2. Fehlstart
Zwei Tage waren vergangen seit Carla mich besucht
hatte und ich war noch immer nicht aus meinem Hotelzimmer
herausgekommen. Doch an diesem Tag, kein besonderer Tag, da wachte
ich früh am Morgen auf und fühlte mich fast
wieder normal. Ich konnte nicht sagen, woher es kam, aber ich nahm
die Veränderung an.
Nach einer ausgiebigen Dusche, die mich klarer und
-frischer werden ließ, beschloss ich endlich ein paar Schritte
hinauszugehen. Nur um etwas Anständiges zu
essen, sagte ich mir zuerst. Doch als ich an der frischen
Luft war und das nahrhafte italienische Essen seine Wirkung
entfaltete, fühlte ich mich stark genug, um einen Spaziergang zu
machen. Ich schlenderte eine Stunde durch den Stadtpark und
versuchte das nieselige April-wetter so gut es ging zu ignorieren.
Ich wäre gerne noch einfach so weiter geschlendert, um den Kopf
freizubekommen, aber der Regen machte mir am Ende einen Strich
durch die Rechnung. Ich erinnerte mich wieder daran, dass ich in
meinem Hotelzimmer nicht einmal ein TV-Gerät hatte. Schließlich
konnte ich mir eine reichliche Ausstattung nicht leisten, zumindest
nicht für meine Fluchtunterkünfte. Es gab also so gut wie keine
Ablenkung außer den eigenen düsteren Gedanken. Dagegen wollte ich
etwas unternehmen und dachte da-ran, mir ein paar Bücher zu
besorgen, die mich in andere Welten entführen und vielleicht so
sehr ablenken könnten, dass ich nicht jede Minute an ihn denken musste.
Ich nahm mir vor, alle Register zu ziehen, die ich
hatte. Ich fuhr, mit dieser Absicht im Hinterkopf, zur
Mariahilfer-straße. Als wäre ich nie aus der Stadt weg gewesen,
hetzte ich die Rolltreppe vor dem großen Buchladen hinauf und stand
vor dem mit Glas überdachten Eingang. Es herrschte reger Betrieb
und bereits vor dem Entree gab es interessante Sonderange-bote, auf
die ich zusteuerte. Doch als ich dann das Geschäft betreten wollte,
erblickte ich etwas, das mich wie ein Blitz traf. Nahe dem Eingang,
an einem der Büchertische mit den -Krimis stand ein junger Mann mit
sandfarbenem Haar, der gefesselt in einem der Bücher las. Er trug
einen langen, schwarzen Mantel und blickte nicht einmal von seinem
Buch auf, als eine Frau ihn merklich am Rücken streifte. Der
unerwartete Anblick dieses Mannes traf mich wie ein Faustschlag.
Direkt und schmerzhaft, ohne Deckung. Ich war mir sicher, dass er
gar keine Ähnlichkeit mit ihm hatte. Doch
alleine die Tatsache, dass ein junger Mann mit Sandhaar versunken
in einem Buch las, war Anlass genug für einen beginnenden Ausbruch.
Zuerst wollte ich ihn überwinden, mich dazu zwingen. Ich ließ die
Unruhe und den Schmerz, den dieser Fremde bei mir auslöste, für ein
paar Sekunden zu, in der irren Vorstellung, ich könne mich gegen
den Schmerz immunisieren. Ein fataler Irrglaube, wie sich
herausstellte. Denn als ich einen weiteren gewagten Schritt in die
Geschäftsräume machen wollte, wich mir das gesamte Blut aus dem
Gesicht und meine Beine drohten mir wegzusacken. Irgendjemand stand
neben mir, aber ich sah ihn nicht deutlich.
„Geht es Ihnen nicht gut, junge Frau?“, fragte
mich eine ältere Dame, die mich ansah, als hätte ich die
Fallsucht.
„Ich, ich …“, stammelte ich in ihre Richtung, ohne
sie wirklich anzusehen.
„Sie sehen blass aus. Ist Ihnen schlecht?“, wollte
sie wissen. Aber ich konnte ihr nicht antworten, ich wusste es
nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich sofort von hier
-verschwinden musste.
Ich drehte mich um und rannte, viel zu schnell und
-auffällig, auf die Straße, wo ich meine Arme an den Knien
abstützte, um den beginnenden Panikanfall aufzuhalten. Keine
Chance. Ich musste weit weg von hier. Ich musste zurück in meine
Höhle, wo es keine lesenden Männer gab, die mich an ihn erinnerten.
