17. Pläne schmieden
 
 
Noch niemals in meinem Leben war ich so ungern in die Normalität zurückgekehrt. Ich hätte mich für ewig und noch einen Tag zusammen mit Istvan im Wald verstecken können, aber die Realität hat die unliebsame Eigenschaft dich zu finden, egal, wo du dich gerade aufhältst.
„Ach, komm schon! Jetzt ist es schon vier Tage her und du schweigst dich noch immer aus. Ich will endlich wissen, was anders ist!“, stellte ich endgültig klar und hielt Istvan an der Hand zurück. Er war wieder mal dabei, mir auszuweichen.
„Joe“, ermahnte er mich matt. „Bisher sind es eher Kleinigkeiten. Erst die Verwandlung wird zeigen, was wirklich anders ist“, beschwichtigte Istvan.
„Mich interessieren aber auch Kleinigkeiten.“ Das saß. Istvan seufzte. Ich hatte ihn ganz schön unter Druck gesetzt.
„Na schön! Was soll’s!“, murmelte er. Ich hielt seinen ausweichenden Blick mit fragender Miene.
„Ich bin schon … stärker. Im Training konnte ich neulich sogar Jakov als Mensch besiegen. Valentin meint, in meiner Wolfsform wäre der Unterschied noch deutlicher. Es ist schwer zu beschreiben, die Veränderung, meine ich.“ Er rang nach Worten, während ich auf Verstehen aus war.
„Und?“, half ich ungeduldig weiter.
„Es fühlt sich weniger falsch an, zu kämpfen, anzugreifen und so weiter.“ Er blieb weiterhin vage. „Es kommt mir jetzt ganz natürlich vor, wie … der Lauf … Macht dir das Angst?“, wollte er von mir wissen. Sein Blick mied mich dabei hartnäckig. Das mochte ich nicht.
Zugegeben, es war merkwürdig, mir Istvan auf diese Weise vorzustellen, aber Angst war etwas, was ich seit dem Ritual nicht mehr mit Istvans Namen und Existenz in Verbindung brachte.
„Nein. Natürlich nicht!“, presste ich beinahe zu heftig hervor. Mit schnellen Schritten kam ich erneut auf Istvan zu und setzte mich zu ihm auf dem Schreibtisch, er war dorthin ausgewichen. Die Bibliothek war menschenleer. Jeder meiner Schritte knarrte.
„Damit war doch zu rechnen“, meinte ich noch unbeeindruckt.
„Stimmt schon“, pflichtete er mir bei und nahm ungeschickt meine Hände in seine.
„Das Training“, flüsterte ich. „Wie läuft’s damit?“
Unmittelbar am Tag nach der Nacht, in der Istvan seinen Wolf endgültig akzeptiert hatte, hatte er mit Valentin an seiner Kampfausbildung zu arbeiten begonnen. Zusammen mit Serafina, Woltan und Jakov trainierte Istvan fast wie ein Besessener, um sich auf das unvermeidliche Aufeinandertreffen mit Farkas vorzubereiten.
„Ehrlich gesagt, läuft’s gut. Aber ich möchte nicht mit dir darüber reden. Nicht jetzt. Nicht heute. Wenn du unbedingt willst, kannst du es dir selbst nach der Arbeit morgen ansehen. Doch jetzt will ich lieber einfach nach Hause mit dir“, bat er mich und wirkte ganz plötzlich übermüdet. Ich war noch total überrumpelt. Hatte er tatsächlich von sich aus vorgeschlagen, ich dürfe ihm beim Kämpfen zusehen? Unfassbar!
„Ja, das möchte ich schon“, murmelte ich schnell, bevor ich fester hinzufügte: „Aber jetzt sehen wir zu, dass wir endlich nach Hause kommen. Wir können sofort los, wenn du willst.“ Ich hatte meinen Vorschlag kaum beendet, da nickte er fest.
