23. Wendepunkte
„Wie oft soll ich es dir noch sagen? Es geht mir
gut“, stöhnte ich verzweifelt. Aber es war von der Wahrheit soweit
entfernt wie nur irgendwas. Denn jede Nacht, seit ich fast
ertrunken wäre, quälten mich Albträume. Doch sie enthielten keine
rätselhafte Botschaft für mich. Sie jagten mir nur furchtbare Angst
ein. Manchmal träumte ich sogar, dass ich es nicht geschafft hatte,
und sah meinen eigenen leblosen Körper daliegen. Istvan ließ sich
jedoch nichts vormachen, egal, wie oft ich das Wort „Gut“ auch
überstrapazierte.
„Ich glaube dir nicht. Du zuckst ständig zusammen,
wenn du auch nur ein lautes, ungewöhnliches Geräusch hörst“,
erinnerte er mich. Verdammt! Wieso gelang es mir nicht, mich
zusammenzureißen, so wie immer. Das hier, diese Überreaktionen,
sahen mir nicht ähnlich. Ich hatte doch schon Schlimmeres
überstanden. Und dennoch kam ich nicht darüber hinweg. Aber ich
schätze, dass jeder, der um Haaresbreite zweimal im selben See
ertrunken wäre, mit einem Trauma zu kämpfen hätte. Das Einzige, was
mir half, nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren, war
er. Istvan versuchte, ständig an meiner Seite zu bleiben. Diesmal
war es ihm völlig egal, wie schwierig es war, das für mich zu tun.
Die Geheimhaltung hielt ihn auch nicht davon ab, selbst bei der
Arbeit über mich zu wachen. So schloss die Bücherei öfter einmal
und ein gewisser schwarzer Camaro folgte mir mit Abstand. Noch
immer hatte keiner von uns, auch Valentin und Jakov nicht, eine
brauchbare Theorie darüber, wie Farkas’ Trick mit dem Auftauchen
aus dem Nichts funktionierte. Ein Teil von mir vermisste meine
neuen Freunde, die ich nicht besuchen konnte, weil ich nicht in den
Wald durfte und sie so mit Nachforschungen und Patrouillen
beschäftigt waren, dass dafür keine Zeit blieb. Man hätte meinen
sollen, dass ich anfangen würde, unter einer Art Lagerkoller zu
leiden. Aber es war unmöglich, Istvans Nähe nicht zu genießen.
Solange er da war und wir uns nicht über meinen Zustand oder über
meine Sicherheit stritten, fühlte ich mich vollkommen sicher und
absurderweise zufrieden. Schließlich schlich er sich sogar am
helllichten Tag zu mir und verlangte ausdrücklich, dass ich jede
Nacht bei ihm schlief, weil mein Haus zu nah am Waldrand stand. Mit
werkwürdiger Faszination sah ich zu, wie der riesige Fleck auf
meiner Hüfte und der weniger aufdringlichere auf meinem Bauch
ständig die Farben wechselten, bis sie immer mehr verblassten und
kaum noch wehtaten. Dennoch erwischte ich Istvan beinahe jede Nacht
dabei, dass er sie jedes Mal, wenn meine Kleidung ungünstig
verrutscht war, anstarrte.
„Bitte hör auf damit! Ich will nicht ständig daran
erinnert werden“, bat ich ihn eines Nachts. Er zog mein Oberteil
behutsam darüber und sagte: „Es tut mir leid. Daran habe ich nicht
gedacht.“ Dann wurde er plötzlich richtig wütend.
„Als ob die Albträume nicht schon genug wären,
muss ich Idiot auch noch ständig auf deine blauen Flecke starren.
Wie kann man nur so dämlich sein, hm?“, fauchte er bitter. Seine
Augen funkelten ganz merkwürdig.
„Nicht das! Istvan – bitte!“ Ich zeigte ihm
deutlich, dass ich es jetzt nicht ertragen würde, wenn er seinen
Schuldgefühlen freien Lauf ließe.
Mit einer reichlich ungeschickten Geste packte ich
sein Gesicht – Gott, wie gut sich das anfühlte! – und hielt es
Hilfe suchend zwischen den Handflächen. „Sei einfach nur da. Mehr
brauch ich nicht. Wenn ich fühle, dass du wirklich da bist, werden
die Träume nicht kommen“, hoffte ich wirklich. Er nickte müde, eher
er meine Hände von sich nahm, um mich sehr behutsam an sich zu
ziehen. Es war solange her, dass er mich wirklich berührt und dass
wir miteinander geschlafen hatten. Doch ich wusste, dass ich ihm
jetzt Zeit geben musste und mir auch. Es fiel mir nur so schwer,
ihn nicht zu berühren, wenn er so dicht bei
mir lag. Doch er küsste mich so sanft und tief, dass mir ganz warm
wurde und fürs Erste war das viel mehr als nur genug.
