29. Aufstieg des Hades
… Bis ich die schönste Stimme der Welt die
hässlichsten Worte aussprechen hörte, die es gab. Und es war
seine Stimme.
„Es ist zu spät!“
„Nein, nein. Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein!“
„Joe …“, sagte seine Stimme unerträglich sanft,
bevor er versuchte, mich an den Ellbogen hochzuziehen.
„Komm doch hoch. Ja? Bitte.“
In allen Gesichtern stand dasselbe geschrieben:
blankes Entsetzten.
Das Unbegreifliche war aber, dass diese Blicke
mehr und mehr mir galten und nicht ihm. Als wüssten sie, dass er
damit klarkäme, ich jedoch nicht. Und was mich anging, hatten sie
recht.
Wie konnte es wahr sein? Wie? Er sollte sterben!
Wirklich sterben!
Istvan stand mir doch gegenüber, so wundervoll und
stark wie immer. Dennoch sah ich es in seinen Augen. Er wusste es.
Ich schüttelte einfach den Kopf. Gegen alles … gegen einfach alles,
was geschah.
„Ich kann es bereits fühlen …“, sagte er mit
tödlicher Ruhe. „Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, bevor … bevor es
schlimmer wird.“ Ich zitterte.
„Nein“, protestierte ich weiter sinnlos, immer
wieder und warf mich gegen ihn, meine Hände fest in seinem Rücken
verschränkt. Das Gesicht so tief ich nur konnte in seinem Nacken
verborgen, wollte ich die Welt aus den Augen haben, die Welt, die
mich derart grausam betrog. Wollte alles verleugnen, alles, was
gerade geschah und noch geschehen würde. Das hier war mein
schlimmster Albtraum. Nur gab es daraus kein Erwachen.
Seine Haut, sie war so samtig und warm und roch so
gut. Nach ihm. Wie sollte so etwas einfach vergehen? Schon bald
…
Sein Körper drängte sich ganz fest an meinen, aber
ich konnte ganz schwach bereits die Anstrengung spüren, die es ihn
kostete. Er wird schwächer. So schnell
…
Die Tränen kamen, dort an seinem Hals, meiner
letzten Zuflucht. Sie kamen heiß und verbrannten die zerkratzte
Haut an meinen Wangen.
Ich begann zu weinen wie noch nie zuvor in meinem
Leben und konnte nicht aufhören. Jedes Schluchzen und Krampfen
erschöpfte mich. Ich fühlte mich so müde. So roh und verletzlich.
Es kostete mich sämtliche Kraft, die noch übrig war, um nicht
zusammenzuklappen, wo ich doch eigentlich stark sein sollte für
ihn. Wo er mich doch jetzt mehr brauchte als jemals zuvor. Er
zögerte nicht. Versuchte mich zu stützen und hochzuheben, doch es
war zu viel für ihn. Während ich erschrocken aus -seinem Griff
glitt, schrie ich tonlos auf, als er vor mir zusammensackte, als
wäre sämtliche Lebenskraft aus ihm gewichen. Sein Körper fiel auf
den Waldboden. Dieser unerträglich traurige Anblick brannte sich
mir ein wie Säure. Immer wieder zerrte ich hilflos und nutzlos an
ihm herum. Mir gingen völlig irrsinnige Dinge durch den Kopf, z. B.
dass verletzte Pferde sich niemals hinlegen dürfen, sonst sind sie
so gut wie tot. Der absurde Gedanke
verfolgte mich, wolle einfach nicht verschwinden. Bis ich ihn
beinahe anschrie, er solle wieder hochkommen. Aber er konnte es
nicht. Also blieb mir nicht anders übrig, als mich auf die Knie
fallen zu lassen und an seiner Seite zu sitzen. Ich fühlte mich
besiegt. Alles um uns herum verschwamm. Einzig allein uns beide
konnte ich klar und gnadenlos deutlich sehen.
Endlich öffnete er wieder seine Augen. Erleichtert
seufze ich laut.
„Es geht viel schneller, als ich gedacht hatte“,
stöhnte er, während ich den Schweiß auf seiner Stirn entdeckte.
Nein. Du schwitzt nicht!
Wie kannst du nur so ruhig sein, während ich aus
der Haut fahre? Sogar deine Stimme klingt beherrscht und tröstlich.
