2. Fehlstart
 
 
Zwei Tage waren vergangen seit Carla mich besucht hatte und ich war noch immer nicht aus meinem Hotelzimmer herausgekommen. Doch an diesem Tag, kein besonderer Tag, da wachte ich früh am Morgen auf und fühlte mich fast wieder normal. Ich konnte nicht sagen, woher es kam, aber ich nahm die Veränderung an.
Nach einer ausgiebigen Dusche, die mich klarer und -frischer werden ließ, beschloss ich endlich ein paar Schritte hinauszugehen. Nur um etwas Anständiges zu essen, sagte ich mir zuerst. Doch als ich an der frischen Luft war und das nahrhafte italienische Essen seine Wirkung entfaltete, fühlte ich mich stark genug, um einen Spaziergang zu machen. Ich schlenderte eine Stunde durch den Stadtpark und versuchte das nieselige April-wetter so gut es ging zu ignorieren. Ich wäre gerne noch einfach so weiter geschlendert, um den Kopf freizubekommen, aber der Regen machte mir am Ende einen Strich durch die Rechnung. Ich erinnerte mich wieder daran, dass ich in meinem Hotelzimmer nicht einmal ein TV-Gerät hatte. Schließlich konnte ich mir eine reichliche Ausstattung nicht leisten, zumindest nicht für meine Fluchtunterkünfte. Es gab also so gut wie keine Ablenkung außer den eigenen düsteren Gedanken. Dagegen wollte ich etwas unternehmen und dachte da-ran, mir ein paar Bücher zu besorgen, die mich in andere Welten entführen und vielleicht so sehr ablenken könnten, dass ich nicht jede Minute an ihn denken musste.
Ich nahm mir vor, alle Register zu ziehen, die ich hatte. Ich fuhr, mit dieser Absicht im Hinterkopf, zur Mariahilfer-straße. Als wäre ich nie aus der Stadt weg gewesen, hetzte ich die Rolltreppe vor dem großen Buchladen hinauf und stand vor dem mit Glas überdachten Eingang. Es herrschte reger Betrieb und bereits vor dem Entree gab es interessante Sonderange-bote, auf die ich zusteuerte. Doch als ich dann das Geschäft betreten wollte, erblickte ich etwas, das mich wie ein Blitz traf. Nahe dem Eingang, an einem der Büchertische mit den -Krimis stand ein junger Mann mit sandfarbenem Haar, der gefesselt in einem der Bücher las. Er trug einen langen, schwarzen Mantel und blickte nicht einmal von seinem Buch auf, als eine Frau ihn merklich am Rücken streifte. Der unerwartete Anblick dieses Mannes traf mich wie ein Faustschlag. Direkt und schmerzhaft, ohne Deckung. Ich war mir sicher, dass er gar keine Ähnlichkeit mit ihm hatte. Doch alleine die Tatsache, dass ein junger Mann mit Sandhaar versunken in einem Buch las, war Anlass genug für einen beginnenden Ausbruch. Zuerst wollte ich ihn überwinden, mich dazu zwingen. Ich ließ die Unruhe und den Schmerz, den dieser Fremde bei mir auslöste, für ein paar Sekunden zu, in der irren Vorstellung, ich könne mich gegen den Schmerz immunisieren. Ein fataler Irrglaube, wie sich herausstellte. Denn als ich einen weiteren gewagten Schritt in die Geschäftsräume machen wollte, wich mir das gesamte Blut aus dem Gesicht und meine Beine drohten mir wegzusacken. Irgendjemand stand neben mir, aber ich sah ihn nicht deutlich.
„Geht es Ihnen nicht gut, junge Frau?“, fragte mich eine ältere Dame, die mich ansah, als hätte ich die Fallsucht.
„Ich, ich …“, stammelte ich in ihre Richtung, ohne sie wirklich anzusehen.
„Sie sehen blass aus. Ist Ihnen schlecht?“, wollte sie wissen. Aber ich konnte ihr nicht antworten, ich wusste es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich sofort von hier -verschwinden musste.
