7. Valentins Tage
Die letzten zwei Wochen vergingen wie im Flug.
Auslöser für dieses Phänomen waren gute, geradezu unglaubliche
Neuigkeiten aus dem Ural. Petre, Marius’ älterer Bruder, und Radu,
der dritte erschaffene Werwolf in Valentins Rudel, meldeten sich
wie verabredet. Valentin hatte sie abkommandiert, um das Farkas’
Rudel zu überwachten, das vollkommen überraschend von den Karpaten
aufgebrochen war, um in den Tiefen des Urals zu verschwinden.
Petre war der Ansicht, es sei ein sicheres Zeichen
dafür, dass Farkas noch immer davon ausgehe, ich sei bereits tot,
getötet durch Istvans Hand und weiterhin glaube, dieser -zerfließe
momentan in Selbstmitleid und Schuld. Valentin war überzeugt,
Farkas werde sich von Istvan fernhalten, da er hoffe, der erwachte
Dämon habe so die besten Chancen, vollkommen von Istvan Besitz zu
ergreifen und sein Herz zu versteinern, bis dessen Menschlichkeit
vollkommen verschwinden würde. Farkas setze auf eine
Zermürbetaktik. Ich wusste aber, dass er solange warten würde, bis
er Istvan von Selbsthass zerfressen glaubte, dann erst würde er
zurückkommen, um Istvan die Daumenschrauben anzusetzen. Aber bis
dahin wären wir relativ sicher. Sollte Farkas nur glauben, ich wäre
tot und er wäre seinem Ziel zum Greifen nahe, entschied ich. Auf
diese Weise hatten wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite
und das war immerhin ein beruhigender Gedanke.
Die erneuerte Ruhe erlaubte es mir, einigermaßen
entspannt in meinen Alltag zurückzukehren. Mein erster Arbeitstag
war so normal, er kam mir schon fast befremdlich vor. Ich musste
von einer langweiligen Schulveranstaltung berichten und ein paar
Osterschnappschüsse machen. Im Grunde war nicht viel los und ich
konnte mich ganz auf meine neuen Bekannten, die Valentins,
konzentrieren.
Ein kleiner Schatten trübte allerdings die
folgenden Tage. Kurz nach meiner Rückkehr rief ich Malz an, um sein
Angebot abzulehnen. Obwohl er es besser aufnahm, als ich erwartet
hatte, fühlte ich mich dennoch schlecht. Ich war mir da-rüber im
Klaren, dass ich ihn eigentlich im Stich ließ. Es wäre mir fast
lieber gewesen, er hätte mich gefeuert. Doch Malz, der gute alte
Malz versicherte mir mehrmals, dass sich an meiner bisherigen
Tätigkeit als Musikkritikerin nicht das Geringste ändern würde. Ich
verdiente seine Nachsicht zwar nicht, war ihm dafür aber überaus
dankbar.
Ich beschloss, als eine Art Ausgleich, meine
künftigen Kritiken noch feuriger, spritziger und tiefgründiger zu
verfassen als bisher, damit er seine Entscheidung nicht bereuen
würde.
Dabei gelang mir sogar ein kleines Wunder, denn
ich hatte Malz’ Angebot abgelehnt, ohne dass Istvan etwas davon
erfuhr. Wir hatten zwar verabredet, ehrlich zueinander zu sein,
aber diese Sache ging nur mich etwas an. Außerdem wollte ich um
jeden Preis verhindern, dass er wieder anfangen würde zu behaupten,
er und seine Welt hätten negative Auswirkungen auf mein Leben. Es
gab schon genug Probleme, mit denen wir uns herumschlagen mussten.
Immerhin hatte ich noch immer nicht die geringste Vorstellung
davon, wie das Zusammensein von Istvan und mir in Zukunft aussehen
würde, solange sein Problem nicht geklärt
war. Wir kehrten wieder zu dem Punkt zurück, an dem man niemals
sicher ist, welche Berührung oder welche Geste man sich erlauben
darf und welche Nähe zu gefährlich ist. Wir hatten schon so vielem
getrotzt, wir würden auch das hier überwinden. Es brauchte nur Zeit
und viel Geduld. Es sah so aus, als würde ich doch endlich lernen
müssen, mich in Geduld zu üben. So hatte jeder von uns sein
Päckchen zu tragen.
Meinen Eltern, Esther und Heinrich, hatte ich ein
dummes Lügenmärchen von einem Last-Minute-Urlaub erzählt. Sie waren
verdammt glücklich, dass ich mir mal eine Auszeit gegönnt hatte,
und ich war zufrieden damit, dass sie es mir abnahmen und sich
darüber freuten. Dabei beließ ich es und wünschte ihnen noch eine
aufregende Neuseeland-Rundreise.
Von meinem Bruder Viktor musste ich mir allerdings
eine Standpauke anhören, weil ich das letzte Sonntagsessen nicht
rechzeitig abgesagt hatte. Mit so etwas hatte ich bereits
gerechnet, also brachte ich vorsorglich noch eine üppige
Fleischplatte mit. Als ich dann den ersten Sonntag nach meiner
Rückkehr bei ihnen auftauchte, war seine Frau Paula einfach nur
froh, mich zu sehen, fragte mich aber dummerweise über meinen
Kurzurlaub aus. Ich hatte nicht daran gedacht, mir etwas
zurechtzulegen, deshalb wechselte ich oft, allzu oft, das Thema und
erzählte genug Trivialitäten und Horrorgeschichten über das
miserable Hotel, dass ihr die Lust auf eine ausführlichere
Inquisition verging.
Bevor ich zu diesem Essen aufbrach, legte ich
Istvan, der noch immer auf meiner Couch schlief, noch eine Decke
über. Seit wir von meinem Vorstellungsbesuch bei dem Valentin Rudel
zurückgekommen waren, schlief er derart tief und fest, dass es mir
unmöglich war, ihn zu wecken. Da erst wurde mir bewusst, dass er
ein ungeheures Schlafdefizit gehabt haben musste. Erneut flammten
die Schuldgefühle in mir auf und ich war froh, das Essen mit meiner
Familie als Ausrede zur Verfügung zu haben. Denn so konnte ich ihn
richtig ausschlafen lassen und mich gleichzeitig davon abhalten,
ihn die ganze Zeit dabei zu beobachten.
