7. Valentins Tage
 
 
Die letzten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Auslöser für dieses Phänomen waren gute, geradezu unglaubliche Neuigkeiten aus dem Ural. Petre, Marius’ älterer Bruder, und Radu, der dritte erschaffene Werwolf in Valentins Rudel, meldeten sich wie verabredet. Valentin hatte sie abkommandiert, um das Farkas’ Rudel zu überwachten, das vollkommen überraschend von den Karpaten aufgebrochen war, um in den Tiefen des Urals zu verschwinden.
Petre war der Ansicht, es sei ein sicheres Zeichen dafür, dass Farkas noch immer davon ausgehe, ich sei bereits tot, getötet durch Istvans Hand und weiterhin glaube, dieser -zerfließe momentan in Selbstmitleid und Schuld. Valentin war überzeugt, Farkas werde sich von Istvan fernhalten, da er hoffe, der erwachte Dämon habe so die besten Chancen, vollkommen von Istvan Besitz zu ergreifen und sein Herz zu versteinern, bis dessen Menschlichkeit vollkommen verschwinden würde. Farkas setze auf eine Zermürbetaktik. Ich wusste aber, dass er solange warten würde, bis er Istvan von Selbsthass zerfressen glaubte, dann erst würde er zurückkommen, um Istvan die Daumenschrauben anzusetzen. Aber bis dahin wären wir relativ sicher. Sollte Farkas nur glauben, ich wäre tot und er wäre seinem Ziel zum Greifen nahe, entschied ich. Auf diese Weise hatten wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite und das war immerhin ein beruhigender Gedanke.
Die erneuerte Ruhe erlaubte es mir, einigermaßen entspannt in meinen Alltag zurückzukehren. Mein erster Arbeitstag war so normal, er kam mir schon fast befremdlich vor. Ich musste von einer langweiligen Schulveranstaltung berichten und ein paar Osterschnappschüsse machen. Im Grunde war nicht viel los und ich konnte mich ganz auf meine neuen Bekannten, die Valentins, konzentrieren.
Ein kleiner Schatten trübte allerdings die folgenden Tage. Kurz nach meiner Rückkehr rief ich Malz an, um sein Angebot abzulehnen. Obwohl er es besser aufnahm, als ich erwartet hatte, fühlte ich mich dennoch schlecht. Ich war mir da-rüber im Klaren, dass ich ihn eigentlich im Stich ließ. Es wäre mir fast lieber gewesen, er hätte mich gefeuert. Doch Malz, der gute alte Malz versicherte mir mehrmals, dass sich an meiner bisherigen Tätigkeit als Musikkritikerin nicht das Geringste ändern würde. Ich verdiente seine Nachsicht zwar nicht, war ihm dafür aber überaus dankbar.
Ich beschloss, als eine Art Ausgleich, meine künftigen Kritiken noch feuriger, spritziger und tiefgründiger zu verfassen als bisher, damit er seine Entscheidung nicht bereuen würde.
Dabei gelang mir sogar ein kleines Wunder, denn ich hatte Malz’ Angebot abgelehnt, ohne dass Istvan etwas davon erfuhr. Wir hatten zwar verabredet, ehrlich zueinander zu sein, aber diese Sache ging nur mich etwas an. Außerdem wollte ich um jeden Preis verhindern, dass er wieder anfangen würde zu behaupten, er und seine Welt hätten negative Auswirkungen auf mein Leben. Es gab schon genug Probleme, mit denen wir uns herumschlagen mussten. Immerhin hatte ich noch immer nicht die geringste Vorstellung davon, wie das Zusammensein von Istvan und mir in Zukunft aussehen würde, solange sein Problem nicht geklärt war. Wir kehrten wieder zu dem Punkt zurück, an dem man niemals sicher ist, welche Berührung oder welche Geste man sich erlauben darf und welche Nähe zu gefährlich ist. Wir hatten schon so vielem getrotzt, wir würden auch das hier überwinden. Es brauchte nur Zeit und viel Geduld. Es sah so aus, als würde ich doch endlich lernen müssen, mich in Geduld zu üben. So hatte jeder von uns sein Päckchen zu tragen.