Ich drehte mich um und rannte, viel zu schnell und -auffällig, auf die Straße, wo ich meine Arme an den Knien abstützte, um den beginnenden Panikanfall aufzuhalten. Keine Chance. Ich musste weit weg von hier. Ich musste zurück in meine Höhle, wo es keine lesenden Männer gab, die mich an ihn erinnerten. So rannte ich los, stieß unschuldige Passanten an, erntete -wütende Blicke und Kommentare, tigerte nervös in der U-Bahn hin und her, die mir jetzt unfassbar langsam vorkam. Und als der Zug endlich in der Nähe des Stadtparks hielt, schoss ich so schnell aus der Tür, als wäre der Teufel hinter mir her. Ich hastete in einem übertriebenen Eiltempo den letzten Weg zurück zum Hotel und stürzte die Treppen bis zum dritten Stock hinauf. Erst als ich den Griff der Tür mit der Nummer 304 ertastete, beruhigten sich mein Puls und meine Atmung wieder und ich zog die weiße Tür auf, um sie gleich darauf mit einer unsanften Geste zu verschließen. Dann ließ ich mich erleichtert auf das Bett sinken und konnte daran arbeiten, das schmerzhafte Klopfen meines Herzens bewusst zu lindern.
Wie anders war dieses Herzrasen im Vergleich mit dem stürmischen Puls, den Istvan bei mir auslöste. Schon wieder dachte ich an ihn. Dachte sogar schon seinen Namen. Der „Erfolg“ dieses Tages sprach für sich. Es war ganz klar: Fehlstart.
Das Einzige, was ich mir zum Trost einreden konnte, war diese dämliche Floskel, die einem Optimisten immer vorbrabbeln.
„Neuer Tag, neues Glück“. Nur war ich nicht gerade in optimistischer Stimmung, also tröstete ich mich mit einem „-Neuer Tag, neuer – zaghafter Versuch?“
 
Die trügerische Erscheinung hatte definitiv einen Rückschlag zur Folge. Aber ich ließ mich davon nicht aufhalten, zumindest tat ich so als ob. Für den nächsten Tag machte ich einen exakten Plan. Ich sagte mir, dass Vorbereitung alles sei. Deshalb packte ich meinen Laptop aus und ging online. Dort lud ich so viel Musik aus den 70ern herunter, wie ich nur konnte. Dazu fügte ich noch ein paar Songs von The Clash, Joy Division und einige Punksachen, alles Musik, die Istvan nicht mochte oder die sein Gehör gar nicht erst aushielt. So gab es nicht die geringste Chance, dass mich eines dieser Lieder an ihn erinnerte. Am nächsten Morgen ging ich gleich in ein Elektronik-Geschäft und kaufte den billigsten MP3-Player mit genügend Speicher, den ich finden konnte. Wieder im Hotel lud ich alle Songs auf den Musik-Player und ging damit bewaffnet in den Park. Es schien mir schlauer, dieses Mal den Wiedereintritt in das normale Leben so schonend und langsam wie möglich zu gestalten. „Vielleicht erhöht das die Erfolgsaussichten“, hoffte ich. Am Ende behielt ich recht, denn: Es klappte.
Die Klänge von Blondie waren eine willkommene Ablenkung und, auch wenn Joy Division in meiner Verfassung zuerst absurd schien, genoss ich den atmosphärischen Gesang von Ian Curtis, der besonders in „Isolation“ ein Gefühl des Verstehens auslöste. Der Gedanke half, zumindest ein bisschen. Dann -begann ich die Dinge zu überstürzen. Ich erinnerte mich da-ran, dass das Jahrestreffen des Musik-Online-Magazins in der kommenden Nacht stattfinden sollte, und beschloss, trotz allem, was dagegen sprach, hinzugehen.
 
Schon nach fünf Minuten auf der Party wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war zu kommen. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz. Die alten Bekannten, die ich während meines Studiums immer mal wieder getroffen hatte, kamen mir jetzt fremd und schwer zu ertragen vor. Nur lag es nicht an ihnen. Ich war es, die anders, die verdreht war.