Erst lange nach meiner Rückkehr vom
Willkommensessen wachte Istvan auf. Draußen begann es bereits zu
dämmern. Mein kleiner Werwolf hatte ganze zwanzig Stunden
durchgeschlafen. Es war fast sieben Uhr abends.
Ich kam gerade aus dem Bad und hätte beinahe einen
Herzinfarkt bekommen, als ich die Tür öffnete und Istvan völlig
unangemeldet im Türrahmen stand.
„Herrgott, musst du mich so erschrecken. Ich hatte
fast einen Herzstillstand!“, stieß ich erschrocken hervor und hätte
beinahe mein Handtuch verloren, das ich vor meiner Brust
zusammenhielt.
„Ja, ich weiß, hab’s gehört“, beschwerte er sich
verschlafen. Seine Augen waren noch klein und schwer und seine
Stimme etwas belegt, leider auf eine sehr aufreizende Art und
Weise. Ich versuchte vergeblich, es zu ignorieren.
„Verzeihst du mir?“, fragte er übertrieben ernst
gespielt. Warum konnte sich dieser raue, reizende Ton in seiner
Stimme nicht einfach auflösen? Es wäre besser so. Leichter.
„Natürlich“, stotterte ich fast.
„Schön“, meinte er abwesend, kam dann etwas näher
und küsste mich sanft auf den Hals. Seine heißen Lippen berührten
kaum meine Haut, aber plötzlich kam mir die Feuchtigkeit auf mir
fast wie Dampf vor.
„Hmm, köstlich!“, kommentierte er dabei und fuhr
mit seiner Zunge leicht über seine Unterlippe.
„Ich traue mich gar nicht zu fragen“, gestand ich
kleinlaut. Ich brannte bereits vor Verlangen.
„Keine falsche Scham. Die Mischung aus Badewasser,
Seife und Fruchtaroma steht dir ausgezeichnet, Pfirsich“, -säuselte
er und grinste mich breit an. „Und es schmeckt auch herrlich an dir!“
Er benutzte wieder unseren kleinen, intimen
Spitznamen für mich. Musste er es mir denn wirklich so schwer
machen?
„Du hast offenbar nicht vor, mir die Abstinenz
leicht zu machen, oder?“, wollte ich wissen, die Stirn angestrengt
in Falten gelegt.
„Nicht mit Absicht, Pfadfinderehrenwort“, schwor
er und schenkte mir abermals sein schiefes Grinsen. Verdammt, er
würde es mir so richtig schwer machen.
Eigentlich wollte ich ihn nur kurz küssen, ließ es
aber doch.
Ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich
es dabei nicht bewenden lassen konnte. Also gab ich mich
zähneknirschend damit zufrieden, ihm ein ebenso breites Lächeln zu
schenken und ihn an derselben Halsstelle zu küssen, der er bei mir
so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Ich konnte sein flaches Stöhnen hören. Sein Atem
streifte meine Wange. Vernünftig sein,
impfte ich mir eindringlich ein.
Das hier würde noch viel anstrengender und
schwerer werden, als ich gedacht hatte, soviel stand fest. In
dieser Nacht schlief Istvan in seinem Haus und beschäftigte sich
mit Aufräumarbeiten, ich blieb in meinem Zimmer bei mir zu
Hause.
Wäre er ein Vampir, hätte ich mich dick mit
Knoblauchöl eingerieben, um uns so leichter voneinander fernhalten
zu können. Leider war Istvan ein Werwolf und dafür gab es kein
Abwehrmittel, schon gar nicht gegen seine magische Anziehungskraft.
Alleine die Tatsache, ihn auf meiner Couch liegen zu wissen, war
schon zu verführerisch und stellte ein ungeheures Risiko dar. An
Entsagung war nicht zu denken, wenn ich ihn dabei beobachten
könnte, wie sich seine Brust so dich neben mir heben und senken
würde.
Anstatt die folgenden Nächte weiterhin mit Foltern
dieser Art zu verbringen, besuchten wir gemeinsam und auffällig oft
die Jagdvilla der Valentins. Ablenkung war die einzige Waffe. Und
es gab ja noch so viel, was ich nicht über sie wusste, und soviel,
was ich Valentin fragen wollte.
Bereits bei meinem zweiten Besuch empfingen sie
mich mit offenen Armen. Es war nur lästig, immer getrennt zu den
Valentins zu fahren, aber in Sachen Geheimhaltung hatte ich einiges
gutzumachen. Alle schienen immer überaus erfreut, uns zu
sehen.
Obwohl sie mich kaum kannten, waren sie derart
gastfreundlich und interessant, dass ich die Tatsache vollkommen
vergaß, dass ich es hier mit vier Wolfsmenschen zu tun hatte. Na
ja, meistens jedenfalls.
Es gab kleine Anzeichen, die mich dann doch immer
wieder mit der Nase darauf stoßen ließen. So gab es praktisch keine
Privatgespräche. Jeder wusste alles über den anderen. Daran musste
man sich erst gewöhnen. Manchmal antwortete Marius auf eine Frage,
die Woltan ein Stock höher gestellt hatte, und umgekehrt. Der
einzige Ort, an dem es teilweise möglich war, sich unter vier Augen
zu unterhalten, war der Balkon. Er lag in einer Windschneise und
verwehte die Schallwellen der Stimmen. Wenn man nicht allzu laut
sprach, ging es.
Seltsamerweise hielt sich der gewandte Valentin
dort am meisten auf. Er hatte bestimmt gute Gründe dafür.
Vermutlich gab es unzählige Geheimnisse, die dieser faszinierende
Rumäne hüten musste. Die Aura der Weisheit und der Verantwortung
umgab diesen Mann wie Istvan seine Traurigkeit, Stärke und Anmut.
