23. Wendepunkte
 
 
„Wie oft soll ich es dir noch sagen? Es geht mir gut“, stöhnte ich verzweifelt. Aber es war von der Wahrheit soweit entfernt wie nur irgendwas. Denn jede Nacht, seit ich fast ertrunken wäre, quälten mich Albträume. Doch sie enthielten keine rätselhafte Botschaft für mich. Sie jagten mir nur furchtbare Angst ein. Manchmal träumte ich sogar, dass ich es nicht geschafft hatte, und sah meinen eigenen leblosen Körper daliegen. Istvan ließ sich jedoch nichts vormachen, egal, wie oft ich das Wort „Gut“ auch überstrapazierte.
„Ich glaube dir nicht. Du zuckst ständig zusammen, wenn du auch nur ein lautes, ungewöhnliches Geräusch hörst“, erinnerte er mich. Verdammt! Wieso gelang es mir nicht, mich zusammenzureißen, so wie immer. Das hier, diese Überreaktionen, sahen mir nicht ähnlich. Ich hatte doch schon Schlimmeres überstanden. Und dennoch kam ich nicht darüber hinweg. Aber ich schätze, dass jeder, der um Haaresbreite zweimal im selben See ertrunken wäre, mit einem Trauma zu kämpfen hätte. Das Einzige, was mir half, nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren, war er. Istvan versuchte, ständig an meiner Seite zu bleiben. Diesmal war es ihm völlig egal, wie schwierig es war, das für mich zu tun. Die Geheimhaltung hielt ihn auch nicht davon ab, selbst bei der Arbeit über mich zu wachen. So schloss die Bücherei öfter einmal und ein gewisser schwarzer Camaro folgte mir mit Abstand. Noch immer hatte keiner von uns, auch Valentin und Jakov nicht, eine brauchbare Theorie darüber, wie Farkas’ Trick mit dem Auftauchen aus dem Nichts funktionierte. Ein Teil von mir vermisste meine neuen Freunde, die ich nicht besuchen konnte, weil ich nicht in den Wald durfte und sie so mit Nachforschungen und Patrouillen beschäftigt waren, dass dafür keine Zeit blieb. Man hätte meinen sollen, dass ich anfangen würde, unter einer Art Lagerkoller zu leiden. Aber es war unmöglich, Istvans Nähe nicht zu genießen. Solange er da war und wir uns nicht über meinen Zustand oder über meine Sicherheit stritten, fühlte ich mich vollkommen sicher und absurderweise zufrieden. Schließlich schlich er sich sogar am helllichten Tag zu mir und verlangte ausdrücklich, dass ich jede Nacht bei ihm schlief, weil mein Haus zu nah am Waldrand stand. Mit werkwürdiger Faszination sah ich zu, wie der riesige Fleck auf meiner Hüfte und der weniger aufdringlichere auf meinem Bauch ständig die Farben wechselten, bis sie immer mehr verblassten und kaum noch wehtaten. Dennoch erwischte ich Istvan beinahe jede Nacht dabei, dass er sie jedes Mal, wenn meine Kleidung ungünstig verrutscht war, anstarrte.
„Bitte hör auf damit! Ich will nicht ständig daran erinnert werden“, bat ich ihn eines Nachts. Er zog mein Oberteil behutsam darüber und sagte: „Es tut mir leid. Daran habe ich nicht gedacht.“ Dann wurde er plötzlich richtig wütend.
„Als ob die Albträume nicht schon genug wären, muss ich Idiot auch noch ständig auf deine blauen Flecke starren. Wie kann man nur so dämlich sein, hm?“, fauchte er bitter. Seine Augen funkelten ganz merkwürdig.
„Nicht das! Istvan – bitte!“ Ich zeigte ihm deutlich, dass ich es jetzt nicht ertragen würde, wenn er seinen Schuldgefühlen freien Lauf ließe.
Mit einer reichlich ungeschickten Geste packte ich sein Gesicht – Gott, wie gut sich das anfühlte! – und hielt es Hilfe suchend zwischen den Handflächen. „Sei einfach nur da. Mehr brauch ich nicht. Wenn ich fühle, dass du wirklich da bist, werden die Träume nicht kommen“, hoffte ich wirklich. Er nickte müde, eher er meine Hände von sich nahm, um mich sehr behutsam an sich zu ziehen. Es war solange her, dass er mich wirklich berührt und dass wir miteinander geschlafen hatten. Doch ich wusste, dass ich ihm jetzt Zeit geben musste und mir auch. Es fiel mir nur so schwer, ihn nicht zu berühren, wenn er so dicht bei mir lag. Doch er küsste mich so sanft und tief, dass mir ganz warm wurde und fürs Erste war das viel mehr als nur genug.