Tust du das meinetwegen? Für mich? Das sollst du nicht! Hör
auf!
Aber ich konnte es nicht sagen. Ich presste meine
Augen zu, so fest ich konnte.
„Hey“, hauchte er still.
Wie kann ein einfaches Wort so vertraut klingen, als wäre es nur
für mich bestimmt?
„Sieh mich an, Joe.“ Stumm schüttelte ich meinen
Kopf und spürte einen weiteren Tränenfilm.
„Du kannst mir doch im Moment keinen Wunsch
abschlagen. Und jetzt mach schon, Liebling. Sieh mich an!“
Widerwillig gehorchte ich ihm und genau, wie ich
es geahnt hatte, traf mich beim Anblick seiner unwiderstehlich
grünen, traurigen Augen der Schlag wie ein Messer, das einem tief
in die Brust gestoßen wird.
Ich werde nie wieder in diese Augen sehen.
Der Gedanke tötete etwas in mir.
„Schon besser“, neckte er
halbernst. Hör auf damit! Hör auf so zu tun, als wäre das
hier nicht das Ende. Es soll aufhören!
„Wie soll ich denn dem Tod ins Auge blicken, wenn
du dich weigerst, mich anzusehen. Hm?“
Hör doch auf! Ich kann nicht mehr. Es soll
aufhören. Es tut zu weh!
Ich antworte noch immer nicht, war völlig erstarrt
und verstört.
„Und wenn du jetzt noch mit mir sprechen würdest,
ginge es mir viel besser … also, lass mich deine Stimme hören“, bat
er zurückhaltend.
„Ich, ich kann nicht“, stotterte ich. Jedes Wort
kostete mich Überwindung, war, als würde ich anerkennen, was gerade
geschah.
„Ich habe Angst. Angst, dass alles, was ich zu dir
sage, das Letzte sein könnte … Und ich will nicht … will nicht …
keine letzten Worte … will nicht … kann
nicht! Nein. Nicht … von dir verabschieden“, brach es heulend aus
mir heraus. Selbst ich verstand kaum, was ich schluchzend
stammelte.
„Shh. Shh. Alles wird gut. Beruhige dich. Ich
brauche dich klar, verstehst du?“, meinte er, die Ruhe selbst, und
nahm meine Hand.
Ja, dachte ich rasend,
damit du dich verabschieden kannst. Aber da mach ich nicht mit.
Niemals!
Als ich begann, mir seiner warmen Hand in meiner
bewusst zu werden, dachte ich immer wieder: Ich
werde sie nie wieder loslassen! Das schwor ich mir selbst
und blickte auf seine Hand, die sich so vertrauensvoll in meine
gelegt hatte. Herzzerreißend vertraut fühlten sich seine Finger an,
als gehörten sie zu mir, wären ein Teil von mir.
„Ich kann mich nicht beruhigen. Ich habe solche
Angst um dich. Und ich kann dich nicht verlieren … Hast du denn gar
keine Angst?“, fragte ich gedankenlos und bereute es sofort. Er
presste die Brauen zusammen und sah an mir vorbei, dachte nach,
bevor er mir wieder fest in die Augen sah. Ich hielt die Luft
an.
„Natürlich habe ich Angst. Weniger, davor zu
sterben, als davor, dich zu verlieren.“ Auch wenn ich es kaum
glauben konnte, sprach er die Wahrheit. Ich hörte es an seiner
Stimme.
Er lag im Sterben und seine größte Sorge galt mir.
Wenn ich ihn bis jetzt nicht schon unsterblich geliebt hätte, wäre
es um mich geschehen gewesen, ganz egal, was noch passieren würde.
Ich hatte den besten Mann gefunden, den eine Frau sich wünschen
konnte, nur um ihn viel zu früh zu verlieren. Die Welt kam mir
sinnlos grausam vor. Aber ich war nicht bereit, ihn zu verlieren,
würde es auch nie sein. Egal, um welchen Preis. Entschlossen beugte
ich mich näher zu ihm und flüsterte, damit uns die anderen nicht
hörten. „Du musst keine Angst -haben, mich zu verlieren …“,
versprach ich ihm von ganzem Herzen, „… ich werde dir folgen.