Sie waren sich beide so ähnlich und doch gab es auffällig viele
Unterschiede.
Je länger ich mit Valentin zusammen war, desto
mehr verstärkte sich dieser Eindruck. Besonders wenn ich alleine
mit ihm sprach.
Das erste Mal, als das geschah, brannte sich mir
tief ins Gedächtnis ein. Wir waren bei den Valentins. Nach dem
Abendessen, das Woltan zubereitet hatte – er stellte sich als
hervorragender Koch heraus – bestand Marius unbedingt auf einer
Partie Poker. Dieser Werwolf litt also nicht nur an einem
Wettproblem, sondern war zu allem Überfluss auch noch spielsüchtig.
Ich verstand absolut nichts von diesem komplizierten Kartenspiel,
schon gar nichts von der ausgeklügelten Variante, die sie wählten.
Valentin entschuldigte sich. Er wollte noch eine Holzschnitzerei
fertig machen und ging dazu auf den Balkon.
Marius begann mit dem Aufbau, während Woltan,
Sera-fina und Istvan sich auf ihre Plätze setzten. Marius, der
etwas kleiner war als der Rest der Valentins und daher etwas
stämmiger wirkte, schlug die Pokervariante vor: „Texas Hold’em“.
Danach stritten sie um das Ausmaß der Grundeinsätze, soviel
verstand ich. Doch als sie die erste Runde zu Ende gespielt hatten,
war mir klar, dass ich dieses Spiel wohl nie kapieren würde und
auch nicht gerade scharf darauf war. Istvan schien seinen Spaß zu
haben, auch wenn Marius derjenige war, der voll in seinem Element
zu sein schien.
„Ich werde Valentin Gesellschaft leisten.
Anscheinend tauge ich nicht zur Poker-Tischdame!“, ließ ich ihn
wissen und entfernte mich aus der Küche. Istvan nickte und küsste
mich kurz auf die Wange, dann zog ich mir die Jacke an und folgte
Valentin auf die Holzveranda.
Eine leichte Brise wehte, aber es war nicht
besonders kühl. Valentin saß auf einem reich verzierten
Schaukelstuhl und schnitzte gekonnte an einem Stück Holz herum,
dessen eine Seite schon fast wie ein Reh aussah. Ihm gegenüber
setzte ich mich auf die breite Brüstung. Sie war bequem genug,
damit man sich darauf lehnen konnte. Er lächelte sanft und
konzentriert, dann sah er zu mir hoch. Ich lächelte wie von selbst
zurück.
„Du kannst also nichts mit Poker anfangen?“,
fragte er, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
„Sieht ganz so aus“, bestätigte ich ihm und wartet
ab, ob er wieder etwas zu sagen hatte, das nur für mich bestimmt
war. Eigentlich rechnete ich sogar fest damit. Aus irgend-einem
Grund vermutete ich sogar, dass Valentin gehofft hatte, ich würde
auftauchen, um mit ihm zu reden oder ihm einfach nur
zuzuhören.
„Wir werden bestimmt die Zeit rumkriegen. Du
solltest von einer längeren Partie ausgehen. Marius ist so gut wie
unschlagbar. Er versucht manchmal sogar zu betrügen, aber nur bei
Menschen“, erzählte er beiläufig.
„Dann ist es ja gut, dass ich nicht mitspiele“,
folgerte ich.
„Valentin, ich wollte dich etwas fragen. Es geht
um das, was du mir gesagt hast, als ich letztens hier war“, begann
ich und forschte seine Reaktion aus.
„Ja, ich weiß. Ich habe schon darauf gewartet“,
antworte er gelassen und selbstsicher. Ich wusste nicht, was ich
davon halten sollte.
„Du willst wissen, was ich gemeint habe, als ich
dir sagte, dass Istvan noch akzeptieren muss, wer oder was er ist“,
stellte er klar. „Ich möchte es verstehen. Ich muss sogar!“, stieß
ich aufgebracht hervor und lehnte mich weiter nach vorne.
„Ich weiß nicht, ob du das kannst. Aber nach
allem, was du bereits schon gesehen hast. Vielleicht ist es genug“,
wägte er ab und kräuselte seine Lippen.
„Stell dir vor, du wärst ein Kriegsheimkehrer und
hättest schlimme Narben davongetragen. Früher oder später musst du
eine Entscheidung treffen, bewusst oder unbewusst. Entweder du
lässt dich von deinen Narben tragen und beginnst dich über sie zu
definieren oder du selbst trägst die Narben und versuchst dazu zu stehen,
ohne jedoch von ihnen beherrscht zu werden, so gut du kannst …
Istvan und ich sind uns sehr ähnlich, aber in diesem entscheidenden
Punkt unterscheiden wir uns sehr. Ich habe meine Wahl getroffen,
habe akzeptiert, was aus mir geworden ist. Aber Istvan …“
„… lässt zu, dass seine Narben verhindern, dass er
sich selbst klar sieht, so wie er ist“, beendete ich seinen Satz
für ihn, denn ich verstand, was er mir klarmachen wollte. Ich
verschränkte frustriert die Arme vor der Brust und setzte mich an
Valentins Seite. Auf der Holzbank sackte ich zusammen und ließ
meinen Kopf hängen.
Valentin sah meinen bekümmerten Zustand und wollte
mir helfen. Er legte mir besänftigend seine Hand auf die Schulter
und sprach mit mir in einem leisen, beruhigenden Ton.
„Joe, du hast ihn so verändert. Wäre Farkas nicht
aufgetaucht, hätte er durch dich irgendwann begonnen, sich selbst
anzunehmen, vielleicht hätte Istvan sogar Frieden mit seinem
Wolfswesen geschlossen“, sagte er und wollte mich offensichtlich
aufmuntern.
Er wollte Trost spenden und es wirkte. Vielleicht
wäre es tatsächlich so gekommen. Aber Farkas, dieser Höllenvater,
hatte diese Hoffnung zunichtegemacht. Dafür
hasste ich ihn über alle Maßen. Ich biss fest die Zähne zusammen,
um diese giftigen Gedanken zu verscheuchen.
