19. Zelte aufschlagen
Sechs aufrechte Gestalten, fünf Männer und eine
Frau, stellten sich der untergehenden Sonne entgegen. Die Luft war
voll Knistern, als würde der Wald ahnen, dass etwas Ungewöhn-liches
bevorstand. Ich selbst versuchte mich so ruhig wie möglich zu
verhalten, so ruhig und besonnen es eben ging, wenn man als
einziger Mensch darauf wartet, dass der
eigene Geliebte und seine rumänische Ersatzfamilie sich in Werwölfe
verwandeln. Doch das war längst nicht alles. Denn diese Nacht war
keine gewöhnliche Verwandlungsnacht. In
dieser Nacht sollte Istvan zum ersten Mal seit 75 Jahren ein
Wolfsfieber durchstehen müssen, das sich nicht endlos quälend
dahinziehen und ihn foltern würde. Endlich sollte er diese
Verwandlung ganz natürlich erleben: schmerzvoll, aber schnell. Ich hoffte mehr als alles andere, dass es
wirklich so kommen würde.
Die Sonne stand mittlerweile sehr tief. Ihre
letzten Strahlen verschwanden hinter den Hügeln und Baumstämmen,
hinterließen noch einen letzten Sommerstrahl, bevor sie der
beginnenden Dunkelheit wich. Dies war die Zeit und die Herrschaft
der Nacht. Und mit ihr kam, wie in jeder Verwandlungsnacht, der
Vollmond. Mit jedem verstreichenden Augenblick wurde seine Macht
und damit sein Einfluss auf Istvan stärker. Ich sprach nicht. Ich
beobachtete nur, angespannt sitzend auf einem verrotteten
Baumstumpf. Meine Beine hatte ich fest an meinen Oberkörper
gezogen. Für jeden Unbekannten musste es aussehen, als wäre ich
verängstigt. Doch der Wahrheit entsprach, dass ich aufgeregt war,
furchtbar sogar. Ich wünschte es mir so sehr für ihn, dass ich mich
nur darauf konzentrierte: Bitte! Lass es leichter
sein. Lass es schnell gehen. Bitte mach, dass das Ritual das
Wolfsfieber besänftigt hat!
Istvan bemerkte meine geistige Abwesenheit. Er
trat aus dem Kreis seiner Freunde und kam zu mir, denn ich saß
etwas abseits. In der beginnenden Dämmerung hätte selbst er düster
ausgesehen, wenn er nicht so unglaublich attraktiv gewesen
wäre.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
Ich nickte nur, weil ich Angst hatte, dass meine
Stimme mich verraten könnte. Doch das war alles vergebene
Liebesmüh. Solange mein Herz schlug, konnte ich ihm nichts
vormachen.
„Mein Herzschlag schon wieder?“, fragte ich, als
ich an seinem Gesichtsausdruck sah, dass er mich längst durchschaut
hatte.
Er nickte mitleidsvoll. Meine fehlende
Privatsphäre verdiente es auch.
„Es ist nichts Schlimmes. Nur … ich möchte es so
sehr, verstehst du? Für dich!“, sagte ich und legte mein Kinn auf
die Knie. Er ließ sich zu mir herab, verstohlen beobachtet von den
anderen, und balancierte seinen Körper auf den Ballen, um mit mir
auf Augenhöhe zu kommen.
„Es klappt bestimmt. Sieh doch!“, sagte er und
legte meine schlappe Hand auf seine Stirn, die mit einem feinen
Schweißfilm überzogen war. „Du hast schon Fieber? Wieso hab ich das
nicht bemerkt?“, stieß ich erstaunt hervor. Istvan schien gar nicht
beunruhigt. Während er meine Finger von seiner Stirn nahm und meine
Hand drückte, meinte er: „Ich habe das Wolfsfieber schon fast seit
einer Stunde, aber es ist gar nicht so schlimm. Es ist mir auch
erst aufgefallen, als die Gliederschmerzen angefangen haben … Doch,
kein Vergleich zu früher. Wirklich!“
Sagst du das nur meinetwegen oder ist das auch die
Wahrheit? Ich kann deine wahren Gefühle nicht so leicht lesen wie
du meine, ging mir durch den Kopf, als ich seinen
Körper besorgt musterte.
„Es geht bald los“, erinnerte ich ihn. „Du
solltest dich jetzt nicht um mich kümmern. Ich komme schon zurecht.