 
Nachdem wir uns zu mir geschlichen hatten, aßen wir gemeinsam zu Abend. Ich hatte eben die letzten Mails beantwortet, die sich angesammelt hatten, und stellte nun das saubere Geschirr zurück, während Istvan auf der Couch lümmelte und meinen Laptop im Blick behielt.
„Du hast eine Mail von deinem Vater“, rief er mir zu.
„Machst du sie für mich auf?“, bat ich ihn. Er tat es und überflog den anscheinend kurzen Text.
„Fass sie ruhig zusammen“, forderte ich und nahm meine Aufräumarbeiten wieder auf. Er zögerte kurz, dann meinte er knapp:
„Du fehlst ihnen. Langsam haben sie doch Heimweh. Viktor hat sie gebeten, nach dir zu fragen …“, das ignorierte ich, „… Sie haben dir eine Überraschung gekauft, werden dir aber nicht verraten, was es ist“, schloss er.
„Wie endet die Mail?“, fragte ich mit angehaltenem Atem nach und ließ den Teller in meiner Hand sinken.
„LG, dein alter Herr“, las Istvan vor.
„Ah, na dann“, entfuhr es mir erleichtert. Istvan zog die Stirn kraus.
„Hätte er Dein Vater geschrieben, gebe es Grund zur Sorge. Wenn er dagegen Dein Papa geschrieben hätte, wäre es eine 08/15-Mail“, erklärte ich ihm. Er nickte, verstand aber nicht wirklich. Wie sollte er auch. Schließlich wusste er nicht, welche Nuancen und Privatscherze innerhalb einer Familie stattfanden. Der Gedanke machte mich traurig. Istvan schien selbst über irgendwas betrübt.
„Was ist? Was hast du?“, brach es aus mir hervor, ehe ich es noch bereuen konnte.
„Du fehlst ihnen“, wiederholte er mit einer todtraurigen Stimme, die einen ganz schwermütig machte.
„Das hab ich schon mitbekommen.“ Sogar für mich selbst klang das unbestimmt, vielleicht etwas zu neutral. Jetzt sah er mich streng an, fast schon böse.
„Hör auf damit! Denkst du, ich merke nicht, wie du jedes Mal aussiehst, wenn eine neue Mail kommt, eine Ansichtskarte, oder wenn du versuchst, die Fotos von ihnen nicht anzusehen.“
Ein ertapptes Rot überzog meine Wangen. Ich fühlte mich wie ein überführter Verdächtiger, dem die Schuld auf die Stirn geschrieben stand. Nicht eine Sekunde lang hatte ich ihn getäuscht, auch wenn ich mich noch so beiläufig gegeben hatte.
„Ich sage es dir zum 1.000. Mal: Ich. Komme. Damit. Klar!“
Jedes Wort betonte ich scharf.
„Ja, sicher!“, stöhnte er sarkastisch und verdrehte die Augen.
„Und ich sage es dir auch zum 1.000. Mal. Wir können noch ein, zwei Jahre bleiben. Du musst nicht alles sofort aufgeben … wegen mir … uns“, korrigierte er sich schnell.
„Du verlierst so viel auf einmal. Kein Grund, die Dinge zu überstürzen“, versuchte er mich mit seiner wundervollen Stimme zu besänftigen. Er hatte sogar die Hände nach mir ausgestreckt. Ich nahm sie an und ließ mich zu ihm herab.
„Istvan“, meinte ich sanft, während ich auf seinen Schoß kletterte. „Versteh doch“, flüsterte ich angestrengt an seine Stirn gelehnt. „Ich glaube wirklich, dass es so leichter für mich ist. Ich will … Ich brauche einen sauberen, schnellen Schnitt. Wenn ich gehe, bevor sie zurückkommen, dann gibt es keinen schweren, langen Abschied. Ich weiß wirklich nicht, ob ich es ertragen könnte, meine Familie zuerst nach all den Monaten zurückzubekommen, um sie dann über ein ganzes Jahr verteilt zu verlieren … Du musst mir das einfach glauben!“, flehte ich mit gesenkten Lidern.
