28. Der Blick in den Abgrund
 
 
Bald würde es so weit sein. Aber noch zwang ich mich, nicht darüber nachzudenken. Ich versuchte mich auf meine unmittelbare Umgebung zu konzentrieren und die lähmende Angst, die von mir Besitz ergreifen wollte, weitestgehend zu ignorieren, was mir aber kaum gelang. Ein feiner Nebel war aufgezogen. Der Wechsel von warm und kalt hatte ihn mit sich gebracht. Wie ein Rauchteppich schlang er sich um die Bäume und schien auf uns zuzukommen, wie die Meute der Farkaswölfe, auch wenn diese als Menschen angreifen würden. Die Luft war klebrig süß. Das letzte Anzeichen eines vergehenden Sommers.
„Eine Stunde“, hatte Valentin gesagt. Bloß eine Stunde, dann würden sie hier sein und die Hölle losbrechen. Istvan -redete gerade auf mich ein. Letzte Instruktionen, Verhaltungsanweisungen oder was weiß ich. Es kam nicht zu mir durch. Innerlich schob ich Panik. Nichts mehr übrig von meiner üblichen Gefasstheit oder Ruhe. Ich hatte ein verflucht schlechtes Gefühl.
„Hast du alles verstanden?“, fragte er scharf. Und er fragte es nicht zum ersten Mal. Ich musste wohl genickt haben, denn er fuhr schon fort. „Ich will, dass du es wiederholst!“, schnauzte er mich an.
„Was? Was soll … soll ich wiederholen?“, stammelte ich.
„Du hast mir gar nicht zugehört.“
Jetzt packe Istvan meine Schultern und redete streng auf mich ein.
„Du darfst nicht zum Waldabschnitt mit dem felsigen Untergrund, solltest du fliehen müssen. Dort hast du kaum eine Chance zu entkommen. Bleib auf festem Untergrund. Denk immer an dein Messer, Joe! Hier, ich stecke es dir jetzt in das Halfter“, erklärte er deutlich sanfter, als er die Bleiklinge behutsam in die Lederhalterung an meiner rechten Hüfte steckte.
„Wenn ich nur selbst bei dir bleiben könnte, um dich zu beschützen“, seufzte er. „Aber Jakov braucht dich doch für Farkas. Und drei Beschützer sind mehr als genug für mich“, log ich, ohne rot zu werden. Er ließ sich nicht überzeugen. „Valentin, Serafina und Marius sind schon mehr Kämpfer, als ihr entbehren könnt. Und das weißt du auch, Istvan!“, versuchte ich ihm einzubläuen.
„Ja, das weiß ich. Es ändert aber nichts daran, dass ich fast den Verstand verliere, weil ich dich alleine lassen muss“, gab er zu. Es ging mir genauso. Der feige und selbstsüchtige Teil von mir wollte ihn bei der Hand nehmen, davonlaufen, ihn so weit wie möglich in Sicherheit bringen. Auch wenn er das nicht zulassen würde. Aber der Gedanke war da.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, erinnerte ich ihn auf die Uhr sehend.
Er nickte schroff und sah ebenfalls auf meine Armbanduhr, als hoffte er, dort alleine durch Willenskraft eine andere Zeit ablesen zu können.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Alles, was mir durch den Kopf geht, hört sich bescheuert an … wie Abschied … Und so etwas will ich dir nie sagen müssen …“, flüsterte er in meinen Nacken. Wir umarmten uns jetzt fest.
„Dann sagen wir gar nichts“, schlug ich vor und zog meine Arme enger um ihn. „Wir machen einfach das hier“, flüsterte ich in seine warme Brust. „Und das hier“, murmelte er, als er mein Kinn zu einem sanften Kuss nach oben zog. Mit geschlossenen Augen genoss ich einfach seine warmen, weichen Lippen, die so schrecklich zärtlich zu mir waren. Es dauerte viel zu kurz. Ich hätte fast geschrien vor Frustration, als Jakov auf Istvans Schulter klopfte und mit gesenktem Blick murmelte: „Es tut mir wirklich leid. Aber, Istvan, wir müssen los.“
Er versuchte sich aus meiner Umarmung zu befreien, aber ich ließ nicht los. Ich konnte nicht. Das hier war falsch. Und zu schwer. Mein Herz klopfte schmerzhaft gegen meine Rippen. Es tat weh.
„Hey“, sagte er leise und strich über meine verkrampften Finger, bis ich langsam und widerwillig losließ. Wieso fällt ihm das bloß so leicht?
Sofort hasste ich mich für diesen Gedanken, als ich die unverhüllte Traurigkeit in seinen grünen Augen erkannte. Mit diesem schwer zu ertragenden Blick ging er von mir fort, um Farkas aufzuspüren und zusammen mit Jakov zu töten. Als ich meinen Atem wiedergefunden hatte, waren sie schon weg. Verschwunden zwischen Nebel und Bäumen. In der Sekunde, als die beiden Halbbrüder uns verlassen hatten, wurde der Verteidigungskreis zu meinem Schutz um mich geschlossen, genau, wie Istvan verlangt hatte. Serafina vor mir, Marius zu meiner Rechten und die Zelte zu meiner Linken. Valentin legte mir seine Hand mitfühlend auf die Schulter, bevor er begann, meinen Rücken zu decken. Es hatte also begonnen …
 
Ich hatte keine Ahnung, was vor sich ging. Die einzigen Anhaltspunkte waren die Gesichter und Blicke, die Marius, Valentin und Serafina immer wieder tauschten, denn sie hörten und fühlten so gut wie alles. Und wenn ich mir Valentins gefasste Anspannung ansah, wusste ich genau, dass die Kämpfe in vollem Gang waren. Jeder von ihnen trat von einem Fuß auf den anderen. Bei mir bleiben zu müssen und nicht ihrem Instinkt folgen zu können, fiel ihnen offenbar schwer.