So rannte ich los, stieß unschuldige Passanten an, erntete -wütende
Blicke und Kommentare, tigerte nervös in der U-Bahn hin und her,
die mir jetzt unfassbar langsam vorkam. Und als der Zug endlich in
der Nähe des Stadtparks hielt, schoss ich so schnell aus der Tür,
als wäre der Teufel hinter mir her. Ich hastete in einem
übertriebenen Eiltempo den letzten Weg zurück zum Hotel und stürzte
die Treppen bis zum dritten Stock hinauf. Erst als ich den Griff
der Tür mit der Nummer 304 ertastete, beruhigten sich mein Puls und
meine Atmung wieder und ich zog die weiße Tür auf, um sie gleich
darauf mit einer unsanften Geste zu verschließen. Dann ließ ich
mich erleichtert auf das Bett sinken und konnte daran arbeiten, das
schmerzhafte Klopfen meines Herzens bewusst zu lindern.
Wie anders war dieses Herzrasen im Vergleich mit
dem stürmischen Puls, den Istvan bei mir auslöste. Schon wieder
dachte ich an ihn. Dachte sogar schon seinen Namen. Der „Erfolg“
dieses Tages sprach für sich. Es war ganz klar: Fehlstart.
Das Einzige, was ich mir zum Trost einreden
konnte, war diese dämliche Floskel, die einem Optimisten immer
vorbrabbeln.
„Neuer Tag, neues Glück“. Nur war ich nicht gerade
in optimistischer Stimmung, also tröstete ich mich mit einem
„-Neuer Tag, neuer – zaghafter Versuch?“
Die trügerische Erscheinung hatte definitiv einen
Rückschlag zur Folge. Aber ich ließ mich davon nicht aufhalten,
zumindest tat ich so als ob. Für den nächsten Tag machte ich einen
exakten Plan. Ich sagte mir, dass Vorbereitung alles sei. Deshalb
packte ich meinen Laptop aus und ging online. Dort lud ich so viel
Musik aus den 70ern herunter, wie ich nur konnte. Dazu fügte ich
noch ein paar Songs von The Clash, Joy Division und einige
Punksachen, alles Musik, die Istvan nicht mochte oder die sein
Gehör gar nicht erst aushielt. So gab es nicht die geringste
Chance, dass mich eines dieser Lieder an ihn erinnerte. Am nächsten
Morgen ging ich gleich in ein Elektronik-Geschäft und kaufte den
billigsten MP3-Player mit genügend Speicher, den ich finden konnte.
Wieder im Hotel lud ich alle Songs auf den Musik-Player und ging
damit bewaffnet in den Park. Es schien mir schlauer, dieses Mal den
Wiedereintritt in das normale Leben so schonend und langsam wie
möglich zu gestalten. „Vielleicht erhöht das die
Erfolgsaussichten“, hoffte ich. Am Ende behielt ich recht, denn: Es
klappte.
Die Klänge von Blondie waren eine willkommene
Ablenkung und, auch wenn Joy Division in meiner Verfassung zuerst
absurd schien, genoss ich den atmosphärischen Gesang von Ian
Curtis, der besonders in „Isolation“ ein Gefühl des Verstehens
auslöste. Der Gedanke half, zumindest ein bisschen. Dann -begann
ich die Dinge zu überstürzen. Ich erinnerte mich da-ran, dass das
Jahrestreffen des Musik-Online-Magazins in der kommenden Nacht
stattfinden sollte, und beschloss, trotz allem, was dagegen sprach,
hinzugehen.
Schon nach fünf Minuten auf der Party wusste ich,
dass es ein Fehler gewesen war zu kommen. Ich fühlte mich völlig
fehl am Platz. Die alten Bekannten, die ich während meines Studiums
immer mal wieder getroffen hatte, kamen mir jetzt fremd und schwer
zu ertragen vor. Nur lag es nicht an ihnen. Ich war es, die anders,
die verdreht war.
Dennoch versuchte ich mein Bestes. Ich redete mit
Betsy über die neuesten Indiebands aus England und versuchte ihre
überschwängliche Begeisterung, die sehr lautstark ausfallen konnte,
weitestgehend zu ignorieren. Ich knabberte lustlos an den Häppchen
und wippte mit meinem Kopf zur Musik, wenigstens sie war
auszuhalten. Der Verdienst von Malz, meinem Chefredakteur. Der
einzige fast Fünfziger, der mit der heu-tigen Musikszene genauso
vertraut ist, wie mit dem Back-Katalog der Beatles. Sein breites
Grinsen begrüßte mich schon, als ich hereinkam. Er hatte nicht
wirklich mit mir gerechnet, das sah man seinem Ausdruck an. Nachdem
er einige Kunden versorgt hatte, kam er zu mir herüber. Der große
Mann wollte so gar nicht in das Klischeebild eines 48-Jährigen
passen. Seine kurzen, braunen Haare waren mit etwas zu viel Gel in
Form gebracht und ließen ihn noch jünger aussehen. Ohne zu wissen,
wieso, musste ich zurücklächeln, als er sich zu mir durchgekämpft
hatte. Der Jahrestreff war sehr gut besucht. Die meisten, neuen
Redakteure kannte ich noch nicht, worüber ich froh war. So blieb es
mir erspart, weiteren nervigen Small Talk machen zu müssen, der mir
einfach nicht gelingen wollte. Mit Malz würde es leichter werden.
