21.
Überraschungsmoment
„Denkst du wirklich, dass das nötig ist?“ Er
reagierte nicht.
„Istvan“, rief ich fast, „ich rede mit dir!“
Wieder einmal starrte er auf meinen Verband und
war derart weggetreten, dass er mich überhörte. Er.
Ausgerechnet!
„Hmm? Entschuldigung, was hast du gesagt?“, fragte
er und ließ den Blick von meinem Arm wegschnellen. Es war zu spät
dafür. Ich atmete tief ein, bevor ich wiederholte: „Ich habe dich
gefragt, ob du denkst, dass es wirklich nötig ist, die Valentins
abwechselnd patrouillieren zu lassen.“ Er starrte mich an, als
liefe ich nicht ganz rund.
„Ja“, blaffte Istvan empört, „das ist nötig!“
„Wieso denn? Ich meine, Radu und Petre überwachen
doch alles. Wozu also müssen die anderen sich derart verausgaben?
Und sag jetzt bloß nicht, es ist meinetwegen, sonst schreie ich
noch.“
Ich schnaufte beinahe, weil ich mich derart in
Rage redete. Jetzt hatte ich Istvan endgültig am falschen Fuß
erwischt. Er schoss von seinem Platz hoch, an dem er fast immer
saß, wenn wir in der Bibliothek waren, und raufte sich die Haare.
Ich versuchte ihn festzuhalten und setze mich stattdessen auf den
Tisch, direkt vor seinen Stuhl.
„Bitte, rede mit mir“, flehte ich und versuchte
meine schlechte Laune zu überwinden. Istvan machte noch ein paar
sehr tiefe Atemzüge mit geschlossenen Augen, ehe er sich wieder
setzte.
„Du willst, dass ich mit dir rede, dann kannst du
aber nicht gleichzeitig von mir verlangen, dich anzulügen. Denn …
ob es dir gefällt oder nicht: Es. Ist. Deinetwegen!“ Istvan
schnauzte mich an, wie ich es bei ihm gar nicht kannte. Über meine
kleine Zum-Wohle-meines-Bruders-Selbstverstümmelungsnummer kam er
einfach nicht hinweg.
„Aber Farkas und seine Meute sind doch wieder weg.
Wen sollen die Valentins denn mit ihren Patrouillen verscheuchen?“,
fragte ich. Teils, um das leidige Thema meiner Verletzung zu
vermeiden, teils aus reinem Interesse. Er wich meinem bohrenden
Blick aus. Oh, oh!
„Es … vielleicht … es könnten geringere Söhne
sein. Vielleicht“, murmelt Istvan kaum hörbar. Die hatte ich vollkommen vergessen. „Verdammt“, sagte
ich schwach, bevor ich ihn wieder ansah. Besorgte grüne Augen
kreuzten meinen Blick. Istvan biss sich auf die blasse Unterlippe.
Offenbar bereute er, es mir gesagt zu haben.
„Joe“, meinte er abschwächend „es ist nur eine
Theorie. Aber es könnte sein, dass er sie vorschickt, um die Lage
auszuloten. Ähnlich, wie wir es bei ihm tun. Nur können wir sie
schwerer aufspüren. Immerhin sind sie normale Menschen und wegen
des schönen Wetters sind so viele Wanderer unterwegs, dass wir
Schwierigkeiten haben, Freund und Feind zu unterscheiden.“ Ich
schluckte.
„Jetzt versteh ich erst“, sagte ich müde und ließ
den Kopf hängen.
Die Nähte begannen wieder zu jucken. Dem Drang,
mich zu kratzen, musste ich vor Istvan widerstehen. Er machte schon
genug Aufhebens wegen meiner Verletzung.
„Sei unbesorgt“, meinte er sanft, bevor er
aufstand und mich in die Arme nahm. Nun sprach er über meinen Kopf
hinweg. So konnte ich nicht in seinen Augen lesen. Machte er das
absichtlich?
„Für Farkas gibt es kein Durchkommen. Er müsste
vorbei an Radu, dann an der Waldpatrouille. Und zuletzt müsste er
an mir vorbei“, sagte er entschossen.