„Und jetzt?“, fragte ich schwach und war
ängstlich, wie ich Istvan das alles begreiflich machen
sollte.
„Ich sage es dir nur ungern. Aber ich vermute,
dass er noch nicht so weit ist. Er kann es,
was immer es nun genau in seinem Fall ist,
erst loswerden, wenn er sich selbst überwindet und sich akzeptiert,
so wie er ist, ohne Ausflüchte“, gestand er und sah meine
Enttäuschung. Sofort kamen mir die schrecklichsten Gedanken, die
ich vor Valentin laut äußerte.
„Oh Gott! Was, wenn er das nicht kann? Wir könnten
nie wieder richtig zusammen sein. Wie kriegen wir ihn nur dazu,
dass er begreift, dass er es selbst in der Hand hat. Er ist so
felsenfest davon überzeugt, dass es seine Pflicht ist, sich gegen
seinen Wolf zu wehren. Er ist so verdammt stur in seiner
Selbstverachtung“, stammelte ich und konnte die Tränen kaum noch
zurückhalten.
Valentin reichte mir sofort sein Stofftaschentuch
mit dem scharlachroten V-Monogram. Es war so schön, dass ich es
kaum wagte, es mit meinen Tränen zu beschmutzen. Aber ich wollte
auf jeden Fall verhindern, dass Istvan die Tränenspuren an mir sah,
also wischte ich sie ab.
„Joe, jetzt nur nicht den Mut verlieren. Du warst
bisher so tapfer. Unterschätze deine eigenen Instinkte nicht!“,
ermahnt er mich. „Schließlich wusstest du auch, dass du zuerst
gehen, ihn richtig erschüttern musstest, damit er sich wieder
besinnt. Du verstehst ihn instinktiv. Das wird euch helfen. Auch
wenn ich nicht weiß, wie du das anstellst“, sagte er und lächelte
mich schwach an.
Ich schniefte und dachte sorgfältig über Valentins
Worte nach. Es war gar kein Instinkt gewesen, der mich letzten
Endes überzeugt hatte zu gehen. Vielmehr hatte ich auf einen
verstörenden Traum und seine Botschaft vertraut, die ich auch jetzt
nicht ignorieren konnte. Vielleicht sollte ich Valentin davon
erzählen, damit er einen exakteren Überblick über die Dinge bekäme.
Nur so konnte er mir helfen.
„Valentin“, sagte ich und versicherte mir somit
seine volle Aufmerksamkeit.
„Hat Istvan dir eigentlich von meinem Traum
erzählt? Er erzählt dir doch alles, deshalb dachte ich …“, deute
ich an.
„Ja. Er meinte, du hättest ihn im Traum dasselbe
sagen hören, was er tatsächlich gesagt hat. Ich fand es sehr
interessant“, murmelte er unbestimmt.
„Es gab da noch einen Traum dieser Art. Er hat mir
wirklich Angst gemacht. Ich hatte zwar schon vorher einen Traum von
dieser Frau, aber erst in dieser Version erkannte ich, dass sie ich
war, und dieser Traum und seine verstörenden Bilder brachten mich
dazu zu gehen. Es war unheimlich, wie die Bilder meines Traums ihre
Entsprechungen in der Wirklichkeit bekamen. Tut mir leid, aber
besser kann ich es nicht erklären“, entschuldigte ich mich für
meine wenig exakten Ausführungen. Aber einem anderen einen sehr
persönlichen Traum zu erzählen, war nicht gerade leicht.
Valentin hörte mir aufmerksam zu, aber er
antwortete mir nicht gleich. Er starrte vor sich hin und schien an
irgendetwas Bestimmtes zu denken. Sein Schweigen dauerte lange
genug, um mich zu beunruhigen.
„Interessant, interessant“, wiederholte er
mehrmals. Sein Kopf nickte schwach und abwesend. Woran dachte er nur? Sein gleichmäßiges Profil wirkte
auf einmal fremd und zum ersten Mal empfand ich Valentin als
seltsam.
„Bitte, sei ehrlich!“, verlangte ich sanft. „Was
hältst du wirklich davon?“
Plötzlich kam ich mir vor, als hätte ich eine
Sitzung bei einem rumänischen Therapeuten, der noch nicht auf die
passende Diagnose gekommen war.
„Es könnte sein … so etwas kommt vor … nicht oft …
es ist zwar selten, aber …“, brummte er weiter vor sich hin und
machte mich mit seinen abgehackten Andeutungen ganz nervös.
„Joe, kann es sein, dass du eine prophetische
Traumgabe besitzt?“, fragte er mich sehr ernst. Seine dunklen Augen
durchbohren mich.
„Was?“, stöhnte ich fassungslos. „Wovon sprichst
du? Was? Fragst du mich das im Ernst?“,
fuhr ich ihn entrüstet an.
Wovon zum Teufel sprach er da? War er verrückt
geworden? Hatte er vergessen, dass ich nur ein Mensch war? Ich
hatte plötzlich das Gefühl, keinen festen Boden unter meinen Füßen
zu spüren.
„Ich meine es sehr ernst“, warnte er mich vor.
„Hattest du schon früher solche Träume?“, wollte er von mir wissen
und hörte nicht damit auf, mich mit wissendem Blicken zu
mustern.
„Nein. Die Träume fingen erst an, nachdem ich mit
Istvan zusammengekommen war. Ich glaub, den ersten Traum hatte ich,
als er mir eines seiner Gedichte vorlas. Ich träumte immer wieder
von der Frau aus dem Gedicht und erst in der Nacht, bevor ich
gegangen bin, veränderte sich der Traum gravierend“, stotterte ich
haltlos vor mich hin.
„Dann muss es an euch liegen, an eurer Verbindung.
Womöglich hättest du nie von deiner Gabe erfahren, wenn Istvan dich
nicht wiedergefunden hätte“, theoretisierte er vor sich hin.
