29. Aufstieg des Hades
 
 
… Bis ich die schönste Stimme der Welt die hässlichsten Worte aussprechen hörte, die es gab. Und es war seine Stimme.
„Es ist zu spät!“
„Nein, nein. Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein!“
„Joe …“, sagte seine Stimme unerträglich sanft, bevor er versuchte, mich an den Ellbogen hochzuziehen.
„Komm doch hoch. Ja? Bitte.“
In allen Gesichtern stand dasselbe geschrieben: blankes Entsetzten.
Das Unbegreifliche war aber, dass diese Blicke mehr und mehr mir galten und nicht ihm. Als wüssten sie, dass er damit klarkäme, ich jedoch nicht. Und was mich anging, hatten sie recht.
Wie konnte es wahr sein? Wie? Er sollte sterben! Wirklich sterben!
Istvan stand mir doch gegenüber, so wundervoll und stark wie immer. Dennoch sah ich es in seinen Augen. Er wusste es. Ich schüttelte einfach den Kopf. Gegen alles … gegen einfach alles, was geschah.
„Ich kann es bereits fühlen …“, sagte er mit tödlicher Ruhe. „Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, bevor … bevor es schlimmer wird.“ Ich zitterte.
„Nein“, protestierte ich weiter sinnlos, immer wieder und warf mich gegen ihn, meine Hände fest in seinem Rücken verschränkt. Das Gesicht so tief ich nur konnte in seinem Nacken verborgen, wollte ich die Welt aus den Augen haben, die Welt, die mich derart grausam betrog. Wollte alles verleugnen, alles, was gerade geschah und noch geschehen würde. Das hier war mein schlimmster Albtraum. Nur gab es daraus kein Erwachen.
Seine Haut, sie war so samtig und warm und roch so gut. Nach ihm. Wie sollte so etwas einfach vergehen? Schon bald …
Sein Körper drängte sich ganz fest an meinen, aber ich konnte ganz schwach bereits die Anstrengung spüren, die es ihn kostete. Er wird schwächer. So schnell …
Die Tränen kamen, dort an seinem Hals, meiner letzten Zuflucht. Sie kamen heiß und verbrannten die zerkratzte Haut an meinen Wangen.
Ich begann zu weinen wie noch nie zuvor in meinem Leben und konnte nicht aufhören. Jedes Schluchzen und Krampfen erschöpfte mich. Ich fühlte mich so müde. So roh und verletzlich. Es kostete mich sämtliche Kraft, die noch übrig war, um nicht zusammenzuklappen, wo ich doch eigentlich stark sein sollte für ihn. Wo er mich doch jetzt mehr brauchte als jemals zuvor. Er zögerte nicht. Versuchte mich zu stützen und hochzuheben, doch es war zu viel für ihn. Während ich erschrocken aus -seinem Griff glitt, schrie ich tonlos auf, als er vor mir zusammensackte, als wäre sämtliche Lebenskraft aus ihm gewichen. Sein Körper fiel auf den Waldboden. Dieser unerträglich traurige Anblick brannte sich mir ein wie Säure. Immer wieder zerrte ich hilflos und nutzlos an ihm herum. Mir gingen völlig irrsinnige Dinge durch den Kopf, z. B. dass verletzte Pferde sich niemals hinlegen dürfen, sonst sind sie so gut wie tot. Der absurde Gedanke verfolgte mich, wolle einfach nicht verschwinden. Bis ich ihn beinahe anschrie, er solle wieder hochkommen. Aber er konnte es nicht. Also blieb mir nicht anders übrig, als mich auf die Knie fallen zu lassen und an seiner Seite zu sitzen. Ich fühlte mich besiegt. Alles um uns herum verschwamm. Einzig allein uns beide konnte ich klar und gnadenlos deutlich sehen.
Endlich öffnete er wieder seine Augen. Erleichtert seufze ich laut.
„Es geht viel schneller, als ich gedacht hatte“, stöhnte er, während ich den Schweiß auf seiner Stirn entdeckte. Nein. Du schwitzt nicht!
Wie kannst du nur so ruhig sein, während ich aus der Haut fahre? Sogar deine Stimme klingt beherrscht und tröstlich. Tust du das meinetwegen? Für mich? Das sollst du nicht! Hör auf!