Dennoch versuchte ich mein Bestes. Ich redete mit Betsy über die neuesten Indiebands aus England und versuchte ihre überschwängliche Begeisterung, die sehr lautstark ausfallen konnte, weitestgehend zu ignorieren. Ich knabberte lustlos an den Häppchen und wippte mit meinem Kopf zur Musik, wenigstens sie war auszuhalten. Der Verdienst von Malz, meinem Chefredakteur. Der einzige fast Fünfziger, der mit der heu-tigen Musikszene genauso vertraut ist, wie mit dem Back-Katalog der Beatles. Sein breites Grinsen begrüßte mich schon, als ich hereinkam. Er hatte nicht wirklich mit mir gerechnet, das sah man seinem Ausdruck an. Nachdem er einige Kunden versorgt hatte, kam er zu mir herüber. Der große Mann wollte so gar nicht in das Klischeebild eines 48-Jährigen passen. Seine kurzen, braunen Haare waren mit etwas zu viel Gel in Form gebracht und ließen ihn noch jünger aussehen. Ohne zu wissen, wieso, musste ich zurücklächeln, als er sich zu mir durchgekämpft hatte. Der Jahrestreff war sehr gut besucht. Die meisten, neuen Redakteure kannte ich noch nicht, worüber ich froh war. So blieb es mir erspart, weiteren nervigen Small Talk machen zu müssen, der mir einfach nicht gelingen wollte. Mit Malz würde es leichter werden. Es war immer einfach, mit ihm zu reden. Diese lockere, entspannte Art, die er sogar körperlich ausstrahlte, wirkte auf jeden in seiner Nähe. Der einzige Widerspruch, den es überhaupt in Malz’ Wesen gab, hatte mit seinem ungewöhnlichen Namen zu tun. Denn trotz seines selbst gewählten Musikerlebens trank er nicht einen Schluck Alkohol. Deshalb bestellte er in einer Männerrunde immer Malz-Bier, daher der Name. Es hatte sich so sehr durchgesetzt, dass sogar seine Frau ihn ausschließlich „Malz“ nennt. Seinen eigentlichen Namen, Jörg, benutzte niemand mehr. Ich musste leicht in mich hinein grinsen, als ich mich wieder daran erinnerte. „Vielleicht war es doch keine so dumme Idee, hierher zu kommen“, sagte ich mir.
„Na, Hello-He-Joe?“, seine übliche Art mich zu begrüßen. Es ließ mich schmunzeln.
„Selber na! Wie laufen die Dinge in der coolsten Musik-redaktion der Stadt?“, fragte ich und tippte ihn, gespielt he-rausfordernd, auf die Schulter.
„Gut, wirklich gut“, antwortet er mir und schien tatsächlich absolut zufrieden.
„Es gibt mehr zu tun, als mir lieb ist. Ich habe kaum noch Zeit, alle Termine wahrzunehmen. Es ist der Wahnsinn. Da fällt mir ein, dass ich echt froh bin, dass du gekommen bist. Ich wollte nämlich schon lange etwas mit dir besprechen“, deutete er mir aufgeregt an. Ich wurde sofort hellhörig, konnte mir aber nicht vorstellen, was es so Wichtiges zu bereden gab.
„Was liegt dir auf dem Herzen? Jetzt hast du mich verflucht neugierig gemacht. Los, raus damit!“, forderte ich von ihm und musste gegen die lauter werdende Musik ankommen.
„Die Dinge laufen zurzeit so gut, dass ich dir endlich deinen Traumjob anbieten kann. Du hast mich schließlich lange genug damit genervt. Verstehst du? Ich kann dich jetzt endlich fest anstellen. Konzertberichte. Record-Release-Partys. Zurück in die große Stadt!“, deklamierte er euphorisch, während ich nur vollkommen geschockt von seinem Angebot war. Es stimmte. Ich hatte ihn seit meinem zweiten Studienjahr damit genervt, hatte immer wieder nachgefragt, ob er mich nicht doch fest anstellen könnte. Ich wollte das damals unbedingt. Doch jetzt? Jetzt lagen die Dinge vollkommen anders. Ich war zwar nicht freiwillig wieder nach Hause zurückgekommen und hatte angefangen, wieder als Lokalreporterin zu arbeiten, doch seither fühlte ich mich wohl, so wie es war. Und seit Istvan in mein Leben getreten war, wollte ich nirgendwo lieber sein als zu Hause. Das Timing von Malz Angebot verdiente Applaus. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Joe? Du bist ja gar nicht aus dem Häuschen. Ich hatte Freudenschreie erwartet und vielleicht auf eine Umarmung gehofft. Aber du siehst aus … na ja, ehrlich gesagt, als müsstest du dich gleich übergeben“, stellte er enttäuscht fest.
„Nein, natürlich nicht. Tut mir leid. Es kam nur so … so unerwartet. Ich bin einfach völlig überrumpelt. Es ist so toll von dir, dass du sofort an mich gedacht hast.“ Ich versuchte die Wogen zu glätten und lächelte dankbar. Er war aber noch immer irritiert über meine unerwartete Reaktion.
