22. Unter Wasser
 
 
Kaltes, dunkles Wasser umgibt mich. Ich bin nicht bei Bewusstsein, dennoch weiß ich, dass ich weiterhin in meinem nassen Grab gefangen bin. In der Ferne, so fern, ist ein Geräusch, das nicht zu meiner Welt gehört. Auf einmal habe ich das Gefühl, nicht länger alleine zu sein. Jemand ist bei mir.
Die Stille ist fast tröstlich. Zeitlos. Ich habe keine Angst davor, nicht mehr zu sein. Ich habe nur noch Angst davor, ohne ihn zu sein.
Alles andere ist egal. Zählt nicht länger.
Irgendetwas schlängelt sich um meinen Arm. Eine Wasserpflanze?
Es zieht an mir, aber da ist kein Schmerz, fast kein Gefühl. Es dringt nicht zu mir durch. Nicht wirklich. Das Wasser um mich herum gerät in Bewegung. Die Dunkelheit beginnt etwas von ihrer Vollkommenheit zu verlieren. Sie büßt an Macht ein. Wird getrübt durch ein diffuses Licht, das sich ihr aufdrängt. Ein Teil von mir will es verhindern, verlangt danach, weiterhin in der Dunkelheit zu bleiben. Doch etwas lässt mich nicht, zerrt an mir. Das Licht wird heller. Hinter meinen geschlossenen Lidern taucht ein gleißendes Rotorange auf, als würde ich mit geschlossenen Augen in die Sonne sehen. Mein Körper verlagert sich, wird verlagert. Schaukelt auf dem Wasser. Schwer und leblos. Eine vertraute Wärme spannt sich um meine Rippen. Sie umgibt mich, wärmt mich. Plötzlich schwebe ich. Das Ende?
Nein. Ein kalter, harter Untergrund bohrt sich in meinen Rücken. Die friedvolle Stille ebbt ab. Verblasst. Das weiche Wasser wird von kühlen Winden abgelöst, die mich stören.
Die gefühllose Taubheit, die alle Schmerzen von mir fernhält, stirbt ab. Der Schmerz kommt zurück. Wie mit einem heftigen Schlag beginnt es: das Fühlen. Das Empfinden. Leben. Sein.
Ein tiefer, furchterregender Schrei erreicht mich zuerst. Mein Name! Dieses klagende Wimmern und der darauffolgende Wutschrei gelten mir. Benutzt meinen Namen. Eine Stimme. Sie ist bei mir. Gehört zu mir.
Ein heftiger Druck quetscht mir die Brust zusammen. Sie ist übervoll mit Wasser. Das Wasser in mir drängt nach außen, aber mein Körper ist noch nicht wach, weigert sich zu gehorchen!
„Wach auf!“, befehle ich ihm. „Wehre dich!“, befehle ich mir selbst.
Als ich verstehe, weiß, wer so verzweifelt um mich kämpft, erwacht mein Kampfgeist, mein Lebenswille und mit ihnen ich selbst.
Das Verlangen nach ihm, für ihn zu leben, ist stark. Stark genug, um dem Druck auf meine Brust willkommen zu heißen. Als auch noch warmer, vertrauter – geliebter – Atem in mich gehaucht wird, will ich den Schmerz zurück. Denn ich will leben. Will zu ihm, zu Istvan, zurückkehren. Zusammen mit diesem Gedanken kommt der saure Schwall in mir hoch. Mit einem röchelnden Husten verlässt er meinen Körper. Jetzt weiß ich, dass ich wieder atme. Ich werde leben …
 
Ich blinzelte, noch immer benommen. Istvans traurig beunruhigtes Gesicht war über mir und starrte mich fordernd an. Lebe! Das Wort brannte in seinen Smaragdaugen wie eine -Feuersbrunst. So angsterfüllt und erleichtert sah er im selben Moment aus, dass ich sein Gesicht berühren musste, damit ich ihn trösten konnte. Er fing meine Finger auf halbem Weg ab, küsste jede meiner Fingerkuppen und zog mich behutsam mit zurückgehaltener Dringlichkeit in seine Arme. Dort, an seiner Schulterbeuge, dem schönsten und sichersten Ort der Welt, -erlaubte ich mir zu weinen, weil ich erst jetzt mit Sicherheit wusste, dass ich zurückgekehrt war. Ich war so glücklich, einfach bei ihm zu sein, überhaupt zu sein, seinen Geruch und seinen Wärme in mich und meinen nasskalten Körper aufzunehmen, wie ich es eben noch mit seinem Atem getan hatte, dass ich nicht anders konnte. Ich ließ die Tränen fließen. Versteckte mich vor der Welt und erlaubte mir, den Trost meiner wahren Liebe anzunehmen. Seine pure Existenz war ein Heilmittel, das ich jetzt zu mir nahm.