Geh wieder zurück und bring es hinter dich. Du kannst mir nachher
sagen, wie es wirklich gewesen ist. Ich habe schon verstanden, dass
die Dinge nicht immer so sind, wie sie für mich aussehen, wenn es
um das Wolfsfieber und die Verwandlung geht“, quasselte ich
aufgebracht vor mich hin und zog Istvan vorsichtig von mir weg,
damit er wieder seinen Platz einnehmen konnte.
Er folgte meiner Aufforderung widerwillig. Ich sah
es in seinen Augen. Er war nicht davon überzeugt, dass ich wirklich
klarkommen würde. Also versuchte ich mich in einem aufmunternden
Lächeln. Es musste erbärmlich aussehen. Das wusste ich, ohne es
selbst zu sehen.
Nicht lange, nachdem Istvan den Kreis wieder
vervollständigt hatte, begannen die ersten schlimmeren
Symptome:
Die Muskelverhärtungen, die Krämpfe, die Adern
pulsierten und schließlich begann das furchtbare Knacken der
Knochen, die, wie alles andere auch, sich reduzierten und die
Formen eines Wolfes annahmen. Auch wenn die eigentlichen äußeren
Anzeichen sich bei Istvan kaum geändert hatten und ich seine
unterdrückten Schreie mit klammem Herzen wahrnahm, ging diesmal
alles so schnell, dass ich nicht wie gebannt und leidend jede
einzelne Phase verfolgen konnte. Viel fließender und, auch wenn das
Wort hier vollkommen fehl am Platz scheint, natürlicher kam mir alles vor. Der Vollmond hatte
zusammen mit ihrem Blut Wirkung getan. Und wo vorhin noch sechs
Menschen gestanden hatten, befanden sich jetzt sechs wunderschöne
Wölfe in einem unförmigen Kreis. Jeder von ihnen schien
ungewöhnlich lebhaft und aufgeregt. Sie konnten kaum auf dem Fleck
bleiben. Jeder stachelte den andere an, endlich auf den Ruf der
eigenen tierischen Natur zu hören und mit dem Waldlauf zu
beginnen.
Auch Istvan schien in diesem Zustand zu sein.
Sonst eher zögerlich, wenn es darum ging, seiner wölfischen Natur
zu folgen, war er es jetzt, der als Erster in den Wald lief. Er
konnte es kaum erwarten, sich zu bewegen, sprang förmlich über
jeden Hügel, bis er, als der Sandwolf, kaum noch zu sehen war. Die
anderen Wölfe versuchten zu folgen, aber Istvan war einfach viel zu
schnell. Mit einer kaum zähmbaren Neugier zog es mich hinterher,
auch wenn ich wusste, dass ich ihnen nie hinterherkommen könnte.
Wie magnetisch angezogen folgte ich meinem Wolfsrudel, als könnte
alleine mein purer Wille, immer bei ihm bleiben zu wollen, meine
menschlichen Schwächen ausgleichen … Er konnte es nicht. In der
angebrochenen Dunkelheit stolperte ich über den zweiten Hügel, den
die Wölfe schon seit einer Ewigkeit überwunden hatten. Ich sah
gerade noch ihre schlanken Rücken am Horizont entlang huschen, da
waren sie auch schon in der Tiefe des Waldes verschwunden.
Missmutig sammelte ich mein übermütiges Selbst vom Boden auf und
versuchte den Waldschmutz von meinem leichten -T-Shirt und der
Jeans wegzuwischen. Ohne Erfolg.
Toll! Und als Nächstes versuchst du dann ein
Wettrennen mit Superman.
Mit ähnlich bissigen Gedanken bewaffnet, machte
ich mich auf meinen Weg zurück ins Lager, um mich dort auf die
Nacht vorzubereiten. Zwar hatte ich Istvan versprochen, mir
ernsthaft zu überlegen, ob ich nicht doch zu Hause schlafen wollte.
Doch er und auch ich wussten, dass das nicht passieren würde. Es
war eine laue Sommernacht und nichts und niemand würde mich davon
abhalten, in einem der Zelte im Lager zu schlafen.
Die Nacht war kurz, abgesehen von den ständigen
Heulern, die hin und wieder durch den Schlaf zu mir durchdrangen.
Seltsamerweise musste ich bei diesem Geräusch milde lächeln.