Aber ich konnte es nicht sagen. Ich presste meine Augen zu, so fest ich konnte.
„Hey“, hauchte er still. Wie kann ein einfaches Wort so vertraut klingen, als wäre es nur für mich bestimmt?
„Sieh mich an, Joe.“ Stumm schüttelte ich meinen Kopf und spürte einen weiteren Tränenfilm.
„Du kannst mir doch im Moment keinen Wunsch abschlagen. Und jetzt mach schon, Liebling. Sieh mich an!“
Widerwillig gehorchte ich ihm und genau, wie ich es geahnt hatte, traf mich beim Anblick seiner unwiderstehlich grünen, traurigen Augen der Schlag wie ein Messer, das einem tief in die Brust gestoßen wird.
Ich werde nie wieder in diese Augen sehen.
Der Gedanke tötete etwas in mir.
„Schon besser“, neckte er halbernst. Hör auf damit! Hör auf so zu tun, als wäre das hier nicht das Ende. Es soll aufhören!
„Wie soll ich denn dem Tod ins Auge blicken, wenn du dich weigerst, mich anzusehen. Hm?“
Hör doch auf! Ich kann nicht mehr. Es soll aufhören. Es tut zu weh!
Ich antworte noch immer nicht, war völlig erstarrt und verstört.
„Und wenn du jetzt noch mit mir sprechen würdest, ginge es mir viel besser … also, lass mich deine Stimme hören“, bat er zurückhaltend.
„Ich, ich kann nicht“, stotterte ich. Jedes Wort kostete mich Überwindung, war, als würde ich anerkennen, was gerade geschah.
„Ich habe Angst. Angst, dass alles, was ich zu dir sage, das Letzte sein könnte … Und ich will nicht … will nicht … keine letzten Worte … will nicht … kann nicht! Nein. Nicht … von dir verabschieden“, brach es heulend aus mir heraus. Selbst ich verstand kaum, was ich schluchzend stammelte.
„Shh. Shh. Alles wird gut. Beruhige dich. Ich brauche dich klar, verstehst du?“, meinte er, die Ruhe selbst, und nahm meine Hand.
Ja, dachte ich rasend, damit du dich verabschieden kannst. Aber da mach ich nicht mit. Niemals!
Als ich begann, mir seiner warmen Hand in meiner bewusst zu werden, dachte ich immer wieder: Ich werde sie nie wieder loslassen! Das schwor ich mir selbst und blickte auf seine Hand, die sich so vertrauensvoll in meine gelegt hatte. Herzzerreißend vertraut fühlten sich seine Finger an, als gehörten sie zu mir, wären ein Teil von mir.
„Ich kann mich nicht beruhigen. Ich habe solche Angst um dich. Und ich kann dich nicht verlieren … Hast du denn gar keine Angst?“, fragte ich gedankenlos und bereute es sofort. Er presste die Brauen zusammen und sah an mir vorbei, dachte nach, bevor er mir wieder fest in die Augen sah. Ich hielt die Luft an.
„Natürlich habe ich Angst. Weniger, davor zu sterben, als davor, dich zu verlieren.“ Auch wenn ich es kaum glauben konnte, sprach er die Wahrheit. Ich hörte es an seiner Stimme.
Er lag im Sterben und seine größte Sorge galt mir. Wenn ich ihn bis jetzt nicht schon unsterblich geliebt hätte, wäre es um mich geschehen gewesen, ganz egal, was noch passieren würde. Ich hatte den besten Mann gefunden, den eine Frau sich wünschen konnte, nur um ihn viel zu früh zu verlieren. Die Welt kam mir sinnlos grausam vor. Aber ich war nicht bereit, ihn zu verlieren, würde es auch nie sein. Egal, um welchen Preis. Entschlossen beugte ich mich näher zu ihm und flüsterte, damit uns die anderen nicht hörten. „Du musst keine Angst -haben, mich zu verlieren …“, versprach ich ihm von ganzem Herzen, „… ich werde dir folgen. Überallhin …“
 
Plötzlich brannten seine Augen und versengten jeden Gedanken in mir. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in meinen Handrücken. Fuchsteufelswild herrschte er mich an. Wo immer er auch die Kraft dazu hernahm, er schrie mich an:
„Jetzt hör mich gefälligst an. Das wirst du nicht tun. Egal, was du glaubst, damit zu erreichen, du tust das nicht. Hörst du? Ich würde dir das nie verzeihen. Wie soll ich in Frieden sterben, wenn du … Versprich mir, dass du nichts Dummes machst!“
Ich wich seinem Blick aus. Ich wollte ihn nicht anlügen, ihm nicht versprechen, alleine zu sein, ohne ihn, aber er ließ nicht mit sich reden. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
„Sag es, Joe! Jetzt sofort. Ich will es auf deinem Mund hören!“, forderte er. „Du sollst es sagen!“, schrie er mit letzter Kraft. Ich zuckte erschrocken zusammen.