 
Wie hatte ich es bloß geschafft, tatsächlich einzuschlafen. Wie hatte ich das fertiggebracht? Aber als ich die Augen aufschlug, fand ich mich auf dem Beifahrersitz des Camaro wieder, Istvan an meiner Seite. Er hatte mich, keine Ahnung wann, in eine Jacke gesteckt und war mit mir hierher gefahren, zum Krankenhaus. Sämtliche Warnleuchten gingen bei mir an und ich fuhr hoch.
„Bist du verrückt“, krächzte ich. „Ich kann da nicht rein-gehen. Nicht schon wieder! Wie wird das aussehen?“
„Verdächtig. Aber das ist mir gleich“, sagte er hart.
„Es geht mir doch ganz gut“, wandte ich ein.
„Nein.“ Eine schnelle, kalte Abwehr. Sie durchschnitt die verbrauchte und unangenehme Luft im Wagen.
„Sei doch vernünftig!“, bat ich ihn. Ich musste es zumindest versuchen.
„Nein.“ Wieder dieser eiskalte, unversöhnliche Ton.
„Kannst du auch etwas anderes sagen als Nein?“, stammelte ich.
„Nein“. Das war eindeutigkonnte er nicht. Und mit ihm zu streiten, war zwecklos. Abgesehen davon hatte ich jetzt keine Kraft für eine Auseinandersetzung. Er hatte sich vor Zorn und Angst fast nicht mehr im Griff. In diesem Zustand würde er vielleicht noch etwas völlig Unvernünftiges tun, sich vielleicht sogar verraten. Also blieb mir gar nichts anders übrig, als ihm ins Krankenhaus zu folgen, wo wir ein Lügenmärchen auftischten, dass ich persönlich unglaubwürdig fand. Besonders, wenn man Istvans beherrschtes Gesicht sah, das nicht zu unserer Unfallgeschichte passte. Ich war angeblich ausgerutscht, auf den Steg gefallen und beim Versuch aufzustehen, nach hinten ins Wasser gefallen. Meine Panik und die Tatsache, dass ich nicht schwimmen konnte, hatten zu meinem Atemstillstand geführt. Aber ich war rechtzeitig wiederbelebt und sofort hierher gebracht worden.
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte mich schon wieder jemand, diesmal meine Ärztin. Eine Frau Anfang vierzig.
„Ganz gut. Etwas schwach und zittrig. Die Hüfte tut weh“, gab ich zu. Es hatte keinen Sinn zu lügen. Sie untersuchte mich sowieso.
„Laut Ihrer Krankenakte ist das mit dem Arm aber schon vorher passiert“, sagte sie unbeteiligt. Ich nickte beiläufig, so als wäre nichts weiter dabei. Ein dummer Zufall, nichts weiter.
„Scheint, als hätten Sie gerade viel Pech.“ Die etwas mollige Frau im weißen Kittel versuchte mich aufzumuntern. Noch nie war ich so froh, Istvan aus dem Zimmer zu haben, auch wenn er draußen lauschte, denn das Hämatom an meiner Hüfte war unschön und riesig. Es hätte ihm den Rest gegeben. Die Ärztin redete sonst nicht viel. Gott sei Dank. Mein Zustand sei recht gut, für den Vorfall, fügte sie später noch hinzu. Dennoch wollte sie mich etwas hier behalten, nur um sicher zu gehen. Ich stöhnte auf, was ihr nicht entging. „Nur zur Vorsicht“, versicherte sie mir. „Und wenn Sie schon hier sind, können wir gleich die Fäden ziehen.“ Oh, wie praktisch. Dafür ertrinkt man doch gern!, dachte ich sarkastisch. Das wird ihm gefallen.