„Kann ich darüber nachdenken. Die Dinge stehen jetzt anders. Es gibt da einiges, was ich nicht einfach so übers Knie brechen kann. Kannst du das verstehen?“, fragte ich ihn kleinlaut. Er nickte halbherzig und sagte: „Natürlich kannst du darüber nachdenken. Nur ist es so, dass ich ziemlich dringend jemand brauche. Eigentlich wärst du mir am liebsten, aber wenn ich nicht bald jemanden für die Stelle finde, dann wächst uns die Arbeit über den Kopf. Ich kann dir aber eine Woche Bedenkzeit geben“, bot er mir an und ich nickte erleichtert.
„Eine Woche. Das ist genug. Ich kann dir wirklich nichts versprechen. Es wäre nicht fair, wenn ich dich länger hängen ließe“, versuchte ich ihm noch zu erklären. Er war bemüht, sich verständnisvoll zu geben. Ich konnte aber sehen, dass er fest mit meiner Zusage gerechnet hatte. Offenbar neigte ich in der letzten Zeit immer häufiger dazu, Menschen zu enttäuschen. Die Liste wurde immer länger. Zuerst Istvan, dann Carla und jetzt auch noch Malz, der mir immer ein guter Freund und Chef gewesen war.
Ich wollte nicht, dass wir so auseinandergingen, und fing an, gespielt locker weiterzureden:
„Wie geht es Lisa? Und deiner Tochter? Hört sie schon Musik, die du nicht ausstehen kannst?“, fragte ich stichelnd.
„Oh Gott, hör bloß damit auf! Du glaubst es nicht. Sie findet doch tatsächlich diese blonde Pop-Prinzessin gut. Ich könnte ausrasten, wenn ich zu Hause dieses scheußliche La-di-da-Gedudel höre. Wieso gerade ich?“, lamentierte er gekränkt und spielte dabei eine Märtyrerfigur des Musikjournalismus. Wir lachten beide über seine gelungenen Witz und ich fühlte, dass ich schon zum zweiten Mal von einem alten Freund ins Leben zurückgebracht wurde.
Er wischte sich eine Freudenträne aus den Augenwinkeln und packte mich am Arm.
„Ach Joe, kannst du mir einen Gefallen tun, solange du noch in der Stadt bist?“, fragte er mich.
„Ja, natürlich“, versicherte ich ihm und wollte Wiedergutmachung leisten.
„Morgen ist ein Konzert im Flex. Eigentlich wollte ich selbst hin, aber ich muss unbedingt zur Schulveranstaltung von -Johanna. Wenn ich wieder ihre Aufführung verpasse, killt mich meine Frau“, sagte er und wurde ernst. Es traf einen persön-lichen Nerv. Jetzt musste ich zusagen, egal worum es ging.
„Ja, das mach ich gern. Um wen geht es?“, wollte ich wissen.
„Diese junge Indieband aus Wien. Wir haben neulich erst ihr Feature online gestellt. Sie heißen ‚Young Blood, Old Soul‘. Sie werden dir gefallen. Du müsstest nur ein kurzes Interview mit ihnen machen und über ihren Auftritt berichten. Sie treten als Vorband auf. Ich werde dir heute noch eine Mail mit allen Details schicken“, versprach er und seufzte erleichtert, als er sicher war, dass ich ihm den Auftrag abnahm. Es fiel mir nicht schwer, da ich ihn so wenigstens von seinem vorangegangenen Vorschlag ablenken konnte, der mich noch immer erschreckte.
„Gut. Wann ist der Auftritt?“, hakte ich noch kurz nach, wieder in meinem Element als Musik-Redakteurin. Die Vertrautheit tat mir gut.
„Morgen Abend. Das ist doch kein Problem?“
„Ach ja. Nein, das ist kein Problem!“, versicherte ich Malz noch mal und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Mein Schlafrhythmus war vollkommen durcheinander.
„Entschuldige, ich bin hundemüde“, gestand ich ihm und sah, dass er mich mit einem Kopfschütteln verspottete.
„Halb so alt wie ich und dabei schon müde wie eine alte Schachtel. Ts-ts-ts“, witzelte er weiter. Ich nahm seinen Scherz auf meine Kosten als Ausrede zu gehen.
„Auf diese Bemerkung hin, bringe ich meinen müden 25er Hintern schleunigst ins Bett!“, scherzte ich zurück und verabschiedete mich von Malz und ein paar alten Bekannten.