Nach einem traumlosen, tieferen Schlaf erwachte
ich noch vor Morgenanbruch und begann das Lager auf die Ankunft der
Rückkehrer vorzubereiten. Im Grunde legte ich bloß ihre Kleidung
auf ein paar Decken und jeder bekam eine Flasche Wasser dazu. Als
sie nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück waren, überkam
mich erneut die Müdigkeit und ich legte mich, so wie ich war, auf
die übrige Felddecke und döste vor mich hin, bis ausgelassenes
Gelächter mich weckte. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich drei
Paar nackte Füße auf mich zukommen und entschied spontan, mich
solange schlafend zu stellen, bis jeder Fußeigentümer Zeit gehabt
hatte, sich anzuziehen. Ich hörte, wie sie tranken und Stoff
auseinandergefaltet wurde. Dann erst öffnete ich meine Augen.
„Guten Morgen. Die letzte Nacht scheint ja gut
gelaufen zu sein, wenn ich mir eure gut gelaunten Gesichter so
ansehe“, sagte ich beiläufig, während ich mich ausgiebig streckte
und mich dann in Istvans Pullover hüllte. Er roch nach ihm, nach
Istvan. Alleine davon schlug mein Herz schneller. Die Morgenluft
war deutlich kühler. Valentin und Woltan lachten bloß leicht. Jakov
und Serafina schienen in eine Anekdote vertieft, die Jakov wild
gestikulierend erzählte. Sie bemerkten mich gar nicht. Ein gutes Zeichen!
„Morgen“, wünschte mir Istvan schnell, bevor er
sich zu mir herabließ und sich wohlig an meinen Bauch kuschelte,
den er offenbar als Kissen benutzen wollte.
„Du hast doch nichts dagegen, Joe? Ich muss
unbedingt etwas schlafen … Und dein Puls ist so unglaublich
beruhigend. Vorausgesetzt, du bekommst ihn bald unter Kontrolle“,
sagte er amüsiert, laut, vor allen und döste tatsächlich ein. Seine
Arme um meinen Bauch geschlungen, das Gesicht tief in seinem
eigenen Pullover vergraben. Ich wurde knallrot, weil er mich vor
den Valentins bloßgestellt hatte. Doch die schien das nicht zu
kümmern, also beruhigte sich mein Herzschlag langsam wieder auf
einen Ruhepuls. Valentin schmunzelte leicht, als er zu mir kam und
Istvan wie einen kleinen Jungen an mich geschmiegt erblickte.
„Sei nachsichtig. Er hatte eine anstrengende
Nacht. Wir sind so weit gelaufen, dass wir eigentlich einen Pass
benötigt hätten, fällt mir gerade auf“, scherzte er. Wie kannst du vor mir so dumme Witze machen, wenn du mir nicht
mal genügend vertraust, um mir dein verdammtes Geheimnis
anzuvertrauen?!
„Verstehe“, sagte ich knapp zu ihm. Meine Stimme
klang merkwürdig süßlich. Klinge ich immer so
dämlich, wenn ich etwas unterschlage?
Ich räusperte mich. „Wollt ihr nicht auch etwas
schlafen?“
„Nein“, sagte er entschieden und winkte die
anderen zu sich. „Wir werden nach Hause gehen und dort ausschlafen.
„Er“, meinte Valentin auf den schlafenden Istvan deutend, „soll
heute Nachmittag wiederkommen. Dann gehen wir die zweite Nacht an.“
Ich nickte und schon waren sie alle dabei zu verschwinden. Und
dann waren sie auch verschwunden. So
schnell und lautlos, dass man sich nie daran gewöhnen konnte.
Istvan schlief zwei Stunden wie ein unschuldiger
Engel, immer um mich geschlungen, bevor ich ihn weckte, weil ich
meine Neugierde nicht länger im Griff hatte.
„Istvan, wach auf! Ich muss wissen, wie es war.
Komm, wach auf, ja?“, flüsterte ich so sanft es ging, bis er die
Augen öffnete. Istvan sah erschöpft aus, dennoch lächelten mich
seine grünen Augen strahlend an.
„Hey“, sagte er unschuldig. „Hey“, gab ich
grinsend zurück.
„Was ist denn los? Wieso weckst du mich?“, wollte
er von mir wissen und setzte sich schwerfällig auf. Ich hatte ihn
noch nie so gesehen.
„Ich muss wissen, wie es war“, wiederholte ich.
„Los, sag mir, was anders ist, oder ich platze noch“, versuchte ich
ihm zu erklären.
„Ach, das ist es. Hätte ich mir denken können.
Willst du die Wahrheit oder die ganze Wahrheit?“, fragte er mit
seinem schiefen Grinsen.