Meine Ärztin ging, nachdem sie mich abgehorcht, abgetastet und von allen Seiten durchleuchtet hatte. Wie ich Krankenhäuser hasste. Selbst als Kind war es mir immer unangenehm gewesen, hier meine Mutter zu besuchen. Der Geruch gab mir jedes Mal den Rest. Furchtbar.
Im selben Moment, als sie die Tür öffnen wollte, kam Istvan herein. Sehr unauffällig, Schatz!
Doch sofort verebbte meine bissige Stimmung, als ich in sein mitgenommenes Gesicht sah. Er war so geknickt. Niemand würde ihm jetzt abkaufen, dass er nur ein Bekannter von mir wäre. Er sah aus, als hätte ihn der personifizierte Tod gestreift. Ihn, nicht mich. Er stürzte an mein Bett, sodass ich ganz unruhig wurde. Das wollte ich nicht. Mir war meine sarkastische Stimmung lieber. So konnte ich mir zumindest vormachen, dass alles nicht so schlimm war. Aber wenn er mich so ansah, war es unmöglich, nicht Angst zu haben. Als die Schritte der Ärztin auf dem Flur verklangen, überfiel ich ihn.
„Wie konntest du mich retten? Wie war das möglich? Was ist passiert, als ich …“ Diese Fragen brannten mir auf der Zunge, aber er unterbrach mich umgehend. Er sprach ganz aufgebracht.
„Als ich dich untergehen sah, konnte ich mich endlich von ihm losreißen.“ Ich sah den Kampf in seinen Augen, den die nur allzu frische Erinnerung wieder heraufbeschwor. „Dieser … er hat mich solange von dir ferngehalten, dass ich schon dachte …“
„Es wäre zu spät“, ergänzte ich für mich, weil er es nicht aussprechen konnte. Tränen brannten in seinen Augen. Sein Anblick tat mir viel mehr weh als meine wunde Hüfte.
„Aber du hast mich rausgezogen. Rechtzeitig.“ Ich versuchte ihn zu beruhigen, ohne ihn anzufassen. Das wäre jetzt nicht gut, dachte ich. Zuviel! Er schüttelte immer wieder den Kopf. Wem galt das?
„Irgendwie ist es mir gelungen, ihn niederzuschlagen. Und als ich nach dir getaucht bin, waren Woltan, Jakov und Sera-fina schon da. Sie haben ihn vertrieben … Es tut mir so leid. Wir hätten viel besser auf dich aufpassen müssen. Ich hätte nie …“, murmelte er in die weißen Laken. Er konnte den Satz nicht beenden. Mit schwachen Fingern strich ich ihm übers Haar.
„Nein. Daran hat’s nicht gelegen. Er muss irgendeinen Trick haben, wie er im Wald auftauchen kann, ohne eine Spur zu hinterlassen. Damit konnte doch niemand rechnen. Niemand! Auch du nicht“, meinte ich ruhig. Meine eigene Gelassenheit kam mir werkwürdig vor. So als erlaubte mir mein Körper nicht, vor ihm zusammenzubrechen. Ich nahm es an. Dankbar. Wer wusste schon, wie lange es anhalten würde. Womöglich würde mich der Schock dann erreichen, wenn ich schon gar nicht mehr damit rechnete. Immer wieder schüttelte Istvan uneinsichtig den Kopf. Das alles war nicht gut. Er durfte jetzt nicht den Mut verlieren. Alleine die Tatsache, dass er mich hergebracht hatte, war im Grunde ein Fehler. Das verstieß gegen sämtliche Geheimhaltungsregeln, da war ich mir sicher. Das einzig Gute an der Sache war, dass ich so endlich die juckenden Fäden loswurde.
Istvan war gerade dabei, anständigen Kaffee für mich zu organisieren, während ich mich daranmachte, mich selbst in Ordnung zu bringen. Ich war ein einziges Chaos: blass, klamme, zerzauste Haare und man hatte mir netterweise eine OP-Kleidung gegeben, weil meine Sachen zu nass waren. Gerade zog ich das Oberteil an, da kam ausgerechnet der Mensch ins Zimmer, von dem ich nicht wollte, dass er wusste, dass ich überhaupt hier war. Carla in all ihrer OP-schwesterlichen Herrlichkeit.