Meinen Eltern, Esther und Heinrich, hatte ich ein dummes Lügenmärchen von einem Last-Minute-Urlaub erzählt. Sie waren verdammt glücklich, dass ich mir mal eine Auszeit gegönnt hatte, und ich war zufrieden damit, dass sie es mir abnahmen und sich darüber freuten. Dabei beließ ich es und wünschte ihnen noch eine aufregende Neuseeland-Rundreise.
Von meinem Bruder Viktor musste ich mir allerdings eine Standpauke anhören, weil ich das letzte Sonntagsessen nicht rechzeitig abgesagt hatte. Mit so etwas hatte ich bereits gerechnet, also brachte ich vorsorglich noch eine üppige Fleischplatte mit. Als ich dann den ersten Sonntag nach meiner Rückkehr bei ihnen auftauchte, war seine Frau Paula einfach nur froh, mich zu sehen, fragte mich aber dummerweise über meinen Kurzurlaub aus. Ich hatte nicht daran gedacht, mir etwas zurechtzulegen, deshalb wechselte ich oft, allzu oft, das Thema und erzählte genug Trivialitäten und Horrorgeschichten über das miserable Hotel, dass ihr die Lust auf eine ausführlichere Inquisition verging.
Bevor ich zu diesem Essen aufbrach, legte ich Istvan, der noch immer auf meiner Couch schlief, noch eine Decke über. Seit wir von meinem Vorstellungsbesuch bei dem Valentin Rudel zurückgekommen waren, schlief er derart tief und fest, dass es mir unmöglich war, ihn zu wecken. Da erst wurde mir bewusst, dass er ein ungeheures Schlafdefizit gehabt haben musste. Erneut flammten die Schuldgefühle in mir auf und ich war froh, das Essen mit meiner Familie als Ausrede zur Verfügung zu haben. Denn so konnte ich ihn richtig ausschlafen lassen und mich gleichzeitig davon abhalten, ihn die ganze Zeit dabei zu beobachten.
Erst lange nach meiner Rückkehr vom Willkommensessen wachte Istvan auf. Draußen begann es bereits zu dämmern. Mein kleiner Werwolf hatte ganze zwanzig Stunden durchgeschlafen. Es war fast sieben Uhr abends.
Ich kam gerade aus dem Bad und hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als ich die Tür öffnete und Istvan völlig unangemeldet im Türrahmen stand.
„Herrgott, musst du mich so erschrecken. Ich hatte fast einen Herzstillstand!“, stieß ich erschrocken hervor und hätte beinahe mein Handtuch verloren, das ich vor meiner Brust zusammenhielt.
„Ja, ich weiß, hab’s gehört“, beschwerte er sich verschlafen. Seine Augen waren noch klein und schwer und seine Stimme etwas belegt, leider auf eine sehr aufreizende Art und Weise. Ich versuchte vergeblich, es zu ignorieren.
„Verzeihst du mir?“, fragte er übertrieben ernst gespielt. Warum konnte sich dieser raue, reizende Ton in seiner Stimme nicht einfach auflösen? Es wäre besser so. Leichter.
„Natürlich“, stotterte ich fast.
„Schön“, meinte er abwesend, kam dann etwas näher und küsste mich sanft auf den Hals. Seine heißen Lippen berührten kaum meine Haut, aber plötzlich kam mir die Feuchtigkeit auf mir fast wie Dampf vor.
„Hmm, köstlich!“, kommentierte er dabei und fuhr mit seiner Zunge leicht über seine Unterlippe.
„Ich traue mich gar nicht zu fragen“, gestand ich kleinlaut. Ich brannte bereits vor Verlangen.
„Keine falsche Scham. Die Mischung aus Badewasser, Seife und Fruchtaroma steht dir ausgezeichnet, Pfirsich“, -säuselte er und grinste mich breit an. „Und es schmeckt auch herrlich an dir!“
Er benutzte wieder unseren kleinen, intimen Spitznamen für mich. Musste er es mir denn wirklich so schwer machen?