Obwohl mir davon ganz warm wurde, legte ich den
Kopf schief und gab ihm einen
Das-weißt-du-doch-ganz-genau-Blick.
„Ich muss zugeben, es war unglaublich. Gestern
habe ich mich die ganze Zeit so frei und stark gefühlt wie noch
nie. Ich weiß nicht, wie ich dir das klarmachen kann“, gab er
seufzend zu. Er dachte nach.
„Versuchs“, drängte ich ihn und nahm seine Hand in
meine.
„Na gut … Also, irgendwie ist es so wie mit uns“,
begann er. Auch wenn mich seine grünen Augen durchbohrten, verstand
ich nicht.
„Wie meinst du das, Istvan? Wie mit uns? Ich
verstehe nicht …“
„Wie mit uns, als ich mich noch, dumm wie ich war,
dagegen gewehrt habe“, unterbrach er mich, im verzweifelten Versuch
mir seine Sichtweise zu erklären. Schnell sprach er weiter:
„Anfangs dachte ich doch, egal, wie sehr es mich
quält, nicht mit dir zusammen zu sein, dass ich mich von dir
fernhalten müsste, gewisse Dinge nicht zulassen konnte, weil ich es
für das Richtige hielt … Es war so schwer. So anstrengend.“ Ich nickte und stimmte damit widerwillig
zu. So war es nun einmal gewesen.
„Doch als ich dann mit dir zusammen kam, begriff
ich schnell, dass ich völlig falsch gelegen hatte. Bei dir zu sein,
fühlte sich so vollkommen richtig an. Es war so leicht, verliebt in
dich zu sein wie ein- und auszuatmen. Und all die Anstrengungen,
die ich zuvor aufgebracht hatte, schienen im Rückblick noch
schwerer und ziemlich sinnlos sogar, wenn
ich ehrlich bin … Genauso ist es mit dem Wolfsein. Ich habe mich
immer dagegen gewehrt, weil ich dachte, dass es meine Pflicht sei,
dass ich nur dann ein guter Mensch sein könnte, wenn ich das Tier
in mir gänzlich bekämpfe, so gut ich eben kann. Doch jetzt, wo ich
weiß, dass der Wolf in mir weder gut noch böse ist, sondern bloß
ein tierisches Spiegelbild von mir, fühlt es sich ebenso leicht an
wie das mit uns. Kannst du das verstehen?“, fragte er mich etwas
unsicher. Mir war sofort klar, dass er sich wünschte, dass ich es
tat.
„Ja, wenn du es so ausdrückst, versteh ich
ungefähr, was du meinst. Aber Istvan, wie äußerst sich diese
Veränderung genau?“
Er verlagerte sein Gewicht. Saß nun im
Schneidersitz vor mir und ließ keine Sekunde die Augen von meinem
Gesicht. Ich versuchte auch seinen Blick zu halten, bemüht, ihm zu
zeigen, dass ich mit allem fertig werden würde, was er mir zu
erzählen hatte.
„Es ist … die pure, unverfälschte Freiheit. Wenn
ich jetzt renne, dann scheint es, als gäbe es niemand anderen auf
der Welt, der mit mir mithalten könnte. Ich kann jedes Tier im Wald
fühlen, sehen. Der Waldboden scheint mich förmlich zu tragen. Es
ist … aufregend. Früher fühlte ich das
auch, aber es kam nie ganz zu mir durch. Jeden meiner wölfischen
Muskeln kann ich fühlen“, sagte er erregt und fuhr sich über den
drahtigen Unterarm. „Kann fühlen, wie stark sie sind, wozu ich
fähig bin. Wenn ich auf etwas springen will, muss ich nicht drüber
nachdenken, wie ich es früher tat. Nachdenken ist nicht mehr nötig.
Ich weiß instinktiv, wo und wie ich landen werde. Alles ist einfach
…“
„… berauschend“, schlug ich vor. Istvan nickte
heftig. Sein ganzer Körper war in Aufruhr geraten, während er
erzählt hatte. Plötzlich packte er meinen
Unterarm und sagte eindringlich:
„Joe, ich habe sogar Jakov herausgefordert. Ich
konnte nicht anders. Ich musste wissen, ob mein Wolf mit seinem
mithalten kann, wer gewinnen würde“. Ich schluckte kurz, ließ ihn
aber weitersprechen, auch wenn sich seine Finger fester in meinen
Unterarm gruben.
„Und?“, fragte ich erschrocken.