„Ja“, hauchte ich, gegen jede Überzeugung, weil er es von mir wollte.
Sofort beruhigte er sich und ich hätte mich ohrfeigen können dafür, dass ich ihn derart aufgeregt hatte. Doch ich hatte keine Kontrolle mehr, weder über mich selbst, noch darüber, was geschah …
 
Es war Abend geworden, ohne dass ich es gemerkt hatte. Nur daran, dass ich sein Gesicht schlechter sehen konnte und unsere Schatten sich weiter ausbreiteten, wurde mir bewusst, dass aus dem Tageslicht beginnende Dunkelheit geworden war und jeder Moment uns dem Ende näher brachte. Istvan hatte mich gebeten, einen Moment alleine mit Valentin reden zu dürfen, aber ich hatte mich geweigert, auch nur einen Moment von seiner Seite zu weichen oder seine Hand loszulassen. Also kam Valentin zu uns und ich sah in seinen Augen, dass er und ich jetzt etwas teilten, das kein Mensch auf der Welt mit einem anderen teilen will: zu wissen, wie es ist, den Menschen zu verlieren, den man am meisten liebt. Von diesem Moment an konnte ich Valentin nie wieder wirklich ins Gesicht sehen. Es war, als würde man in einen Spiegel sehen, der einem die eigene geschundene Seele offenbart. Ein Anblick, den man vermeidet, wenn man es kann, was in diesen Augenblicken zu meiner Gegenwart wurde. Denn ich sah etwas Ähnliches in Istvans Gesicht, das mich studierte, den letzten Blick auf mich warf, weil ihm die Zeit zwischen den Finger zerrann.
„Ich weiß, was du tun musst, und ich wollte nur, dass du weißt, dass ich es nicht vergessen habe und damit einverstanden bin, aber du musst dafür sorgen, dass sie …“ Istvan stoppte mitten im Satz und streifte mich mit seinem Blick, dem -Valentin folgte.
„Ich verstehe“, antworte er knapp. Ich verstand überhaupt nichts.
„Gut“, stöhnte Istvan erleichtert, als wäre ihm eine große Last von seinen Schultern genommen. Was ging hier vor?
„Mein Freund“, hauchte Istvan ergriffen und nahm Valentins Hand, „du musst noch etwas anderes für mich tun. Du musst mir versprechen, dass ihr, wenn es vorbei ist, aus Joes Leben verschwindet. Für immer. Sie soll nie wieder mit unserer Welt in Berührung kommen. Nur so kann sie …“,
„… wirklich in Sicherheit sein“, beendete Valentin für ihn, weil er merkte, wie sehr ihn das konzentrierte Sprechen anstrengte. Ach, Istvan! Immer um meine Sicherheit besorgt, nimmst du mir die einzigen Menschen, die wissen, was ich verlieren werde. Aber du meinst es gut. Tust immer das Richtige. Darauf vertraue ich.
Valentin nickte. „Fest versprochen. Keinerlei Kontakt, zu ihrer eigenen Sicherheit!“ Ich stöhnte frustriert, was jeder von ihnen ignorierte. Meine Meinung zählte nicht und ich konnte mich mit niemand streiten. Nicht jetzt. Es war beschlossen. Einfach so.
Istvan und Valentin sahen sich lange schweigsam an, so wie sich Familienmitglieder ansehen, wenn ihnen eine lange Trennung bevorsteht und sie nicht wissen, was sie sagen sollen. Wenn es nichts zu sagen gibt. Valentin öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, da schrie Istvan markerschütternd auf.