 
Istvan war eine viertel Stunde überfällig. Istvan war niemals überfällig. Mein Schatten konnte sich nicht verspäten. Deshalb fing ich gleich an, die schlimmsten Sachen anzunehmen, und wollte gerade die Kavaliere, besser bekannt als Valentins, alarmieren, als er doch noch zur Tür hereinkam. Die Bibliothek war glücklicherweise wie ausgestorben. Sofort ließ ich das Handy wieder zuschnappen und beförderte es so in meine Tasche, dass er es nicht merkte, weil er mich ansah. Besser, er weiß nicht, dass ich mir gleich Sorgen gemacht habe, paranoid, wie ich bin, dachte ich und schenkte ihm dabei ein nervöses Lächeln.
„Hi. Ich dachte, du kommst um drei“, sagte ich beiläufig, als wäre nichts gewesen.
„Wollte ich auch“, meinte er. Dann hauchte er ein „Hey“, küsste mich auf die Wange, nur um mich erneut zu verun-sichern. Der Kuss war so förmlich, fast schon gezwungen. Istvan war angespannt, nervös und konnte mir nicht richtig in die Augen sehen. Wäre er ein Teenager, hätte ich gesagt, dass er mit Sicherheit etwas ausgefressen hatte. Aber bei unserem Leben handelte es sich garantiert um ein ernsteres Problem. Wenigstens darauf war Verlass.
„OK. Was ist los?“, brachte ich es auf den Punkt. „Sag’s mir lieber gleich, ja.“
„Joe … ich kann’s kaum fassen, was ich gleich sagen werde …“ Istvan zögerte. Er trat von einem Fuß auf den -anderen, schindete Zeit und sah mich immer noch nicht an. Ich -kreuzte die Arme vor der Brust, um mich wenigstens irgendwie zu wappnen.
„Was?“, fragte ich aufgebracht. Meine Stimme kippte ungewollt. Er hob seinen Blick und kreuzte meinen, ohne ein eindeutiges Gefühl erkennen zu lassen. Das schaffte mich. Und dann hörte ich ihn etwas sagen, was mich beinahe dazu gebracht hätte, hysterisch loszulachen, weil ich mir sicher war, dass ich mich verhört haben musste. Denn es klang, als hätte er gesagt: „Ich muss dich heute zu den Valentins bringen … in den Wald.“ Das Dumme war nur, er hatte genau das gesagt.
 
„O. K, wir sind hier. Auch wenn ich es noch immer nicht fassen kann.“ Ich atmete tief aus. „Wieso bin ich hier?“
Istvan stellte den Motor ab, drehte sich in seinem Sitz zu mir. Besorgt musterte er mich, als er murmelte: „Es gibt ein Buch in der geheimen Sammlung, das ich dir zeigen muss.“
„Aber wieso hast du es nicht einfach zu dir mitgenommen?“, wollte ich wissen und war mir nur allzu bewusst, wie feige das klang.
„Weil es nicht unbeaufsichtigt bleiben darf … Wenn du es siehst …, es verstehst, wirst du wissen, was ich meine.“ Sein Blick durchbohrte mich regelrecht, dass es bis in meine Magengrube drang.
Obwohl er mich zur Jagdvilla in den Wald brachte, hatte ich das Gefühl, dass er mit sich und dieser Entscheidung im Zwiespalt befand. Istvan stieg langsam aus, öffnete meine Autotür und hielt mir seine Hand hin. Ich nahm sie und versuchte den Weg zu Villa entlang nicht in die Richtung zu sehen, wo Farkas mir aufgelauert hatte. Und dennoch zogen sich meine Eingeweide heftig zusammen. Als könnte er es ahnen, drückte Istvan meine Hand.