„Ich konnte es tatsächlich. Ich hielt mit ihm mit.
Mehr sogar. Als ich mich völlig darauf einließ, war ich ihm
überlegen. Ich muss zugeben, er hat es besser aufgenommen, als ich
mir gedacht hätte.“ Plötzlich veränderte sich seine aufgebrachte
Stimme, wurde ganz ernst und tief. Davon bekam ich einen dicken
Kloß im Magen.
„Du weißt doch, warum ich das wissen musste,
oder?“, fragte er. Flammend grüne Augen durchbohrten mich, wollten
eine Antwort.
„Ja, ich kann es mir denken … wegen … ihm.“ Das letzte Wort hatte ich beinah verschluckt.
Gut, dass ich nicht seinen Namen gesagt hatte. Wir nickten beide
wissend, eifrig darum bemüht ihn, Farkas, so lange von uns
fernzuhalten, wie wir nur konnten. Ich versuchte die Stimmung zu
retten.
„Klingt, als hättest du eine aufregende Nacht
gehabt“, säuselte ich nonchalante, legte mich zurück auf die Decke
und stützte den Kopf auf meinen angewinkelten Unterarm.
„Klingt nicht nur so. War so“, murmelte er
grinsend und legte sich mir gegenüber, genau in derselben Weise,
hin.
Wir sahen uns lange schweigend an. Das Gesicht des
anderen nur Zentimeter weit entfernt, zum Greifen nahe. Er sah mich
wieder auf diese bestimmte Art an, als würde er mich einprägen.
Warum wohl?
„Was geht hinter diesen blauen Augen vor?“, fragte
er mit seiner sanften Stimme. Leicht rau. Unwiderstehlich. Während
er auf eine Antwort wartete, steckte er mir eine losgelöste Strähne
hinters Ohr.
„Du hast mir zwar gesagt, was jetzt besser ist,
aber du hast das Wolfsfieber mit keinem Wort erwähnt. Auch die
Verwandlung nicht. Ich frage mich, wieso?“, gab ich zu. Ich hatte
Angst, ihm das zu gestehen. Er verbarg einen Teil seines Gesichts
vor mir.
„Ich wollte nicht davon anfangen, weil es doch
noch verhältnismäßig schmerzhaft ist. Aber
wirklich, es ist erträglich, Joe! Du musst dir keine Sorgen machen
… Ich will nicht, dass du dich um
mich sorgst!“, sagte er streng.
„Dagegen kannst du nichts tun. Ich werde immer
Angst um dich haben. So ist das nun mal“, gab ich ihm zu
verstehen.
„Aber das will ich nicht.
Du brauchst meinen Schutz. Ich muss mich um dich sorgen, nicht umgekehrt“, meinte er störrisch. Ich
seufzte hilflos. „Du brauchst mich, so wie ich dich brauche. Und
ich sorge mich genauso um dich, so wie du dich um mich. Daran wird
nicht einmal dein Dickschädel etwas ändern.“
„Aber bei mir ist es etwas anderes. Ich bin nicht
so …“, er suchte nach dem richtigen Wort, um mich nicht zu
beleidigen oder wütend zu machen, „… leicht zu verletzen!“
„Denkst du, das weiß ich nicht“,
unterbrach ich ihn heftig. Herrgott, ich verbrachte den
Großteil meiner Zeit mit fast unverwundbaren Werwölfen! Ich habe es
begriffen. Leider.
„Ich möchte dich nicht daran erinnern, aber es
gibt mehr Arten Schaden zu nehmen, als nur körperlich“, deutete ich
an. Er verstand sofort, dass ich damit Farkas gelungene
Psychospielchen meinte.
„Ja“, sagte er mit gesenktem Blick. „Du hast schon
recht. Aber ich möchte nicht, dass du irgendwann etwas Dummes tust,
weil du der irrigen Ansicht bist, mich beschützen zu müssen. Das
wäre es nämlich wirklich: dumm, so etwas zu
versuchen. Besonders jetzt, wo ich mich als brauchbarer Krieger
entpuppt habe“, sagte er, um seine Forderung etwas zu
entschärfen.
„Ich kenne meine menschlichen Grenzen. Aber ich
werde dir nicht versprechen, still und stumm dabeizustehen, wenn
ich eine Möglichkeit sehe, dir zu helfen, solltest du in Gefahr
sein.“
„Genau das habe ich
befürchtet“, seufzte er angegriffen.
Ich legte meine Hand auf seine Wange, damit er
nicht mehr ganz so abgekämpft aussah. Er mochte meine Berührung.