„Lasst mich nicht im Dunkeln! Sagt mir, was vorgeht! Bitte“, bat ich flehend und drehte mich zu Valentin um.
„Petre, Radu und Woltan sind auf das Rudel gestoßen und außer ein paar heftigen Scharmützeln ist noch nichts Gravierendes passiert. Istvan und Jakov verfolgen Farkas, der offenbar alleine unterwegs ist“, sagte er nachdenklich.
„Wir hatten eigentlich erwartet, dass Farkas von Dimitri und Vladimir gedeckt wird“, erklärte Serafina. Der Gedanke, dass niemand wusste, wo sich diese zwei ruchlosen Krieger aufhielten, war besorgniserregend. In derselben Sekunde durchbrach ein gellender Schrei die trügerische Ruhe unseres Lagers. Ich erkannte die Stimme nicht, aber an Valentins und Serafinas geschockten Gesichtern konnte ich sehen, dass es Woltan gewesen sein musste. „Was? Was ist mit ihm?“, schrie ich aufgebracht und zog meine Arme um mich.
„Dimitri hat ihn überrascht und von den anderen getrennt. Er … er ist schwer verwundet und sie lassen ihm keine Zeit, um sich zu heilen. Ich muss …“, stammelte Valentin. So außer Kontrolle hatte ich ihn noch nie gesehen. Er hatte Todesangst um seinen Sohn. Da ich Dimitri kannte, verstand ich ihn gut.
„Los“, sagte ich schnell, bevor er Zeit hatte, darüber nachzudenken. „Los, geh zu ihm!“ Er starrte mich erstaunt an. „Er ist dein Sohn und du brichst dein Versprechen nicht. Die beiden sind doch noch hier“, redete ich auf ihn ein und deute in Richtung des Schreis, der lauter wurde. Valentin warf einen letzten Blick auf Serafina, die ein wortloses „Bitte!“ an ihren Vater richtete, dann stürmte er in unglaublicher Laufgeschwindigkeit davon. Schnell änderten Serafina und Marius ihre Positionen, um die Lücke zu schließen und mich besser decken zu können. Ihre schnelle, heftige Bewegung beunruhigte mich. Irgendetwas ging vor sich, wovon ich nichts wusste. Und zum ersten Mal in meinem Leben fragte ich nicht nach und hielt tatsächlich die Klappe. Vielleicht deshalb, weil ich mir auch zum ersten Mal in meinem Leben vorkam, als hätte ich eine Zielscheibe auf dem Rücken, die jeder sehen konnte. Mir blieb nur zu hoffen, dass es nichts mit Istvan zu tun hatte. Sie würden mir doch sagen, wenn ihm etwas passiert wäre? Oder?
Plötzlich hatte ich so ein beklemmendes Gefühl, als könnte ich kaum noch atmen. Zuerst dachte ich, dass es nur die überwältigende Angst um Istvan wäre. Doch als ich sah, dass auch Serafina neben mir grün aussah, wurde mir erst recht anders. Und den strengen Seitenblick, den sie immer wieder auf mich richtete, machte alles noch schlimmer.
Jemand war hier. Meinetwegen. Jemand wollte die Zielscheibe treffen. Und die war im Moment ich!
Ich presste mir die Fingernägel in die Rippen, um nicht vor Angst in die Knie zu gehen. Der dünne Stoff meines T-Shirts war kaum ein Hindernis. Aber der scharfe Schmerz hielt mich ebenso wach und aufmerksam wie das Adrenalin, das durch meinen Körper jagte.
„Wer ist es?“, flüsterte ich Marius zu, der mich besorgt musterte.
„Vladimir“, war das einzige Wort, das er zusammenbrachte. Aber das war auch genug. Ausgerechnet der vom Hass zerfressene Bluthund. Meine Pechsträhne nahm einfach kein Ende.
Ich wollte fragen, wo er sich befand, aber das durften sie mir nicht sagen. Sonst hätten sie ihm damit verraten, dass sie es wussten, also schwieg ich beklommen und sah mich um, fand aber kein Zeichen von ihm. Bestimmt hatte ihn sein Geruch verraten. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ich fühlte, wie Marius sich an meinen Rücken drängte und Serafina vor mir wie aus dem Nichts auftauchte. Ich versuchte, an ihr vorbei zu sehen. Aber ich konnte nichts Auffälliges erkennen. Ich sah nur Bäume und Wald. Marius warmer und fülliger Körper wurde vom heftigen Atmen unruhig. Seine Anspannung übertrug sich auf mich. Wieder fragte ich so leise wie möglich: „Was? Wer?“
Aber die Antwort musste ich nicht mehr abwarten, denn ich sah es selbst. Vladimir trat fast sorglos aus dem Wald heraus, als wäre er gerade auf einem Spaziergang. Er grinste breit und boshaft, als sich hinter ihm Dimitri, hell und ebenfalls grausam vergnügt, aus seinem Schatten löste. Sollte der nicht bei Valentin und Woltan sein? Waren wir auf eine Finte hereingefallen?, dachte ich, bevor meine Hände anfingen zu zittern. Wie von selbst fand meine rechte Hand das Halfter an meiner Hüfte, das von Stoff überdeckt wurde.
Ich durfte den beiden aber keinen Hinweis geben, dass ich nicht so hilflos war, wie ich für sie aussah. Also versuchte ich, ängstlich auszusehen. Das fiel mir nicht schwer.
Wie zwei neugierige Besucher schlenderten die russischen Kampfbrüder auf uns zu. Vladimir fixierte Serafina und mich, während Dimitri ein abfälliges Lachen für Marius übrig hatte. Er murmelte etwas auf Russisch, das Dimitri bitter auf-lachen ließ.