„Aber Joe …“, versuchte er noch mal auf mich einzureden, bevor ich seinen unvollendeten Einwand wegküsste. Jedes Mal, wenn er dabei war, wieder anzufangen, küsste ich ihn, dann sagte ich bestimmend:
„Kein Aber, Istvan! Ein Jahr ist schon zu viel. Wie stellst du dir das vor? … Ständige Lügen und heimliche Treffen, wer weiß wie oft. Wie soll ich das aushalten, hm?“, fragte ich und strich mit einer eindeutigen Geste über seine Brust.
„Ja“, hauchte er kaum hörbar, vergrub seine Hände in meinen Haaren und legte sich auf mich. Besitzergreifend schlang ich meine Beine um seine schmalen, festen Hüften.
„Ich weiß genau, was du meinst!“, bekam ich zur Antwort. Diese leicht raue Stimme zog mich bereits in einen anderen Bewusstseinszustand.
„Thema beendet?“, fragte ich. Das Sprechen fiel bereits schwer.
Die Konzentration!
„Thema beendet!“, bestätigte er eilig.
 
Am nächsten Tag löste Istvan sein Versprechen ein. Unmittelbar, nachdem ich mit der Pressearbeit fertig war, schaute ich schnell bei der Post vorbei, um die neuesten CDs abzuholen, die ich unbesehen auf den Beifahrersitz schmiss. Dann fuhr ich zum unteren Lager, das für die Trainingseinheiten besser geeignet war. Das schöne Wetter lockte immer mehr Wanderer in den Wald und der Pfad in der Nähe des Wolfstanzlagers wurde gefährlich oft bewandert. Nachdem ich das letzte Stück zu Fuß zurückgelegt hatte, hörte ich es bereits aus der Ferne. Das Keuchen von Lungen und die Atemstöße von Körpern in Bewegung, die aufeinanderprallten. Instinktiv zuckte ich bei diesem Geräusch zusammen. Ich musste einen gefassten Gesichtsaufdruck aufsetzen, damit Istvan nicht auf die Idee kommen würde, seinen Vorschlag zurückzunehmen. Deshalb atmete ich tief ein und versuchte die Zuversicht, die ich normalerweise in ihn setzte, für mich zu nutzen. Mit einem Mal fühlte ich mich viel leichter und gefasster. So konnte ich den Valentinkämpfern unter die Augen treten.
Mit einem letzten Kraftakt bestieg ich die Anhöhe. Alle fünf Werwölfe erstarrten in ihrer Bewegung, als ihre Sinne mich gleichzeitig wahrnahmen. So fand ich sie vor und versuchte, nicht zu konkret auf das Bild zu reagieren, das sich mir bot: Istvan kauerte über Jakov, der ihm wiederum den Handballen unter das Kinn presste. Istvans Faust war gerade dabei gewesen auf Jakovs Flanke einzuschlagen, während seine andere Handfläche Woltans Fuß davon abhielt, ihm den Schädel einzutreten. Serafina und Valentin standen abseits, offenbar gaben sie die Beobachter. Am meisten erschütterte mich allerdings, dass ich jetzt auf dem Waldboden Stäbe und Messer entdeckte. Davon hatte mir niemand ein Sterbenswort erzählt.
„Was? Noch nie eine Frau mit Cohones gesehen?“, scherzte ich, um die aufgeriebene Stimmung zu vertreiben. Offenbar hatte Istvan mich nicht angekündigt. Toll! Und jetzt starrten sie alle auf mich. Valentin half aus. Er lachte laut los und hielt sich bald schon die Seite vor lauter Gelächter. Serafina half mit. Die Männer weigerten sich, auf meinen Scherz zu reagieren, und gaben ihre Positionen auf.