Seine Hitze verbrannte mich noch mehr als gewöhnlich, da bereits
frühmorgens schon die Sommerhitze zu spüren war.
„Du musst einfach lernen, damit zurechtzukommen,
dass du dich in ein unverbesserliches Mädchen verknallt hast. Ich
bin nun mal, wie ich bin“, sagte ich ein bisschen traurig. Das
entging ihm nicht.
„Ich will ja gar nicht, dass du anders bist. Kein
bisschen“, sagte Istvan hart. Er hatte die Befürchtung, ich hätte
ihn falsch verstanden.
„Ich liebe dich, wie du bist“, murmelte er jetzt
in mein Haar, denn er war näher gekommen, um mich auf die
bestmögliche Weise davon zu überzeugen.
„Gut, denn ich werde mich wohl nie ändern“, gab
ich flüsternd zurück.
„Gut. Einverstanden. Genau das will ich“, sagte er
erleichtert, bevor er meine Lippen fand, die schon auf seine
gewartet hatten.
Wir hatten beide verschlafen und das Zeitgefühl
verloren. Es musste früher Nachmittag gewesen sein, als uns das
Klingeln meines Handys weckte. Offenbar hatten wir Empfang.
Ein Wunder!
„Valentin“, sagte ich verwundert. Doch mein
Handydisplay zeigte eigentlich nur eine Nummer. Ich durfte ja keine
Namen abspeichern. Keine Namen.
Geheim!
„Geh ran!“, verlangte er drängend. Ich klappte
mein -Handy auf.
„Hallo?“ … Was? … Sag das noch mal!“ Ich musste
mich verhört haben. Nein, das konnte nicht wahr sein. Das hatte
Valentin nicht gesagt. Vielleicht träumte ich ja noch … Wie seine
Stimme klang. Voller Angst.
Istvan schüttelte mich fest an der Schulter. Ich
musste einen kurzen Aussetzer gehabt haben. Das Handy war mir in
den Schoß gefallen. Alles schien sich zu drehen. Das war doch nicht normal! Wieso konnte ich Istvan nicht
wirklich hören, obwohl er mich doch anschrie? Was sagt er
gerade?
„… hat Valentin gesagt? … Joe, komm zu dir!“
Istvan schüttelte mich so heftig, dass mir der Kopf davon
schwirrte.
„Er …“ War das wirklich
meine Stimme, die da sprach? Merkwürdig.
„Er … will, dass wir sofort zu ihm kommen. Er
sagte … wörtlich: ‚Sag Istvan, er soll dich zu uns bringen!‘“,
stammelte ich tonlos.
Plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen.
Buchstäb-lich.
Istvan hatte mich hochgehoben, trug mich wie ein
verängstigtes Kind. Aber es kam kein Laut der Beschwerde von mir.
Mit ein paar schnellen, geschmeidigen Laufbewegungen -beförderte er
mich bis zur Straße, hielt kurz an, um sicherzugehen, dass keine
Menschen oder Wanderer in der Nähe waren, und rannte dann mit
meinem Gewicht belastet ohne Mühe zur -Jagdvilla. Sämtliche
Anstrengungen der Nacht schienen aus seinem Körper gewichen zu
sein, als er mich vor dem Haus absetzte, als wäre ich leichter als
Luft. Peinlicherweise sackten mir die Beine weg und er musste mich
stützen. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es von der
ungewöhnlichen Art der Beförderung kam oder doch eher mit der
angstvollen Panikstimme von Valentin zu tun hatte, die ich nicht
aus dem Ohr bekam. Istvan sagte nichts dazu.
Wir stürmten zu der Eingangstür, wo uns schon
sechs sehr nervöse, aufgebrachte Freunde erwarteten. Valentin trat
hervor und berührte Istvan Trost spendend am Oberarm.
„Mein Junge, es tut mir so leid. Petre und Radu
haben sich vorhin gemeldet. Gestern Nacht fanden die Kämpfe um
Jakovs Nachfolge statt. Niemand konnte Farkas überzeugen und …“,
Valentin zögerte, wand sich. Valentin zögert
nie!
„Und was?“, fragten Istvan und ich gleichzeitig,
aneinander geklammert.
„Und sie sind auf dem Weg hierher. Bald dürften
sie Ungarn erreichen. Radu folgt ihnen. Jakov ist der Meinung, dass
er seinen Ersatzkrieger hier erzeugen will … als Strafe sozusagen“,
murmelte Valentin angewidert.