Es war immer einfach, mit ihm zu reden. Diese lockere, entspannte
Art, die er sogar körperlich ausstrahlte, wirkte auf jeden in
seiner Nähe. Der einzige Widerspruch, den es überhaupt in Malz’
Wesen gab, hatte mit seinem ungewöhnlichen Namen zu tun. Denn trotz
seines selbst gewählten Musikerlebens trank er nicht einen Schluck
Alkohol. Deshalb bestellte er in einer Männerrunde immer Malz-Bier,
daher der Name. Es hatte sich so sehr durchgesetzt, dass sogar
seine Frau ihn ausschließlich „Malz“ nennt. Seinen eigentlichen
Namen, Jörg, benutzte niemand mehr. Ich musste leicht in mich
hinein grinsen, als ich mich wieder daran erinnerte. „Vielleicht
war es doch keine so dumme Idee, hierher zu kommen“, sagte ich
mir.
„Na, Hello-He-Joe?“, seine übliche Art mich zu
begrüßen. Es ließ mich schmunzeln.
„Selber na! Wie laufen die Dinge in der coolsten
Musik-redaktion der Stadt?“, fragte ich und tippte ihn, gespielt
he-rausfordernd, auf die Schulter.
„Gut, wirklich gut“, antwortet er mir und schien
tatsächlich absolut zufrieden.
„Es gibt mehr zu tun, als mir lieb ist. Ich habe
kaum noch Zeit, alle Termine wahrzunehmen. Es ist der Wahnsinn. Da
fällt mir ein, dass ich echt froh bin, dass du gekommen bist. Ich
wollte nämlich schon lange etwas mit dir besprechen“, deutete er
mir aufgeregt an. Ich wurde sofort hellhörig, konnte mir aber nicht
vorstellen, was es so Wichtiges zu bereden gab.
„Was liegt dir auf dem Herzen? Jetzt hast du mich
verflucht neugierig gemacht. Los, raus damit!“, forderte ich von
ihm und musste gegen die lauter werdende Musik ankommen.
„Die Dinge laufen zurzeit so gut, dass ich dir
endlich deinen Traumjob anbieten kann. Du hast mich schließlich
lange genug damit genervt. Verstehst du? Ich kann dich jetzt
endlich fest anstellen. Konzertberichte. Record-Release-Partys.
Zurück in die große Stadt!“, deklamierte er euphorisch, während ich
nur vollkommen geschockt von seinem Angebot war. Es stimmte. Ich
hatte ihn seit meinem zweiten Studienjahr damit genervt, hatte
immer wieder nachgefragt, ob er mich nicht doch fest anstellen
könnte. Ich wollte das damals unbedingt. Doch jetzt? Jetzt lagen
die Dinge vollkommen anders. Ich war zwar nicht freiwillig wieder
nach Hause zurückgekommen und hatte angefangen, wieder als
Lokalreporterin zu arbeiten, doch seither fühlte ich mich wohl, so
wie es war. Und seit Istvan in mein Leben getreten war, wollte ich
nirgendwo lieber sein als zu Hause. Das Timing von Malz Angebot
verdiente Applaus. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Joe? Du bist ja gar nicht aus dem Häuschen. Ich
hatte Freudenschreie erwartet und vielleicht auf eine Umarmung
gehofft. Aber du siehst aus … na ja, ehrlich gesagt, als müsstest
du dich gleich übergeben“, stellte er enttäuscht fest.
„Nein, natürlich nicht. Tut mir leid. Es kam nur
so … so unerwartet. Ich bin einfach völlig überrumpelt. Es ist so
toll von dir, dass du sofort an mich gedacht hast.“ Ich versuchte
die Wogen zu glätten und lächelte dankbar. Er war aber noch immer
irritiert über meine unerwartete Reaktion.