Überallhin …“
Plötzlich brannten seine Augen und versengten jeden
Gedanken in mir. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in meinen
Handrücken. Fuchsteufelswild herrschte er mich an. Wo immer er auch
die Kraft dazu hernahm, er schrie mich an:
„Jetzt hör mich gefälligst an. Das wirst du nicht
tun. Egal, was du glaubst, damit zu erreichen, du tust das nicht.
Hörst du? Ich würde dir das nie verzeihen. Wie soll ich in Frieden
sterben, wenn du … Versprich mir, dass du nichts Dummes
machst!“
Ich wich seinem Blick aus. Ich wollte ihn nicht
anlügen, ihm nicht versprechen, alleine zu sein, ohne ihn, aber er
ließ nicht mit sich reden. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
„Sag es, Joe! Jetzt sofort. Ich will es auf deinem
Mund hören!“, forderte er. „Du sollst es sagen!“, schrie er mit
letzter Kraft. Ich zuckte erschrocken zusammen.
„Ja“, hauchte ich, gegen jede Überzeugung, weil er
es von mir wollte.
Sofort beruhigte er sich und ich hätte mich
ohrfeigen können dafür, dass ich ihn derart aufgeregt hatte. Doch
ich hatte keine Kontrolle mehr, weder über mich selbst, noch
darüber, was geschah …
Es war Abend geworden, ohne dass ich es gemerkt
hatte. Nur daran, dass ich sein Gesicht schlechter sehen konnte und
unsere Schatten sich weiter ausbreiteten, wurde mir bewusst, dass
aus dem Tageslicht beginnende Dunkelheit geworden war und jeder
Moment uns dem Ende näher brachte. Istvan hatte mich gebeten, einen
Moment alleine mit Valentin reden zu dürfen, aber ich hatte mich
geweigert, auch nur einen Moment von seiner Seite zu weichen oder
seine Hand loszulassen. Also kam Valentin zu uns und ich sah in
seinen Augen, dass er und ich jetzt etwas teilten, das kein Mensch
auf der Welt mit einem anderen teilen will: zu wissen, wie es ist,
den Menschen zu verlieren, den man am meisten liebt. Von diesem
Moment an konnte ich Valentin nie wieder wirklich ins Gesicht
sehen. Es war, als würde man in einen Spiegel sehen, der einem die
eigene geschundene Seele offenbart. Ein Anblick, den man vermeidet,
wenn man es kann, was in diesen Augenblicken zu meiner Gegenwart
wurde. Denn ich sah etwas Ähnliches in Istvans Gesicht, das mich
studierte, den letzten Blick auf mich warf, weil ihm die Zeit
zwischen den Finger zerrann.
„Ich weiß, was du tun musst, und ich wollte nur,
dass du weißt, dass ich es nicht vergessen habe und damit
einverstanden bin, aber du musst dafür sorgen, dass sie …“ Istvan
stoppte mitten im Satz und streifte mich mit seinem Blick, dem
-Valentin folgte.
„Ich verstehe“, antworte er knapp. Ich verstand überhaupt nichts.
„Gut“, stöhnte Istvan erleichtert, als wäre ihm
eine große Last von seinen Schultern genommen. Was ging hier
vor?
„Mein Freund“, hauchte Istvan ergriffen und nahm
Valentins Hand, „du musst noch etwas anderes für mich tun. Du musst
mir versprechen, dass ihr, wenn es vorbei ist, aus Joes Leben
verschwindet. Für immer. Sie soll nie wieder mit unserer Welt in
Berührung kommen. Nur so kann sie …“,
„… wirklich in Sicherheit sein“, beendete Valentin
für ihn, weil er merkte, wie sehr ihn das konzentrierte Sprechen
anstrengte. Ach, Istvan! Immer um meine Sicherheit
besorgt, nimmst du mir die einzigen Menschen, die wissen, was ich
verlieren werde. Aber du meinst es gut.
Tust immer das Richtige. Darauf vertraue ich.
Valentin nickte. „Fest versprochen. Keinerlei
Kontakt, zu ihrer eigenen Sicherheit!“ Ich stöhnte frustriert, was
jeder von ihnen ignorierte. Meine Meinung zählte nicht und ich
konnte mich mit niemand streiten. Nicht jetzt. Es war beschlossen.
Einfach so.
Istvan und Valentin sahen sich lange schweigsam
an, so wie sich Familienmitglieder ansehen, wenn ihnen eine lange
Trennung bevorsteht und sie nicht wissen, was sie sagen sollen.