„Ich werde dir zeigen, was ein alter Mann alles mit dir anstellen kann. Bastard!“, antwortete Marius barsch auf die Beleidigung, die anscheinend ihm gegolten hatte. Sie ignorierten Marius offensichtlich, bauten sich vor uns auf und schienen sich in allerbester Laune über uns zu unterhalten. Natürlich verstand ich nichts. Aber Serafina sah ein paar Mal so aus, als wolle sie nichts lieber tun, als ihre Position zu verlassen, um diese Mistkerle ordentlich zu verprügeln. Aber sie tat es nicht. Ihre Anspannung wuchs mit jeder Sekunde. Leider erhaschte ich ein paar Bruchstücke ihrer letzten Sätze, denn Vladimir nickte angewidert in meine Richtung und wiederholte das deutsche Wort Hexe für meinen Geschmack einmal zu oft. Und von diesem Moment an ließ der zottelige Muskelprotz seine hassglühenden Augen nicht mehr von mir. Lieber hätte ich mich übergeben, als länger in diese kalten Augen zu starren. Aber ich konnte einfach nicht wegsehen. Es war schrecklich. Dann lachte er laut und boshaft auf, als wäre es sein größtes Vergnügen im Leben, mich vor Angst leiden zu sehen. Den Wunsch, mein Messer in die Hand zu nehmen, konnte ich kaum noch zügeln. Aber Serafina warf mir einen schnell warnenden Blick zu, den ich sofort verstand. Noch bevor sie sich wieder umdrehen konnte, stürzte sich der bleiche Dimitri auf die dunkle Schönheit. Ich schrie tonlos auf, als ich es sah, und wurde von Marius hinter seinen breiten Rücken gezerrt.
„Bleib dicht hinter mir!“, brummte er durch zusammengebissene Zähne. Ich gehorchte und hielt mich an seinem Hemd fest. Dimitri schlug hart auf Serafina ein. Sie konnte ihn abschütteln, doch dann hatte es auch noch Vladimir auf sie abgesehen, von dem ich gedacht hatte, er würde Serafinas Lage ausnutzen, um mich und Marius zu schnappen. Doch anscheinend war der Plan ein anderer. Es sah aus, als wollten sie Serafina den Rest geben, vor unseren Augen, damit ich genau wüsste, was auf mich zukommen würde. Ich war mir von dem Moment an sicher, als beide Serafina hochzogen und Vladimir ihr fest in den Bauch trat. Dann zeigte er mit dem Finger auf mich und spuckte in meine Richtung. Dafür brauchte ich keine Übersetzung. Es hieß: Du bist die Nächste! Sieh dir gut an, was wir mit dir machen werden!
Nur würde ich nicht durchhalten. Ich hatte nicht Serafinas wölfische Stärke oder Selbstheilungskräfte. Bei mir würde es noch viel schlimmer aussehen. Ich krallte meine Finger in Marius’ Rücken und versuchte nicht zu schreien, weil ich Serafinas schrecklichen Anblick nicht ertrug. Marius hatte irgendwann angefangen, diese Bestien wild zu beschimpfen. Es brachte ihn fast um, dass er Serafina nicht helfen konnte, weil er Istvan versprochen hatte, niemals von meiner Seite zu weichen, egal, was geschehen würde. Aber das war zu viel. Wir konnten doch nicht zusehen, wie Serafina zu Tode geprügelt wurde. Sie demütigten sie. Es war schrecklich. Mit hartem Knall schickten sie sie auf den Boden, nur um sie dann wieder an den Haaren hochzuziehen. Gegen beide hatte sie keine Chance. Auch wenn sie sich wehrte wie verrückt. Aber egal, was sie tat, es war nicht genug. Jeder ihrer Kratzer an ihnen verheilte sofort und die meisten ihrer Schläge gingen ins Leere. Ich hatte genug. Keine Sekunde länger konnte ich mir diese grausame Vorstellung ansehen. Marius war so geschockt seine Serafina, die er mit aufgezogen hatte, misshandelt zu sehen, dass er nicht bemerkte, als ich losließ und hinter seinem Rücken hervorschlich. Ich versuchte nicht nachzudenken und die Gelegenheit auszunützen, als sich beide über die halb bewusstlose Serafina beugten, um sich ihr Werk anzusehen. So schnell ich als Mensch nur konnte, stürmte ich auf Dimitris Rücken zu und versetzte ihm einen unerwarteten Stoß, der ihn nur leicht schwanken ließ. Als er entdeckte, dass ich es war, die es gewagt hatte, ihn anzugreifen, schubste er mich nur ein einziges Mal mit der flachen Hand an der Schulter. Es genügte, um mich gegen einen zwei Meter entfernten Stamm prallen zu lassen. Ich keuchte auf, als meine Knochen knackten. Marius wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Er begriff schnell, doch Vladimir war schneller und verwickelte ihn in ein Handgemenge, damit er mir nicht helfen konnte. Serafina lag bewegungslos auf dem Waldboden und ich kniete vor einem schnaufenden Dimitri, dessen wässrig blaue Augen auf mich herabsahen. Für ihn war ich weniger als nichts. Es stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Und jetzt war er bereit dieses Nichts endlich loszuwerden. Ungestüm packte er meine Schulter. Ich schrie auf. Zuerst presste er mich gegen den Stamm, dass ich dachte, das Holz müsste aufspringen, bevor er mich mit beiden Händen über den Kopf hob und auf den Boden warf. Instinktiv versuchte ich mich abzurollen, aber der Aufprall nahm mir die Luft. Auf allen vieren kroch ich von ihm weg. Er machte sich nicht mal die Mühe, seine Schnelligkeit ins Spiel zu bringen. Langsam und tödlich ging er auf mich zu. Er hatte alle Zeit der Welt, um mich zur Hölle zu schicken. Ich sollte jede Sekunde davon miterleben. Aber ich hatte anderer Pläne. So als würde ich aufgeben, rollte ich mich auf den Blättern winselnd zusammen und wartete auf ihn. Dimitri stand über mir und sein fast kahl geschorener Kopf versperrte mir das Sonnenlicht. Für mich sah er wie ein bleicher, lebloser Schatten aus. Ein Bote des Todes.