„Kann ich darüber nachdenken. Die Dinge stehen
jetzt anders. Es gibt da einiges, was ich nicht einfach so übers
Knie brechen kann. Kannst du das verstehen?“, fragte ich ihn
kleinlaut. Er nickte halbherzig und sagte: „Natürlich kannst du
darüber nachdenken. Nur ist es so, dass ich ziemlich dringend
jemand brauche. Eigentlich wärst du mir am liebsten, aber wenn ich
nicht bald jemanden für die Stelle finde, dann wächst uns die
Arbeit über den Kopf. Ich kann dir aber eine Woche Bedenkzeit
geben“, bot er mir an und ich nickte erleichtert.
„Eine Woche. Das ist genug. Ich kann dir wirklich
nichts versprechen. Es wäre nicht fair, wenn ich dich länger hängen
ließe“, versuchte ich ihm noch zu erklären. Er war bemüht, sich
verständnisvoll zu geben. Ich konnte aber sehen, dass er fest mit
meiner Zusage gerechnet hatte. Offenbar neigte ich in der letzten
Zeit immer häufiger dazu, Menschen zu enttäuschen. Die Liste wurde
immer länger. Zuerst Istvan, dann Carla und jetzt auch noch Malz,
der mir immer ein guter Freund und Chef gewesen war.
Ich wollte nicht, dass wir so auseinandergingen,
und fing an, gespielt locker weiterzureden:
„Wie geht es Lisa? Und deiner Tochter? Hört sie
schon Musik, die du nicht ausstehen kannst?“, fragte ich
stichelnd.
„Oh Gott, hör bloß damit auf! Du glaubst es nicht.
Sie findet doch tatsächlich diese blonde Pop-Prinzessin gut. Ich
könnte ausrasten, wenn ich zu Hause dieses scheußliche
La-di-da-Gedudel höre. Wieso gerade ich?“, lamentierte er gekränkt
und spielte dabei eine Märtyrerfigur des Musikjournalismus. Wir
lachten beide über seine gelungenen Witz und ich fühlte, dass ich
schon zum zweiten Mal von einem alten Freund ins Leben
zurückgebracht wurde.
Er wischte sich eine Freudenträne aus den
Augenwinkeln und packte mich am Arm.
„Ach Joe, kannst du mir einen Gefallen tun,
solange du noch in der Stadt bist?“, fragte er mich.
„Ja, natürlich“, versicherte ich ihm und wollte
Wiedergutmachung leisten.
„Morgen ist ein Konzert im Flex. Eigentlich wollte
ich selbst hin, aber ich muss unbedingt zur Schulveranstaltung von
-Johanna. Wenn ich wieder ihre Aufführung verpasse, killt mich
meine Frau“, sagte er und wurde ernst. Es traf einen persön-lichen
Nerv. Jetzt musste ich zusagen, egal worum es ging.
„Ja, das mach ich gern. Um wen geht es?“, wollte
ich wissen.
„Diese junge Indieband aus Wien. Wir haben neulich
erst ihr Feature online gestellt. Sie heißen ‚Young Blood, Old
Soul‘. Sie werden dir gefallen. Du müsstest nur ein kurzes
Interview mit ihnen machen und über ihren Auftritt berichten. Sie
treten als Vorband auf. Ich werde dir heute noch eine Mail mit
allen Details schicken“, versprach er und seufzte erleichtert, als
er sicher war, dass ich ihm den Auftrag abnahm. Es fiel mir nicht
schwer, da ich ihn so wenigstens von seinem vorangegangenen
Vorschlag ablenken konnte, der mich noch immer erschreckte.
„Gut. Wann ist der Auftritt?“, hakte ich noch kurz
nach, wieder in meinem Element als Musik-Redakteurin. Die
Vertrautheit tat mir gut.
„Morgen Abend. Das ist doch kein Problem?“
„Ach ja. Nein, das ist
kein Problem!“, versicherte ich Malz noch mal und konnte ein Gähnen
nicht unterdrücken. Mein Schlafrhythmus war vollkommen
durcheinander.
„Entschuldige, ich bin hundemüde“, gestand ich ihm
und sah, dass er mich mit einem Kopfschütteln verspottete.
„Halb so alt wie ich und dabei schon müde wie eine
alte Schachtel. Ts-ts-ts“, witzelte er weiter. Ich nahm seinen
Scherz auf meine Kosten als Ausrede zu gehen.
„Auf diese Bemerkung hin, bringe ich meinen müden
25er Hintern schleunigst ins Bett!“, scherzte ich zurück und
verabschiedete mich von Malz und ein paar alten Bekannten.