„Sollten doch Geringere in der Gegend sein, dann kommen sie nicht
in deine Nähe, was immer sie auch vorhaben … Wenn sie überhaupt
involviert sind“, fügte er flüsternd hinzu. Aber ich hatte das
Gefühl, dass er mehr sich selbst als mich überzeugen wollte.
Deshalb lehnte ich meinen Kopf auf seine Schulter und gab mich
zuversichtlicher, als ich war.
„Du hast bestimmt recht … Und weißt du, was ich
tun werde, um es dir leichter zu machen?“
Er schüttelte an mich geschmiegt den Kopf. Wie
warm er wieder einmal war. „Was?“
„Ich werde, wenn ich nicht für das Lokalblatt
unterwegs bin, mich in deine Hände begeben. Oder in die Obhut
unserer Freunde.“
„Wow“, staunte er,
sichtlich überrascht. „Das sind ja ganz neue Töne.“ Endlich lachte
er wieder … Mission erfüllt.
„Na, wie war der Ausflug?“
„Ausflug würde ich eine Patrouillen-Schicht nicht
gerade nennen, aber ansonsten war alles in Ordnung“, stellte Woltan
klar und ich war erleichtert.
„Und wie geht es unserem
Lieblingsbibliothekar?“
„Ist noch immer sauer auf mich. Deswegen“,
antwortete ich ihm und hielt ihm meinen Arm entgegen.
„Ja, uns behandelt er auch noch immer mit dieser
unterschwelligen Geringschätzung … milde ausgedrückt“, murmelte er
sarkastisch.
Auch Woltan starrte auf meinen Unterarm. Langsam
nervte es.
„Müsst ihr alles so draufstarren?“, fragte ich
giftig. Er schmunzelte leicht, dann kam er die Treppen zur Villa
hoch, um sich zu mir auf den Absatz zu setzten. Ich versuchte die Sonne zu genießen.
„Du musst verstehen“, begann er, mich mit seinem
jugendlichen Charme einhüllend. „Wir haben nie wirkliche Verletzungen. Keiner von uns kann sich noch
daran erinnern, wie es ist, wenn der Schmerz nicht schnell
vergeht.“ Er lächelte nervös dabei.
„Du sagst das, als wäre es etwas Schlechtes!“
Hatte er wirklich getan. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn
unverwandt ansah.
„Im Grunde schon … ich meine, wenn die Dinge,
gefährliche Dinge, keine langfristigen
Konsequenzen haben, könnte man denken, dass
man allmächtig ist … sich alles erlauben darf … und wo das
hinführt, weißt du ja schon …“
„… Farkas“, zischte ich wie aus der Pistole
geschossen. Angewidert.
„Mhm“. Er nickte und legte mir seine Hand auf die
Schulter. „Kannst du ihn deshalb nicht leiden, Jakov meine ich.
Weil du denkst, dass er auch so ist?“, wollte ich von Woltan
kleinlaut wissen. Er stöhnte auf, als hätte ich ihn geboxt.
„Ja, vielleicht. Oder, weil ich weiß, wo das mit
ihm hinführt“, sagte er vor sich hin. Sein Blick verlor sich in der
strahlenden Sommersonne.
„Und das wäre?“ Er schloss die Augen und sprach
aus, was ihm schon lange auf der Seele brannte. Er sagte es mir,
vermutlich, weil ich außen vor war.
„Ja, ich weiß genau, was er von meiner Schwester
will, auch wenn du und Istvan denken, ich hätte es nicht
mitbekommen … Ich kann’s nicht ändern. Aber was mich wirklich
fertigmacht, ist die Tatsache, dass er ein Alpha ist.“ Ich fixierte
Woltans Profil verständnislos. Was wollte er damit andeuten?
„Joe, verstehst du nicht … es gibt jetzt einen
zweiten Leitwolf im Valentinrudel … einen jüngeren. Was denkst du,
wer die Familie anführt, wenn mein Vater sein Ende kommen
spürt?“
Ich musste ziemlich entsetzt aussehen, so wie er
selbst die Augen aufriss, bei meinem Anblick. Darüber hatte ich nie
nachgedacht. Aber jetzt, wo er es aussprach … Es machte Sinn.