„Gabe?“, sfragte ich erstaunt und das Wort kam mir
so absonderlich vor. Ich konnte es nicht mit mir in Verbindung bringen, ohne dass ich mir wie ein
Sonderling vorkam. Ein selt-sames Gefühl.
„Na ja, wie soll man es sonst nennen. Ich weiß
nicht viel darüber. In meinem langen Leben bin ich selbst nur
zweimal auf Frauen gestoßen, die diese Begabung besessen haben.
Aber bei ihnen war sie sehr deutlich ausgeprägt. Wahre prophetische
Traumbegabungen sind äußerst selten, weißt du“, meint er.
„Wer waren sie, diese Frauen?“, wollte ich wissen.
Plötzlich war ich sehr interessiert an seinen Informationen, mehr
als ohnehin schon.
„Die erste Frau war eine Sioux-Indianerin. Sie war
die Frau eines Schamanen und konnte ihre Gabe bewusst steuern. In
ihrem Volk galt sie sogar als beseelt, heilig. Sie erzeugte die
Träume bewusst, indem sie sich in Trance versetzte. Es war nicht
immer ganz klar, was ihr die Traumbilder zeigten, aber auch wenn es
ihr nicht gelang, sie zu deuten, traf immer ein, was sie gesehen
hatte. Auf die eine oder andere Art. Viele Jahrzehnte später lebte
ich in einem ungarischen Dorf. Dort hatten sich viele Zigeuner
niedergelassen. Eine von ihnen, ein junges Mädchen, behauptete,
geträumt zu haben, dass ein großes -Feuer kommen würde. Eine Woche
später brannte die halbe Siedlung am Rand des Dorfes ab. Ich half
ihnen dabei, alles wieder aufzubauen, und unterhielt mich mit dem
Mädchen über ihre Träume. Sie erzählte mir, dass sie immer wieder
seltsame Bildern heimsuchen, die sich deutlich von normalen
Traumbildern unterscheiden. Sie konnte sie nicht immer verstehen,
aber sie kamen in unregelmäßigen Abständen zu ihr.“
„Was ist der Auslöser?“, fragte ich
aufgeregt.
„Das weiß niemand. Die Großmutter des
Zigeunermädchens behauptete, dass es in der Familie liege. Die
Indianer sind davon überzeugt, dass jeder die Traumwelt bereisen
kann, um Antworten zu finden. Ich glaube, dass es in deinem Fall
nicht sehr ausgeprägt ist. Die Verbindung mit Istvan muss eine Art
Auslöser bei dir sein und vermutlich siehst bzw. träumst du auch
nur Dinge, die unmittelbar für euch bestimmt sind“, deutete er
nachdenklich an.
„Ich kann das nicht glauben. Wieso sollte
ausgerechnet ich so etwas können?“, sagte
ich ungläubig.
„Wieso hast ausgerechnet du dich in einen Werwolf verliebt? Wieso hast du keine
Angst vor uns? Und wieso triffst du wichtige Entscheidungen in
deinem Leben auf der Grundlage von Träumen?“, entgegnete Valentin
geheimnisvoll.
„Hm“, war das Einzige, was ich drauf zu sagen
wusste.
„Und was mache ich jetzt?“, fragte ich ihn
ratlos.
„Nichts. Du kannst es nicht erzwingen. Wenn du
einen weiteren Traum hast, erzähl ihn Istvan oder mir. Vielleicht
können wir ihn zusammen verstehen, ihn entschlüsseln. Womöglich
hilft es sogar“, hoffte Valentin. Sein Optimismus war mir ein
Rätsel.
Ich atmete erschöpft aus und hatte das Gefühl als
-schwirre mir der Kopf zu heftig, als dass ich weiterhin darüber
nachdenken könnte.
„Tut mir leid, dass ich dir dabei keine große
Hilfe bin. Aber ich habe einen anderen Rat für dich, auch wenn er
dir wahrscheinlich nicht gefällt“, deute er kryptisch an. Ich
wusste nicht, ob ich noch mehr aushalten konnte. Aber wenn nur die
-mindeste Chance bestand, dass es die Situation zwischen mir und
Istvan verbessern konnte, würde ich stark genug dafür sein
Traum-was-auch-immer hin oder her.
„Okay. Ich höre“, sagte ich im überzeugendsten
Tonfall, den ich unter diesen Umständen hinbekam.
„Istvan wird erst soweit sein, bereit sein, sich
seinem Monster zu stellen, wenn er völlig frustriert ist.
Deinetwegen, meine ich“, versuchte er beschönigend
anzuspielen.
„Wie meinst du das?“, fragte ich verwirrt nach.
Der merkwürdige Tonfall seine Samtstimme gefiel mir nicht. Er
bewirkte, dass ich mich irgendwie peinlich berührt fühlte.
„Wenn ihr zu sehr
zusammen seid und diese
Dunkle Seite seines Wolfswesens ausbricht, dann würde ihn
das fürchterlich erschrecken, aber auch unglaublich
motivieren.“
Ich konnte es nicht leiden, dass er in schwammigen
Andeutungen sprach. Ich wollte Klartext, brauchte das sogar. Auch
wenn es unglaublich peinlich sein würde.
„Jetzt mal Klartext. Verlangst du von mir,
absichtlich zu weit zu gehen, um zu testen, ob es dabei zum Vorschein kommt“, stieß ich skeptisch
hervor. Ich traute meinen eigenen Ohren nicht.
„Ich würde das nie von dir verlangen. Es ist
gefährlich und eigentlich gegen Regeln, die ich selbst aufgestellt
habe. Aber wenn du so kühn bist, wie ich vermute, wärst du ohnehin
irgendwann selbst auf die Idee gekommen, oder?“
Ich dachte darüber nach. Er hatte recht. Ich hatte
keine Geduld und hätte irgendwann die Dinge überstürzt. Ich musste
nur an den Vorfall vor dem Badezimmer denken. Er lag nur wenige
Tage zurück, aber ich musste mich dabei unglaublich zusammennehmen,
um nicht etwas Unbesonnenes zu tun, um ihn nicht zu küssen.