Auf dem Heimweg ins Hotel dachte ich angestrengt
über das Angebot nach, das mir Malz mit diesem unglaublichen
-Timing gemacht hatte. Mein erster Gedanke war, es abzulehnen. Doch
die auffällige Tatsache, dass ich dieses Angebot gerade zu diesem
Zeitpunkt meines Lebens bekam, nach allem, was kürzlich geschehen
war, ließ mich zögern. Es kam einfach zu gelegen. Als wolle mich
irgendjemand oder irgendetwas vom Kurs abbringen. So lange hielt
ich meinen Kurs schon, der sich mit dem Istvans überschnitt, dass
ich gar nicht mehr auf die Idee gekommen war, dass es noch andere
Wege für mich geben könnte. Selbst jetzt, in meinem Fluchtexil,
konnte ich den Gedanken nicht denken, der mich für immer von ihm
wegbringen würde. Immerhin war der ursprüngliche Zweck meiner
Flucht gewesen, zu gehen, damit ich wiederkommen konnte. Und jetzt
war da diese unerwartete, ungebetene Möglichkeit. Ich wollte
unbedingt wissen, was Istvan zu diesem Angebot zu sagen hatte.
Vielleicht war es ihm inzwischen schon egal, ob ich wiederkommen
oder ob ich für immer wegbleiben würde. Diese Ungewissheit war
schmerzhaft. Was dachte er? Wie ging es ihm? Hasste er mich?
Verdammt, ich hatte es schon wieder zugelassen.
Meine Gedanken kreisten abermals nur um ihn. Es war wie verhext.
Und dann, noch in derselben Nacht, träumte ich sogar von ihm. Das
erste Mal, dass ich keine Albträume bekam oder mich verstörende,
unzusammenhängende Bilder quälten. Dieser Traum war anders. In
meinem Traum waren er und ich am Nordlager. Wir lagen auf einer der
Decken, wie schon so oft. Ich trug dieselbe Zweigkrone, wie er sie
schon einmal für mich gebastelt hatte, noch bevor wir Liebende
geworden waren. Er hielt mich ganz fest im Arm und schlief, während
ich wach in den Nachthimmel starrte. Plötzlich fühlte ich einen
inneren Zwang, aufzustehen und tiefer in den Wald zu gehen. Als
ich, vorbei an unzähligen Bäumen, an eine Lichtung kam, stand ich
plötzlich vor einer riesigen Flamme, die sich direkt vor mir
auftürmte und unkontrolliert loderte. Ich erschrak und lief den Weg
zurück, den ich gekommen war. Doch als ich im Lager ankam, hatte
ich meine Zweigkrone verloren und er war verschwunden. Ich konnte
ihn nicht wiederfinden, und als ich vor lauter Panik anfing zu
schreien, wachte ich mitten in der Nacht auf. Kalter Schweiß klebte
an meinen Schläfen und in meinem Nacken. Ich ertrug nicht einmal
den Gedanken, Istvan im Traum zu verlieren, wie sollte ich ihn da
tatsächlich verlassen, um wieder hier in Wien zu leben und zu
arbeiten?
Erschöpft schlief ich wieder ein und wachte erst
spät am Vormittag wieder auf, wobei ich mich völlig zerschlagen
fühlte. Ich versprach mir selbst, heute nicht über den Vorschlag
nachzudenken und mich ganz auf meine anstehende Aufgabe zu
konzentrieren. Ich wollte heute nur von Stunde zu Stunde leben und
das Konzert so gut wie möglich hinter mich bringen.
Bis zum Abend war es mir gelungen, die Bilder des
Traumes zu verdrängen und ich machte mich fertig, um „Young Blood,
Old Soul“ im Flex zu hören und ein Interview zu führen. Der Gedanke
an meine frühere Routine, an etwas, das ich immer unter Kontrolle
hatte, gefiel mir. Ich zog mir ein neues Paar Jeans an und mein
Band-T-Shirt mit dem Bild von Blondie darauf. Dann nahm ich mir
einen meiner Reporterblöcke und notierte mir einige Details. Auf
mein Diktiergerät musste ich verzichten. Bei meinem überstürzten
Aufbruch hatte ich nicht daran gedacht, es einzupacken. Ich ging
noch die Unterlagen durch, die mir Malz geschickt hatte. Die Band
war noch ziemlich unbekannt, aber auf dem besten Weg, sich einen
Namen zu machen. Sie spielten vermehrt im Vorprogramm von
erfolgreichen anderen Indiebands aus Österreich, Deutschland und
Schweden. Es handelte sich um ein Trio: Tom war der Sänger und
Gitarrist, Felix am Bass und Jürgen der Drummer. Ich wiederholte
mehrmals die Vornamen der Jungs, damit ich später nicht in
Verlegenheit kam. Eine alte Journalisten-Marotte von mir. Um halb
acht machte ich mich dann auf den Weg und stellte eigentlich keine
besonderen Vermutungen an, was diesen Abend anging. Ich erwartete
nur, gute Livemusik im Flex zu hören und danach ein halbwegs
interessantes Interview zu bekommen. Ich sollte mich irren, wie
schon so oft.