Aber nicht meines, dachte ich. Mein Arm schoss blitzschnell hervor und zog ihm den Fuß weg, sodass er tatsächlich hinfiel. Der Schock darüber stand ihm ins absurd junge Gesicht geschrieben. Aber es hielt ihn nicht lange auf. Der plötzliche Druck auf meiner Brust ließ mich wissen, dass er bereits auf mir saß, um mir den Rest zu geben. Obwohl es schnell ging, kam mir alles ganz langsam vor. Wie in Zeitlupe sah ich, wie Dimitris Hände auf mich zukamen, um mich zu würgen oder mir gleich das Genick zu brechen. In exakt demselben Moment griff mein rechter Arm unter mein T-Shirt und zog mit einer einzigen, fließenden Bewegung das Messer aus seinem Halfter. Ohne zu überlegen, ohne auch nur einmal zu zögern, holte ich aus. Und ehe noch seine Hände meinen Hals berührten, fühlte ich, wie das Messer an seinen Rippen vorbei in sein Inneres drang. Dass ich es wirklich getan hatte, begriff ich erst, als er seine wasserblauen Augen aufriss und an sich selbst hinuntersah. Unsere Blicke kreuzten sich, als wir beide das Messer betrachteten, das schräg in seiner Brust steckte. Mit einer fahrigen, ungeschickten Geste richtete er sich auf. Dimitri sah aus, als hätte er gerade begriffen, dass seine Welt in Trümmern lag. Mit letzter Kraft holte er das Messer aus seinem Körper und brach zusammen. Er begrub mich unter sich. Aber der tote Körper, der auf mir lag, war schon jetzt nicht mehr unnatürlich warm, sondern fast kalt. Darüber war ich so geschockt, dass ich ihn angeekelt von mir stieß. Serafina kam zu sich und sah ebenso wie Marius und Vladimir, was passiert war. Entsetzen stand auf ihren Gesichtern. In großen Buchstaben. Leider bemerkte ich erst jetzt, dass Marius zusammen mit Serafina hinter Vladimir stand und ich keine Möglichkeit hatte, zu ihnen zu gelangen. Ich musste zuerst an Vladimir vorbei. An dem Farkaskrieger, der mich abgesehen von Farkas und dem toten Dimitri am meisten hasste und gerade gesehen hatte, wie ich seinen Bruder getötet hatte. In derbem russischem Akzent zischte er „Hexe“ so heftig, dass ich fest die Zähne aufeinanderpresste. Endlich war Marius Serafina so nahe gekommen, dass er sie stützen konnte. Sie würde bald wiederhergestellt sein. Wenigstens das hatte ich richtig gemacht. Jetzt musste ich nur noch überleben. Aber wenn ich mir Vladimirs Rage ansah, standen die Chancen dafür schlecht. Aber ich wollte nicht, dass Vladimir mich in die Finger bekam und noch weniger wollte ich, dass er seine Wut über das, was ich zu tun gewagt hatte, wieder an Serafina ausließ. Also blieb mir nur noch eine Möglichkeit: Flucht!
So aussichtslos es auch war, ich tat es, sammelte mich selbst vom Boden auf, schnappte mir das Bleimesser und versuchte davonzurennen. Schon nach wenigen Sekunden hatte ich Vladimirs ekelhaft heißen Atem im Nacken. Kopflos duckte ich mich und er fiel über mich drüber. So blieb mir ein kurzer -Moment, um wieder zu entkommen. Doch es geschah genau das, was ich Istvan versprochen hatte zu vermeiden. Meine kopf-lose Panik hatte mich zum felsigen Teil des Waldstücks geführt, wo ich kaum vorankam. Vladimir tauchte vor mir auf. Offenbar hatte er mich bereits überholt. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Böschung neben mir hinabzuflüchten. Ich ließ mich einfach absichtlich abstürzen. Bei meiner unsanften Abwärtsfahrt stieß ich gegen alles Mögliche, Steine, Sträucher und Wurzeln. Aber wenigstens war ich auf diese Weise schnell genug, um Vladimir zu entkommen. Als ich nach oben sah, war er nicht zu sehen. Egal! Weg hier!
Ich lief und lief. Vollkommen kopflos. Ohne Ziel. Ich hatte keine Ahnung, ob er noch hinter mir her war oder ob er eine Möglichkeit gefunden hatte, mir den Weg abzuschneiden. Ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war, fand ich mich plötzlich tief im verwilderten Wald wieder. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Panisch sah ich mich um. Nichts kam mir bekannt vor. Die Orientierung war völlig weg. Dann hörte ich plötzlich ein Rascheln. Mein ganzer, schmerzender Körper spannte sich an. Vladimir. Er hat mich gefunden! Nein, bitte nicht! Ich kann nicht mehr.
Schwer atmend wandte ich mich dem Geräusch zu. Was blieb mir sonst übrig?