„Du hast offenbar nicht vor, mir die Abstinenz leicht zu machen, oder?“, wollte ich wissen, die Stirn angestrengt in Falten gelegt.
„Nicht mit Absicht, Pfadfinderehrenwort“, schwor er und schenkte mir abermals sein schiefes Grinsen. Verdammt, er würde es mir so richtig schwer machen.
Eigentlich wollte ich ihn nur kurz küssen, ließ es aber doch.
Ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich es dabei nicht bewenden lassen konnte. Also gab ich mich zähneknirschend damit zufrieden, ihm ein ebenso breites Lächeln zu schenken und ihn an derselben Halsstelle zu küssen, der er bei mir so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Ich konnte sein flaches Stöhnen hören. Sein Atem streifte meine Wange. Vernünftig sein, impfte ich mir eindringlich ein.
Das hier würde noch viel anstrengender und schwerer werden, als ich gedacht hatte, soviel stand fest. In dieser Nacht schlief Istvan in seinem Haus und beschäftigte sich mit Aufräumarbeiten, ich blieb in meinem Zimmer bei mir zu Hause.
Wäre er ein Vampir, hätte ich mich dick mit Knoblauchöl eingerieben, um uns so leichter voneinander fernhalten zu können. Leider war Istvan ein Werwolf und dafür gab es kein Abwehrmittel, schon gar nicht gegen seine magische Anziehungskraft. Alleine die Tatsache, ihn auf meiner Couch liegen zu wissen, war schon zu verführerisch und stellte ein ungeheures Risiko dar. An Entsagung war nicht zu denken, wenn ich ihn dabei beobachten könnte, wie sich seine Brust so dich neben mir heben und senken würde.
Anstatt die folgenden Nächte weiterhin mit Foltern dieser Art zu verbringen, besuchten wir gemeinsam und auffällig oft die Jagdvilla der Valentins. Ablenkung war die einzige Waffe. Und es gab ja noch so viel, was ich nicht über sie wusste, und soviel, was ich Valentin fragen wollte.
Bereits bei meinem zweiten Besuch empfingen sie mich mit offenen Armen. Es war nur lästig, immer getrennt zu den Valentins zu fahren, aber in Sachen Geheimhaltung hatte ich einiges gutzumachen. Alle schienen immer überaus erfreut, uns zu sehen.
Obwohl sie mich kaum kannten, waren sie derart gastfreundlich und interessant, dass ich die Tatsache vollkommen vergaß, dass ich es hier mit vier Wolfsmenschen zu tun hatte. Na ja, meistens jedenfalls.
Es gab kleine Anzeichen, die mich dann doch immer wieder mit der Nase darauf stoßen ließen. So gab es praktisch keine Privatgespräche. Jeder wusste alles über den anderen. Daran musste man sich erst gewöhnen. Manchmal antwortete Marius auf eine Frage, die Woltan ein Stock höher gestellt hatte, und umgekehrt. Der einzige Ort, an dem es teilweise möglich war, sich unter vier Augen zu unterhalten, war der Balkon. Er lag in einer Windschneise und verwehte die Schallwellen der Stimmen. Wenn man nicht allzu laut sprach, ging es.
Seltsamerweise hielt sich der gewandte Valentin dort am meisten auf. Er hatte bestimmt gute Gründe dafür. Vermutlich gab es unzählige Geheimnisse, die dieser faszinierende Rumäne hüten musste. Die Aura der Weisheit und der Verantwortung umgab diesen Mann wie Istvan seine Traurigkeit, Stärke und Anmut. Sie waren sich beide so ähnlich und doch gab es auffällig viele Unterschiede.
Je länger ich mit Valentin zusammen war, desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck. Besonders wenn ich alleine mit ihm sprach.