Valentin konnte anscheinend durch mich
hindurchsehen wie durch Glas. Jetzt verstand ich auch, was Istvan
damit meinte, dass Valentin einem manchmal das Gefühl geben konnte,
einen besser zu kennen als man sich selbst.
„Du hast ja recht. Ich hätte es vermutlich getan,
eigentlich ziemlich sicher, wenn ich ganz ehrlich bin. Aber ich bin
dabei nicht das Hauptproblem. Es gibt immer zwei Menschen, die dazu
notwendig sind. Und Nummer zwei ist ein überbesorgter, vorsichtiger
Beschützertyp, der mich niemals absichtlich in Gefahr bringen
würde“, erinnerte ich ihn.
„Das stimmt zwar, aber, Joe, mal ehrlich: Konnte
Istvan dir je widerstehen?“, fragte er mich mit hochgezogener
Augenbraue. Ich hätte ihm zu gerne mit Nein
geantwortet. Aber das wäre eine Lüge gewesen. Er konnte mir
widerstehen, zu meinem eigenen Besten. Diese harte Lektion hatte
ich in den Wochen vor meiner Abreise nur allzu deutlich gelernt.
Ich musste Valentin daran erinnern, auch wenn ich es nur ungern
zugab. Diese Art von Gesprächen führe ich nicht
mal mit Carla, ging es mir durch den Kopf, bevor ich ihm
antwortete.
„Doch, er konnte mir widerstehen. Ich erinnere
mich nur ungern daran“. Es tat weh. Meine letzten Worte konnten die
Traurigkeit kaum verbergen, die hinter diesem Geständnis
standen.
„Joe, das waren ganz andere Umstände. Ich bin
erstaunt, dass du den Unterschied nicht bemerkst. Er kann sich,
wenn ihr zusammen in einem Raum seid, kaum von dir lösen. Denkst
du, wir hätten nicht alle bemerkt, wie ihr euch hier extra
zusammennehmen müsst. Wir sind nicht blind, Liebes“, schnaufte er
lachend.
Ich wurde sofort rot. Es war so demütigend. Wir
täuschten niemanden, schon gar nicht die Valentins. Wie blind
mussten die anderen Dorfbewohner sein, um immer wieder auf unsere
Charade hereinzufallen. Aber es war gut so, für uns alle.
„Ich weiß schon, was du meinst, aber er ist sehr
vorsichtig. Es wird eine Weile dauern, bis ich ihn endgültig
überzeugen kann, wieder …“, meint ich und versuchte das Ende meines
Satzes mit den Augen zu vermitteln, damit ich es nicht aussprechen
musste. Ich kam mir schon beschämt genug vor.
Valentin nickte heftig und ließ es damit gut sein.
Ich seufzte laut, als mir klar wurde, dass dieses seltsame Gespräch
endlich zu Ende war. Valentin war, das wurde mir nun in aller
Deutlichkeit bewusst, ebenfalls kein Mann für Small Talk. Unter
anderen Umständen hätte ich das sehr sympathisch gefunden, aber in
dieser Nacht war alles zu anstrengend dafür gewesen.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens wollte ich
Valentin noch einmal nach meiner angeblichen Traumgabe befragen,
aber Woltans Auftauchen hielt mich davon ab. Ich wollte mich vor
Woltan, einem Werwolf, nicht als Freak outen. Offenbar war ich
tatsächlich etwas falsch gestrickt.
Woltan setzte sich zu mir auf die Bank und wirkte
sehr müde und ganz schön fertig.
„Alles in Ordnung?“, wollte ich wissen.
„Nicht wirklich“, sagte er mit geschlossenen
Augen. Den Kopf tief in den Nacken gelegt, sagte er: „Dein feiner
Freund und dieser ausgefuchste Marius haben mich ausgenommen wie
eine Weihnachtsgans. Wieso falle ich immer darauf rein?!“, schalt
er sich selbst aus.
Istvan hatte sich also ganz gut geschlagen. Marius
hatte, wie nicht anders zu erwarten, abgesahnt. Serafina war
ausgestiegen, als sie begann, zu viel zu verlieren. Anscheinend kam
beim Poker immer ein wenig von den Charaktereigenschaften einzelner
Spieler zum Vorschein. So ging Woltan Risiken ein, während Serafina
immer auf Nummer sicher ging, genau wie in ihrem Liebesleben.
Marius spielte so lange, bis er als Sieger vom Tisch gehen konnte.
Und Istvan? Er hielt solange durch, wie er konnte. Wie eine heiße
Katze auf einem Blechdach kam er mir dabei vor. Vielleicht war das
mein Zeichen.
Nach ein paar Minuten tauchten auch die anderen
Valentins auf und wir saßen alle auf den Holzbänken, abgesehen von
Valentin, der in seinem Schaukelstuhl seine Rehschnitzerei zu Ende
brachte.
Es war schon fast Mitternacht und der volle Mond
stand hoch.
Der volle Mond,
wiederholte ich in Gedanken, bevor mir die Bedeutung klar wurde.
Dann sprach ich es laut aus.
„Übermorgen ist Vollmond, oder?“, fragte ich in
die Runde. Alle starrten mich an. Jeder Einzelne von ihnen
belauerte meine Reaktion.
„Hey Leute, ich weiß schon, was das bedeutet“,
scherzte ich übertrieben. Sie beruhigten sich etwas. Istvan setzte
sich neben mich und tauschte dafür mit Woltan seinen Platz.
„Und du hast dir das wirklich gut überlegt?“,
fragte er mich zum unzähligsten Mal.
„Ja. Ich möchte dabei sein. Natürlich nur, wenn
ihr nichts dagegen habt?“, wollte ich von dem gesamten Rudel
wissen. Sie sahen sich alle abschätzend an, dann nickte einer nach
dem anderen: Valentin, Serafina, Woltan und Marius.
„Na, jetzt bekommst du was für Istvans Geld
geboten“, feixte Marius und zwinkerte mir zu. Ich lächelte zurück
und ignorierte den leisen, nervösen Krampf in der
Magengegend.