„Das Gift. Es ist jetzt überall, verursacht Schmerzen und …“
„Es bringt ihn um!“, stöhnte ich ungläubig. Es auszusprechen, machte es so unerträglich real. Ließ es so nahe kommen. Wieder hatte ich das Messer in der Brust. Bei jedem Atemzug spürte ich den Stich, und auch wenn ich für ihn hatte stark bleiben wollen, so brach ich doch erneut in hysterische Tränen aus, die sich meiner Kontrolle entzogen. Sie wollten nicht aufhören.
„Valentin. Bring sie hier weg. Ich will nicht, dass sie sehen muss, wie es mit mir zu Ende geht.“
Ganz unvermittelt fühlte ich Valentins überhitzte Arme, die mich von Istvan wegzerren wollten, um meine Taille. Ich wehrte mich wie wahnsinnig dagegen, wollte seine Hand nicht loslassen, ließ seine Hand nicht los. Bis ich ein scharfes Ziehen in der Schulter fühlte.
„Ich werde nicht gehen. Niemals. Ich werde dich nicht alleine lassen“, fuhr ich beide an, während ich nicht aufhörte, um mich zu treten. Valentin ließ locker. Er wollte mir nicht wehtun, mich nicht zwingen.
Völlig erschöpft kroch ich wieder zu Istvan. Ich habe -deine Hand nicht losgelassen. Ich habe dich nicht losgelassen. Keine Sekunde!
„Mach so etwas nie wieder. Ich weiche nicht von deiner Seite, bis …“
„Danke“, hauchte er gebrochen. Wofür denn nur?
„Selbst jetzt bist du so wundervoll stur … Mein Gott, wie ich dich liebe!“
Sein schiefes Lächeln, das er sich für mich abrang, brach mir endgültig das Herz. Mein Versuch, es zu erwidern, scheiterte.
„Und ich liebe dich“, sagte ich so ernst wie nie zuvor, weil es vielleicht meine letzte Gelegenheit war, es zu sagen. Wie oft habe ich es eigentlich gesagt? Nicht oft genug. Bestimmt nicht oft genug!
Es gelang mir nicht, mich genau daran zu erinnern. Wieso nur habe ich es nicht ständig gesagt, habe es zurückgehalten? Weshalb? Wozu nur?
Sein Gesicht wurde schlagartig düster. Mein Atem stockte.
„Weißt du“, sagt er, „es ist grausam, jemandem zu sagen, dass man ihn liebt, ohne ihn dann zu küssen!“
Ich konnte nicht anders, war zu fertig. Ein Lachen brach aus mir hervor, das sich mit den Tränen vermischte. Es klang furchtbar.
Die Erinnerung an diesen Moment schien mir kostbarer denn je. Und vergänglicher.
„Wenn das so ist …“, flüsterte ich, „… dann, sollte ich dich jetzt gefälligst küssen.“
Er grinste schief und gequält, weil es wehtun würde, wir wussten es beide. Als ich mich über ihn beugte, seine Hand noch immer fest in meiner, strich ich meine Lippen über seine, so vorsichtig ich konnte. Sein wohliges Seufzen presste etwas in meiner Brust zusammen.
„Wenn dein Herzschlag nicht lügt, dann willst du mich richtig küssen. Also tu es … für mich.“ Mit geschlossenen Augen küsste ich ihn verzweifelt und tief und versuchte dabei zu ignorieren, dass die Haut seiner Lippen fast schon kühler war als meine. Er wollte mich genauso wenig loslassen wie ich ihn. Aber als er an meinem Mund schmerzvoll aufstöhnte, riss ich mich schnell von ihm zurück. Zwecklos. Denn die Schmerzen hatten begonnen. Wie ich sie hasste? Wie ich es hasste, dass das hier mit ihm und nicht mit mir geschah? Ich hätte alles gegeben, um an seiner Stelle zu sein und den Schmerz von ihm zu nehmen. Alles.