„Hey“, grüßten mich Jakov und Woltan abwechselten. Ich nickte. Istvan kam sofort auf mich zu und war dabei, meine Lebenszeichen zu überprüfen. Er kaufte mir meine lockere Haltung nicht ab. Aber offenbar hatte ich meinen Puls und die Atmung genug unter Kontrolle, sodass er sich nicht gleich beschwerte.
„Von den Waffen hast du aber nichts gesagt“, meinte ich schnippisch und zeigte abwertend auf den Haufen am Waldboden.
„Schuldig!“, tönte Jakov und lachte Istvan aus, als wollte er sagen: „Na, hat der brave Liebling seiner Liebsten doch nicht alles erzählt!“
„Vorsicht!“, warnte ich Jakov im Scherz. „Sonst gehe ich noch damit auf dich los“, sagte ich und nahm eines der längeren Messer, das fast einem Schwert glich, in die Hand. Jetzt sah ich, dass Istvan kalkweiß wurde. Er sah das Ding gar nicht gerne in meiner Hand.
„Ich war der Meinung, eure Truppe kämpft nur mit den Händen, Wolf oder nicht“, warf ich ein und wiegte das schwere Ding hin und her.
„Üblicherweise schon“, erklärte Valentin, trat an mich he-ran und nahm mir das Schwert aus der Hand. „Ich bin nur der festen Überzeugung, man sollte sich auf alles vorbereiten. Vor allem wenn man es mit einem derart niederträchtigen Gegner zu tun hat, der schwer einzuschätzen ist, weil er gezwungen wurde seine übliche Vorgehensweise zu ändern“, ließ mich seine Samtstimme wissen. Waren wir also schon bei Farkas angelangt, folgerte ich in Gedanken.
„Das macht Sinn. Vor allem bei unserem Feind!“, murmelte ich. Keiner sah mich an, außer Istvan. Und der war dabei bitter zu bereuen, dass er mir erlaubt hatte zu kommen.
„Keine Panik, Liebling. Ich werde bestimmt nicht auf Xena, die Kriegerprinzessin, machen. Du hast mir mehr als einmal deutlich gemacht, wo mein Platz ist. Einen halben Meter hinter deinem Rücken. Das heißt aber nicht, dass mir die Sache gefallen muss oder dass ich nicht versuche, mich zu verteidigen, wenn ich mal wieder in die Schlusslinie gerate. Und seien wir mal ehrlich: Das passiert mir doch ständig. Sogar Jakov kann ein Lied davon singen“, beendete ich meinen Vortrag.
„Da ist was dran, Istvan“, wandte dieser ein und umklammerte Istvans Schulter, als wäre es das Normalste auf der Welt. Dieser schenkte ihm dafür einen seiner mörderischen Blicke.
„Du musst sie ja nicht gleich mit einer Uzzi ausstatten“, begann Serafina auf Istvan einzureden. „Aber es könnte nicht schaden, wenn sie zumindest wüsste, wie sie sich verteidigen kann, wenn sie von einem Wolf angegriffen wird.“ Istvan ließ ihre Worte, eigentlich alles Gesagte, auf sich wirken. Dann nahm er mich zur Seite.
„Willst du das wirklich? Ich meine, es bringt vermutlich sowieso nichts. Ich werde nicht zulassen, dass dir ein Werwolf je so nahe kommt, aber …“
„… aber ich sollte für den Fall vorbereitet sein“, beendete ich in aller Vernunft seinen Satz. Wir beide nickten verschwörerisch. Es war beschlossen.