Wir standen uns plötzlich gegenüber. Sie in rosafarbenen und ich in blauen OP-Klamotten, als wollten wir zum Vorsprechen für eine Arztserie. Sie schenkte mir einen vernichtenden Blick, indem sie ihre Mandelaugen ganz eng zusammenzog. Dann sagte sie angriffslustig:
„Man erzählt sich, dass du neuerdings zu Unfällen neigst.“ Ich ließ mir den Schock, den ihre Worte auslösten, nicht anmerken und band stattdessen beiläufig meine Haare zusammen.
„Wer sagt das?“, fragte ich mit einem gezwungenen Lächeln.
„Kollegen“, blaffe sie. Dann atmete sie tief ein. „Sag mir nur eins … hat das etwas mit einem gewissen Jemand zu tun, der Probleme mit gefährlichen Leuten hat?“ Carla schnaubte fast. Ich mied ihren Blick.
„Du weißt, wenn es so wäre, müsste ich dich anlügen … also lassen wir das Thema lieber ganz“, schlug ich vor.
„Das Thema!“, wiederholte sie höhnisch. Fast schockiert klang sie.
Ich blieb stumm. Nestelte weiter an meinen Haaren he-rum. Ich wusste schlichtweg nicht, was ich sagen sollte. Das war Carla! Ihr konnte ich die Tarngeschichte nicht auftischen, wollte ich gar nicht.
„Oh, du schweigst … Verstehe! Treffer ins Schwarze, häh? … Dann rede ich und du hörst zu. Keine Ahnung, warum du nicht von ihm loskommst, bei all dem Ärger.“ Sie fuhr in der Luft über meinen Körper. Beweisstück A der Anklage.
„Aber eines weiß ich … und das ist kein blöder Spruch“, zischte sie. „Wer mit der Gefahr lebt, wird durch sie umkommen.“ Jetzt kam sie auf mich zu und setzte sich zu mir aufs Bett, direkt neben mich.
„Und wer mit ihr schläft, sowieso!“, fügte sie unerbittlich hinzu und es war absolut klar, was und wen sie damit meinte. Ich wollte sagen: Es ist nicht so, wie es aussieht. Aber was hätte das schon gebracht? Sie würde mich, uns, unsere ganze Situation nie verstehen. Nicht mal im Ansatz. Wie sollte sie auch. Deshalb sagte ich nur: „Ich habe mich entschieden und ich kenne die Konsequenzen. Dennoch kann ich nicht anders. Wir gehören zusammen. Nichts kann das ändern. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Aber ich hoffe, du kannst es respektieren.“ Das war die reine Wahrheit, mehr oder weniger. Carla schloss die Augen, schüttelte resigniert den Kopf und stand wieder auf. „Ich kümmere mich um die Papiere. Warte hier solange“, sagte sie noch immer enttäuscht, bevor sie ging und die Tür schloss. Kurz herrschte angenehme Ruhe, Stille. Doch sie wurde je unterbrochen, als ich Carlas Stimme erneut auf dem Flur vor meinem Zimmer hörte.
Die Tür war nicht ins Schloss gefallen und musste einen Spalt offen stehen, denn ich hörte fast jedes Wort, das sie sprach.
„Da ist er also! Der Mann der Stunde“, blaffte sie höhnisch. „Dass du es wirklich wagst, sie hier in diesem Zustand anzuschleppen.“
Gott, sie spricht mit Istvan! Wieso sagt er denn nichts?
„Auch bei dir dieses Schweigen. Langsam geht es mir auf den Geist. Kann den keiner von euch endlich mal sagen, was Sache ist“, stöhnte Carla auf. So in Rage kannte ich sie gar nicht, so furienhaft.
Sie musste große Angst um mich haben. Dennoch sollte sie ihm nicht derart zusetzen. Sah sie denn nicht, dass er völlig fertig war.
„Ich schwöre dir, dass alles, was sie dir nicht sagt, nur zu deinem Besten ist“, flüsterte er sanft. Allein wie seine Stimme klang. Ich wäre schon längst auf seiner Seite. Aber Carla?