Woltan müsste dann Jakov folgen oder seine
Familie verlassen. Ein seltsamer Gedanke.
„Eine harte Nuss“, sagte ich zu ihm, weil mir
nichts Besseres, nichts Tröstliches einfiel.
„Es ist nun mal, wie es ist. So sind unsere
Regeln“, meinte er ein wenig elend. Für Fairness war da offenbar
kein Platz.
„Wirst du damit klarkommen?“
„Wenn es eines Tages so weit ist, werde ich es
müssen … aber bis dahin werde ich es ihm nicht zu leicht machen.
Jakov soll es sich schon verdienen, nach allem, was er schon auf
dem Kerbholz hat.“
Da musste ich Woltan recht geben. Dennoch verstand
ich sie beide.
Ob Istvan wohl das mit Jakov
gewusst hat?, dachte ich, als Woltan mir noch einmal auf die
Schulter klopfte, ehe er ins Haus ging.
Ich wollte ihm gerade folgen, da hörte ich das
Knacken eines Zweiges im Wald, genau vor mir. Ruckartig drehte ich
mich um und starrte unvermittelt in eiskalte Augen, die mein Blut
zu Eis gefrieren ließen. Nur ein Mann auf der Welt hatte diesen
Effekt auf mich. Der Mann, der mich vor einer halben Ewigkeit
entführt hatte. Der Mann, der mein Leben und das Leben Istvans zur
Hölle machen konnte. Doch ehe ich wirklich etwas sah, außer einem
dunklen, finsteren Augenpaar, das mich aus dem Dickicht anzustarren
schien, war es schon verschwunden. Farkas!,
dachte ich dennoch, obwohl ich wusste, dass es absurd und
unmöglich war. Mein Puls raste. Die Härchen
auf meiner Haut standen zu Berge. Ich konnte die unheimliche
Gänsehaut sogar auf der Wunde fühlen. Der feine Schmerz erinnerte
mich noch mehr an ihn.
Das kann nicht sein, sagte ich
mir immer wieder. Farkas kann nicht hier sein. Das hast du
dir nur eingebildet. Istvans Nervosität, die Patrouillen, das
Gerede über die geringeren Söhne, von denen einer half, dich zu
entführen, das alles nagt an dir. Du schläfst zu wenig! Ja, das ist
es. Du bist so fertig, dass du anfängst, dir Dinge
einzubilden.
Ich versuchte mir Vernunft einzuimpfen. Bei meinem
Verstand funktionierte es, aber mein Körper bestand darauf, dass
ich Farkas begegnet war. Auch meine Träume waren nicht auf meiner
Seite. In dieser Nacht träumte ich von Farkas, wie er mich damals
festgehalten und mir zugesetzt hatte. Aber in meinen Träumen
tauchte Istvan nie auf, um mich zu retten, was sie erst recht zu
Albträumen machte.
Als ich spät in der Nacht hochschreckte, brauchte
Istvan eine halbe Stunde, um mich zu beruhigen. Selbst seine
liebevollsten Küsse auf meine Wangen und Schultern halfen nicht wie
sonst. Aber von meiner dummen Einbildung erzählte ich ihm nichts.
Istvan wurde ohnehin schon zu übervorsorglich. Schließlich
verbrachte ich doch schon jede Minute, die ich konnte, mit
jemandem, der mich beschützte. Da blieb kam noch Gelegenheit,
alleine zu sein, was ich dringend nötig hatte. Ich dachte, nur für
ein paar Sekunden, ich hätte Farkas gesehen. Ich brauchte definitiv
Luft zum Atmen. Alleine.
Im Vertrauen erzählte ich Valentin davon. Er konnte
mich beruhigen und kam mit mir überein, Istvan besser nicht damit
zu belasten. Valentin hatte zum Glück überzeugende Argumente.
„Es kann gar nicht sein, dass du ihn gesehen hast,
Joe“, sage er ganz ruhig und sachlich.