Das erste Mal, als das geschah, brannte sich mir tief ins Gedächtnis ein. Wir waren bei den Valentins. Nach dem Abendessen, das Woltan zubereitet hatte – er stellte sich als hervorragender Koch heraus – bestand Marius unbedingt auf einer Partie Poker. Dieser Werwolf litt also nicht nur an einem Wettproblem, sondern war zu allem Überfluss auch noch spielsüchtig. Ich verstand absolut nichts von diesem komplizierten Kartenspiel, schon gar nichts von der ausgeklügelten Variante, die sie wählten. Valentin entschuldigte sich. Er wollte noch eine Holzschnitzerei fertig machen und ging dazu auf den Balkon.
Marius begann mit dem Aufbau, während Woltan, Sera-fina und Istvan sich auf ihre Plätze setzten. Marius, der etwas kleiner war als der Rest der Valentins und daher etwas stämmiger wirkte, schlug die Pokervariante vor: „Texas Hold’em“. Danach stritten sie um das Ausmaß der Grundeinsätze, soviel verstand ich. Doch als sie die erste Runde zu Ende gespielt hatten, war mir klar, dass ich dieses Spiel wohl nie kapieren würde und auch nicht gerade scharf darauf war. Istvan schien seinen Spaß zu haben, auch wenn Marius derjenige war, der voll in seinem Element zu sein schien.
„Ich werde Valentin Gesellschaft leisten. Anscheinend tauge ich nicht zur Poker-Tischdame!“, ließ ich ihn wissen und entfernte mich aus der Küche. Istvan nickte und küsste mich kurz auf die Wange, dann zog ich mir die Jacke an und folgte Valentin auf die Holzveranda.
Eine leichte Brise wehte, aber es war nicht besonders kühl. Valentin saß auf einem reich verzierten Schaukelstuhl und schnitzte gekonnte an einem Stück Holz herum, dessen eine Seite schon fast wie ein Reh aussah. Ihm gegenüber setzte ich mich auf die breite Brüstung. Sie war bequem genug, damit man sich darauf lehnen konnte. Er lächelte sanft und konzentriert, dann sah er zu mir hoch. Ich lächelte wie von selbst zurück.
„Du kannst also nichts mit Poker anfangen?“, fragte er, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
„Sieht ganz so aus“, bestätigte ich ihm und wartet ab, ob er wieder etwas zu sagen hatte, das nur für mich bestimmt war. Eigentlich rechnete ich sogar fest damit. Aus irgend-einem Grund vermutete ich sogar, dass Valentin gehofft hatte, ich würde auftauchen, um mit ihm zu reden oder ihm einfach nur zuzuhören.
„Wir werden bestimmt die Zeit rumkriegen. Du solltest von einer längeren Partie ausgehen. Marius ist so gut wie unschlagbar. Er versucht manchmal sogar zu betrügen, aber nur bei Menschen“, erzählte er beiläufig.
„Dann ist es ja gut, dass ich nicht mitspiele“, folgerte ich.
„Valentin, ich wollte dich etwas fragen. Es geht um das, was du mir gesagt hast, als ich letztens hier war“, begann ich und forschte seine Reaktion aus.
„Ja, ich weiß. Ich habe schon darauf gewartet“, antworte er gelassen und selbstsicher. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
„Du willst wissen, was ich gemeint habe, als ich dir sagte, dass Istvan noch akzeptieren muss, wer oder was er ist“, stellte er klar. „Ich möchte es verstehen. Ich muss sogar!“, stieß ich aufgebracht hervor und lehnte mich weiter nach vorne.
„Ich weiß nicht, ob du das kannst. Aber nach allem, was du bereits schon gesehen hast. Vielleicht ist es genug“, wägte er ab und kräuselte seine Lippen.