„Keine Sorge. Solange du hier bist, bewachen sie die Villa mit Argusaugen“, erklärte er und deute auf Jakov, Serafina und Woltan, die Position um das Gebäude bezogen hatten. Jeder von ihnen nickte mir kurz zu. Ich kam mir vor, als würde ich zu einem versteckten Gipfeltreffen geführt. Schließlich schafften wir es bis ins Haus, wo Valentin uns schon offenkundig erwartete. Seine elegante Haltung kam mir zum ersten Mal wie eine bröckelnde Fassade vor, auch wenn ich nicht wusste, was diesen Eindruck weckte.
„Schön euch zu sehen. Auch wenn die Umstände … na ja … erfreulicher sein könnten.“
„Es freut mich auch, Valentin“, log ich in guter Absicht. „Aber wieso bin ich wirklich hier? Istvan scheint mir nichts Genaues sagen zu wollen“, murmelte ich angespannt und voller Ungeduld. Und was sagte er dann auch noch, die geballte Macht seiner Samtstimme gebrauchend? „Hab Geduld. Du wirst es bald verstehen.“ Als er sah, dass die Wirkung seiner Worte bei mir fehlschlug, drückt er mir aufmunternd die Schulter. Danach wandte ich mich müde und unverstanden dem verstummten Istvan zu, der wie ein Requisit vor der Kellertür stand, darauf wartend, dass ich zu ihm kam. Mit einem mulmigen Gefühl folgte ich ihm, bis ich vor der Treppe zum Keller stand. Er knipste eine hin- und herschwankende Lampe an und ging voran. Die knarrenden Holztreppen schienen mich nur schlecht zu tragen, als ich ihm ins Dunkle folgte. Ich hörte eine verzogene Tür scharren. Dann umwehte mich ein feuchter, muffiger Geruch. Als ich durch die schemenhaft zu sehende Tür trat, flackerte eine Öllampe auf, die Istvan gerade dabei war anzuzünden. Der kleine Raum war jetzt schwach beleuchtet. Drei alte, raue Regale standen an einer Wand. Davor befand sich ein einfacher Tisch mit zwei Stühlen, auf dem die Lampe stand. Das war es also: das sogenannte Spezialarchiv, Istvans geheime Sammlung. Alles wirkte reichlich improvisiert. Die meisten Bücher schienen mir sehr alt zu sein, doch das Licht war zu schwach, als dass man etwas genauer lesen konnte. Istvan sagte nichts, während ich mich zögernd umsah. Er beobachtete mich stattdessen.
„Wieso jetzt? Nach all den Monaten … wieso zeigst du es mir jetzt?“
Er tat noch einen Schritt zurück, weg von mir, bis er an der Regalwand lehnte. Er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nachdem du fast ertrunken wärst …“ Er stöhnte auf, schloss die Augen und begann noch mal. „Erinnerst du dich noch, als du so fest geschlafen hast? An dem Abend habe ich Valentin angerufen und gebeten, zu mir zu kommen. Ich habe im klar gemacht, dass ich nichts, was dir vielleicht helfen könnte, länger verschweigen werde und das er mir besser erlauben sollte, dir das Geheimnis zu verraten, wenn ihm dein Leben etwas bedeutet und er sich nicht mit mir anlegen möchte.“ Er sprach ganz ruhig. Klar. Ich musste schlucken. Ich konnte kaum glauben, dass er Valentin gedroht hatte. Meinetwegen. Nach allem, was Valentin und seine Familie für uns getan hatten und noch immer taten. Istvan musste völlig außer sich vor Angst gewesen sein.
„Und da hat er es dir erlaubt?“, meinte ich unsicher. „Ja, hat er“, antwortete er knapp. „Wieso bist du dann so … angespannt?“
„Weil das Geheimnis, unser aller Geheimnis, etwas Grauen-volles ist. Etwas Dunkles, das schon viel Unheil angerichtet hat“, erklärte er mir eindringlich, drehte sich dabei um und zog einen alten Ledereinband hervor, in dem viele lose Blätter zusammengehalten wurden. „Das hier …“, er deutete auf den Band, den er auf den Tisch legte, „… erklärt es besser, als ich es je könnte“, meinte er, das Stoffband lösend, das die Seiten zusammenhielt. Istvan rückte einen Stuhl zurecht und bat mich, Platz zu nehmen. Ich tat es und wartete, dass er sich zu mir setzen würde, doch er trat zurück und lehnte sich erneut gegen die Bücherwand, mit überkreuzten Armen und angespanntem Kiefer. „Du musst wissen, wir behalten es nur in unserem Besitz, damit jeder, der zu diesem Leben gezwungen ist, versteht, wie wichtig es ist, das Geheimnis zu kennen und zu wahren.“
Istvans dunklen Augen bohrten sich mit jedem Wort tiefer in meine, bis mir eine unheilvolle Gänsehaut über den Rücken lief.