„Immerhin patrouillieren wir schon seit Tagen.
Wäre er hier, müssten wir längst auf seine Fährte gestoßen
sein.“
Ja, da war etwas dran.
Also zwang ich mich zu vergessen, was ich meinte gesehen zu haben,
bis …
… bis ich es wieder sah … Ihn!
Ständig saß ich auf der Treppe vor der Jagdvilla,
weil die Sonne etwas tröstlich Normales hatte und ich hier alleine
sein konnte.
Aber genau wie das letzte Mal, vor ziemlich genau
zwei -Tagen überkamen mich eine tiefsitzende Angst und das
untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ich schreckte hoch.
Re-flexartig. Meine Augen suchten wild nach dem, was sie hofften,
nicht zu finden. Doch da waren sie. Die
dunklen, raubtierhaften Augen, die mich fixierten, anstarrten. Eine
große Gestalt versteckte sich hinter einem Baum, zu der diese Augen
gehörten: Groß. Dunkel. Schlank. Breite Schultern. Gewalttätiger
Blick. Abgewetzte Jeans. Ein löchriger Pullover – im Sommer.
Eigenlicht hätte es mir reichen müssen. Aber ich bewegte mich
nicht. Starrte nur in die Richtung, aus der die gefährliche Gestalt
kam. Ein bitterböses Grinsen erschien auf dem verhärmten Gesicht
mit dem ergrauten Bart. Dieses
Gesicht!
Da wusste ich es sofort, Farkas war gekommen.
Meinetwegen. Wie konnte er bloß hier sein? Wie war das möglich? Wir
waren so vorsichtig.
Erst als ich fühlte, wie das Blut in meinen Adern
bei seinem Anblick gefror, wollte ich ins Haus laufen und Hilfe
holen. Doch ehe es mir gelang die Tür zu erreichen, versperrte mir
Farkas den Weg. Wie konnte er nur so schnell sein? Ich hörte, wie
mein Puls sich überschlug, als er mit seinen rauen Händen mich
davon abhielt, ins sichere Haus zu gelangen. Das mussten sie doch
hören? Istvan, hallte es in meinem Kopf.
Der Gedanke an ihn war tröstlich, vielleicht der einzige
Trost.
Er musste jeden Moment hier sein. Sehr früh war er
kurz weggegangen, um Frühstück zu holen … Keiner der Valentins kam.
Sie mussten alle gemeinsam auf dem Balkon sein. Das war die einzige
Erklärung. Mein Kopf raste. Die -Gedanken pochten schmerzlich, als
ich den herben Geruch von Farkas einatmete.
Lass mich aufwachen!,
flehte ich. Aber das war kein Traum. Leider.
Panisch versuchte ich mich aus seinem Klammergriff
zu befreien, aber es gelang mir nicht. Ohne es zu wollen, starrte
ich angsterfüllt in diese gefühllosen Augen. Dennoch schienen sie
voller Amüsement, aber es lag keine menschliche Empfindung in dem
Ausdruck. Dieser Mistkerl!
Als ich noch einmal mit aller Kraft an meinem
eigenen Arm zerrte, ließ er unerwartet locker, lachte auf, und ich
fiel nach hinten. Kein Halt stoppte mich und ich stürzte bis zum
ersten Treppenabsatz. Meine Hüfte kam hart auf. Mein Blick
schnellte sofort zu Farkas zurück, der Gefahrenquelle, die mich
zufrieden ansah. Mein Schmerz gefiel ihm. Deshalb biss ich die
Zähne zusammen, stand auf und wollte zum anderen Ende der Villa
gelangen, wo der Balkon lag. Wenn meine Freunde ihn und mich
zusammen sehen könnten, würden sie mir sofort zur Hilfe kommen.
Doch ehe ich auch nur den Treppenabsatz erreichte, sah ich Farkas
über das Geländer springen. Das Monster in Menschengestalt
erwartete mich schon. Mit einem heftigen Zug ergriff er meinen
verletzten Arm und warf mich auf den Weg vor der Auffahrt. Ich
schrie auf, als fast mein ganzer Körper hart aufschlug. Die Nähte
und die Wunde schmerzten höllisch, ebenso wie meine Hüfte, die
meinen Aufprall bremste.