„Stell dir vor, du wärst ein Kriegsheimkehrer und hättest schlimme Narben davongetragen. Früher oder später musst du eine Entscheidung treffen, bewusst oder unbewusst. Entweder du lässt dich von deinen Narben tragen und beginnst dich über sie zu definieren oder du selbst trägst die Narben und versuchst dazu zu stehen, ohne jedoch von ihnen beherrscht zu werden, so gut du kannst … Istvan und ich sind uns sehr ähnlich, aber in diesem entscheidenden Punkt unterscheiden wir uns sehr. Ich habe meine Wahl getroffen, habe akzeptiert, was aus mir geworden ist. Aber Istvan …“
„… lässt zu, dass seine Narben verhindern, dass er sich selbst klar sieht, so wie er ist“, beendete ich seinen Satz für ihn, denn ich verstand, was er mir klarmachen wollte. Ich verschränkte frustriert die Arme vor der Brust und setzte mich an Valentins Seite. Auf der Holzbank sackte ich zusammen und ließ meinen Kopf hängen.
Valentin sah meinen bekümmerten Zustand und wollte mir helfen. Er legte mir besänftigend seine Hand auf die Schulter und sprach mit mir in einem leisen, beruhigenden Ton.
„Joe, du hast ihn so verändert. Wäre Farkas nicht aufgetaucht, hätte er durch dich irgendwann begonnen, sich selbst anzunehmen, vielleicht hätte Istvan sogar Frieden mit seinem Wolfswesen geschlossen“, sagte er und wollte mich offensichtlich aufmuntern.
Er wollte Trost spenden und es wirkte. Vielleicht wäre es tatsächlich so gekommen. Aber Farkas, dieser Höllenvater, hatte diese Hoffnung zunichtegemacht. Dafür hasste ich ihn über alle Maßen. Ich biss fest die Zähne zusammen, um diese giftigen Gedanken zu verscheuchen.
„Und jetzt?“, fragte ich schwach und war ängstlich, wie ich Istvan das alles begreiflich machen sollte.
„Ich sage es dir nur ungern. Aber ich vermute, dass er noch nicht so weit ist. Er kann es, was immer es nun genau in seinem Fall ist, erst loswerden, wenn er sich selbst überwindet und sich akzeptiert, so wie er ist, ohne Ausflüchte“, gestand er und sah meine Enttäuschung. Sofort kamen mir die schrecklichsten Gedanken, die ich vor Valentin laut äußerte.
„Oh Gott! Was, wenn er das nicht kann? Wir könnten nie wieder richtig zusammen sein. Wie kriegen wir ihn nur dazu, dass er begreift, dass er es selbst in der Hand hat. Er ist so felsenfest davon überzeugt, dass es seine Pflicht ist, sich gegen seinen Wolf zu wehren. Er ist so verdammt stur in seiner Selbstverachtung“, stammelte ich und konnte die Tränen kaum noch zurückhalten.
Valentin reichte mir sofort sein Stofftaschentuch mit dem scharlachroten V-Monogram. Es war so schön, dass ich es kaum wagte, es mit meinen Tränen zu beschmutzen. Aber ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass Istvan die Tränenspuren an mir sah, also wischte ich sie ab.
„Joe, jetzt nur nicht den Mut verlieren. Du warst bisher so tapfer. Unterschätze deine eigenen Instinkte nicht!“, ermahnt er mich. „Schließlich wusstest du auch, dass du zuerst gehen, ihn richtig erschüttern musstest, damit er sich wieder besinnt. Du verstehst ihn instinktiv. Das wird euch helfen. Auch wenn ich nicht weiß, wie du das anstellst“, sagte er und lächelte mich schwach an.
Ich schniefte und dachte sorgfältig über Valentins Worte nach. Es war gar kein Instinkt gewesen, der mich letzten Endes überzeugt hatte zu gehen. Vielmehr hatte ich auf einen verstörenden Traum und seine Botschaft vertraut, die ich auch jetzt nicht ignorieren konnte. Vielleicht sollte ich Valentin davon erzählen, damit er einen exakteren Überblick über die Dinge bekäme. Nur so konnte er mir helfen.
„Valentin“, sagte ich und versicherte mir somit seine volle Aufmerksamkeit.
„Hat Istvan dir eigentlich von meinem Traum erzählt? Er erzählt dir doch alles, deshalb dachte ich …“, deute ich an.
„Ja. Er meinte, du hättest ihn im Traum dasselbe sagen hören, was er tatsächlich gesagt hat. Ich fand es sehr interessant“, murmelte er unbestimmt.