„Oh, wie großzügig. Soll ich mich mit einem Obstkorb bedanken? Hör mir mal gut zu Mr. Unwiderstehlich, das da drin ist meine beste Freundin, die ich noch nie so gesehen habe. Zuerst schwebt sie auf Wolke 7, ist kaum wiederzuerkennen, dann haut sie ab und ich finde sie völlig verstört in diesem Hotel wieder. Und zur Krönung kommt sie zu dir zurück, um nun ständig verletzt zu werden. Da komm ich nicht mehr mit. Ehrlich nicht. Und es gefällt mir nicht.“ Ich hörte selbst von dieser Entfernung, wie schwer Carla atmete. Hilf ihr Istvan, hilf ihr zu verstehen! Bitte, beruhige sie, flehte ich.
„Es gefällt mir genauso wenig. Bitte glaub mir! Sie so sehen zu müssen, ist unerträglich. Aber ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Egal, was ich tue, immer scheint sie dafür bezahlen zu müssen … Ich hasse das. Wenn ich glauben könnte, dass ich sie beschützen könnte, indem ich gehe, dann -würde ich gehen. Das würde ich, Carla! Oh Gott, du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mir wünsche, dass das alles vorbei ist. Vielleicht ist es doch meine Schuld, weil ich nicht mehr ohne sie leben kann. Aber ich … ich kann sie nicht mehr aufgeben. Ich kann einfach nicht!“, stammelt Istvan aufgebracht. Mein Herz pochte schmerzhaft. Wie sie so aufeinander losgingen, all diese traurigen Worte meinetwegen, war zu viel für mich. Ich stand auf und ging in Richtung Tür, um das endlich zu beenden.
 
Doch ehe ich die Tür noch erreichte, hörte ich Carla etwas sagen. Ihre Stimme wurde ganz sanft und leise. Das ließ mich zögern.
„Du liebst sie wirklich“, sagte sie und schien es endlich zu verstehen.
„Mehr als mein Leben“, sagte er so schlicht, dass es mir durch und durch ging. Niemand sollte so leichthin über sein eigens Leben sprechen, dachte ich, schon gar nicht er.
„Dann versprich mir, dass du tust, was du kannst, um sie vor was auch immer zu beschützen“, verlangte sie scharf.
„Fest versprochen“, antwortete Istvan ernst. Ich hörte, wie er seine Hand auf die Klinke legte, und schreckte automatisch zurück.
„Ach, Istvan“, sagte Carla, als wäre ihr gerade aufgegangen, dass er einen Namen hatte. „Wenn du dich je gefragt hast, ob es vor dir jemanden gegeben hat, der zählte …“ Eine unerträgliche Pause folgte.
„Hat es nicht“, ließ sie ihn wissen.
Wieso Carla ihm das hatte sagen müssen, war mir ein Rätsel. Ich war mir ziemlich sicher, dass Istvan schon vorher gewusst hatte, dass es niemanden außer ihm für mich gab. Vermutlich war Carla, nachdem ihre Wut verraucht war, bewusste geworden, was für ein umwerfender Mann da vor ihr stand. Istvan hatte diese Wirkung auf Menschen, man konnte ihm kaum widerstehen, wenn er einen mit diesen wunderschönen Augen ansah. Mir ging es zumindest so.
Deshalb strahlte ich auch etwas verlegen, als Istvan die Tür öffnete und nicht im Mindesten überrascht war, mich lauschend hinter ihr vorzufinden.
„Du hast also alles gehört“, stellte er neutral fest.
„Jedes Wort, jedes gute und jedes schlechte“, murmelte ich und nahm den Beutel mit meinen feuchten Sachen.
„Vielleicht hasst sie mich jetzt ein bisschen weniger“, meinte er kaum überzeugt und nahm mir den Beutel ab, als wäre ich schwer krank.
„Sie hasst dich nicht. Carla macht sich nur Sorgen und weiß nicht, wie sie mit allem umgehen soll“, verteidigte ich sie und nahm ihm den Beutel wieder ab, auf eine Weise, die klarmachte, dass ich sehr wohl in der Lage war, einen lächerlichen Beutel tragen zu können.
„Tja, weißt du. Da ist sie nicht die Einzige“, brummte er.
„Ich finde, mein Lebensretter zu sein, beweist, dass du das schon hinbekommst“, flüsterte ich sanft und lehnte mich kurz an ihn. Er sollte spüren, dass mein Herzschlag ruhig blieb, trotz seiner Nähe. Ich log nicht, davon wollte ich ihn überzeugen. Ob es funktionierte, wusste ich nicht. Der abgespannte, müde Eindruck wollte nicht von ihm weichen.