Wenn es nichts zu sagen gibt. Valentin öffnete gerade den Mund, um
etwas zu sagen, da schrie Istvan markerschütternd auf.
„Das Gift. Es ist jetzt überall, verursacht
Schmerzen und …“
„Es bringt ihn um!“, stöhnte ich ungläubig. Es
auszusprechen, machte es so unerträglich real. Ließ es so nahe
kommen. Wieder hatte ich das Messer in der Brust. Bei jedem Atemzug
spürte ich den Stich, und auch wenn ich für ihn hatte stark bleiben
wollen, so brach ich doch erneut in hysterische Tränen aus, die
sich meiner Kontrolle entzogen. Sie wollten nicht aufhören.
„Valentin. Bring sie hier weg. Ich will nicht,
dass sie sehen muss, wie es mit mir zu Ende geht.“
Ganz unvermittelt fühlte ich Valentins überhitzte
Arme, die mich von Istvan wegzerren wollten, um meine Taille. Ich
wehrte mich wie wahnsinnig dagegen, wollte seine Hand nicht loslassen, ließ seine Hand nicht los. Bis ich ein scharfes Ziehen
in der Schulter fühlte.
„Ich werde nicht gehen. Niemals. Ich werde dich
nicht alleine lassen“, fuhr ich beide an, während ich nicht
aufhörte, um mich zu treten. Valentin ließ locker. Er wollte mir
nicht wehtun, mich nicht zwingen.
Völlig erschöpft kroch ich wieder
zu Istvan. Ich habe -deine Hand nicht losgelassen. Ich habe
dich nicht losgelassen. Keine Sekunde!
„Mach so etwas nie wieder. Ich weiche nicht von
deiner Seite, bis …“
„Danke“, hauchte er gebrochen. Wofür denn
nur?
„Selbst jetzt bist du so wundervoll stur … Mein
Gott, wie ich dich liebe!“
Sein schiefes Lächeln, das er sich für mich
abrang, brach mir endgültig das Herz. Mein Versuch, es zu erwidern,
scheiterte.
„Und ich liebe dich“, sagte ich so ernst wie nie
zuvor, weil es vielleicht meine letzte Gelegenheit war, es zu
sagen. Wie oft habe ich es eigentlich gesagt?
Nicht oft genug. Bestimmt nicht oft genug!
Es gelang mir nicht, mich genau
daran zu erinnern. Wieso nur habe ich es nicht ständig
gesagt, habe es zurückgehalten? Weshalb? Wozu nur?
Sein Gesicht wurde schlagartig düster. Mein Atem
stockte.
„Weißt du“, sagt er, „es ist grausam, jemandem zu
sagen, dass man ihn liebt, ohne ihn dann zu küssen!“
Ich konnte nicht anders, war zu fertig. Ein Lachen
brach aus mir hervor, das sich mit den Tränen vermischte. Es klang
furchtbar.
Die Erinnerung an diesen Moment schien mir
kostbarer denn je. Und vergänglicher.
„Wenn das so ist …“, flüsterte ich, „… dann,
sollte ich dich jetzt gefälligst küssen.“
Er grinste schief und gequält, weil es wehtun
würde, wir wussten es beide. Als ich mich über ihn beugte, seine
Hand noch immer fest in meiner, strich ich meine Lippen über seine,
so vorsichtig ich konnte. Sein wohliges Seufzen presste etwas in
meiner Brust zusammen.
„Wenn dein Herzschlag nicht lügt, dann willst du
mich richtig küssen. Also tu es … für mich.“ Mit geschlossenen
Augen küsste ich ihn verzweifelt und tief und versuchte dabei zu
ignorieren, dass die Haut seiner Lippen fast schon kühler war als
meine. Er wollte mich genauso wenig loslassen wie ich ihn. Aber als
er an meinem Mund schmerzvoll aufstöhnte, riss ich mich schnell von
ihm zurück. Zwecklos. Denn die Schmerzen hatten begonnen. Wie ich
sie hasste? Wie ich es hasste, dass das hier mit ihm und nicht mit
mir geschah? Ich hätte alles gegeben, um an seiner Stelle zu sein
und den Schmerz von ihm zu nehmen. Alles.