Ich schluckte, dann sagte ich paralysiert vor mich
hin: „Du nimmst mir meinen Krieger, also nehme ich mir einen
Menschen von euch!“
„Ja“, sagte Jakov hart. „Genau so“, fügte er
schuldbewusst hinzu. Serafina streifte kurz seinen Arm, irgendwie
vertraulich. Es fiel niemanden auf, außer uns drei.
„Istvan, denkst du, dass du schon soweit bist?“,
fragte Valentin.
„Habe ich denn eine Wahl. Ich werde es sein, weil
ich es muss“, zischte dieser zurück. Seine Anspannung übertraf
alles. Selbst meine Angst.
Nein! Farkas kommt. Bald ist er zurück. Istvan
wird sich ihm stellen. Eine Konfrontation mit Farkas, vor der Zeit.
Das ist nicht gut. Ganz und gar nicht!
Meine Gedanken rasten. Der kalte Schweiß brach mir
aus.
Woltan trat heran und versuchte ruhig zu sprechen.
Jetzt erst sah ich, dass er die ganze Zeit mit jemand über sein
Handy in Kontakt war.
„Petre“, merkte er knapp an. „Es handelt sich nur
um Farkas, Dimitri und Vladimir. Die Übrigen sind immer noch damit
beschäftig die Überreste der Rudelkämpfe zu beseitigen.“ Bei dem
Wort Überreste und wie beiläufig es Woltan
gebracht hatte, wurde mir schlecht.
„Es bleibt keine Zeit für große Vorbereitungen.
Farkas wird angreifen, sobald er verwandelt ist“, gab Valentin zu
bedenken.
Ach, waren wir schon beim Schlachtplan angelangt?
Ich kämpfte immer noch mit dem Wort „Überreste“!
Obwohl ich es gar nicht wissen wollte, hörte ich
mich selbst fragen:
„Wie genau beseitigen sie
diese Überreste?“ Wenn sie nicht
Leichen sagen, will ich es auch nicht. Es lebe der
Euphemismus!
„Sie verbrennen sie“, sagte Jakov beiläufig und
wandte seine Aufmerksamkeit umgehend wieder den anderen zu, um
Strategien auszuknobeln. Mir lief die schlimmste Gänsehaut aller
Zeiten den Rücken hinab, den Istvan besänftigend streichelte. „Es
geht nicht anders. Nichts von uns darf übrig bleiben. Würde man
unsere Überreste jemals untersuchen, käme schnell heraus, dass sie
nicht nur menschlich sind“, murmelte er in mein Ohr und sah mich
danach unverwandt an. Istvan wollte es mit Vernunft versuchen, aber
ich war dennoch schockiert. Soweit geht also die
Geheimhaltung! Vielleicht ist es gut, dass ich das bewusste
Geheimnis nicht kannte, entschied ich unvermittelt in diesem
Moment.
Ich hatte den Großteil ihrer Strategiebesprechung
überhört, teils mit Absicht, teils aus purer Notwendigkeit, um den
Verstand nicht ganz zu verlieren. Dann sickerte etwas aus ihrem
Wirrwarr zu mir durch:
„Er wird nach einer Gruppe von jungen, männlichen
Tee-nagern suchen.“ Es war Jakovs tiefe Stimme, die das gesagt
hatte. Meine Augen wanderten in einem furchtbar erhellenden Moment
des Begreifens auf den Küchentisch, auf dem noch immer die
Postwurfsendungen unsortiert lagen. Obenauf befand sich ein
schlechtgemachter Flyer, der mir nur allzu bekannt war.
„Sommerjugendzeltlager. 2 Tage Sport, Spiele und
Lagerfeuer“, stand auf dem Zettel. Ich musste nicht
weiterlesen. Dafür kannte ich ihn zu gut. Viktor, mein Bruder,
hatte ihn mir bereits vor einem Monat beim Sonntagsessen gezeigt.
Eine scheußliche Vorahnung jagte durch meinen Verstand und ließ
mich wie von selbst auf den Tisch zugehen und den knallgelben Flyer
in die Hand nehmen. Wie ein Zombie ging ich auf die wild
diskutierende Meute zu und hielt ihnen den Zettel vor die Nase, als
hätte ich eine heilige Reliquie zu zeigen. Sie alle starrten aber
nicht auf den Flyer, sondern in mein aufgebrachtes Gesicht.