Später in dieser Nacht beichtete ich Istvan von
Valentins Vermutung, was meine Träume anging. Von seinen anderen
Mutmaßungen sagte ich kein Wort.
Istvan bestätigte Valentins Verdacht und machte
sich wieder einmal Selbstvorwürfe, dass er nicht selbst darauf
gekommen war. Sein Kommentar dazu war, wie nicht anders
erwartet:
„Siehst du! Ich habe dir immer gesagt, dass du
etwas Besonderes bist.“
„Aha. Ich bin also etwas
Besonderes, weil ich alle heiligen Zeiten merkwürdige,
beinahe-prophetische Träume habe, aber du,
der sich bei Vollmond in einen Wolf verwandeln kann, bist
verflucht. Kommt dir das nicht selbst irgendwie heuchlerisch vor.
Du misst mit zweierlei Maß“, beschwerte ich mich heftig. Er ging
nicht darauf ein.
„Das ist etwas anderes. Du bist dennoch ein
normaler Mensch“, meint er fast schon nervig herablassend.
„Aber ein ganz besonderes Mädchen“, flüsterte er
und versuchte mit Flirten meinen Einwand zu überspielen. Istvan kam
zu mir und setzte sich auf sein Bett, in dem ich auf der Decke
lag.
„Genau genommen bin ich eine Frau“, erinnerte ich
Istvan und kam näher an ihn heran.
„Als könnte ich das vergessen!“, murmelte er mit
aufgerissenen Augen und ließ seinen Blick kurz über meinen Körper
schweifen.
Es kribbelte überall auf mir. Ich musste mich
mehrmals ermahnen: Falscher
Zeitpunkt!
„Also morgen“, bemerkte ich beiläufig und legte
den Kopf zurück.
„Ja, morgen. Ich bin gespannt, ob du endlich
einmal Angst bekommst. Ich mache mir schon Sorgen, dass deine
Angst-reaktion falsch gepolt ist“, sagte er spielerisch.
„Mit mir ist alles in Ordnung“, gab ich zurück.
„Ich sehe nur die Dinge etwas anders. So, wie sie wirklich sind,
nicht so, wie sie mir erscheinen.“ Istvan verstand sofort, dass ich
eine Anspielung darauf gemacht hatte, dass er die Dinge aus seinem
eingeschränkten Blickwinkel sah. Aber er reagierte nicht darauf.
Aus irgendeinem Grund hätte ich mich deswegen gerne mit ihm
gestritten. Es würde es leichter machen, nicht darüber
nachzudenken, wieso wir bald im selben Bett schlafen würden, aber
nicht miteinander.
Aber dann sah ich Istvans müden Blick und zähmte
meine künstliche Streitlust.
Istvan zog sich aus und kam dann ins Bett. Er
legte seinen Kopf neben meinem aufs Kissen, dann fragte er:
„Und ich soll nicht doch auf der Couch
schlafen?“
„Untersteh dich!“, warnte ich ihn eindringlich und
legte seine Hand in meine, bevor ich die Augen schloss und
einschlief. Leider gelang es mir nicht, besonders tief zu schlafen,
weil ich immer wieder fürchtete zu träumen. Ich sorgte mich
umsonst. Ich träumte gar nichts, nicht einmal diese ausdruckslosen
Bilder, die lediglich halfen, den vergangenen Tag zu
verarbeiteten.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag Istvans
Hand noch immer kraftlos in meiner, doch seine Haut war bereits
glühend heiß. Die erste Vollmondnacht stand bevor. Sein Körper
begann sich bereits auf die Verwandlung vorzubereiten. Ich hoffte
für ihn, dass es jetzt, wo die Valentins dabei sein würden, für
Istvan nicht mehr so schmerzhaft sein würde.
Eine aufregende Nacht stand bevor, doch zuvor
musste Istvan den Tag in der Bibliothek hinter sich bringen. Ich
hatte drei verschiedene Aufträge. So hatten wir beide bis zum
Nachmittag genug zu tun, um nicht allzu viel über diese besondere
Nacht nachzudenken. Am Vormittag brachte ich eine langatmige
Sitzung hinter mich, deren Themen ich in der Redaktion
zusammenfasste. Danach musste ich einige Fotos für die
Warter-Schule schießen. Den Rest des Tages feilte ich an einer
ausführlichen Musikkritik über eine Soulband. Bis ich alles
erledigt hatte, war es fünf Uhr und ich schlenderte zu Fuß zur
Bibliothek, um mich dort mit Istvan zu treffen, wie wir es
verabredet hatten.
Er wirkte etwas nervös, hielt aber an seinem
Versprechen fest, dass ich dabei sein durfte. Wir fuhren mit dem
Camaro zum dritten Lager, das Istvan zusätzlich angelegt hatte,
damit genug Vorräte für alle Valentins vorhanden waren. Es lag am
untersten Nordhang, ganz in der Nähe von Lockenburg, und war etwas
schwerer zu erreichen, da es hinter einem sehr verwilderten
Waldstück lag. Den Wagen parkten wir beim Wolftanzlager. Dort
versteckte Istvan den schwarzen Schlitten unter ein paar Zweigen,
dann schlendert er mit mir die Abhänge hi-nunter. Ich hatte ihm
vorher schon angekündigt, dass ich mich bestimmt nicht wieder von
ihm tragen lassen würde. Deshalb mussten wir früh aufbrechen. Ich
brauchte lange, um über den knackenden Waldboden zu gehen. Nach
einer Ewigkeit, zumindest für Istvans Begriffe, kamen wir an. Die
Valentins warteten bereits. Doch noch begann es nicht zu dämmern.
Woltan und Serafina hatten das Zelt für mich schon aufgestellt. Das
war sehr fürsorglich von ihnen, fand ich. Als ich den gedul-digen
Blick von Valentin und Marius erkannte, war ich verdammt froh, dass
ich nicht auf den Armen von Istvan hier aufgetaucht war. Das wäre
einfach zu demütigend gewesen. Keiner von ihnen sollte mich als
schwaches Menschlein sehen.