Als ich an der Brücke ankam, war es fast schon
dunkel und langsam begannen die Musikfans einzutrudeln. Ich stand
an der Brückentreppe und sah mir die wilden Graffiti an der Seite
an, die einen wie ein Begrüßungskomitee die Treppen hinab zum
Donaukanal begleiten. Der Anblick weckte alte Erinnerungen an
einfachere Zeiten. An Zeiten, in denen ich nur am Tag Vorlesungen
besuchen und nachts von Konzerten berichten musste. Das alles
schien mir eine halbe Ewigkeit her zu sein und es kam mir so vor,
als wäre es das Leben einer anderen Person, die nicht ich war. Als
hätte ich zwar die Erinnerungen dieser Frau, konnte aber keine
Verbindung mehr zu ihr fühlen. Zu viel war geschehen. Ich hatte
mich sehr verändert. Er hatte mich verändert, ob zum Besseren oder
zum Schlechteren, konnte ich nicht sagen. Aber ich war eine andere
Frau. Eine Frau, die schon einmal geliebt und verloren hatte. Diese
Erfahrungen hinterlassen Narben. Mein Körper war zwar noch immer
unversehrt, selbst mein Hals zeigte inzwischen nicht mehr die
geringsten Spuren von diesem schicksalsreichen Vorfall, als Istvan,
nicht ganz er selbst, von Farkas’ Dämon verwirrt, versucht hatte,
mich zu erwürgen. Doch es war meine Seele, die deutliche Narben
davongetragen hatte. Sie stammten aber nicht von der Entrüstung,
durch Istvans Hände dem Tod ausgeliefert zu werden, wie man meinen
sollte. Nein, meine seelischen Narben stammten von der bitteren
Erkenntnis, dass er nicht bereit war, sich zu vergeben, obwohl er
und ich wussten, dass Farkas der eigentliche Auslöser dieser
Ereignisse gewesen war. Meine Male stammten von der Zeit danach,
der Zeit, als er anfing, nicht mehr an uns zu glauben, als er das
Vertrauen in sich und uns verlor. Ich wünschte mir inständig, dass
er inzwischen begonnen hatte, anders darüber zu denken.
Verdammt! Jetzt war es mir schon zum unzähligsten
Mal passiert. Ich saß am Donauufer und starrte auf das
kohlenschwarze, fließende Wasser und meine Gedanken kreisten nur um
ihn. Mir wurde plötzlich eiskalt, als ich
die kühle Aprilluft abbekam und mir bewusst wurde, dass ich seine
Wärme schon seit fast zwei Wochen nicht mehr gefühlt hatte.
Eigentlich war es schon wesentlich länger her, dass ich behaupten
konnte, von seinen Armen gewärmt oder gar erhitzt zu werden. Diese
Feststellung drohte mich erneut zu Boden zu ziehen, hätte ich in
diesem Moment nicht die Stimme von zwei Jungs gehört, die lautstark
den bevorstehenden Auftritt von „Young Blood, Old Soul“ feierten
und mich so daran erinnerten, dass ich gefälligst an die Arbeit
gehen sollte. Ich hievte mich von der alten Holzbank, die vor den
Klubräumen stand, hoch und ging ins Flex, das, wie immer, von außen
scheußlich aussah, aber von innen die perfekte Atmosphäre für
Livemusik bot. Die kleine Halle vor der Bühne war schon relativ
voll und auch an der Bar war der Lärmpegel bereits ordentlich laut.
Ich drängte mich vorbei an den vielen jungen Leuten, die alle in
guter Stimmung waren und mir ab und zu zulächelten, was ich nur
angestrengt erwiderte. Vor der Bühne, auf der fleißig aufgebaut
wurde, bog ich nach links ab. Dort ging es zum Backstage-Bereich,
wo ich mich ankündigen musste. Ich zückte meinen Ausweis und
klopfte an die Tür, die ein riesiger Türsteher öffnete.
„Ja, was wollen Sie?“, fragte er leicht
genervt.
„Hi. Ich bin Joe Paul von ‚Music
On-Line‘. Ich möchte zum Manager von ‚Young Blood, Old
Soul‘. Er erwartet mich“, gab ich ihm zu verstehen und wartete auf
eine Regung in seinem Gesicht, die aber nicht kam.
„Eine Sekunde. Ich frage nach“, antwortete er noch
immer entnervt und zog die Tür wieder vor meiner Nase zu. Ein paar
Minuten später kam ein kleiner, zarter Mann mit komplett
abrasierten Haaren heraus, der mir seine Hand zur Begrüßung
entgegenstreckte.