Aber es war nicht Vladimir, der in der Ferne auftauchte. Farkas lief auch mich zu. Elegant und ohne jede Mühe bewegte sich sein Körper mit schnellen Schritten auf mich zu. Der Waldboden schien ihn kaum zu behindern. Doch da tauchten direkt hinter ihm zwei Männer auf. Istvan! Und Jakov. Die Erleichterung brachte mich fast um den Verstand. Doch je näher sie kamen, desto deutlicher konnte ich den schmerzverzerrten Ausdruck auf Istvans Gesicht wahrnehmen. Mach, dass du da wegkommst!, schien er mir sagen zu wollen. Ich wollte ja, aber ich konnte einfach nicht mehr. Jetzt sah ich auch Valentin, der ihnen mit Abstand folgte. Sie alle kamen auf mich zu, aber Farkas würde mich als Erster erreichen. Obwohl es absolut sinnlos war, versuchte ich dennoch zu entkommen, wie Istvan es wollte. Doch weit kam ich nicht. Ein paar mühsame Meter hatte ich mich gerade vorwärts geschleppt, da wurde ich schon von einer tiefen Schlucht am Weiterkommen gehindert. Also blieben mir nur zwei Optionen. Entweder ich stürzte mich da hinunter und brach mir das Genick oder ich ließ zu, dass Farkas mich in die Finger bekam. Die Versuchung, mich hinunterzuschmeißen, war groß. Aber nicht groß genug. Als hätte er genau gewusst, dass mein Weg in einer Sackgasse enden würde, kam Farkas milde lächelnd auf mich zu. Mit einer einzigen, schnellen Geste, hatte er mich in seiner Gewalt. Wieder einmal war ich gezwungen, seine Nähe zu fühlen und seinen derben Geruch einzuatmen. Warum bist du nicht gesprungen?, fuhr ich mich selbst an, als sich sein fester Arm um meine Mitte schlang. Er wollte mir keinen Raum geben, um mich zu wehren. Ich hätte mich lieber in Luft aufgelöst, als zuzusehen, wie Istvan vor uns zum Stehen kam, und zu wissen, dass alles meine Schuld war. Ich konnte ihn einfach nicht ansehen. So schwer es mir auch fiel, ich nahm die Augen von seinem angsterfüllten Gesicht und blickte beschämt nach unten. Farkas schleifte meine Füße demonstrativ über den Boden Richtung Abgrund, um klarzustellen, wer hier das Sagen hatte. Toll! Ich war also Geisel und Druckmittel in einer Person.
„Bastard“, spie Jakov hart aus und fixierte seinen Vater mit vor Wut dunklen Augen. Istvan war sprachlos. Geschockt. Valentin versuchte ruhig zu bleiben. Zumindest einer musste es ja sein. Die Situation war zum Verzweifeln. Besonders für mich. Aber schlimmer noch für ihn. Istvan. In seine Augen zu sehen, brachte alles in mir in Aufruhr. Selbst die Angst war mehr. Alles war mehr.
„Na, na, na! Spricht man so mit seinem alten Herren“, grummelte Farkas. Der amüsierte Unterton in seiner tiefen Stimme ließ meinen Magen rebellieren. Diese überhebliche -Stimme! Wie ich sie hasste!
„Lass sie los. Sofort. Ohne Bedingung“, verlangte Istvan. Ich hatte noch nie gehört, dass seine Stimme so eiskalt klang.
„Warum sollte ich?“, antwortete Farkas schnaufend. „Ich habe den Trumpf und du hast was?“
Er sah sich provokant um. „Nichts … Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen, Kleiner“, stachelte er ihn an. Um ihn noch mehr zu provozieren, umfasste seine andere Hand meinen Hals. „Ein einziger Ruck und dein Schätzchen ist Geschichte. Verstanden?“, herrschte er Istvan an und fixierte auch Jakov warnend. Istvan hob umgehend beschwichtigend die Hände.
Plötzlich wurde ich nach hinten gezerrt. Fast wäre mein Nacken überdehnt worden, so grob hatte er mich in der Gewalt. Oh, nein! Hinter Farkas kam sein Rudel hervor. Ein ganzer Haufen junger Burschen deckte jetzt seinen Rücken. Einige von ihnen hatten halb verheilte Blessuren. Auch auf unserer Seite tat sich etwas. Woltan, Serafina, Marius, Petre und Radu hatten uns aufgespürt und kamen hinter Valentin zum Stehen. Die zwei Seiten standen sich nun gegenüber. Und ich befand mich im Auge des Sturms. Zwischen den Fronten. Als ein-ziger, verwundbarerer Mensch. In Farkas Gewalt.
„Dann sind wir ja alle beisammen“, kommentierte Woltan trocken.
Aber ich scherte mich nicht um die anderen. An dem ein-zigen paar Augen, das mich interessierte, hielt ich mich verzweifelt fest. Direkt vor mir starrten diese grünen Augen mit derselben Intensität zurück. Doch Farkas’ Grausamkeit durchbrach selbst dieses Band mit seinen gemeinen Worten.
„Ich frage mich, ob ihr Herz so heftig für dich oder gegen mich schlägt?“, reizte er Istvan boshaft. Istvan konnte sich kaum noch beherrschen, schnaubte vor Wut und nackter Angst. Jakov musste ihn zurückhalten. Ich wusste es ja. Mein Puls raste. Aber ich konnte nichts dagegen tun.
„Vielleicht sollten wir es herausfinden“, schlug Farkas begeistert vor und presste meinen Brustkorb zusammen. Ohne es zu wollen, schrie ich erstickt auf. Er nahm mir die Luft zum Atmen. Meine Rippen knirschten und der Schlag meines Herzens traf nun schmerzhaft meinen Brustkorb. Ein paar ungehorsame Tränen rannten meine Wangen entlang. Ich presste die Augen aufeinander, um den Schmerz auszublenden, was mir nicht gelang. Istvan war jetzt außer sich. Valentin und Jakov mussten ihn beide gemeinsam festhalten. Ich erkannte es durch meinen tränenverschleierten Blick. Er schnaufte und wand sich in ihrem Griff. Beide sahen ihn entschuldigend an, aber ich war ihnen dankbar dafür. Nur etwas fester und Farkas würde mir die Rippen brechen. Lachen! Ich hörte tatsächlich irres Lachen. Farkas’ ganzer Körper wurde davon geschüttelt. Meine erstickten Laute und Tränen brachten ihn zum Brüllen.