Ohne sich zu bewegen, nickte er schroff mit dem Kinn in meine Richtung. Seine Stimme war dunkel und fern.
„Lies!“
Also begann ich laut zu lesen, was gar nicht so einfach war, denn die Schrift des Textes war vergilbt und in einer schnellen, unordentlichen Schreibschrift gehalten, die das dürftige Licht kaum verbesserte.
 
Leipzig, den 24. September 1799,
Wohlverehrter Herr,
mit klammen Herzen erhielten wir Ihren Brief vom Lande. Noch immer scheinen uns die geschilderten Geschehnisse unbegreiflich. Dennoch sind wir übereingekommen, eine Abschrift des Berichtes, welcher dieser tapfere Jäger in solch edler Gesinnung anfertigte, unserer Chronik beizufügen. Sollte nur die geringste Möglichkeit bestehen, dass die dargelegten Gräueltaten der Wahrheit entsprechen und der Teufel dieses arme Dorf heimzusuchen pflegt, dürfen wir als brave Christenmenschen nicht hintant-sehen unsere heilige Pflicht zu erfüllen, indem wir die Kunde verbreiten. Um auch Ihrer Dorfchronik eine Abschrift zuzuführen, ließ ich eine solche anfertigen und habe mir erlaubt, sie diesem Brief beizulegen.
Möge Gott uns beistehen.
Ihr treuer …
 
Der Rest war derart vergilbt, dass man ihn nicht mehr lesen konnte. Das galt auch für das Postskriptum. Verständnislos sah ich zu Istvan. Er sah mich unverwandt an, stöhnte leise auf und bat mich nur weiterzulesen, was ich tat.
 
… Fürwahr ich sage euch, in diesem Sommer trieb der -Teufel in einer seiner zahllosen Verkleidungen sein Unwesen in den Wäldern, die unser braves Dorf umgeben. Ich selbst glaubte der Geschichte meines alten Jagdgefährten zunächst nicht, wie ich zu meiner Schande eingestehen muss. Folgendes war passiert:
Mein alter Freund kam nach einem Waldspaziergang, zu dem er immer seine Büchse mitzunehmen pflegt, zurück und berichtete von seinem Erlebnis. In unserem Jagdrevier sei ihm ein ungewöhnlich aussehender Wolf begegnet, der ein Reh habe anfallen wollen, das er gerade selbst zu erlegen hoffte. Als sich ein Schuss löste, sei der Wolf unversehens auf ihn aufmerksam geworden. Er habe demnach seine Büchse gehoben und dem Tier in die Vorderpfote geschossen. Den hinkenden Wolf verfolgend, bemerkte mein Freund, dass dieser sich merkwürdig schnell von seiner Wunde erholte. Noch einmal schoss er auf das kräftige Tier und verletzte es schwer. Wo er doch das Reh verloren hatte, wollte er zumindest in Besitz des Wolfsfelles gelangen. Er folgte ihm. Die Spur des Tieres endete plötzlich vor einer kleinen Hütte. Da Licht brannte und Blut zu sehen war, trat mein Jägerfreund ein und fand eine Frau vor, die einen nackten Mann ohne Besinnung verband. Mein Freund, ein treuer Christ, wusste sofort, dass er auf Treiben des Teufels gestoßen war, und machte sein Kreuz, ehe er ins Dorf zurückkehrte, wo er mich beim Wirt fand und mir von dem Unwesen berichtete, das unser Landen heimsucht.