Istvan war eine viertel Stunde überfällig. Istvan
war niemals überfällig. Mein Schatten
konnte sich nicht verspäten. Deshalb fing ich gleich an, die
schlimmsten Sachen anzunehmen, und wollte gerade die Kavaliere,
besser bekannt als Valentins, alarmieren, als er doch noch zur Tür
hereinkam. Die Bibliothek war glücklicherweise wie ausgestorben.
Sofort ließ ich das Handy wieder zuschnappen und beförderte es so
in meine Tasche, dass er es nicht merkte, weil er mich ansah. Besser, er weiß nicht,
dass ich mir gleich Sorgen gemacht habe, paranoid, wie ich
bin, dachte ich und schenkte ihm dabei ein nervöses
Lächeln.
„Hi. Ich dachte, du kommst um drei“, sagte ich
beiläufig, als wäre nichts gewesen.
„Wollte ich auch“, meinte er. Dann hauchte er ein
„Hey“, küsste mich auf die Wange, nur um mich erneut zu
verun-sichern. Der Kuss war so förmlich, fast schon gezwungen.
Istvan war angespannt, nervös und konnte mir nicht richtig in die
Augen sehen. Wäre er ein Teenager, hätte ich gesagt, dass er mit
Sicherheit etwas ausgefressen hatte. Aber bei unserem Leben
handelte es sich garantiert um ein ernsteres Problem. Wenigstens
darauf war Verlass.
„OK. Was ist los?“, brachte ich es auf den Punkt.
„Sag’s mir lieber gleich, ja.“
„Joe … ich kann’s kaum fassen, was ich gleich
sagen werde …“ Istvan zögerte. Er trat von einem Fuß auf den
-anderen, schindete Zeit und sah mich immer noch nicht an. Ich
-kreuzte die Arme vor der Brust, um mich wenigstens irgendwie zu
wappnen.
„Was?“, fragte ich aufgebracht. Meine Stimme
kippte ungewollt. Er hob seinen Blick und kreuzte meinen, ohne ein
eindeutiges Gefühl erkennen zu lassen. Das schaffte mich. Und dann
hörte ich ihn etwas sagen, was mich beinahe dazu gebracht hätte,
hysterisch loszulachen, weil ich mir sicher war, dass ich mich
verhört haben musste. Denn es klang, als hätte er gesagt: „Ich muss
dich heute zu den Valentins bringen … in den Wald.“ Das Dumme war
nur, er hatte genau das gesagt.
„O. K, wir sind hier. Auch wenn ich es noch immer
nicht fassen kann.“ Ich atmete tief aus. „Wieso bin ich
hier?“
Istvan stellte den Motor ab, drehte sich in seinem
Sitz zu mir. Besorgt musterte er mich, als er murmelte: „Es gibt
ein Buch in der geheimen Sammlung, das ich
dir zeigen muss.“
„Aber wieso hast du es nicht einfach zu dir
mitgenommen?“, wollte ich wissen und war mir nur allzu bewusst, wie
feige das klang.
„Weil es nicht unbeaufsichtigt bleiben darf … Wenn
du es siehst …, es verstehst, wirst du wissen, was ich meine.“ Sein
Blick durchbohrte mich regelrecht, dass es bis in meine Magengrube
drang.
Obwohl er mich zur Jagdvilla in den Wald brachte,
hatte ich das Gefühl, dass er mit sich und dieser Entscheidung im
Zwiespalt befand. Istvan stieg langsam aus, öffnete meine Autotür
und hielt mir seine Hand hin. Ich nahm sie und versuchte den Weg zu
Villa entlang nicht in die Richtung zu sehen, wo Farkas mir
aufgelauert hatte. Und dennoch zogen sich meine Eingeweide heftig
zusammen. Als könnte er es ahnen, drückte Istvan meine Hand.
„Keine Sorge. Solange du hier bist, bewachen sie
die Villa mit Argusaugen“, erklärte er und deute auf Jakov,
Serafina und Woltan, die Position um das Gebäude bezogen hatten.