Auf dem Heimweg ins Hotel dachte ich angestrengt über das Angebot nach, das mir Malz mit diesem unglaublichen -Timing gemacht hatte. Mein erster Gedanke war, es abzulehnen. Doch die auffällige Tatsache, dass ich dieses Angebot gerade zu diesem Zeitpunkt meines Lebens bekam, nach allem, was kürzlich geschehen war, ließ mich zögern. Es kam einfach zu gelegen. Als wolle mich irgendjemand oder irgendetwas vom Kurs abbringen. So lange hielt ich meinen Kurs schon, der sich mit dem Istvans überschnitt, dass ich gar nicht mehr auf die Idee gekommen war, dass es noch andere Wege für mich geben könnte. Selbst jetzt, in meinem Fluchtexil, konnte ich den Gedanken nicht denken, der mich für immer von ihm wegbringen würde. Immerhin war der ursprüngliche Zweck meiner Flucht gewesen, zu gehen, damit ich wiederkommen konnte. Und jetzt war da diese unerwartete, ungebetene Möglichkeit. Ich wollte unbedingt wissen, was Istvan zu diesem Angebot zu sagen hatte. Vielleicht war es ihm inzwischen schon egal, ob ich wiederkommen oder ob ich für immer wegbleiben würde. Diese Ungewissheit war schmerzhaft. Was dachte er? Wie ging es ihm? Hasste er mich?
Verdammt, ich hatte es schon wieder zugelassen. Meine Gedanken kreisten abermals nur um ihn. Es war wie verhext. Und dann, noch in derselben Nacht, träumte ich sogar von ihm. Das erste Mal, dass ich keine Albträume bekam oder mich verstörende, unzusammenhängende Bilder quälten. Dieser Traum war anders. In meinem Traum waren er und ich am Nordlager. Wir lagen auf einer der Decken, wie schon so oft. Ich trug dieselbe Zweigkrone, wie er sie schon einmal für mich gebastelt hatte, noch bevor wir Liebende geworden waren. Er hielt mich ganz fest im Arm und schlief, während ich wach in den Nachthimmel starrte. Plötzlich fühlte ich einen inneren Zwang, aufzustehen und tiefer in den Wald zu gehen. Als ich, vorbei an unzähligen Bäumen, an eine Lichtung kam, stand ich plötzlich vor einer riesigen Flamme, die sich direkt vor mir auftürmte und unkontrolliert loderte. Ich erschrak und lief den Weg zurück, den ich gekommen war. Doch als ich im Lager ankam, hatte ich meine Zweigkrone verloren und er war verschwunden. Ich konnte ihn nicht wiederfinden, und als ich vor lauter Panik anfing zu schreien, wachte ich mitten in der Nacht auf. Kalter Schweiß klebte an meinen Schläfen und in meinem Nacken. Ich ertrug nicht einmal den Gedanken, Istvan im Traum zu verlieren, wie sollte ich ihn da tatsächlich verlassen, um wieder hier in Wien zu leben und zu arbeiten?
Erschöpft schlief ich wieder ein und wachte erst spät am Vormittag wieder auf, wobei ich mich völlig zerschlagen fühlte. Ich versprach mir selbst, heute nicht über den Vorschlag nachzudenken und mich ganz auf meine anstehende Aufgabe zu konzentrieren. Ich wollte heute nur von Stunde zu Stunde leben und das Konzert so gut wie möglich hinter mich bringen.
Bis zum Abend war es mir gelungen, die Bilder des Traumes zu verdrängen und ich machte mich fertig, um „Young Blood, Old Soul“ im Flex zu hören und ein Interview zu führen. Der Gedanke an meine frühere Routine, an etwas, das ich immer unter Kontrolle hatte, gefiel mir. Ich zog mir ein neues Paar Jeans an und mein Band-T-Shirt mit dem Bild von Blondie darauf. Dann nahm ich mir einen meiner Reporterblöcke und notierte mir einige Details. Auf mein Diktiergerät musste ich verzichten. Bei meinem überstürzten Aufbruch hatte ich nicht daran gedacht, es einzupacken. Ich ging noch die Unterlagen durch, die mir Malz geschickt hatte. Die Band war noch ziemlich unbekannt, aber auf dem besten Weg, sich einen Namen zu machen. Sie spielten vermehrt im Vorprogramm von erfolgreichen anderen Indiebands aus Österreich, Deutschland und Schweden. Es handelte sich um ein Trio: Tom war der Sänger und Gitarrist, Felix am Bass und Jürgen der Drummer. Ich wiederholte mehrmals die Vornamen der Jungs, damit ich später nicht in Verlegenheit kam. Eine alte Journalisten-Marotte von mir. Um halb acht machte ich mich dann auf den Weg und stellte eigentlich keine besonderen Vermutungen an, was diesen Abend anging. Ich erwartete nur, gute Livemusik im Flex zu hören und danach ein halbwegs interessantes Interview zu bekommen. Ich sollte mich irren, wie schon so oft.