„Versprich mir, dass du nie vergisst, wie es war, wenn wir uns küssten!“ War das sein Ernst? Moment mal … hat er „war“ gesagt? War! Vergangenheit! … Atme! Atme weiter, auch wenn es wehtut …
„Ich könnte nie etwas vergessen, was mit dir zu tun hat. Schon gar nicht, wie es ist dich zu küssen.“
Zärtlich strich er über meine Wange, während ich die freie Hand auf sein Herz legte. Solange es schlug, wollte ich es fühlen. Jedes einzelne Pochen. Doch es wurde immer schwächer und schwächer, wie seine Haut immer kälter und kälter wurde, mit jeder Minute.
Die Schmerzen wurden immer stärker. Sein Magen krampfte und er stemmte seine freie Hand ständig darauf, ohne dass es zu helfen schien. Sein Kopf schien im schrecklich wehzutun, auch wenn er die Schreie, die aus ihm herausbrechen wollten, nicht zuließ. Er musste schlimmes Fieber haben, denn seine Augen glänzten und er schien manchmal völlig verwirrt um sich zu sehen. Ich fühlte mich so hilflos. Konnte ihm nicht helfen. Immer wieder schrie ich Valentin an, er müsse doch etwas wissen, was es aufhalten würde, was ihm die Schmerzen erleichtern könnte. Doch immer wieder nur sein „Nein“. Auf jede Frage, jede Bitte, immer nur ein Kopfschütteln. Es war nicht auszuhalten.
Als Istvan unkontrolliert zu zittern begann, verlor ich vollkommen die Beherrschung und presste meinen Körper auf seinen, in dem völlig irrsinnigen Versuch, das Zittern zu stoppen. Doch ich nahm ihm nur den Atem, der ohnehin schon flach und zu schnell hintereinander kam. Als ich mich von ihm quälte, bohrte ich mein Gesicht in seine Brust, doch selbst das schien er kaum ertragen zu können. Die einzige Berührung, die ihn nicht peinigte, war die Berührung unserer Hände. Sie war das einzige Nahesein, das Einzige, was mir noch blieb, und ich klammerte mich daran, wie ein Ertrinkender sich an ein Stück Holz klammert.
Immer wieder fragte ich ihn: „Hört du mich? Kannst du mich hören, Istvan?“ Aber ich bekam nur gequältes Stöhnen und Laute wie die eines verwundeten Tieres als Antwort.
Nach einer grausamen Ewigkeit begann er endlich wieder zu sprechen. Aber ich konnte es kaum verstehen. Es war so schnell und fast lautlos.
„Joe, wo bist du? Ich kann dich nicht sehen, kann deinen Herzschlag nicht hören. Gott, ich kann ihn nicht hören. Das ist das Schlimmste“, war alles, was ich verstand, auch wenn ich es nicht wollte. Er klang so verloren.
„Ich bin doch hier“, sagte ich beruhigend. „Hier bei dir“, versicherte ich ihm und drückte seine eiskalte Hand. Führte seine andere über mein Herz, damit er das Schlagen fühlte, auch wenn er nicht mehr die Fähigkeit hatte, es zu hören.
„Wo? Ich kann dich nicht sehen!“, sagte er völlig panisch. Und nicht fühlen!, schoss es mir gnadenlos durch den Kopf. Mein Herz setzte aus. Er war blind. Es soll aufhören! Wieso er! Wieso nicht ich? Nicht er! Nimm ihn mir nicht weg! Bitte, bleib bei mir!
„Bleib bei mir! Hörst du meine Stimme?“, fragte ich beklommen.
„Ich höre ihre Stimme“, murmelte er vor sich hin. Wieso erkannte er mich nicht? Wenn es einen Gott gibt, dann nimm mir das nicht! Nimm mir nicht meinen Abschied!
„Istvan, ich bin es, Joe. Ich bin ganz nahe bei dir. Ich halte deine Hand und ich liebe dich. Bitte, sag, dass du fühlen kannst, wie ich deine Hand halte, ja?“, flehte ich außer mir.
Stille. Eine gespenstisch lange Pause, die mir Angst einjagte, bevor er endlich die Angst mit seiner schönen, aber schwachen Stimme verscheuchte.