Ich setzte mich auf einen umgefallenen Baumstamm
und wartete mit den anderen auf die eintretenden
Verwandlungsschmerzen. Zu meiner Verwunderung wirkte keiner von
ihnen, abgesehen von Istvan, besorgt. Die Dämmerung brach an und
sofort bekam Istvan seine Migräne. Die anderen wirkten absolut
schmerzfrei, auch wenn sie mitleidig Istvans Qual verfolgten. Als
das Fieber bei ihm ausbrach, bemerkte ich auch auf Serafina die
Schweißperlen. Während Istvan deswegen zitterte, schienen die
anderen nur etwas schwächer zu werden und sie begannen sich zu
setzen.
Es war schon fast ganz dunkel, als die Zuckungen
bei Istvan einsetzten. Schneller als sonst verhärteten sich seine
Muskeln. Alle vier Valentins stürzten zusammen und bildeten einen
lockeren Kreis. Während Istvans Muskeln sich Partie für Partie
härteten und dann erst die eigentliche Verwandlung über ihn kam,
ging es beim Valentin Rudel so schnell und fließend, dass ich es
fast nicht richtig mitbekam. Die Phasen der Verwandlung waren
jedoch bei Istvan einzeln sichtbar und sein Schmerz dabei traf mich
jedes Mal unvorbereitet. Bei den Valentins waren keine einzelnen
Phasen mehr erkennbar. Sie alle saßen in ihrer Runde und krümmten
sich in die Fötalposition, in der sie schon nicht mehr vollkommen
menschlich waren. Innerhalb weniger Sekunden waren ihre Körper
geschrumpft und hatten die menschliche Form gegen eine wölfische
getauscht. Direkt, nachdem die Verwandlung vollzogen war, kamen sie
auf allen vieren zu Istvan, der sich noch immer auf dem Boden vor
mir krümmte. Ich flehte inständig, dass er auch endlich den Punkt
erreichen würde, bei dem er es hinter sich hatte. Als könne er
meine Bitte hören, knackte sein Rückgrat, sein Fell sprang hervor
und mein Wolf mit seinen Sandflecken stand vor mir. Ich blickte in
seine grünen Augen. Dann versuchte ich, die Valentins in ihren
Wolfsformen zu erkennen. Ich ordnete den größten Wolf Valentin zu.
Er hatte schwarze und braune Flecken auf weißem Grund. Seine Augen
wirkten auf mich sehr wissend. Die beiden Wölfe, die neben ihm
standen, mussten die Zwillinge sein. Woltan war ein brauner Wolf
mit sehr starken Muskeln und dennoch schlank und geschmeidig.
Serafina hatte braunes und schwarzes Fell. Ihre Augen waren fast
schwarz. Marius stand etwas abseits, war aber am leichtesten von
den anderen zu unterscheiden, denn er war etwas breiter und
fülliger. Sein Wolfsgesicht wirkte fast wie das Antlitz eines
Schakals, ebenso sein brauner Körper.
Ich konnte förmlich die Spannung in der Luft
spüren. Es drängte die Wölfe. Sie wurden ungeduldig. Der Ruf des
Waldes und ihrer Instinkte tobte und zerrte merklich an ihnen. Sie
konnten sich nicht lange zurückhalten und rannten in V-Formation in
den Wald vor mir, Valentin an der Spitze. Istvan wartete. Ich
bedeutete ihm, dass er den Valentins folgen sollte, doch er
zögerte. Erst als ich mich zu ihm herabbückte, seine Schnauze in
meiner Hand hielt und fest in seine irisierend grünen Augen sah,
verstand er, dass ich es ehrlich meinte. Er stieß einen kehligen
Laut aus, als wollte er mir sagen: „Ich vermisse dich schon jetzt“,
dann folgte er der Spur des Rudels. Ich hörte seine leisen Pfoten
auf dem Unterholz, bevor er ganz verschwunden war. Ganz alleine war
es mir zu unheimlich draußen und ich schlüpfte in das warme Zelt.
Sobald ich in den dicken Schlafsack eingewickelt war, bemerkte ich
meine Müdigkeit. Aber es gelang mir die ganze Nacht nicht zu
schlafen. Das lag aber nicht an den lang gezogenen Wolfsgeheul, das
immer mal wieder zu hören war, sondern daran, dass ich einfach
keine Ruhe fand. Daran war nicht zu denken, bis ich nicht wissen
würde, dass er sicher zurück war.
Zum Glück kam jeder der Valentins am nächsten
Morgen angezogen zum Lager. Es wäre der Gipfel der Peinlichkeit
gewesen, hätte ich Marius nackt sehen müssen. Als Erster kam Istvan
zurück, der nicht zufrieden war, mich bereits wach vorzufinden.
Danach traf das Rudel zusammen ein, wobei sie wieder Menschen
waren, so, als wäre die letzte Nacht nie passiert.
„Also waren wir wohl nicht besonders
erschreckend?“, beschwerte sich Marius, als er sah, dass ich noch
im Lager war.
Ich schüttelte über seine Bemerkung grinsend den
Kopf. Danach brachte mich Istvan nach Hause, wo ich den versäumten
Schlaf nachholte, während er die Bibliothek öffnete.
Ich beschloss zu Istvans Zufriedenheit, den beiden
weiteren Verwandlungen nicht beizuwohnen, da ich in den Folge-tagen
immer Frühtermine für das Lokalblatt hatte, die sich nicht
verschieben ließen.
Der Vollmondzyklus des Mai ging also ohne Vorfälle
zu Ende. Das Einzige, was sich im Hause Valentin nach der letzten
Vollmondnacht veränderte, war der unerwartete Besuch von Woltans
Verlobter Miriam, die die ständige Trennung von ihrem Zukünftigen
nicht mehr aushielt und deshalb aus Deutschland angereist war. Ich
war sehr gespannt, sie zu treffen. Immerhin hatten wir eine
auffällige Gemeinsamkeit.