„Na los, Mädchen! Willst du nicht weglaufen“,
zischte mich diese abscheuliche Stimme an.
„Enttäusche mich besser nicht“, warnte er hart.
„Auch wenn ich momentan an diesen Körper gebunden bin … Auf die
Jagd werde ich nicht verzichten. Sei eine brave Beute …
renn!“, schrie er mich ohrenbetäubend an.
Wieso hörte ihn denn keiner? Wut und Hass verzerrten sein ohnehin
schon hartes Gesicht.
Als ich mich immer noch nicht rührte, vor ihm
erstarrt auf dem Boden kauerte, trat er mich mit seinem Fuß, als
wäre ich ein Sack Mehl, nichts weiter. Automatisch spannte ich die
Bauchmuskeln an. Nutzlos. Ich hätte mich beinahe übergeben, als der
heftige Tritt meinen Bauch traf. Er zog meinen tauben Körper hoch,
schubste mich. Ohne denken zu können, begann ich zu laufen. Doch
ich kam kaum voran. Alles tat mir weh und die Angst lähmte mich
zusätzlich. Nein, du musst laufen! Istvan ist auf
dem Weg hierher. Schinde Zeit, damit er dir folgen kann!,
befahl ich mir. So begann ich tatsächlich zu laufen, drehte mich
aber ständig nach ihm um. Er verschwand, tauchte wieder auf, holte
mich ein, lachte höhnisch, verschwand wieder, nur um hinter mir
erneut aufzutauchen. Die Hitze und die Anstrengung bewirkten, dass
ich schrecklich schwitzte. Zuerst versuchte ich auf der Straße zu
bleiben, aber mit seinem Treiben zwang er mich immer wieder, die
Richtung zu ändern, bis ich mich auf einem Waldpfad wiederfand. Was
sollte das alles?
Es wäre ein Leichtes für ihn mich einzuholen …
mich zu töten. Wieso nur muss er immer mit mir spielen?
Mein Kopf raste schmerzhaft. Das Blutrauschen in
meinen Ohren machte mich schwindlig. Die Lungen brannten wie
-Feuer. Das Laufen fiel immer schwerer. Ich hatte keine Ahnung, wo
ich war, oder wie ich dorthin gekommen war. Ich konzentrierte mich
nur darauf, nicht zusammenzubrechen, und nicht auf die Art der
Bäume oder die Form des Pfades. Die Luft war so heiß. Plötzlich
durchzuckte es mich: Hetzjagd!
Darum ging es hier. Farkas hetzte mich durch den
Wald und er würde erst damit aufhören, wenn ich nicht mehr könnte,
wenn ich zusammenbrechen und er es zu Ende bringen würde.
Gut!, dachte ich voller
Verachtung, soll er seine Hetzjagd bekommen. Aber aufgeben
werde ich nicht. Istvan wird mich finden. Es muss so sein …
Ungeschickt trat ich auf einen Stein und stieß mir
den großen Zeh. Jeder weitere Schritt schmerzte nun, als würde eine
Rasierklinge in meinen Zeh getrieben. Dennoch lief ich immer weiter und weiter.
„Joe!“ Eine Stimme schrie voller Verzweiflung
meinen Namen. Seine Stimme. So fern.
Sofort schnellte mein Kopf in die Richtung seines
Rufs.
Ich hielt an, wollte seinen Ruf erwidern, damit er
mich finden konnte. Aber meine Lungen barsten. Ich konnte kaum
atmen, geschweige denn laut schreien. Mein überschlagender
Herzschlag musste für mich sprechen. Wie hypnotisiert begann ich,
trotz aller Erschöpfung, in die Richtung Istvans zu laufen, bis
Farkas auftauchte und mir den Weg abschnitt. Mit einem bitteren
Lächeln schüttelte er den Kopf, zerstörte meine Hoffnung. Er begann
mich wieder zu treiben, bis er erneut abtauchte. Vor mir schien der
Pfad in eine Lichtung zu münden, wie das Licht am Ende des Tunnels.