Hatte es je eine grausamere Kreatur gegeben?
Als ich kurz davor war, vor lauter Schmerz und Atemnot zusammenzusacken, ließ er locker. Erst jetzt, wo keine schwarzen Punkte mehr vor mir tanzten, hörte ich, dass Istvan ihn die ganze Zeit über anschrie.
„Du Mistkerl! Bastard! Dafür wirst du bezahlen. Für jede Träne wirst du bezahlen. Dafür sorge ich! Du unbeschreib-liches Monster!“, brüllte er immer wieder.
Als ich es schaffte, für eine Sekunde die Augen zu schließen und einen Wimpernschlag lang alles auszublenden, nahm ich plötzlich alles mit gesteigerter Intensität wahr. Schmerzend starke Herzschläge, die Istvan bestimmt zum Wahnsinn trieben, ein starkes Brennen im Hals und berstende Lungen begleiteten meine wachsende Verzweiflung. Der steinige Waldboden bohrte sich in meine Sohlen, als wäre kein Material dazwischen.
Ich würde sterben, dessen war ich mir sicher. Wenn nicht jetzt, dann in wenigen Minuten. Das hätte mir längst klar sein müssen. Die seltsame Abwesenheit meiner Träume hatte nicht gelogen. Für mich gab es keine Zukunft mehr. Es hätte mich vorbereiten sollen auf das Unfassbare. Das Unvermeidliche. Das Schlimmste war der Gedanke, ihn zurückzulassen. Ihn nie mehr zu sehen, zu fühlen oder zu lieben. Nie wieder. Ich hatte Angst, meine Augen zu öffnen. Angst, dass er darin erkennen würde, dass es keine Hoffnung mehr für mich gab. Doch etwas war merkwürdig. Ich hatte kein einziges Geräusch, kein einziges Wort von Farkas’ Rudel gehört. Sie jubelten weder über Farkas Triumph, noch beschimpften sie uns. Unter ihnen war es gespenstisch still. Neugierig riss ich die Augen auf, sah aber nicht Istvan an, denn er sollte nicht von meiner Verzweiflung angesteckt werden. Die Farkasjünger waren nähergekommen und hatten Farkas und mich mittlerweile eingekreist. Die meisten jungen Gesichter starrten entweder auf mich und Farkas oder sie musterten mit unverständigen Mienen die Valentins, vor allem aber Istvan.
Dieser hatte sich endlich zusammengerissen. Stark und aufrecht kam er auf Farkas und mich zu, blieb aber in einiger Entfernung stehen, damit Farkas es nicht an mir auslassen würde. Aber anstatt Farkas anzusprechen, richtete er seine Aufmerksamkeit auf dessen junge Schar.
„Warum folgt ihr diesem Mann? Ist es das, was ihr wollt? So werden wie er?“, fragte er sie sichtlich angewidert. „Seht ihn euch doch an! Stark soll er sein?“, spie er verachtend aus. „Ja, so stark, dass er es an einer unschuldigen, wehrlosen Menschenfrau beweisen muss. Er stellt sich mir nicht in einem fairen Kampf, Mann gegen Mann, Wolf gegen Wolf, wie er es von euch verlangt. Stattdessen quält er meine Gefährtin und schickt euch in einen Kampf gegen die erfahrenen Valentins … Was denkt ihr, wie viele von euch überleben sollten?“, gab er ihnen zu bedenken. Die jungen Männer, alle auf seltsame Weise vom selben Typ, mehr oder weniger attraktiv, groß und stark, sahen sich gegenseitig an. Offenbar hatten sie sich diese Fragen nie gestellt und hatten auch keine Antworten darauf. Istvans Versuch, die jungen Männer von Farkas’ Einfluss zu befreien, quittierte dieser mit einer weiteren Folterrunde für mich. Aber dieses Mal gönnte ich ihm nichts. Egal, wie sehr er auch zudrückte. Für Istvan gelang es mir, jeden Schrei zu unterdrücken, indem ich meine Zähne fest aufeinanderpresste. Auch die Tränen verbat ich mir.
„Du weißt nicht, wovon du sprichst, Junge“, wies ihn Farkas zurecht. „Du warst nie einer von uns, weil du den Weg der Schwäche gewählt und dich an dieses schwache Ding gekettet hast, anstatt mit mir und deinen Brüdern den Weg der Stärke, den Weg des Wolfs zu gehen!“ Das junge Rudel schien zu schwanken. Farkas Einfluss auf sie war stark. Zu oft hatten sie diese Parolen der Stärke gehört. Kämpfte Istvan auf verlorenem Posten?
„Das ist dein Weg, Vater!“, schrie Istvan ihn an. Das Wort Vater klang bei ihm wie die schlimmste Beleidigung aller Zeiten.
„Und es ist nicht der Pfad des Wolfs. Das weiß ich jetzt. Dein Weg ist gepflastert mit Blut und Finsternis. Du nimmst ihnen alles und gibst ihnen nichts als Angst. Durch diese Frau erst …“, sagte er und zeigte für alle sichtbar auf mich, „… weiß ich, dass der Weg des Wolfes weder der Weg der Einsamkeit ist, noch der Weg der Gewalt oder Schuld. Unser Weg ist der, den wir selbst für uns wählen. Im Rudel sorgen wir füreinander, so wie Valentin es mich gelehrt hat. Wir können einen Partner oder eine Familie finden, so wie Jakov. Oder wir kämpfen für das, was wir lieben, wie ich für diese Frau, die ich liebe und die zu mir gehört!“ Istvan sprach sehr offen. Jeder musste doch sehen, dass es tief aus dem Herzen kam, ganz anders, als wenn Farkas sprach. Wer könnte diesen grünen Augen nicht vertrauen?
