich. Ich stand auf und ging in
Richtung Tür, um das endlich zu beenden.
Doch ehe ich die Tür noch erreichte, hörte ich
Carla etwas sagen. Ihre Stimme wurde ganz sanft und leise. Das ließ
mich zögern.
„Du liebst sie wirklich“, sagte sie und schien es
endlich zu verstehen.
„Mehr als mein Leben“, sagte er so schlicht, dass
es mir durch und durch ging. Niemand sollte so
leichthin über sein eigens Leben sprechen, dachte ich,
schon gar nicht er.
„Dann versprich mir, dass du tust, was du kannst,
um sie vor was auch immer zu beschützen“, verlangte sie
scharf.
„Fest versprochen“, antwortete Istvan ernst. Ich
hörte, wie er seine Hand auf die Klinke legte, und schreckte
automatisch zurück.
„Ach, Istvan“, sagte Carla, als wäre ihr gerade
aufgegangen, dass er einen Namen hatte. „Wenn du dich je gefragt
hast, ob es vor dir jemanden gegeben hat, der zählte …“ Eine
unerträgliche Pause folgte.
„Hat es nicht“, ließ sie ihn wissen.
Wieso Carla ihm das hatte sagen müssen, war mir
ein Rätsel. Ich war mir ziemlich sicher, dass Istvan schon vorher
gewusst hatte, dass es niemanden außer ihm für mich gab. Vermutlich
war Carla, nachdem ihre Wut verraucht war, bewusste geworden, was
für ein umwerfender Mann da vor ihr stand. Istvan hatte diese
Wirkung auf Menschen, man konnte ihm kaum widerstehen, wenn er
einen mit diesen wunderschönen Augen ansah. Mir ging es zumindest
so.
Deshalb strahlte ich auch etwas verlegen, als
Istvan die Tür öffnete und nicht im Mindesten überrascht war, mich
lauschend hinter ihr vorzufinden.
„Du hast also alles gehört“, stellte er neutral
fest.
„Jedes Wort, jedes gute und jedes schlechte“,
murmelte ich und nahm den Beutel mit meinen feuchten Sachen.
„Vielleicht hasst sie mich jetzt ein bisschen
weniger“, meinte er kaum überzeugt und nahm mir den Beutel ab, als
wäre ich schwer krank.
„Sie hasst dich nicht. Carla macht sich nur Sorgen
und weiß nicht, wie sie mit allem umgehen soll“, verteidigte ich
sie und nahm ihm den Beutel wieder ab, auf eine Weise, die
klarmachte, dass ich sehr wohl in der Lage war, einen lächerlichen
Beutel tragen zu können.
„Tja, weißt du. Da ist sie nicht die Einzige“,
brummte er.
„Ich finde, mein Lebensretter zu sein, beweist,
dass du das schon hinbekommst“, flüsterte ich sanft und lehnte mich
kurz an ihn. Er sollte spüren, dass mein Herzschlag ruhig blieb,
trotz seiner Nähe. Ich log nicht, davon wollte ich ihn überzeugen.
Ob es funktionierte, wusste ich nicht. Der abgespannte, müde
Eindruck wollte nicht von ihm weichen.
„Holen wir meine Papiere und verschwinden von
hier“, sagte ich ganz schön fertig. Ich hatte genug Spital für
diesen Monat gesehen. Mir reichte es. Er schob mich sanft durch die
Tür und vermied es sehr deutlich, meine Hüfte zu berühren.
Gleich, nachdem er mich nach Hause gebracht hatte,
steckte er mich zusammen mit einem Liter Tee ins Bett und rief die
Valentins an, die ihm schon Dutzende Nachrichten hinterlassen
hatte. Ich bat ihn, mich zu entschuldigen. Auch nur ein weiteres
„Wie geht es dir?“ und ich wäre an die
Decke gegangen.
„Alles geregelt?“, fragte ich eher lustlos, als er
wieder in mein Zimmer, das Krankenzimmer,
kam.
„So ziemlich“, antworte er knapp. Ich lockte
Istvan mit meinem Zeigefinger zu mir ins Bett. Nach kurzem Zögern
folgte er meiner Bitte. Das Zögern gefiel mir gar nicht. So
unbeteiligt, wie ich nur konnte, fragte ich: „Haben sie schon eine
Idee, wie er das anstellt? Wie er unbemerkt auftauchen kann?“
Er schüttelte nur den Kopf. Jetzt konnte er noch
nicht da-rüber sprechen, das hätte ich wissen müssen. „Aber solange
das nicht geklärt ist, gehen du und ich nicht in den Wald.
Verstanden?“, fragte er mich eindringlich.
„Wieso du? Ich meine, dass ich mich besser
fernhalten soll, ist mir klar, aber …“
„… Wo du bist, bin auch ich“, unterbrach er mich,
„ob du arbeitest oder nicht, ist mir völlig egal. Aber bis diese
Sache nicht ausgestanden ist, lasse ich dich nicht mehr
alleine.“
„Versprochen?“, fragte ich mit einem schiefen
Lächeln.
„Ja“, antworte er knapp. Ich bekam weder ein
Lächeln noch eine Umarmung retour. Ich brauchte wirkungsvoller
Waffen.
„Kannst du mir bitte eine Bürste bringen?“, bat ich
ihn und löste den lockeren Knoten in meinem Nacken. Ohne zu
antworten, stand er auf und holte mir die schwarze Bürste aus dem
Bad.
Ich nahm sie ihm ab und zwang ihn gleichzeitig,
sich wieder zu mir aufs Bett zu setzen. So musste er mir dabei
zu-sehen, wie ich mir das Haar bürstete.
„Sehen sie jetzt wieder ordentlich aus?“, fragte
ich ihn und versuchte seinen Blick zu halten, der kurz über meinen
Kopf wanderte.
„Schön. Wie immer“, sagte er etwas verhalten. Ich
lächelte zufrieden und ließ mich wieder auf das Kissen
zurücksinken. Es tat gut, das eigene, weiche Bett zu spüren
anstelle von kratzigen Krankenhauslaken.
„Weißt du, diese Hüfte hat nichts abbekommen. Es
ist also völlig O. K., wenn du dich auf dieser Seite zu mir legst“,
ließ ich ihn wissen und klopfte einladend auf die Bettdecke neben
mir. Er legte sich so vorsichtig neben mich, als wäre ich aus Glas.
Doch ich war aus wesentlich härterem Material geschaffen, das
sollte er wissen.
„Mir ist noch etwas kalt, also könntest du ein
wenig näher rutschen“, schwindelte ich ein wenig, damit er mir
näher kam. Istvan gehorchte sofort. Nach einer Weile wich die
bedrückte Stimmung etwas von ihm und er begann mir übers Haar zu
streichen. Bis zum Rücken ließ er seine Hand leiten, ganz
vorsichtig. In dem Moment vergaß ich alles, was noch an diesem Tag
geschehen war. Sogar mein Todeskampf schien mir kaum noch von
Bedeutung. Dennoch machte mich die Art, wie er mein Haar liebkoste,
befangen. Vielleicht sagte ich es deshalb.
„Würdest du mich noch lieben, wenn ich mir die
Haare abschneiden würde?“
„Ja“, antwortete er bestimmt. „Aber ich wäre
verflucht sauer auf dich.“ Bei seinem übertrieben säuerlichen
Gesichtsausdruck musste ich einfach lachen. Es war zu komisch.
Meine Un-sicherheit nach allem, was heute passiert war und dann
seine übertriebene Reaktion.