So lernte ich an diesem Tag, wie ein normaler Mensch wie ich es schafft, bei einer Werwolfattacke nicht gebissen zu werden und somit auch der Verwandlung zu entgehen. Der Trick, wenn man es denn so nennen konnte, war einen Stock, Ast, oder etwas Ähnliches so schnell wie möglich in die Finger zu bekommen, um damit das Maul meines Angreifers zu verschließen. Auf diese Weise konnte er nicht zubeißen und man blieb verschont. Es war schon mehr als merkwürdig, als Serafina – ich bestand darauf, dass sie meine Trainingspartnerin war – auf mich zugesprungen kam, als wäre sie in ihrer Wolfsform. Sie warf mich um. Eine Sekunde lang dachte ich, dass s-ämtlich Luft aus meiner Lunge gewichen sein müsste, denn sie war unfassbar stark. Aber das Adrenalin, das nicht darauf achtete, dass dies nur ein vorgetäuschter Angriff war, schoss blitzschnell durch meine Adern und ließ mich instinktiv meine Arme zur Abwehr hochreißen. So gelang es mir, sie wenigstens etwas von mir zu stemmen, um den Ast zu meiner Linken zu erreichen und ihr zwischen den menschlichen Mund zu stecken. Was für ein Anblick das war! Ich bekam ein „Nicht schlecht“ von meinen Freunden, während Istvan nur ein widerwilliges Lächeln zustande brachte. Es erreichte seine Augen aber nicht.
Meine zweite Lektion bestand darin, so schnell ich konnte, auf einen Baum zu klettern, wenn ich von mehreren Wölfen oder Menschen in diesem Fall, verfolgt würde. Leider erwies ich mich nicht als geborene Kletterin. Wenn der Ast einigermaßen niedrig war, schaffte ich es gerade so, mich daran hochzuziehen und in einem höher gelegenen festen Geäst zu verstecken. Doch leider steht nicht immer ein passender Baum in der Nähe herum. Nach dem dritten Versuch, als es mir gerade so gelungen war, auf eine kleine Akazie zu kommen, erklärte Istvan die Vorstellung für beendet und erlöste mich von meiner peinlichen Darbietung. Mit einer verärgerten Schimpfattacke, die alleine mir selbst galt, kam ich zurück zu ihm. Er weigerte sich den ganzen Nachmittag lang beharrlich, auch bloß so zu tun, als wollte er mich angreifen. Dafür hatte ich Verständnis. Umgekehrt wäre es mir genauso ergangen. Etwas außer Puste ließ ich mich auf der Lagerkiste nieder und sah ein wenig abgelenkt den Valentins zu, die weiterhin eifrig dabei waren, Istvans letzte Lücken in der Kampfkunst zu schließen. Ich sah, wie er sich zuerst mit diesem Kurzschwert beweisen musste und danach den langen Stock zur Abwehr und zum Angriff nutzte. Mit Waffen trat er nur gegen Valentin an, denn Jakov hatte nie gelernt, mit diesen Hilfsmitteln umgehen zu müssen. Istvan schlug sich einfach unfassbar. Ich konnte gar nicht glauben, was ich sah. Scheinbar ohne Mühe parierte er jeden Schlag von Valentins Stock. Manchmal hatte es den Anschein, als könnte er die Gedanken seines Gegenübers lesen. Er war absolut konzentriert. Man merkte ihm an, dass er es unbedingt wollte. Die beste Motivation hatte er es einmal genannt und wollte mir damit zu verstehen geben, dass er damit meinte, Farkas so endgültig loswerden zu können. Seine Besessenheit hatte einen einfachen, nachvollziehbaren Grund: uns!
Als mir das so anschaulich demonstriert wurde, beschloss ich ihn so gut zu unterstützten, wie ich nur konnte. Niemals würde ich mich darüber beschweren, dass er nur noch das Kämpfen im Sinn hatte oder dass er ein anderer Mann geworden war, denn ich wusste ja, er tat das alles nur für mich, für uns. Er tat es, um uns zu schützen und Farkas endlich von seinem unverdienten Thron zu stürzen. Eine edlere Sache konnte ich mir nicht vorstellen. Langsam wuchs in mir eine tiefe Bewunderung für den Mann, den ich liebte, der dabei war, zum Krieger zu werden. Ein Krieger mit Ehre und einem starken Herz. Ein Wolf mit einem Löwenherz, ließ ich meine Gedanken schweifen, während er seine Anstrengungen beendete und mich nach Hause begleitete.