„Bla, bla, bla“, ätzte Farkas. „Märchenstunde vorbei. Mein Rudel weiß, dass ich ihm alles gebe, was es braucht“, blaffte er selbstsicher. Aber seine Jungs sahen alles andere als überzeugt aus. Zweifelnd sahen sie sich gegenseitig an. Unsicher. Fragend. Hilflos. Ich konnte genau fühlen, wie es Farkas wütend machte. Jeder seiner Muskeln verkrampfte sich. Noch fester zog er den Griff um mich, als er seine Aufmerksamkeit seiner Gefolgschaft zuwandte, um sie anzuherrschen.
„Habe ich euch nicht alles gegeben?“, fragte er die jungen Anhänger seines Rudels schreiend. Er war außer sich, wollte gar keine Antwort. Es lag nicht in seiner Natur, sich infrage stellen zu lassen. Istvan trat zusammen mit Jakov noch einen Schritt näher, der mich nervös machte, weil Farkas fast schon unkontrollierbar in Rage war. Von Jakov flankiert, sprach Istvan ganz ruhig. Erzwungen ruhig, wenn sein Blick auf mich fiel.
„Du hast sie zusammengeschweißt in Angst und Schrecken. Gegeben hast du ihnen nichts als Blut und Tod! Aber erst nachdem du ihnen schon alles genommen hast. Aber damit ist Schluss“, stellte Istvan ein für alle Mal klar. „Es endet … hier und jetzt!“
„Komm nur einen Schritt näher und es wird ihr letzter Herzschlag sein!“, warnte ihn Farkas mit bitterem Ernst. Ich war fast am Ende.
Istvan versteinerte, doch Farkas ebenso, als er mit ansehen musste, wie sein ganzes Rudel, einer nach dem anderen, alle bis auf Vladimir, sich von ihm abwandte und einfach davonging. Genau, wie er es vorgelebt hatte, sah nicht einer von ihnen zurück. Sie überließen ihren alternden, grausamen Leitwolf seinem Schicksal, genauso, wie er sie hier hergebracht hatte, als Bauernopfer für den Kampf gegen Istvan und die Valentins.
Farkas traute seinen Augen nicht, als Serafina hervorgeschnellt kam und mit einer einzigen, schnell entschiedenen Geste auf Vladimir sprang und dem Muskelberg mit einem heftigen Ruck den Kopf verdrehte. Dumpf fiel sein Oberkörper zur Erde. Mit aufgerissenen Augen beobachtete Farkas fassungslos das Unmögliche, das gerade geschehen war. Istvan nutzte die Ablenkung aus, um mir mit einem einzigen, eindringlichen Blick auf meine Hüfte mitzuteilen, was ich zu tun hatte, wenn ich überleben wollte. Ohne zu nicken, ließ ich ihn mit einem leichten, erschöpften Lächeln wissen, dass ich verstanden hatte.
Farkas packte mich erneut, aber dieses Mal ließ ich mich nicht davon beeindrucken.
„Sieht so aus, als wärst du am Ende, alter Mann!“, murmelte Jakov. Genau in dieser Sekunde, in der Farkas sich auf Jakov konzentrierte, gelang es mir meinen Arm zu befreien. Ich kramte das Bleimesser hervor und rammte es, ohne hinzu-sehen, so tief ich konnte in seinen Oberschenkel und drehte es herum. Der unerwartete Schmerz ließ ihn aufjaulen. Automatisch ließ er von mir ab. Istvan stürzte auf mich zu und zog mich von Farkas weg. Mit einer schnellen, beschützenden Geste schirmte er mich ab und übergab mich in Valentins Arme, der mich wegzerrte und mit mir zu Boden ging. Unter Valentins Körper sah ich von unten mit an, was Istvan und Jakov mit Farkas anstellten.
Als hätte er schon sein ganzes Leben auf diesen einen Moment gewartet, packte Jakov Farkas bei der Schulter und verpasste ihm einen Haken, der Farkas von seinen Vorderzähnen befreite. Er ging zwar nicht zu Boden, spuckte aber Blut aus. Trotz seiner Verletzung hielt sich Farkas Istvan und Jakov stand. Doch dann sah ich es. Seine Wunden heilten nicht mehr und er wurde immer langsamer und unpräziser. Da dämmerte es ihm. Er zog das Messer aus seinem Schenkel und fixierte die Bleioberfläche. Jetzt war er außer sich. Wie ein wildes Tier, das weiß, dass es sterben wird und jetzt nichts mehr zu verlieren hat, stürmte er auf mich und Valentin zu. Aber er kam nicht einmal in meine Nähe, denn Jakov und Istvan brachten ihn zu Boden. Es gelang ihm, Jakov mit letzter Kraft wegzustoßen. Doch Istvan ließ sich nicht von ihm abschütteln. All die Wut, die er zuvor hatte zurückhalten müssen, meinet-wegen, entfesselte sich jetzt. Er packte Farkas’ Genick, doch ehe ich das erlösende Knacken hörte, erhaschte Farkas mein Messer und fuchtelte wild, aber ziellos damit vor Istvan herum. Es gelang ihm jedem der Stechversuche auszuweichen. Dennoch setzte mein Herz bei dem Anblick aus, dass Farkas mein töd-liches Bleimesser gegen Istvan benutzte. Oft waren es nur Milli-meter, um die er Istvans Haut verfehlte. Jedes Mal keuchte ich laut und außer mir auf. Da kam Jakov von hinten auf seinen Vater zu und umfasste dessen Hände, damit Istvan ihm das Bleimesser mit dem Fuß aus der Hand schlagen konnte, ohne es zu berühren.