„Hi, Manny Blaskovits, der Manager von ‚Young
Blood‘. Ich hatte aber eigentlich mit einem Mann gerechnet. Sollte
nicht ein gewisser Malte kommen?“, fragt er verwirrt.
„Malz“, korrigierte ich. „Ja, aber ich springe
heute für ihn ein. Ich bin übrigens Joe. Freut mich“, erwiderte ich
freundlich und schüttelte seine Hand.
Der kleine, nette Mann lächelte mich an und führte
mich hinein.
Wir standen in dem engen Korridor, direkt vor den
Hinterzimmern.
„Ich wollte eigentlich nur fragen, wann wir das
Interview machen können“, ließ ich ihn wissen und tippte auf meinen
Block, den ich in der Hand hielt.
„Also eigentlich wäre es am besten nach ihrem
Auftritt. Sie brauchen doch nicht so lange, oder? Tom möchte
unbedingt den Auftritt der Deutschen noch sehen.“ Er wurde etwas
nervös, als er an den engen Zeitplan erinnert wurde. Der Manager,
dessen Namen ich fast vergessen hatte, machte auf mich den Eindruck
ebenfalls noch neu und unverbraucht in der Branche zu sein. Das
machte ihn sympathisch. Deshalb versuchte ich ihm das Leben
leichter zu machen und versprach ihm:
„Nein, das ist gar kein Problem. Es wird ein
kurzes Interview. Die Zeit, bis die Hauptband anfängt, wird sicher
ausreichen“.
Das schien er gerne zu hören und seufzte
erleichtert. Er fragte noch, ob ich etwas trinken wollte. Ich
lehnte höflich ab und sagte ihm, dass ich mir lieber einen guten
Stehplatz sichern wollte. Da nickte er, gab mir noch seine
Visitenkarte und brachte mich wieder zum Ausgang.
Nach einer viertel Stunde, in der ich vorwiegend
versuchte, nicht allzu sehr von der mich umgebenden Meute zerdrückt
zu werden, waren die Roadies gerade mit dem Soundcheck fertig. Ich
war neugierig auf die Band, von der ich, zu meiner Schande, nur
einen einzigen Song kannte. Ihre aktuelle -Single -hatte viel
Rhythmus und einen Refrain, der sehr ins Ohr ging. Ich wusste also
nicht, was genau mich gleich erwarten würde. Die Meute fing an,
langsam aber fordernd nach „Young Blood“ zu rufen und als sie zu
klatschen begannen, betrat das Trio die Bühne. Der Bassist, ein
blonder Riese, schnappte sich zuerst sein Instrument und ihm folgte
der langhaarige Drummer, der in meinem Alter zu schein schien. Als
Letzter kam Tom auf die Bühne. Er kehrte dem Publikum den Rücken
zu, schloss seine Gitarre, eine rote Les Paul, an den Verstärker an
und spielte einige Akkorde zur Probe. Der erste Song begann mit
einem starken Bass-Intro, in das der Schlagzeuger mit einstimmte.
Erst als sich die Melodie veränderte, drehte sich Tom um und begann
mit seinem tiefen, schlendernden Gesang und seiner verzerrten
Gitarre dem Lied die eigent-liche Melodie zu verpassen. Schon der
erste Song gefiel mir. Es war Indiemusik vom Feinsten. Tom, ein
junger, attraktiver Mann mit braunen, verwuschelten Haaren bot dem
Publikum eine unglaublich kraftvolle Stimme, die gefühlvolle Texte
auf lässige Art interpretierte. Sein Gesangstalent wurde nur noch
von seinem gekonnten Gitarrenspiel übertroffen. Auch wenn er den
Akzent mehr auf gleichmäßigen Rhythmus setzte, bewiesen die kleinen
Soli, dass er sehr viel Geschick dafür besaß, zu erkennen, wann er
so richtig aufdrehen musste und wann er lediglich die Melodie
improvisieren sollte. Ganz von selbst begann ich schon beim dritten
Lied, mich zur Musik zu bewegen. Ich genoss tatsächlich den Abend.
Ich nahm mir vor, die Jungs beim Interview ein wenig zu hofieren,
da ich ihnen dankbar war. Schließlich hatten sie etwas geschafft,
was mir eine ganze Woche lang nicht gelungen war. Endlich dachte
ich nicht an ihn oder an das verwirrende Angebot von Malz. Ich
lebte jetzt nur in diesem Moment, schloss die Augen und ließ die
Musik und die Stimmung auf mich wirken. Es tat so unglaublich gut,
einfach nur zuzuhören, zu empfinden, ohne denken zu müssen.