Jeder von ihnen nickte mir kurz zu. Ich kam mir vor, als würde ich
zu einem versteckten Gipfeltreffen geführt. Schließlich schafften
wir es bis ins Haus, wo Valentin uns schon offenkundig erwartete.
Seine elegante Haltung kam mir zum ersten Mal wie eine bröckelnde
Fassade vor, auch wenn ich nicht wusste, was diesen Eindruck
weckte.
„Schön euch zu sehen. Auch wenn die Umstände … na
ja … erfreulicher sein könnten.“
„Es freut mich auch, Valentin“, log ich in guter
Absicht. „Aber wieso bin ich wirklich hier? Istvan scheint mir
nichts Genaues sagen zu wollen“, murmelte ich angespannt und voller
Ungeduld. Und was sagte er dann auch noch, die geballte Macht
seiner Samtstimme gebrauchend? „Hab Geduld. Du wirst es bald
verstehen.“ Als er sah, dass die Wirkung seiner Worte bei mir
fehlschlug, drückt er mir aufmunternd die Schulter. Danach wandte
ich mich müde und unverstanden dem verstummten Istvan zu, der wie
ein Requisit vor der Kellertür stand, darauf wartend, dass ich zu
ihm kam. Mit einem mulmigen Gefühl folgte ich ihm, bis ich vor der
Treppe zum Keller stand. Er knipste eine hin- und herschwankende
Lampe an und ging voran. Die knarrenden Holztreppen schienen mich
nur schlecht zu tragen, als ich ihm ins Dunkle folgte. Ich hörte
eine verzogene Tür scharren. Dann umwehte mich ein feuchter,
muffiger Geruch. Als ich durch die schemenhaft zu sehende Tür trat,
flackerte eine Öllampe auf, die Istvan gerade dabei war anzuzünden.
Der kleine Raum war jetzt schwach beleuchtet. Drei alte, raue
Regale standen an einer Wand. Davor befand sich ein einfacher Tisch
mit zwei Stühlen, auf dem die Lampe stand. Das war es also: das
sogenannte Spezialarchiv, Istvans geheime Sammlung. Alles wirkte
reichlich improvisiert. Die meisten Bücher schienen mir sehr alt zu
sein, doch das Licht war zu schwach, als dass man etwas genauer
lesen konnte. Istvan sagte nichts, während ich mich zögernd umsah.
Er beobachtete mich stattdessen.
„Wieso jetzt? Nach all den Monaten … wieso zeigst
du es mir jetzt?“
Er tat noch einen Schritt zurück, weg von mir, bis
er an der Regalwand lehnte. Er verschränkte die Arme vor der
Brust.
„Nachdem du fast ertrunken wärst …“ Er stöhnte
auf, schloss die Augen und begann noch mal. „Erinnerst du dich
noch, als du so fest geschlafen hast? An dem Abend habe ich
Valentin angerufen und gebeten, zu mir zu kommen. Ich habe im klar
gemacht, dass ich nichts, was dir vielleicht helfen könnte, länger
verschweigen werde und das er mir besser erlauben sollte, dir das
Geheimnis zu verraten, wenn ihm
dein Leben etwas bedeutet und er sich nicht
mit mir anlegen möchte.“ Er sprach ganz
ruhig. Klar. Ich musste schlucken. Ich konnte kaum glauben, dass er
Valentin gedroht hatte. Meinetwegen. Nach allem, was Valentin und
seine Familie für uns getan hatten und noch immer taten. Istvan
musste völlig außer sich vor Angst gewesen sein.
„Und da hat er es dir erlaubt?“, meinte ich
unsicher. „Ja, hat er“, antwortete er knapp. „Wieso bist du dann so
… angespannt?“
„Weil das Geheimnis, unser aller Geheimnis, etwas
Grauen-volles ist. Etwas Dunkles, das schon viel Unheil angerichtet
hat“, erklärte er mir eindringlich, drehte sich dabei um und zog
einen alten Ledereinband hervor, in dem viele lose Blätter
zusammengehalten wurden. „Das hier …“, er deutete auf den Band, den
er auf den Tisch legte, „… erklärt es besser, als ich es je
könnte“, meinte er, das Stoffband lösend, das die Seiten
zusammenhielt. Istvan rückte einen Stuhl zurecht und bat mich,
Platz zu nehmen. Ich tat es und wartete, dass er sich zu mir setzen
würde, doch er trat zurück und lehnte sich erneut gegen die
Bücherwand, mit überkreuzten Armen und angespanntem Kiefer. „Du
musst wissen, wir behalten es nur in
unserem Besitz, damit jeder, der zu diesem Leben gezwungen ist,
versteht, wie wichtig es ist, das Geheimnis zu kennen und zu
wahren.“
Istvans dunklen Augen bohrten sich mit jedem Wort
tiefer in meine, bis mir eine unheilvolle Gänsehaut über den Rücken
lief.