 
Als ich an der Brücke ankam, war es fast schon dunkel und langsam begannen die Musikfans einzutrudeln. Ich stand an der Brückentreppe und sah mir die wilden Graffiti an der Seite an, die einen wie ein Begrüßungskomitee die Treppen hinab zum Donaukanal begleiten. Der Anblick weckte alte Erinnerungen an einfachere Zeiten. An Zeiten, in denen ich nur am Tag Vorlesungen besuchen und nachts von Konzerten berichten musste. Das alles schien mir eine halbe Ewigkeit her zu sein und es kam mir so vor, als wäre es das Leben einer anderen Person, die nicht ich war. Als hätte ich zwar die Erinnerungen dieser Frau, konnte aber keine Verbindung mehr zu ihr fühlen. Zu viel war geschehen. Ich hatte mich sehr verändert. Er hatte mich verändert, ob zum Besseren oder zum Schlechteren, konnte ich nicht sagen. Aber ich war eine andere Frau. Eine Frau, die schon einmal geliebt und verloren hatte. Diese Erfahrungen hinterlassen Narben. Mein Körper war zwar noch immer unversehrt, selbst mein Hals zeigte inzwischen nicht mehr die geringsten Spuren von diesem schicksalsreichen Vorfall, als Istvan, nicht ganz er selbst, von Farkas’ Dämon verwirrt, versucht hatte, mich zu erwürgen. Doch es war meine Seele, die deutliche Narben davongetragen hatte. Sie stammten aber nicht von der Entrüstung, durch Istvans Hände dem Tod ausgeliefert zu werden, wie man meinen sollte. Nein, meine seelischen Narben stammten von der bitteren Erkenntnis, dass er nicht bereit war, sich zu vergeben, obwohl er und ich wussten, dass Farkas der eigentliche Auslöser dieser Ereignisse gewesen war. Meine Male stammten von der Zeit danach, der Zeit, als er anfing, nicht mehr an uns zu glauben, als er das Vertrauen in sich und uns verlor. Ich wünschte mir inständig, dass er inzwischen begonnen hatte, anders darüber zu denken.
Verdammt! Jetzt war es mir schon zum unzähligsten Mal passiert. Ich saß am Donauufer und starrte auf das kohlenschwarze, fließende Wasser und meine Gedanken kreisten nur um ihn. Mir wurde plötzlich eiskalt, als ich die kühle Aprilluft abbekam und mir bewusst wurde, dass ich seine Wärme schon seit fast zwei Wochen nicht mehr gefühlt hatte. Eigentlich war es schon wesentlich länger her, dass ich behaupten konnte, von seinen Armen gewärmt oder gar erhitzt zu werden. Diese Feststellung drohte mich erneut zu Boden zu ziehen, hätte ich in diesem Moment nicht die Stimme von zwei Jungs gehört, die lautstark den bevorstehenden Auftritt von „Young Blood, Old Soul“ feierten und mich so daran erinnerten, dass ich gefälligst an die Arbeit gehen sollte. Ich hievte mich von der alten Holzbank, die vor den Klubräumen stand, hoch und ging ins Flex, das, wie immer, von außen scheußlich aussah, aber von innen die perfekte Atmosphäre für Livemusik bot. Die kleine Halle vor der Bühne war schon relativ voll und auch an der Bar war der Lärmpegel bereits ordentlich laut. Ich drängte mich vorbei an den vielen jungen Leuten, die alle in guter Stimmung waren und mir ab und zu zulächelten, was ich nur angestrengt erwiderte. Vor der Bühne, auf der fleißig aufgebaut wurde, bog ich nach links ab. Dort ging es zum Backstage-Bereich, wo ich mich ankündigen musste. Ich zückte meinen Ausweis und klopfte an die Tür, die ein riesiger Türsteher öffnete.
„Ja, was wollen Sie?“, fragte er leicht genervt.
„Hi. Ich bin Joe Paul von ‚Music On-Line‘. Ich möchte zum Manager von ‚Young Blood, Old Soul‘. Er erwartet mich“, gab ich ihm zu verstehen und wartete auf eine Regung in seinem Gesicht, die aber nicht kam.
„Eine Sekunde. Ich frage nach“, antwortete er noch immer entnervt und zog die Tür wieder vor meiner Nase zu. Ein paar Minuten später kam ein kleiner, zarter Mann mit komplett abrasierten Haaren heraus, der mir seine Hand zur Begrüßung entgegenstreckte.