„Joe?“, fragte Istvan besorgt. Seine Stimme klang
so düster, wie ich mich fühlte. Als könnte er meine Vorahnung
tatsächlich teilen.
„Er sucht nach einem Auflauf von Jungen, oder?
Dort wird er mehr als fündig“, stammelte ich überzeugt. Der Zettel
zitterte in meiner Hand. Istvan nahm ihn mir ab, überflog ihn kurz
und reichte ihn herum.
„Mist. Verdammt!“, hörte ich ihn fluchen. Ich sah
dasselbe in den Augen der anderen. Meine Vermutung traf ins
Schwarze. Ich hatte Farkas Schlachtbuffet gefunden. Aber es war der
allerletzte Ort, an dem ich mir Farkas wünschte, denn …
„Viktor“, sagte ich mit Tränen in den Augen. Mehr
als seinen Namen konnte ich nicht sagen. Den Schock, meinen Schock,
sah ich jetzt auch in Istvans erschrockenem Gesicht. Seine Augen
huschten hin und her und warteten darauf, dass ich es
aussprach.
„Ja“, sagte ich heftig nickend.
„Mein Bruder ist einer der Aufpasser!“
„Sie dürften jetzt gerade dabei sein, die Zelte
aufzuschlagen“, plapperte ich vor mich hin, als wäre das eine
Information, die aus mir heraus müsste. Als würde etwas derart
Triviales verhindern, dass so etwas unglaublich Böses wie Farkas an
einem normalen Ort wie dem Stausee auftauchen könnte. Aber so war
es nicht.
Sobald es Nacht war, würde er kommen. Und mein
eigener Bruder stand genau zwischen ihm und seiner Beute, einem
unschuldigen Jungen, den er zu seinem neuen Bluthund machen
wollte.
Nachdem ich gesagt hatte, dass mein eigener Bruder
im Zeltlager sein würde, war es mucksmäuschenstill geworden.
Niemand wagte etwas zu sagen. Erst als ich aus dem Haus lief, kamen
Istvan und auch alle anderen hinter mir her. Istvan -benutzte seine
übernatürliche Geschwindigkeit, um sich vor mich
hinzustellen.
„Was hast du vor? Wo willst du hin?“, fragte er
außer sich.
„Das weißt du genau“, antworte ich knapp. Er
umklammerte mein Handgelenk, sodass ich nicht von der Stelle kommen
konnte.
„Nein, Joe! Das ist Irrsinn! Du kannst ihm nicht
helfen. Du bist genauso verwundbar wie er. Und du kannst ihm nichts
erzählen. Er würde dir kein Wort glauben, und das weißt du auch.
Denk nach!“, forderte er außer Atem. Ich versuchte an meiner Hand
zu ziehen, um mich zu befreien.
„Lass mich los!“, warnte ich ihn zornig. „Ich kann
jetzt nicht nachdenken. Es geht um meinen kleinen Bruder! Viktor darf nicht dort sein, Istvan. Nicht wenn
Farkas kommt“, sagte ich bereits heftig heulend. Wimmernd vor Zorn
und Angst um Viktor.
„Ich weiß“, sagte er sanft und zwang mich in seine
Arme. Meine Hände krallten sich Halt suchend in seinen Rücken. Kurz
ließ ich mich von meiner Verzweiflung überwältigen, bevor mir klar
wurde, dass ich damit nur Zeit verschwendete, die ich nicht hatte.
Mit einer einzigen wirschen Geste wischte ich mir die Tränen aus
dem Gesicht, ignorierte die Augenpaare, die sich mir in den Rücken
bohrten. Wild entschlossen fixierte ich Istvans grüne Augen, damit
er mir auch wirklich zuhörte.
„Ich werde tun, was immer nötig ist, um Viktor
dort wegzuholen. Und weder du noch irgendjemand sonst wird mich
davon abhalten!“
Er sah mich einen Moment lang fest an, dann
seufzte er tief, bevor er mit angespanntem Kiefer die Augen
schloss.
„Ein Notfallplan muss also her. Irgendwelche
Ideen? Wir sind für jeden Vorschlag dankbar“, sagte er mit noch
immer zugepressten Augen.
„Ja, ich habe eine Idee“, sagte ich. Jetzt riss er
verblüfft die Augen auf. Istvan war aber nicht verblüfft, dass ich
mit einem Plan ankam, sondern dass ich tatsächlich noch vernünftig
denken konnte, was ich entschlossen war, ihm zu beweisen.
Mein Autopilot war endlich an!
Gerade noch rechzeitig.