„Holen wir meine Papiere und verschwinden von hier“, sagte ich ganz schön fertig. Ich hatte genug Spital für diesen Monat gesehen. Mir reichte es. Er schob mich sanft durch die Tür und vermied es sehr deutlich, meine Hüfte zu berühren.
Gleich, nachdem er mich nach Hause gebracht hatte, steckte er mich zusammen mit einem Liter Tee ins Bett und rief die Valentins an, die ihm schon Dutzende Nachrichten hinterlassen hatte. Ich bat ihn, mich zu entschuldigen. Auch nur ein weiteres „Wie geht es dir?“ und ich wäre an die Decke gegangen.
„Alles geregelt?“, fragte ich eher lustlos, als er wieder in mein Zimmer, das Krankenzimmer, kam.
„So ziemlich“, antworte er knapp. Ich lockte Istvan mit meinem Zeigefinger zu mir ins Bett. Nach kurzem Zögern folgte er meiner Bitte. Das Zögern gefiel mir gar nicht. So unbeteiligt, wie ich nur konnte, fragte ich: „Haben sie schon eine Idee, wie er das anstellt? Wie er unbemerkt auftauchen kann?“
Er schüttelte nur den Kopf. Jetzt konnte er noch nicht da-rüber sprechen, das hätte ich wissen müssen. „Aber solange das nicht geklärt ist, gehen du und ich nicht in den Wald. Verstanden?“, fragte er mich eindringlich.
„Wieso du? Ich meine, dass ich mich besser fernhalten soll, ist mir klar, aber …“
„… Wo du bist, bin auch ich“, unterbrach er mich, „ob du arbeitest oder nicht, ist mir völlig egal. Aber bis diese Sache nicht ausgestanden ist, lasse ich dich nicht mehr alleine.“
„Versprochen?“, fragte ich mit einem schiefen Lächeln.
„Ja“, antworte er knapp. Ich bekam weder ein Lächeln noch eine Umarmung retour. Ich brauchte wirkungsvoller Waffen.
 
„Kannst du mir bitte eine Bürste bringen?“, bat ich ihn und löste den lockeren Knoten in meinem Nacken. Ohne zu antworten, stand er auf und holte mir die schwarze Bürste aus dem Bad.
Ich nahm sie ihm ab und zwang ihn gleichzeitig, sich wieder zu mir aufs Bett zu setzen. So musste er mir dabei zu-sehen, wie ich mir das Haar bürstete.
„Sehen sie jetzt wieder ordentlich aus?“, fragte ich ihn und versuchte seinen Blick zu halten, der kurz über meinen Kopf wanderte.
„Schön. Wie immer“, sagte er etwas verhalten. Ich lächelte zufrieden und ließ mich wieder auf das Kissen zurücksinken. Es tat gut, das eigene, weiche Bett zu spüren anstelle von kratzigen Krankenhauslaken.
„Weißt du, diese Hüfte hat nichts abbekommen. Es ist also völlig O. K., wenn du dich auf dieser Seite zu mir legst“, ließ ich ihn wissen und klopfte einladend auf die Bettdecke neben mir. Er legte sich so vorsichtig neben mich, als wäre ich aus Glas. Doch ich war aus wesentlich härterem Material geschaffen, das sollte er wissen.
„Mir ist noch etwas kalt, also könntest du ein wenig näher rutschen“, schwindelte ich ein wenig, damit er mir näher kam. Istvan gehorchte sofort. Nach einer Weile wich die bedrückte Stimmung etwas von ihm und er begann mir übers Haar zu streichen. Bis zum Rücken ließ er seine Hand leiten, ganz vorsichtig. In dem Moment vergaß ich alles, was noch an diesem Tag geschehen war. Sogar mein Todeskampf schien mir kaum noch von Bedeutung. Dennoch machte mich die Art, wie er mein Haar liebkoste, befangen. Vielleicht sagte ich es deshalb.
„Würdest du mich noch lieben, wenn ich mir die Haare abschneiden würde?“
„Ja“, antwortete er bestimmt. „Aber ich wäre verflucht sauer auf dich.“ Bei seinem übertrieben säuerlichen Gesichtsausdruck musste ich einfach lachen. Es war zu komisch. Meine Un-sicherheit nach allem, was heute passiert war und dann seine übertriebene Reaktion.