„Versprich mir, dass du nie vergisst, wie es war,
wenn wir uns küssten!“ War das sein Ernst? Moment mal … hat er
„war“ gesagt? War! Vergangenheit! … Atme! Atme
weiter, auch wenn es wehtut …
„Ich könnte nie etwas vergessen, was mit dir zu
tun hat. Schon gar nicht, wie es ist dich zu küssen.“
Zärtlich strich er über meine Wange, während ich
die freie Hand auf sein Herz legte. Solange es schlug, wollte ich
es fühlen. Jedes einzelne Pochen. Doch es wurde immer schwächer und
schwächer, wie seine Haut immer kälter und kälter wurde, mit jeder
Minute.
Die Schmerzen wurden immer stärker. Sein Magen
krampfte und er stemmte seine freie Hand ständig darauf, ohne dass
es zu helfen schien. Sein Kopf schien im schrecklich wehzutun, auch
wenn er die Schreie, die aus ihm herausbrechen wollten, nicht
zuließ. Er musste schlimmes Fieber haben, denn seine Augen glänzten
und er schien manchmal völlig verwirrt um sich zu sehen. Ich fühlte
mich so hilflos. Konnte ihm nicht helfen. Immer wieder schrie ich
Valentin an, er müsse doch etwas wissen, was es aufhalten würde,
was ihm die Schmerzen erleichtern könnte. Doch immer wieder nur
sein „Nein“. Auf jede Frage, jede Bitte, immer nur ein
Kopfschütteln. Es war nicht auszuhalten.
Als Istvan unkontrolliert zu zittern begann,
verlor ich vollkommen die Beherrschung und presste meinen Körper
auf seinen, in dem völlig irrsinnigen Versuch, das Zittern zu
stoppen. Doch ich nahm ihm nur den Atem, der ohnehin schon flach
und zu schnell hintereinander kam. Als ich mich von ihm quälte,
bohrte ich mein Gesicht in seine Brust, doch selbst das schien er
kaum ertragen zu können. Die einzige Berührung, die ihn nicht
peinigte, war die Berührung unserer Hände. Sie war das einzige
Nahesein, das Einzige, was mir noch blieb, und ich klammerte mich
daran, wie ein Ertrinkender sich an ein Stück Holz klammert.
Immer wieder fragte ich ihn: „Hört du mich? Kannst
du mich hören, Istvan?“ Aber ich bekam nur gequältes Stöhnen und
Laute wie die eines verwundeten Tieres als Antwort.
Nach einer grausamen Ewigkeit begann er endlich
wieder zu sprechen. Aber ich konnte es kaum verstehen. Es war so
schnell und fast lautlos.
„Joe, wo bist du? Ich kann dich nicht sehen, kann
deinen Herzschlag nicht hören. Gott, ich kann ihn nicht hören. Das
ist das Schlimmste“, war alles, was ich verstand, auch wenn ich es
nicht wollte. Er klang so verloren.
„Ich bin doch hier“, sagte ich beruhigend. „Hier
bei dir“, versicherte ich ihm und drückte seine eiskalte Hand.
Führte seine andere über mein Herz, damit er das Schlagen fühlte,
auch wenn er nicht mehr die Fähigkeit hatte, es zu hören.
„Wo? Ich kann dich nicht sehen!“,
sagte er völlig panisch. Und nicht fühlen!, schoss es mir gnadenlos durch den Kopf. Mein Herz setzte aus.
Er war blind. Es soll aufhören! Wieso er! Wieso nicht ich?
Nicht er! Nimm ihn mir nicht weg! Bitte, bleib bei mir!
„Bleib bei mir! Hörst du meine Stimme?“, fragte
ich beklommen.
„Ich höre ihre Stimme“, murmelte
er vor sich hin. Wieso erkannte er mich nicht? Wenn es einen
Gott gibt, dann nimm mir das nicht! Nimm mir nicht meinen
Abschied!
„Istvan, ich bin es, Joe. Ich bin ganz nahe bei
dir. Ich halte deine Hand und ich liebe dich. Bitte, sag, dass du
fühlen kannst, wie ich deine Hand halte, ja?“, flehte ich außer
mir.
Stille. Eine gespenstisch lange Pause, die mir
Angst einjagte, bevor er endlich die Angst mit seiner schönen, aber
schwachen Stimme verscheuchte.