„Hi, Manny Blaskovits, der Manager von ‚Young Blood‘. Ich hatte aber eigentlich mit einem Mann gerechnet. Sollte nicht ein gewisser Malte kommen?“, fragt er verwirrt.
„Malz“, korrigierte ich. „Ja, aber ich springe heute für ihn ein. Ich bin übrigens Joe. Freut mich“, erwiderte ich freundlich und schüttelte seine Hand.
Der kleine, nette Mann lächelte mich an und führte mich hinein.
Wir standen in dem engen Korridor, direkt vor den Hinterzimmern.
„Ich wollte eigentlich nur fragen, wann wir das Interview machen können“, ließ ich ihn wissen und tippte auf meinen Block, den ich in der Hand hielt.
„Also eigentlich wäre es am besten nach ihrem Auftritt. Sie brauchen doch nicht so lange, oder? Tom möchte unbedingt den Auftritt der Deutschen noch sehen.“ Er wurde etwas nervös, als er an den engen Zeitplan erinnert wurde. Der Manager, dessen Namen ich fast vergessen hatte, machte auf mich den Eindruck ebenfalls noch neu und unverbraucht in der Branche zu sein. Das machte ihn sympathisch. Deshalb versuchte ich ihm das Leben leichter zu machen und versprach ihm:
„Nein, das ist gar kein Problem. Es wird ein kurzes Interview. Die Zeit, bis die Hauptband anfängt, wird sicher ausreichen“.
Das schien er gerne zu hören und seufzte erleichtert. Er fragte noch, ob ich etwas trinken wollte. Ich lehnte höflich ab und sagte ihm, dass ich mir lieber einen guten Stehplatz sichern wollte. Da nickte er, gab mir noch seine Visitenkarte und brachte mich wieder zum Ausgang.
Nach einer viertel Stunde, in der ich vorwiegend versuchte, nicht allzu sehr von der mich umgebenden Meute zerdrückt zu werden, waren die Roadies gerade mit dem Soundcheck fertig. Ich war neugierig auf die Band, von der ich, zu meiner Schande, nur einen einzigen Song kannte. Ihre aktuelle -Single -hatte viel Rhythmus und einen Refrain, der sehr ins Ohr ging. Ich wusste also nicht, was genau mich gleich erwarten würde. Die Meute fing an, langsam aber fordernd nach „Young Blood“ zu rufen und als sie zu klatschen begannen, betrat das Trio die Bühne. Der Bassist, ein blonder Riese, schnappte sich zuerst sein Instrument und ihm folgte der langhaarige Drummer, der in meinem Alter zu schein schien. Als Letzter kam Tom auf die Bühne. Er kehrte dem Publikum den Rücken zu, schloss seine Gitarre, eine rote Les Paul, an den Verstärker an und spielte einige Akkorde zur Probe. Der erste Song begann mit einem starken Bass-Intro, in das der Schlagzeuger mit einstimmte. Erst als sich die Melodie veränderte, drehte sich Tom um und begann mit seinem tiefen, schlendernden Gesang und seiner verzerrten Gitarre dem Lied die eigent-liche Melodie zu verpassen. Schon der erste Song gefiel mir. Es war Indiemusik vom Feinsten. Tom, ein junger, attraktiver Mann mit braunen, verwuschelten Haaren bot dem Publikum eine unglaublich kraftvolle Stimme, die gefühlvolle Texte auf lässige Art interpretierte. Sein Gesangstalent wurde nur noch von seinem gekonnten Gitarrenspiel übertroffen. Auch wenn er den Akzent mehr auf gleichmäßigen Rhythmus setzte, bewiesen die kleinen Soli, dass er sehr viel Geschick dafür besaß, zu erkennen, wann er so richtig aufdrehen musste und wann er lediglich die Melodie improvisieren sollte. Ganz von selbst begann ich schon beim dritten Lied, mich zur Musik zu bewegen. Ich genoss tatsächlich den Abend. Ich nahm mir vor, die Jungs beim Interview ein wenig zu hofieren, da ich ihnen dankbar war. Schließlich hatten sie etwas geschafft, was mir eine ganze Woche lang nicht gelungen war. Endlich dachte ich nicht an ihn oder an das verwirrende Angebot von Malz. Ich lebte jetzt nur in diesem Moment, schloss die Augen und ließ die Musik und die Stimmung auf mich wirken. Es tat so unglaublich gut, einfach nur zuzuhören, zu empfinden, ohne denken zu müssen.