Ohne sich zu bewegen, nickte er schroff mit dem
Kinn in meine Richtung. Seine Stimme war dunkel und fern.
„Lies!“
Also begann ich laut zu lesen, was gar nicht so
einfach war, denn die Schrift des Textes war vergilbt und in einer
schnellen, unordentlichen Schreibschrift gehalten, die das dürftige
Licht kaum verbesserte.
Leipzig, den 24. September 1799,
Wohlverehrter Herr,
mit klammen Herzen erhielten wir Ihren Brief vom
Lande. Noch immer scheinen uns die geschilderten Geschehnisse
unbegreiflich. Dennoch sind wir übereingekommen, eine Abschrift des
Berichtes, welcher dieser tapfere Jäger in solch edler Gesinnung
anfertigte, unserer Chronik beizufügen. Sollte nur die geringste
Möglichkeit bestehen, dass die dargelegten Gräueltaten der Wahrheit
entsprechen und der Teufel dieses arme Dorf heimzusuchen pflegt,
dürfen wir als brave Christenmenschen nicht hintant-sehen unsere
heilige Pflicht zu erfüllen, indem wir die Kunde verbreiten. Um
auch Ihrer Dorfchronik eine Abschrift zuzuführen, ließ ich eine
solche anfertigen und habe mir erlaubt, sie diesem Brief
beizulegen.
Möge Gott uns beistehen.
Ihr treuer …
Der Rest war derart vergilbt, dass man ihn nicht
mehr lesen konnte. Das galt auch für das Postskriptum.
Verständnislos sah ich zu Istvan. Er sah mich unverwandt an,
stöhnte leise auf und bat mich nur weiterzulesen, was ich
tat.
… Fürwahr ich sage euch, in diesem Sommer trieb
der -Teufel in einer seiner zahllosen Verkleidungen sein Unwesen in
den Wäldern, die unser braves Dorf umgeben. Ich selbst glaubte der
Geschichte meines alten Jagdgefährten zunächst nicht, wie ich zu
meiner Schande eingestehen muss. Folgendes war passiert:
Mein alter Freund kam nach einem Waldspaziergang,
zu dem er immer seine Büchse mitzunehmen pflegt, zurück und
berichtete von seinem Erlebnis. In unserem Jagdrevier sei ihm ein
ungewöhnlich aussehender Wolf begegnet, der ein Reh habe anfallen
wollen, das er gerade selbst zu erlegen hoffte. Als sich ein Schuss
löste, sei der Wolf unversehens auf ihn aufmerksam geworden. Er
habe demnach seine Büchse gehoben und dem Tier in die Vorderpfote
geschossen. Den hinkenden Wolf verfolgend, bemerkte mein Freund,
dass dieser sich merkwürdig schnell von seiner Wunde erholte. Noch
einmal schoss er auf das kräftige Tier und verletzte es schwer. Wo
er doch das Reh verloren hatte, wollte er zumindest in Besitz des
Wolfsfelles gelangen. Er folgte ihm. Die Spur des Tieres endete
plötzlich vor einer kleinen Hütte. Da Licht brannte und Blut zu
sehen war, trat mein Jägerfreund ein und fand eine Frau vor, die
einen nackten Mann ohne Besinnung verband. Mein Freund, ein treuer
Christ, wusste sofort, dass er auf Treiben des Teufels gestoßen
war, und machte sein Kreuz, ehe er ins Dorf zurückkehrte, wo er
mich beim Wirt fand und mir von dem Unwesen berichtete, das unser
Landen heimsucht.