„Ja“, hauchte er in meine Richtung. „Ich kann deine warme Hand fühlen. Du bist hier. Bei mir … Weißt du, wir werden uns wiedersehen“, sagte er, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt. Istvans Glaube war so stark, dass er nicht einmal jetzt von ihm abwich.
„Ja, wir werden uns wiedersehen. Ich finde dich überall, weißt du“, sagte ich, ohne auch nur darüber nachzudenken. Irgendwie war sein Glaube zu meinem geworden, weil es die einzige Möglichkeit war, mit der ich weiterleben konnte. Die einzige Hoffnung.
„Nein“, hauchte er kaum hörbar. „Ich finde dich. So wie immer. Ich habe dich doch wiedergefunden, erinnerst du dich? Und du warst so schön. Fast so schön wie jetzt“, flüsterte er mir ins Ohr. Doch ich wusste, dass er mich jetzt nicht wirklich sehen konnte. Es war sein Herz, mit dem er immer noch sah. Und für sein Herz war ich immer schön gewesen und dafür würde ich ihm immer dankbar sein.
Seine Finger tasteten blind über seine Brust. „Mein Anhänger. Die Kette“, versuchte er mir zu erklären.
„Was ist damit?“
„Ich will … ah.“ Wieder unterbrach ein krampfender Schmerz seine Gedanken. Er versuchte den Schmerz wegzuatmen, bevor er weitersprach. Tränen rannen mir die Wangen herab. Auch in seinen Augenwinkeln lösten die Schmerzen Tränen aus.
„Ich will, dass du ihn trägst.“
Ich weigerte mich nicht. Ich konnte ihm jetzt nichts abschlagen. Also nahm ich ihm die Kette ab, weil er zu schwach war, um es selbst zu tun. Sie fiel von meiner Brust auf seinen Hals. Seine Finger fanden den Anhänger und er küsste ihn.
„Pass gut auf meine Joe auf, Orion“, sagte er und versuchte mich anzusehen. Seine grünen Augen waren zwar schon blind, aber immer noch unfassbar schön. Ich steckte die Kette unter mein Shirt und wusste, dass ich von nun an, wenn ich Orion am Himmel finden würde, nur noch an ihn denken würde. An meinen Wolf, meine große Liebe, die immer einen Weg finden würde, auf mich aufzupassen.
„Ich liebe dich. Ich liebe dich. Vergiss das nie“, wiederholte ich immer wieder, weil es das Einzige war, was ich ihm mit-geben konnte, wohin immer er auch ging.
Er wurde ganz ruhig und still, als er mir zuhörte, wie ich ihm immer wieder zärtlich ins Ohr flüsterte, wie sehr ich ihn liebte. Als er die Augen schloss, zog sich meine Brust zusammen, nur noch ein krankes Herz darin, aber der ziehende Schmerz ließ dieses Mal nicht nach, sondern blieb. Seine Brust hob sich kaum noch, was ich mit aufgerissenen Augen feststellte, sein Atem war gerade noch vorhanden.
Mit kraftlosen Atemzügen murmelte er etwas vor sich hin, was ich nicht verstand. Es klang ungarisch.
„Was sagt er?“, fragte ich in die aufkeimende Dunkelheit, ohne mich umzudrehen. Dieser Moment war nur für uns bestimmt.
„Er sagt dir, wie sehr er dich liebt. Und … er verabschiedet sich. Er nennt dich seine Frau“, flüsterte Valentin in meinen Rücken, ohne näher zu kommen. Jetzt hielt mich nichts mehr. Wenn er in mir seine Frau sah, dann war er mein Mann. So einfach war das: Istvan und Joe, Joe und Istvan. Auch wenn nur einer von uns am Leben sein würde, denn mein Mann starb. Das würde bleiben. Solange ich am Leben war, würden wir wir bleiben.
Das Murmeln erstarb. Im selben Moment drückte er mir fest die Hand. Sie war eiskalt. Mit dieser letzten Berührung verlor ich ihn.
Er war … nicht mehr.
Ich war allein. Ich hatte ihn wirklich verloren.
Aber ich konnte es nicht zulassen. Ich weigerte mich, es zu glauben. Es brach mir das Herz. Deshalb weigerte ich mich, es zu akzeptieren.
Er konnte nicht gegangen sein. Er konnte nicht …