Ich, als der älteste Jäger unseres Dorfes, nahm drei weitere Männer samt ihrer Büchsen in die Pflicht. Nachdem wir den Segen des Pfarrers empfangen hatten, machten wir uns gen Wald auf, um den Mannwolf zu stellen. Doch erst, als auch ich den rie-sigen Wolf mit den Teufelsaugen bei Vollmond vor die Büchse bekam, schenkte ich der Geschichte meines Freundes Glauben. So schnell war er, dass jeder der Männer mir beipflichtete, es könne kein gewöhnliches Wolfsvieh sein. Selbst in den Morgenstunden, nach einer endlosen Treibjagd, gelang es uns nicht, das Wolfstier zu stellen und es von Gottes Erde zu tilgen. Unverrichteter Dinge mussten wir ins Dorf zurückkehren, wo unser Bürgermeister ein Verbot aussprach, den Wald bei Strafe zu -betreten. Meine Männer und ich warteten und machten uns bereit. Wir hatten dem Teufel eine Falle errichtet. Das Licht des Tages nutzend, gruben wir eine Grube, die wir mit einem Fischnetz und Waldlaub bedeckten. Wir hatten genug Bleikugeln – dem Schmied sei Dank – in unserem Besitz, um das Unding zu erlegen. Bei Einbruch der Nacht versammelten wir uns bei der Hütte, wo das Wolfswesen zumeist gesehen ward. Einer der jungen Männer entdeckte das Tier und rief verängstigt, dass dem sogar zwei seien. In meine Richtung kam das teuflische Paar. Ich legte auf die seelenlosen Augen an und traf das kleinere Tier. Zurückgetrieben wichen sie unseren Büchsen aus, bis sie auf den Grubenrand trafen. Mit lautem Geheul fielen sie in die tiefe Grube und wanden sich winselnd umher. Die Büchse in Händen auf die Untiere gerichtet, wartete ich auf meine Männer. Als sie sahen, was ich sah, stand ihnen die Angst ins Antlitz geschrieben. Der kleinere Wolf schüttelte sich wie toll. Aber es war kein Schaum vor dessen Maul. Wir legten gemeinsam an und ein jeder schoss seine Bleikugel auf die Wolfsgetiere ab. Doch als sich der Rauch unserer Büchsen gesenkt hatte, blickten unsere starren Gesichter auf einen zuckenden Weiberleib und einen zerschossenen Mannskörper, dessen bleicher Leib sich ebenfalls in toller Verzückung hin und her wand. In fremden Zungen keuchten sie einander an. Ich dachte so bei mir: „Aber ihr Gebet sprechen diese Ketzer nicht!“ Es mag fast eine halbe Stunde dahingegangen sein, bevor die Teufelswesen endlich verendet waren. Ich befahl, sie auf keinen Fall zu berühren, damit des Teufels Pest nicht auf meine Männer übergreifen würde. So füllten wir die Grube mit Erde und tilgten die letzten Überreste dieser Unwesen von Gottes Angesicht. Gegen Morgen kam der Pfarrer, sprach seine Gebete und segnete die verfluchte Stelle mit Weihwasser.
Seit diesen Tagen sind wieder Fried und Ruh in mein Dorf eingekehrt. Der Bürgermeister und ich sind dennoch übereingekommen, jeden Wolf, der in unseren Wäldern gesichtet wird, zu erschießen. Wie der Pfarrer sagt: ‚Gott hilft denen, die sich selber helfen.‘ Wir braven Leute wissen jetzt, wie dem Teufel in seiner Wolfshaut beizukommen ist.
 
Paul Andreas Hofer, Jäger
 
Ich war sprachlos. Und das lag nicht nur an der scheußlichen Geschichte, die ich gerade laut gelesen hatte. Mir schwirrten zahllose Gedanken und Fragen im Kopf herum. Das Schlimmste war, dass ich, als ich die Geschichte las, sie nicht aus der Sicht der Menschen sah. Zuerst sah ich in dem armen, verletzten Werwolf Istvan und in der Frau, die ihn verband, mich selbst. Als mir klar wurde, dass seine Gefährtin ebenfalls ein Wolf war, begann ich die beiden mit den Gesichtern von Jakov und Serafina zu sehen. Die Grausamkeit, mit der man diese armen Menschen zu Tode gehetzt hatte, schockierte mich. Der selbstgerechte Ton des Jägers, der in den kurzen Zeilen durchschien, brachte mich fast in Rage, deshalb sagte ich auch:
„Das ist unfassbar. Diese Grausamkeit. Diese Ignoranz. Die beiden haben doch niemanden etwas getan und wurden abgeschlachtet. Einfach so. Ohne jede Reue …“ Meine Wut entging Istvan keineswegs. Ich hatte erwartet, dass er ebenso empört sein würde, wie ich. Doch er zuckte nur mit den Schultern und atmete durch die Nase.
„Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass dieser Vorfall ein Einzelfall war. Doch weit gefehlt. Nachdem sie die Sache mit dem Blei raus hatten, waren wir innerhalb kurzer Zeit beinahe ausgerottet. Das war aber schon lange vor diesem Bericht … Er ist nur der einzig schriftliche Beweis unseres -Geheimnisses, den ich kenne. In anderen Quellen wird oft von Silber geredet oder von anderen Dingen, die allesamt keine Auswirkungen auf uns haben.“ Er machte eine Pause und setzte sich nun doch zu mir. Von Angesicht zu Angesicht starrten wir uns ernst und nachdenklich an.
„Blei also“, murmelte ich. „Darauf wäre ich nie gekommen. Es ist so … fatal. Ich meine, waren nicht lange Zeit so gut wie alle Kugeln aus Blei!“, stieß ich erschrocken hervor. Er nickte stumm. Oh!
„Heutzutage hat sich das sehr verändert. Es gibt nur noch wenige Patronen, die Blei enthalten. Es ist eher die Ausnahme.“
„Aber wie tötet euch das Blei?“, fragte ich, obwohl ich es mir nicht vorstellen wollte.
„Du hast bestimmt schon mal von Bleivergiftung gehört … sagen wir mal, für uns ist Blei das extremste Gift, das es gibt. Wir reagieren unmittelbar darauf. In diesem Fall ist die Dosis völlig egal. Gelangt nur eine winzige Spur des Metalls in unseren Blutkreislauf, geht es mit uns zu Ende.“ Als er den Satz beendet hatte, war eine unangenehme Stille zwischen uns getreten, die mit Händen greifbar war.
„Niemals …“, sagte ich fest und fixierte seine dunkelgrünen Augen, „niemals werde ich einer Menschenseele außerhalb dieses Raums davon erzählen“, schwor ich ihm.
„Das weiß ich doch, Joe“, flüsterte er ernst.
„Aber Istvan, wieso denkst du, dass ich es jetzt wissen muss?“, wollte ich von ihm wissen. „Deshalb“, sagte er erzwungen ruhig und holte dabei ein Messer unter dem Tisch hervor, das er sehr vorsichtig am Holzgriff anfasste. Die Klinge war seltsam. Sie schimmerte dunkel und war eher rau als glatt. Eine Stahlklinge war das nicht.
„Ein Bleimesser!“, stöhnte ich laut. „Nach allem, was du mir gerade begreiflich machen wolltest …, ausgerechnet ein Bleimesser!“ Ich suchte nach einer Antwort in seinen Augen, fand aber nur ruhige Entschlossenheit darin.
„Valentin ließ es für dich machen. Ein großer Vertrauensbeweis, wie du dir sicher vorstellen kannst!“ Ich nickte schwer.
„Willst du es nicht nehmen?“
Ja, keine Ahnung. Will ich etwas in die Hand nehmen, das Istvan mit ein paar Metallpartikeln das Leben kosten könnte? … Eher nicht! Streng schüttelte ich den Kopf. Streng und entschlossen packte er meine Hand und drücke mir das Messer in die Handfläche.
„Da …“, zischte er. „… gehört es hin!“
„Was soll das heißen?“
„Das soll heißen, wenn Farkas, Dimitri oder sonst einer von meinesgleichen dir so nahe kommt, wie ich es jetzt bin, und du dich bedroht fühlst, dann nimmst du es und jagst es ihm mitten ins Herz“, sagte er mit vollem Ernst. Ich starrte ihn mit aufgerissen Augen an. Hatte Istvan mir tatsächlich gerade gesagt, ich solle jemanden töten? Wie groß musste seine Angst sein, mich zu verlieren, wenn er so drastisch wurde? Ohne Umschweife.
„Willst du das wirklich?“, fragte ich ihn zweifelnd.
„Ja! … Aber sei verdammt vorsichtig damit. Benutz es nur, wenn du dir absolut sicher bist“, warnte er mich mit besorgtem Gesicht.
„Das werde ich“, versprach ich ihm, legte das Bleimesser, soweit der Tisch es zuließ, weg von ihm und umarmte ihn fest, aber voller Angst.