„Ja“, hauchte er in meine Richtung. „Ich kann
deine warme Hand fühlen. Du bist hier. Bei mir … Weißt du, wir
werden uns wiedersehen“, sagte er, als wäre es das
Offensichtlichste auf der Welt. Istvans Glaube war so stark, dass
er nicht einmal jetzt von ihm abwich.
„Ja, wir werden uns wiedersehen. Ich finde dich
überall, weißt du“, sagte ich, ohne auch nur darüber nachzudenken.
Irgendwie war sein Glaube zu meinem geworden, weil es die einzige
Möglichkeit war, mit der ich weiterleben konnte. Die einzige
Hoffnung.
„Nein“, hauchte er kaum hörbar. „Ich finde dich. So wie immer.
Ich habe dich doch wiedergefunden, erinnerst du dich? Und du warst
so schön. Fast so schön wie jetzt“, flüsterte er mir ins Ohr. Doch
ich wusste, dass er mich jetzt nicht wirklich sehen konnte. Es war
sein Herz, mit dem er immer noch sah. Und für sein Herz war ich
immer schön gewesen und dafür würde ich ihm immer dankbar
sein.
Seine Finger tasteten blind über seine Brust.
„Mein Anhänger. Die Kette“, versuchte er mir zu erklären.
„Was ist damit?“
„Ich will … ah.“ Wieder unterbrach ein krampfender
Schmerz seine Gedanken. Er versuchte den Schmerz wegzuatmen, bevor
er weitersprach. Tränen rannen mir die Wangen herab. Auch in seinen
Augenwinkeln lösten die Schmerzen Tränen aus.
„Ich will, dass du ihn trägst.“
Ich weigerte mich nicht. Ich konnte ihm jetzt
nichts abschlagen. Also nahm ich ihm die Kette ab, weil er zu
schwach war, um es selbst zu tun. Sie fiel von meiner Brust auf
seinen Hals. Seine Finger fanden den Anhänger und er küsste
ihn.
„Pass gut auf meine Joe auf, Orion“, sagte er und
versuchte mich anzusehen. Seine grünen Augen waren zwar schon
blind, aber immer noch unfassbar schön. Ich steckte die Kette unter
mein Shirt und wusste, dass ich von nun an, wenn ich Orion am
Himmel finden würde, nur noch an ihn denken würde. An meinen Wolf,
meine große Liebe, die immer einen Weg finden würde, auf mich
aufzupassen.
„Ich liebe dich. Ich liebe dich. Vergiss das nie“,
wiederholte ich immer wieder, weil es das Einzige war, was ich ihm
mit-geben konnte, wohin immer er auch ging.
Er wurde ganz ruhig und still, als er mir zuhörte,
wie ich ihm immer wieder zärtlich ins Ohr flüsterte, wie sehr ich
ihn liebte. Als er die Augen schloss, zog sich meine Brust
zusammen, nur noch ein krankes Herz darin, aber der ziehende
Schmerz ließ dieses Mal nicht nach, sondern blieb. Seine Brust hob
sich kaum noch, was ich mit aufgerissenen Augen feststellte, sein
Atem war gerade noch vorhanden.
Mit kraftlosen Atemzügen murmelte er etwas vor
sich hin, was ich nicht verstand. Es klang ungarisch.
„Was sagt er?“, fragte ich in die aufkeimende
Dunkelheit, ohne mich umzudrehen. Dieser Moment war nur für uns
bestimmt.
„Er sagt dir, wie sehr er dich liebt. Und … er
verabschiedet sich. Er nennt dich seine
Frau“, flüsterte Valentin in meinen Rücken, ohne näher zu kommen.
Jetzt hielt mich nichts mehr. Wenn er in mir seine Frau sah, dann
war er mein Mann. So einfach war das: Istvan und Joe, Joe und
Istvan. Auch wenn nur einer von uns am Leben sein würde, denn
mein Mann starb. Das würde bleiben. Solange
ich am Leben war, würden wir wir
bleiben.
Das Murmeln erstarb. Im selben Moment drückte er
mir fest die Hand. Sie war eiskalt. Mit dieser letzten Berührung
verlor ich ihn.
Er war … nicht mehr.
Ich war allein. Ich hatte ihn wirklich
verloren.
Aber ich konnte es nicht zulassen. Ich weigerte
mich, es zu glauben. Es brach mir das Herz. Deshalb weigerte ich
mich, es zu akzeptieren.
Er konnte nicht gegangen sein. Er konnte nicht
…