Ich, als der älteste Jäger unseres Dorfes, nahm
drei weitere Männer samt ihrer Büchsen in die Pflicht. Nachdem wir
den Segen des Pfarrers empfangen hatten, machten wir uns gen Wald
auf, um den Mannwolf zu stellen. Doch erst, als auch ich den
rie-sigen Wolf mit den Teufelsaugen bei Vollmond vor die Büchse
bekam, schenkte ich der Geschichte meines Freundes Glauben. So
schnell war er, dass jeder der Männer mir beipflichtete, es könne
kein gewöhnliches Wolfsvieh sein. Selbst in den Morgenstunden, nach
einer endlosen Treibjagd, gelang es uns nicht, das Wolfstier zu
stellen und es von Gottes Erde zu tilgen. Unverrichteter Dinge
mussten wir ins Dorf zurückkehren, wo unser Bürgermeister ein
Verbot aussprach, den Wald bei Strafe zu -betreten. Meine Männer
und ich warteten und machten uns bereit. Wir hatten dem Teufel eine
Falle errichtet. Das Licht des Tages nutzend, gruben wir eine
Grube, die wir mit einem Fischnetz und Waldlaub bedeckten. Wir
hatten genug Bleikugeln – dem Schmied sei Dank – in unserem
Besitz, um das Unding zu erlegen. Bei Einbruch der Nacht
versammelten wir uns bei der Hütte, wo das Wolfswesen zumeist
gesehen ward. Einer der jungen Männer entdeckte das Tier und rief
verängstigt, dass dem sogar zwei seien. In meine Richtung kam das
teuflische Paar. Ich legte auf die seelenlosen Augen an und traf
das kleinere Tier. Zurückgetrieben wichen sie unseren Büchsen aus,
bis sie auf den Grubenrand trafen. Mit lautem Geheul fielen sie in
die tiefe Grube und wanden sich winselnd umher. Die Büchse in
Händen auf die Untiere gerichtet, wartete ich auf meine Männer. Als
sie sahen, was ich sah, stand ihnen die Angst ins Antlitz
geschrieben. Der kleinere Wolf schüttelte sich wie toll. Aber es
war kein Schaum vor dessen Maul. Wir legten gemeinsam an und ein
jeder schoss seine Bleikugel auf die Wolfsgetiere ab. Doch als sich
der Rauch unserer Büchsen gesenkt hatte, blickten unsere starren
Gesichter auf einen zuckenden Weiberleib und einen zerschossenen
Mannskörper, dessen bleicher Leib sich ebenfalls in toller
Verzückung hin und her wand. In fremden Zungen keuchten sie
einander an. Ich dachte so bei mir: „Aber ihr Gebet sprechen diese
Ketzer nicht!“ Es mag fast eine halbe Stunde dahingegangen sein,
bevor die Teufelswesen endlich verendet waren. Ich befahl, sie auf
keinen Fall zu berühren, damit des Teufels Pest nicht auf meine
Männer übergreifen würde. So füllten wir die Grube mit Erde und
tilgten die letzten Überreste dieser Unwesen von Gottes Angesicht.
Gegen Morgen kam der Pfarrer, sprach seine Gebete und segnete die
verfluchte Stelle mit Weihwasser.
Seit diesen Tagen sind wieder Fried und Ruh in
mein Dorf eingekehrt. Der Bürgermeister und ich sind dennoch
übereingekommen, jeden Wolf, der in unseren Wäldern gesichtet wird,
zu erschießen. Wie der Pfarrer sagt: ‚Gott hilft denen, die sich
selber helfen.‘ Wir braven Leute wissen jetzt, wie dem Teufel in
seiner Wolfshaut beizukommen ist.
Paul Andreas Hofer, Jäger
Ich war sprachlos. Und das lag nicht nur an der
scheußlichen Geschichte, die ich gerade laut gelesen hatte. Mir
schwirrten zahllose Gedanken und Fragen im Kopf herum. Das
Schlimmste war, dass ich, als ich die Geschichte las, sie nicht aus
der Sicht der Menschen sah. Zuerst sah ich in dem armen, verletzten
Werwolf Istvan und in der Frau, die ihn verband, mich selbst. Als
mir klar wurde, dass seine Gefährtin ebenfalls ein Wolf war, begann
ich die beiden mit den Gesichtern von Jakov und Serafina zu sehen.
Die Grausamkeit, mit der man diese armen Menschen zu Tode gehetzt
hatte, schockierte mich. Der selbstgerechte Ton des Jägers, der in
den kurzen Zeilen durchschien, brachte mich fast in Rage, deshalb
sagte ich auch:
„Das ist unfassbar. Diese Grausamkeit. Diese
Ignoranz. Die beiden haben doch niemanden etwas getan und wurden
abgeschlachtet. Einfach so. Ohne jede Reue
…“ Meine Wut entging Istvan keineswegs. Ich hatte erwartet, dass er
ebenso empört sein würde, wie ich. Doch er zuckte nur mit den
Schultern und atmete durch die Nase.
„Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass dieser
Vorfall ein Einzelfall war. Doch weit gefehlt. Nachdem sie die
Sache mit dem Blei raus hatten, waren wir innerhalb kurzer Zeit
beinahe ausgerottet. Das war aber schon lange vor diesem
Bericht … Er ist nur der einzig schriftliche Beweis unseres
-Geheimnisses, den ich kenne. In anderen Quellen wird oft von
Silber geredet oder von anderen Dingen, die allesamt keine
Auswirkungen auf uns haben.“ Er machte eine Pause und setzte sich
nun doch zu mir. Von Angesicht zu Angesicht starrten wir uns ernst
und nachdenklich an.
„Blei also“, murmelte ich. „Darauf wäre ich nie
gekommen. Es ist so … fatal. Ich meine, waren nicht lange Zeit so
gut wie alle Kugeln aus Blei!“, stieß ich erschrocken hervor. Er
nickte stumm. Oh!
„Heutzutage hat sich das sehr verändert. Es gibt
nur noch wenige Patronen, die Blei enthalten. Es ist eher die
Ausnahme.“
„Aber wie tötet euch das Blei?“, fragte ich,
obwohl ich es mir nicht vorstellen wollte.
„Du hast bestimmt schon mal von Bleivergiftung
gehört … sagen wir mal, für uns ist Blei das extremste Gift, das es
gibt. Wir reagieren unmittelbar darauf. In diesem Fall ist die
Dosis völlig egal. Gelangt nur eine winzige Spur des Metalls in
unseren Blutkreislauf, geht es mit uns zu Ende.“ Als er den Satz
beendet hatte, war eine unangenehme Stille zwischen uns getreten,
die mit Händen greifbar war.
„Niemals …“, sagte ich fest und fixierte seine
dunkelgrünen Augen, „niemals werde ich einer Menschenseele
außerhalb dieses Raums davon erzählen“, schwor ich ihm.
„Das weiß ich doch, Joe“, flüsterte er
ernst.
„Aber Istvan, wieso denkst du, dass ich es
jetzt wissen muss?“, wollte ich von ihm
wissen. „Deshalb“, sagte er erzwungen ruhig und holte dabei ein
Messer unter dem Tisch hervor, das er sehr vorsichtig am Holzgriff
anfasste. Die Klinge war seltsam. Sie schimmerte dunkel und war
eher rau als glatt. Eine Stahlklinge war das nicht.
„Ein Bleimesser!“, stöhnte ich laut. „Nach allem,
was du mir gerade begreiflich machen wolltest …, ausgerechnet ein
Bleimesser!“ Ich suchte nach einer Antwort in seinen Augen, fand
aber nur ruhige Entschlossenheit darin.
„Valentin ließ es für dich machen. Ein großer
Vertrauensbeweis, wie du dir sicher vorstellen kannst!“ Ich nickte
schwer.
„Willst du es nicht nehmen?“
Ja, keine Ahnung. Will ich etwas in die Hand
nehmen, das Istvan mit ein paar Metallpartikeln das Leben kosten
könnte? … Eher nicht! Streng schüttelte ich
den Kopf. Streng und entschlossen packte er meine Hand und drücke
mir das Messer in die Handfläche.
„Da …“, zischte er. „… gehört es hin!“
„Was soll das heißen?“
„Das soll heißen, wenn Farkas, Dimitri oder sonst
einer von meinesgleichen dir so nahe kommt, wie ich es jetzt bin,
und du dich bedroht fühlst, dann nimmst du es und jagst es ihm mitten ins Herz“, sagte er mit
vollem Ernst. Ich starrte ihn mit aufgerissen Augen an. Hatte
Istvan mir tatsächlich gerade gesagt, ich solle jemanden
töten? Wie groß musste seine Angst sein,
mich zu verlieren, wenn er so drastisch wurde? Ohne
Umschweife.
„Willst du das wirklich?“, fragte ich ihn
zweifelnd.
„Ja! … Aber sei verdammt vorsichtig damit. Benutz
es nur, wenn du dir absolut sicher bist“, warnte er mich mit
besorgtem Gesicht.
„Das werde ich“, versprach ich ihm, legte das
Bleimesser, soweit der Tisch es zuließ, weg von ihm und umarmte ihn
fest, aber voller Angst.