Erst als er mich bei meinem Haus absetzte, er wollte in dieser Nacht bei sich schlafen, um sich von dem anstrengenden Tag zu erholen, ließ er mich noch etwas wissen, das er für wichtig hielt. Still hörte ich zu.
„Noch nie ist mir etwas so schwer gefallen, wie dir heute zuzusehen oder mir vorstellen zu müssen, dass du wirklich in eine dieser Situationen geraten könntest. Ich weiß wirklich nicht, wie ich damit umgehen soll“, stöhnte er wehrlos. Dieser starke Mann, dessen drahtigen Körper ich heute Unglaubliches vollbringen gesehen hatte, wirkte von einem Moment auf den anderen unfassbar verletzlich, und das nur meinetwegen. Ich war Istvans schwacher Punkt, das war nicht zu leugnen.
„Das weiß ich doch“, bestätigte ich ihm und schmiegte mich in seine Umarmung. Die dumme Schaltung machte es schwierig. Der Motor brummt weiter. Die beständige Vibration machte mich unruhig.
„Es ist nur für den absoluten Notfall. Vielleicht wird es nie dazu kommen. Und ich habe mich ganz umsonst blamiert“, murmelte ich schwindelnd und versuchte aufmunternd zu schmunzeln.
„Wollen wir’s hoffen“, sagte er wie betäubt und verstärkte den Druck der Abschiedsumarmung. „Und du hast dich nicht blamiert“, flunkerte er nun in guter Absicht. „Wie auch immer“, brummte ich ungläubig.
„Hast du wirklich nicht“, beharrte er und gab mir einen Gute-nacht-Kuss. Widerwillig löste ich mich von ihm und sah dabei zu, wie Istvan im Camaro davonfuhr.
 
Nach einer weiteren Trainingseinheit, diesmal ohne meine Anwesenheit, trafen wir uns alle in der Jagdvilla. Die verbrauchten Kalorien mussten ersetzt werden, deshalb half ich Marius mit dem Kochen. Na ja, eigentlich gab ich eher den Küchenjungen, während er das richtige Kochen übernahm. Schließlich sollte doch Genießbares auf den Tisch. Sobald die üppigen Braten und Kuchen vertilgt waren, widmeten sich Woltan und Sera-fina dem wenig geliebten deutschen Fernsehprogramm. Marius bestand auf einer Partie Poker mit Istvan und Valentin. Jakov weigerte sich: „Wenn man sowieso keinen Cent besitzt, sollte man nicht auch noch das verspielen, was man noch nicht mal hat!“ Offenbar hatte Marius ihm schon öfters das Fell über die Ohren gezogen. Zuerst spielte ich noch mit, aber wie üblich langweilte ich mich schnell. Vor allem als ich begann, immer mehr und mehr zu verlieren. Deshalb machte ich mich zu Woltan und Serafina auf, die aber einen so miesen Film nachäfften, dass ich keine Geduld aufbringen konnte, ihnen eine ganze Stunde dabei zuzusehen. Am Ende landete ich bei Jakov auf der Terrasse, wo wir beide dabei waren, im Small Talk zu versagen. Er bedankte sich für die Bücherbox, zum unzähligsten Mal, und wir unterhielten uns über die Lektüre, die er bereits ausgelesen hatte. Unverhofft stellte sich heraus, dass wir beide etwas gegen die langatmigen Russen hatten, die es nie fertigbrachten, eine Geschichte flott in Gang zu bringen.
Dann passierte es. Ganz unvermittelt. Vielleicht waren die vielen Pläne, Vorbereitungen und Kämpfe der Auslöser dafür.
Plötzlich bemerkte ich es. Ich war alleine mit Jakov auf dem Balkon und niemand konnte uns zuhören. Das war meine Chance, vielleicht meine einzige, Jakov eine Frage zu stellen, die mich schon so lange quälend beschäftigte. Zu lange schon. Es war gut möglich, dass Valentin ihn in dieser Sache noch nicht um Verschwiegenheit gebeten hatte, und ich war mir fast sicher, dass Jakov es mir sagen würde, also zögerte ich nicht.