Erleichtert ließ ich mein Gesicht in den Waldboden sinken und hörte, dass auch Valentin sichtlich angespannt über mir ausatmete. Doch jeder von uns wusste, dass dieser Kampf erst dann wirklich für immer vorbei sein würde, wenn Farkas nicht mehr lebte. Deshalb umfasste Istvan schweren Herzens mit seinen Händen den Kopf Farkas, während Jakov ihn bewegungsunfähig machte. Es war nicht schwer. Denn Farkas war schon auffällig schwach. Das Gift lähmte ihn bereits. Das ging zwar gegen alles, woran Istvan glaubte. Dennoch zögerte er nicht, als er es als allerletzten Akt der Gnade tat. Auch wenn Farkas selbst das nicht verdiente. Mit einem schnellen Ruck riss er den Kopf Farkas’ zur Seite, bis das Knacken zu hören war. Erschrocken zuckte ich zusammen. Das scheußliche Geräusch ging mir durch Mark und Bein.
Istvan schloss kurz die Augen und atmete erschöpft aus. Sein Kopf sank hinunter und ich dachte schon, dass er sich dafür selbst quälte. Aber als er aufstand und zu uns herüber sah, konnte ich nur unendliche Erleichterung in seinem Blick erkennen. Keine Trauer. Keinen Verlust. Auch kein Selbsthass. Als seine Augen endlich meine fanden, konnte keiner von uns mehr warten. Ich schoss vom Boden hoch, als auch er auf mich zugelaufen kam. Wir stießen fast schon zu hart aufeinander und wären gestolpert, wenn er uns nicht in allerletzter Sekunde abgefangen hätte. Ich fühlte seinen heißen, schnellen Atem in meinem Nacken, als ich meine Arme um seinen schlang.
„Es ist vorbei. Ich kann nicht glauben, dass es vorbei ist“, murmelte er in mein Ohr, während ich seinen Nacken mit unzähligen dankbaren Küssen übersäte. Ich hatte tatsächlich überlebt, war wieder in seinen lebendigen Armen und keiner unserer Freunde war Farkas zum Opfer gefallen.
„Bring mich hier weg!“, flehte ich erschöpft. Ich wollte diesen Moment nicht in der Nähe von Farkas’ totem Körper verbringen. Kaum waren die Worte ausgesprochen, befanden wir uns alle gemeinsam, außer Jakov, in einem entfernten Waldstück. Anstatt mich abzusetzen, packte Istvan mich bei den Hüften und hob mich feierlich in die Luft. Er drehte mich um die eigene Achse und sah mich an, als wäre es ein unfass-bares Wunder, dass ich noch da war und er mich in seinem Armen drehten konnte.
„Wenn du mich nicht runterlässt, kann ich dich nicht küssen!“, lachte ich verlegen. Auch er lächelte jetzt und nahm mich wieder in den Arm, um mich lange und vorsichtig zu küssen. Ich hätte platzen können vor Glück. Noch vor ein paar Minuten hatte ich mich dem sicheren Tod entgegengesehen und jetzt waren Istvans warme, weiche Lippen auf meinen. Wenn ich die anderen nicht lachen gehört hätte, hätte ich mich nie wieder von ihm gelöst. Istvan drehte mich, sodass er mich trotzdem noch umfasst hielt. Ich konnte spüren, dass er noch immer Angst hatte, mich loszulassen, während ich in die unverletzten, erleichterten Gesichter unserer Freunde sah, küsste Istvan völlig abwesend meinen Hals und Nacken, als wären wir völlig unter uns. Ich wand mich ungern aus seinen Armen, aber ich wollte endlich nach Hause. Um dann unsere Sachen zu packen. Jetzt gab es nichts mehr, was mich davon abhielt, zusammen mit Istvan wegzugehen, um mit ihm zu leben. Völlig auf mein Ziel fixiert, packte ich seine Hand und zog ihn mit mir nach vorne.
Zuerst fiel es mir gar nicht auf. Aber etwas war komisch. Ich hatte ihn doch noch nie hinter mir herschleifen müssen. Schließlich war er schnell wie der Wind. Widerwillig merkte ich dennoch, wie ich immer mehr an seinem Arm ziehen musste, damit er mir folgte. Ich wollte mich nicht umdrehen. Wollte es nicht sehen. Ich wusste es. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, aber ich wollte es nicht glauben. Als ich endlich stehen blieb, merkte ich, dass alle anderen vor mir ebenfalls erstarrt waren. Sie blickten mit aufgerissenen, ungläubigen Augen hinter mich. Auf Istvan. Serafina hatte sogar die Hand vor den Mund gepresst. Ich fühlte sie genau. Die Sekunde, in der die Dornen mir ins Herz stachen. Es war der Moment, als ich mich umdrehte, noch immer Istvans Hand in meiner, und ihn ansah. Es sah. Unsere Hände verschränkt, krümmte er sich leicht und hielt sich den anderen Arm um den unteren Bauch geschlungen. Langsam, als würde ich mir selbst dabei zusehen, nahm ich seinen Arm von der Stelle und enthüllte den hauchdünnen Riss in seinem Hemd. Panisch fiel ich auf die Knie und riss den unteren Teil des Hemdes auf. Da war er. Ein winziger Kratzer. Ein Kratzer, den Farkas in Istvans Haut hinterlassen hatte. Mit meinem Messer. Ohne zu denken, ohne auch nur eine Sekunde lang zu überlegen, schlang ich meine Arme um Istvans Bauch und bedeckte die Verletzung, die nicht da sein sollte, mit meinem Gesicht. Als könnte ich alleine dadurch, dass ich sie vor den Augen der Welt und vor meinen verdeckte, verschwinden lassen. Es ungeschehen machen.
„Nein, das darf nicht wahr sein. Das ist nicht wahr!“, flüsterte ich und schüttelte meinen Kopf.
„Das hier geschieht nicht. Das geschieht nicht wirklich. Nein, nein … nein!“ Ich presste die tränenvollen Augen zu und hörte nicht auf dieselben Worte immer wieder zu wiederholen. Bis …