Und zu meinem absoluten Erstaunen hielt diese unerwartete Stimmung auch nach dem Auftritt noch an. Sogar während ich flott die wichtigsten Eindrücke des Auftritts in meinen Notizblock schrieb, kreisten meine Vorstellungen nur um die passenden Begriffe und Worte, die ich finden wollte. Dieser Stimmungsumschwung versetzte mich in eine euphorische Stimmung, die sich zu halten schien.
 
Plötzlich fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter, die mich aus meiner Konzentration riss. Ich drehte automatisch meinen Kopf und blickte in die dunklen Augen des Managers, der mich wieder anlächelte.
„Die Jungs wären dann so weit“, war alles, was er mir zu sagen hatte, und ich grinste ihn an und nickte ein wenig zu energisch.
„Super. Ich kann es kaum erwarten. Der Auftritt war echt gelungen“, sagte ich ihm ehrlich. Er lächelte stolz und war sichtlich beruhigt, da er nun sicher war, eine Jubel-Kritik von mir zu bekommen.
Ich folgte ihm zu den Hinterzimmern, wo die Roadies hektisch am Bühnenaufbau bastelten. Er drückte mich an die Wand, damit ein nervöser Mann mit einem riesigen Verstärker an uns vorbeikam.
Wir wichen weiteren Roadies aus und er brachte mich in den Raum, wo sich die Musiker umzogen. Als er die Tür öffnete, erreichte mich eine Duftwolke aus verschwitztem Männergeruch, Deos und seltsamerweise roch es auch nach Holz, obwohl der Raum kaum möbliert war. Zwischen den verstreuten Klamotten, Gitarrensaiten und Koffern saßen die drei Musiker auf einer alten Couch und tranken gierig Bier und Wasser. Als sie ihren Manager mit mir hereinkommen sahen, blickte nur Tom etwas länger auf uns. Die anderen beiden waren damit beschäftigt, sich den Schweiß mit Handtüchern abzuwischen.
Der Manager stellte mich vor und alle nickten mir leicht zu, nur Tom schoss plötzlich von der Couch hoch und kam auf mich zugestürzt. Als er mich fast erreicht hatte, stolperte er über einen Gitarrenkoffer. Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Dieser Bühnenprofi schien im normalen Leben zum Ungeschicktsein zu neigen. Er lächelte etwas verlegen, wurde rot und reichte mir seine Hand, die ich, unerwartet verschämt, schüttelte.
„Hi. Ich bin Joe Paul. Dein Song ‚It’s Just Me‘ gefällt mir besonders“, sagte ich ihm und spielt darauf an, dass er vor dem letzten Song angesagt hatte, dass er ihn geschrieben hatte.
„Danke. Ist einer meiner neuesten. Ich bin Tom und das sind Jürgen und Felix“, erklärte er mir und deute auf seine Bandkollegen, die sich über irgendetwas köstlich amüsierten. Ich vermutete, dass es mit seinem ungeschickten Stolpern zu tun haben musste.
Tom hatte meine Hand immer noch nicht losgelassen, was mir etwas unangenehm war.
„Krieg ich sie wieder?“, fragte ich im Scherz und blickte auf meine Hand, die er fest umklammerte.
„Oh, ja. Sorry“, entschuldigte er sich und rieb sich verlegen den Nacken. Für den Sänger einer Band kam er mir etwas zu schüchtern vor, aber es machte ihn irgendwie sehr liebenswert. Auch sein Aussehen verstärkte diesen Eindruck. Tom war etwa Anfang zwanzig, etwas größer als ich und hatte ein nettes Lächeln. Seine braunen, zerzausten Haare ließen ihn noch jünger wirken, was aber gut zu ihm passte.
Während der Manager Manny wieder ging und kurz zum Abschied winkte, setzte ich mich auf einen Sessel den Jungs gegenüber. Das Trio schien mir ganz gut gelaunt zu sein, was das Interview einfacher machen würde. Als Tom sich dann wieder auf seinen Platz gesetzt hatte, zückte ich meinen Block und den Stift und wollte gerade meine erste Frage stellten, da sah ich, wie Felix sich zu Jürgen hinüberbeugte und ihm etwas zuflüsterte. Die beiden dachten, ich würde sie nicht hören, aber ich verstand jedes gemurmelte Wort, das Felix sagte, der Tom dabei amüsiert musterte. Felix flüsterte:
„Oh Mann, das dürfte interessant werden!“