„Jakov“, begann ich vorsichtig. Der veränderte Ton meiner Stimme entging ihm keineswegs. „Wie könnt ihr eigentlich sterben? Du weißt schon …“, fragte ich ihn mit gesenktem Verschwörerblick.
Genau, wie ich vermutet hatte, antwortete er mir offen und ehrlich, ohne Umschweife.
„Ich dachte, das wüsstest du längst … Wir sterben, wenn jemand unsere Blutverbindung zum Gehirn durchbricht, durch schwere, zahllose Nackenbisse zum Beispiel. Dann sind wir nicht mehr in der Lage, uns zu heilen. Oder wenn unser Genick gebrochen wird, was nicht einfach ist … Und wenn der Kopf vom Körper getrennt wird natürlich. Doch es ist nicht leicht, wie du dir sicher vorstellen kannst, einem anderen Werwolf so nahe zu kommen oder überhaupt stark genug dafür zu sein. Ach ja, und es gibt da noch …“, fing er leiser an, bevor er durch Istvans Auftauchen auf dem Balkon jäh unterbrochen wurde. Ich wusste nicht, wie viel er gehört hatte. Aber seine ganze Haltung sprach Bände.
„Es tut mir leid“, sagte ich im Bemühen um Wiedergutmachung. Jakov war irritiert. Er konnte nicht verstehen, wieso Istvan anscheinend nicht wollte, dass ich diese Information kannte. Jakov hielt sich vorsorglich zurück, ungewohnt diplomatisch.
„Ich musste es endlich wissen, Istvan“, führte ich kläglich zu meiner Verteidigung an.
„Du hättest mich danach fragen müssen“, antwortete er ungerührt. Aber auf mich machte er den Eindruck, doch gekränkt zu sein.
„Aber das kann ich doch nicht. Du bist gebunden … in dieser Sache“, erinnerte ich ihn verzweifelt. Er schien mir nicht richtig zuzuhören.
„Joe“, sagte er eindringlich. „Würdest du jetzt bitte nach Hause fahren und dort warten, bis ich komme. Ich bin auch nicht sauer auf dich“, sagte Istvan ruhig. Merkwürdig ruhig.
Ich wusste nicht, ob ich das glauben konnte. Dennoch nickte ich und warf beiden noch einen eingeschüchterten, reumütigen Blick zu, ehe ich davoneilte, wie der reuige Feigling, als der ich mich erwies.
Erst im Auto erkannte ich im Rückspiegel, dass Valentin sich zu Istvan und Jakov auf den Balkon gesellt hatte. Eine hitzige Debatte schien im Gange zu sein. Alle unterhielten sich sehr ernst. Mit einem äußerst mulmigen Gefühl fuhr ich zu mir, die aufkeimende Panik war mein Begleiter für den heutigen Abend.
 
Wie auf Nadeln wartete ich auf Istvans Rückkehr. Es war schon reichlich dunkel und somit konnte er gefahrlos durch den Wintergarten zu mir kommen. Sogar die Tür zum Wintergarten hatte ich für ihn unverschlossen gelassen.
Als er dann ganz unvermittelt, vollkommen lautlos hinter mir stand, keuchte ich erschrocken auf und hielt mir die Hand vor die Brust, in der sich mein hämmerndes Herz fast überschlug.
„Entschuldigung, aber die Tür stand offen“, murmelte er, ehe er sich seltsam geschäftsmäßig neben mir einen Stuhl nahm und sich zum Küchentisch setzte.
„Und? Wie viel Ärger werde ich bekommen?“, fragte ich geradeaus, als wäre ich deswegen nicht am Ende, was ich war.
„Keinen“, bemerkte er knapp.
„Und Jakov? Es war immerhin nicht seine Schuld.“
„Ja, dein lieber, kleiner Komplize, oder ist Mitverschwörer der richtige Ausdruck!“, zischte er angriffslustig.