Und zu meinem absoluten Erstaunen hielt diese
unerwartete Stimmung auch nach dem Auftritt noch an. Sogar während
ich flott die wichtigsten Eindrücke des Auftritts in meinen
Notizblock schrieb, kreisten meine Vorstellungen nur um die
passenden Begriffe und Worte, die ich finden wollte. Dieser
Stimmungsumschwung versetzte mich in eine euphorische Stimmung, die
sich zu halten schien.
Plötzlich fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter,
die mich aus meiner Konzentration riss. Ich drehte automatisch
meinen Kopf und blickte in die dunklen Augen des Managers, der mich
wieder anlächelte.
„Die Jungs wären dann so weit“, war alles, was er
mir zu sagen hatte, und ich grinste ihn an und nickte ein wenig zu
energisch.
„Super. Ich kann es kaum erwarten. Der Auftritt
war echt gelungen“, sagte ich ihm ehrlich. Er lächelte stolz und
war sichtlich beruhigt, da er nun sicher war, eine Jubel-Kritik von
mir zu bekommen.
Ich folgte ihm zu den Hinterzimmern, wo die
Roadies hektisch am Bühnenaufbau bastelten. Er drückte mich an die
Wand, damit ein nervöser Mann mit einem riesigen Verstärker an uns
vorbeikam.
Wir wichen weiteren Roadies aus und er brachte
mich in den Raum, wo sich die Musiker umzogen. Als er die Tür
öffnete, erreichte mich eine Duftwolke aus verschwitztem
Männergeruch, Deos und seltsamerweise roch es auch nach Holz,
obwohl der Raum kaum möbliert war. Zwischen den verstreuten
Klamotten, Gitarrensaiten und Koffern saßen die drei Musiker auf
einer alten Couch und tranken gierig Bier und Wasser. Als sie ihren
Manager mit mir hereinkommen sahen, blickte nur Tom etwas länger
auf uns. Die anderen beiden waren damit beschäftigt, sich den
Schweiß mit Handtüchern abzuwischen.
Der Manager stellte mich vor und alle nickten mir
leicht zu, nur Tom schoss plötzlich von der Couch hoch und kam auf
mich zugestürzt. Als er mich fast erreicht hatte, stolperte er über
einen Gitarrenkoffer. Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Dieser
Bühnenprofi schien im normalen Leben zum Ungeschicktsein zu neigen.
Er lächelte etwas verlegen, wurde rot und reichte mir seine Hand,
die ich, unerwartet verschämt, schüttelte.
„Hi. Ich bin Joe Paul. Dein Song ‚It’s Just Me‘
gefällt mir besonders“, sagte ich ihm und spielt darauf an, dass er
vor dem letzten Song angesagt hatte, dass er ihn geschrieben
hatte.
„Danke. Ist einer meiner neuesten. Ich bin Tom und
das sind Jürgen und Felix“, erklärte er mir und deute auf seine
Bandkollegen, die sich über irgendetwas köstlich amüsierten. Ich
vermutete, dass es mit seinem ungeschickten Stolpern zu tun haben
musste.
Tom hatte meine Hand immer noch nicht losgelassen,
was mir etwas unangenehm war.
„Krieg ich sie wieder?“, fragte ich im Scherz und
blickte auf meine Hand, die er fest umklammerte.
„Oh, ja. Sorry“, entschuldigte er sich und rieb
sich verlegen den Nacken. Für den Sänger einer Band kam er mir
etwas zu schüchtern vor, aber es machte ihn irgendwie sehr
liebenswert. Auch sein Aussehen verstärkte diesen Eindruck. Tom war
etwa Anfang zwanzig, etwas größer als ich und hatte ein nettes
Lächeln. Seine braunen, zerzausten Haare ließen ihn noch jünger
wirken, was aber gut zu ihm passte.
Während der Manager Manny wieder ging und kurz zum
Abschied winkte, setzte ich mich auf einen Sessel den Jungs
gegenüber. Das Trio schien mir ganz gut gelaunt zu sein, was das
Interview einfacher machen würde. Als Tom sich dann wieder auf
seinen Platz gesetzt hatte, zückte ich meinen Block und den Stift
und wollte gerade meine erste Frage stellten, da sah ich, wie Felix
sich zu Jürgen hinüberbeugte und ihm etwas zuflüsterte. Die beiden
dachten, ich würde sie nicht hören, aber ich verstand jedes
gemurmelte Wort, das Felix sagte, der Tom dabei amüsiert musterte.
Felix flüsterte:
„Oh Mann, das dürfte interessant werden!“