Beinahe erleichtert stürmte ich darauf zu. Doch der Anblick, der
mich erwartete, war wie ein Schlag ins Gesicht. Der Pfad endete
ausgerechnet vor dem Stausee. Gerade einmal hundert Meter trennten
mich von dem hinteren Steg des Sees. Er war menschenleer, so früh
am Morgen. Alleine der Gedanke daran, vielleicht auf dem Steg sein
zu müssen, ließ mich aufstöhnen. Obwohl ich eigentlich keinen Atem
dafür übrig hatte. Da war sie wieder und verscheuchte die Angst.
Seine Stimme! Er rief nach mir. Komm!,
flehte ich stumm, weil ich nicht antworten konnte. Komm zu mir! … Finde mich …
bitte!
Doch jemand anderer kam, jemand, den ich
niemals herbeisehnen würde. Farkas. Ich
drehte mich um. Auf keinen Fall wollte ich ihm den Rücken zukehren.
Schrittweise kam er auf mich zu, drängte mich immer näher an den
Holzsteg. „Joe!“ Istvans Stimme war schon viel näher. Auch Farkas
wusste das. Mit einem letzten, blitzschnellen Heranstürmen
schnappte er mich und presste mich hart an sich. Seine Nähe ließ
mir die Haare zu Berge stehen. Aber ich hatte keine Kraft mehr, ihn
von mir wegzustoßen. Erneut rief Istvan meinen Namen.
So nahe, klagte meine
Seele.
Doch dann drückte Farkas mich von sich, umschloss
meine Taille und hob mich hoch, als wäre ich Luft. Ich baumelte
über ihm, vermied es ihn anzusehen und hob mein Gesicht stattdessen
zum Himmel, um das dunkle, trübe Wasser unter mir nicht sehen zu
müssen. Das Wasser, das die Panik in mir aufsteigen ließ, weil ich
nicht schwimmen konnte. Er weiß es. Das war sein
Plan. Er weiß, dass ich nicht schwimmen kann. Dass ich hier schon
einmal fast ertrunken wäre. Im selben -Moment fühlte ich,
wie ich durch die Luft geschleudert wurde. Schwerelos. Bevor mein
Körper von der kalten Nässe eingeschlossen wurde.
Wie von selbst begannen meine Gliedmaßen ungeübt
und hektisch zu strampeln, verdrängten aber kaum Wasser dabei.
Völlig zwecklos. Ich ging unter, schluckte Wasser. Hatte Angst!
Große, überwältigende Furcht war in mir, zwischen meinem Auf- und
Abtauchen. Immer seltener erhaschten meine Augen Farkas, der am
Stegende stand und meinen Todeskampf genoss. Plötzlich stand jemand
hinter ihm, wie aus dem Nichts. Wieder verschluckte mich das
Wasser. Ich hatte keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen. Unklar
tauchte ein Bild vor meinen tränenden Augen auf: Istvan, der von
Farkas umklammert wurde. Istvan, der meinen Namen schrie, als würde
er daran sterben. Istvan, der immer lauter schrie und kämpfte, um
sich zu befreien.
Ich möchte ja stark sein, für dich. Ich bin so
furchtbar schwach. So müde. Alles tut weh. Zu schwer. Zu schwer. Es
ist zu schwer. Rette dich selbst! Ich fürchte, ich bin längst
verloren.
Das kalte Wasser zog an mir, zog mich in die
Tiefe. Ich wollte mich wehren, doch all meine Muskeln waren, gegen
meinen Willen, erschlafft. Meine Lungen füllten sich immer mehr mit
Wasser. Die Oberfläche zu erreichen, wurde unmöglich. Und plötzlich
konnte ich nicht einmal mehr die Sonne auf der Wasseroberfläche
spiegeln sehen.
Ich würde untergehen. Das war der letzte klare
Gedanke. Dann … Dunkelheit. Taubheit. Freiheit, ohne Erleichterung.
Nichts sonst.
Ich ertrinke …