Schuldbewusst und verletzt blickte ich zur Seite. Ich verdiente seinen Seitenhieb durchaus. Dennoch tat er weh, denn er traf ins Schwarze.
Istvan schnaubte, weil er mich nicht so sehen konnte, und wartete, bis ich ihn wieder ansehen konnte, dann meinte er viel ruhiger:
„Keine Sorge. Jakov ist aus dem Schneider. Aber deinetwe… deswegen musste Valentin ihn vorzeitig zum Geheimnisträger machen.“ Er sagte es sehr deutlich und ich konnte die Missbilligung in seiner Stimme ohne Zweifel ausmachen.
„Was mich betrifft, ist es dafür nicht ein bisschen zu spät“, wandte ich ein.
„Nein, eigentlich nicht. Was er dir verraten hat, hätte ich dir bald schon selbst erzählen dürfen.“ Istvan knurrte die letzten Worte beinahe. „Mir wäre es allerdings lieber gewesen, du hättest es von mir gehört. Weniger unvorbereitet und …“
„Mir auch“, unterbrach ich ihn, um ihm sanft zu bestätigen, dass es immer in meiner Absicht gelegen hatte, das alles nur von ihm hören zu wollen.
„Das eigentliche Geheimnis, unser … sagen wir, es ist unangetastet geblieben. Deshalb ist der Vorfall gar nicht so gravierend.“
Er machte eine lange, schwerwiegende Pause.
„Du weißt doch, wie gerne ich es dir sagen würde. Und ich habe Valentin erneut, nochmals, eindringlich darum gebeten, aber …“
Ich schüttelte den Kopf und beendete den Satz für ihn. „… Aber du kannst nicht. Er erlaubt es dir nicht.“
Ein hilfloser Ausdruck huschte über sein Gesicht, der mich schrecklich betroffen machte.
„Das alles, diese Sache vor mir zu verschweigen, setzt dir mehr zu, als du mich sehen lässt, oder?“, fragte ich ihn in seine grünen Augen blickend. Der verhaltene Schmerz darin war Antwort genug.
Ich seufzte laut, bevor ich besänftigend seinen Unterarm entlang fuhr. Eine hilflose Geste des Trostes, mehr nicht.
„Ehrlich gesagt, jetzt, wo ich es weiß, wünschte ich mir, dass ich es nie erfahren hätte. Ich meine, wenn ich mir vorstelle, dass du Farkas so nahe kommen musst, um … es zu Ende zu bringen. Die Sache gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht“, gestand ich ängstlich.
„Du vergisst, dass er mir nicht mehr überlegen ist. Ich bin jetzt stark genug, um es mit ihm aufnehmen zu können. Ebenbürtig. Wirklich! Und mit Jakov zusammen müssten wir ihm, ihnen, überlegen sein“, versicherte er mir.
„Es ist nur. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du jemandem so etwas antun kannst“, vertraute ich ihm an. „Selbst ihm nicht“, fügte ich noch hinzu und merkte, wie meine Stimme beim Gedanken an Farkas kippte.
„Die Dinge liegen jetzt anders, Joe! Ich bin nun ein Krieger, ein Raubtier, besonders in manchen Nächten. Sogar beim Training mit Jakov und den anderen merke ich den Unterschied. Ich kann mein Raubtier und seine Kräfte jetzt kontrolliert und gezielt einsetzen.“
Ich schauderte ein wenig beim Gedanken, vor allem wegen seiner Wortwahl, nickte aber zustimmend.
„Ich verstehe“, flüsterte ich noch, „es ist wie beim Wildjagen.“
„Ja, es ist wie beim Wildjagen. Ich entscheide letztlich, ob ich zubeiße oder nicht.“
„Und du beißt nur zu, wenn es die Beute nicht anders verdient hat“, übertrieb ich den Vergleich etwas.
„Genau.“