„Es gab da noch einen Traum dieser Art. Er hat mir wirklich Angst gemacht. Ich hatte zwar schon vorher einen Traum von dieser Frau, aber erst in dieser Version erkannte ich, dass sie ich war, und dieser Traum und seine verstörenden Bilder brachten mich dazu zu gehen. Es war unheimlich, wie die Bilder meines Traums ihre Entsprechungen in der Wirklichkeit bekamen. Tut mir leid, aber besser kann ich es nicht erklären“, entschuldigte ich mich für meine wenig exakten Ausführungen. Aber einem anderen einen sehr persönlichen Traum zu erzählen, war nicht gerade leicht.
Valentin hörte mir aufmerksam zu, aber er antwortete mir nicht gleich. Er starrte vor sich hin und schien an irgendetwas Bestimmtes zu denken. Sein Schweigen dauerte lange genug, um mich zu beunruhigen.
„Interessant, interessant“, wiederholte er mehrmals. Sein Kopf nickte schwach und abwesend. Woran dachte er nur? Sein gleichmäßiges Profil wirkte auf einmal fremd und zum ersten Mal empfand ich Valentin als seltsam.
„Bitte, sei ehrlich!“, verlangte ich sanft. „Was hältst du wirklich davon?“
Plötzlich kam ich mir vor, als hätte ich eine Sitzung bei einem rumänischen Therapeuten, der noch nicht auf die passende Diagnose gekommen war.
„Es könnte sein … so etwas kommt vor … nicht oft … es ist zwar selten, aber …“, brummte er weiter vor sich hin und machte mich mit seinen abgehackten Andeutungen ganz nervös.
„Joe, kann es sein, dass du eine prophetische Traumgabe besitzt?“, fragte er mich sehr ernst. Seine dunklen Augen durchbohren mich.
„Was?“, stöhnte ich fassungslos. „Wovon sprichst du? Was? Fragst du mich das im Ernst?“, fuhr ich ihn entrüstet an.
Wovon zum Teufel sprach er da? War er verrückt geworden? Hatte er vergessen, dass ich nur ein Mensch war? Ich hatte plötzlich das Gefühl, keinen festen Boden unter meinen Füßen zu spüren.
„Ich meine es sehr ernst“, warnte er mich vor. „Hattest du schon früher solche Träume?“, wollte er von mir wissen und hörte nicht damit auf, mich mit wissendem Blicken zu mustern.
„Nein. Die Träume fingen erst an, nachdem ich mit Istvan zusammengekommen war. Ich glaub, den ersten Traum hatte ich, als er mir eines seiner Gedichte vorlas. Ich träumte immer wieder von der Frau aus dem Gedicht und erst in der Nacht, bevor ich gegangen bin, veränderte sich der Traum gravierend“, stotterte ich haltlos vor mich hin.
„Dann muss es an euch liegen, an eurer Verbindung. Womöglich hättest du nie von deiner Gabe erfahren, wenn Istvan dich nicht wiedergefunden hätte“, theoretisierte er vor sich hin.
„Gabe?“, sfragte ich erstaunt und das Wort kam mir so absonderlich vor. Ich konnte es nicht mit mir in Verbindung bringen, ohne dass ich mir wie ein Sonderling vorkam. Ein selt-sames Gefühl.
„Na ja, wie soll man es sonst nennen. Ich weiß nicht viel darüber. In meinem langen Leben bin ich selbst nur zweimal auf Frauen gestoßen, die diese Begabung besessen haben. Aber bei ihnen war sie sehr deutlich ausgeprägt. Wahre prophetische Traumbegabungen sind äußerst selten, weißt du“, meint er.
„Wer waren sie, diese Frauen?“, wollte ich wissen. Plötzlich war ich sehr interessiert an seinen Informationen, mehr als ohnehin schon.
„Die erste Frau war eine Sioux-Indianerin. Sie war die Frau eines Schamanen und konnte ihre Gabe bewusst steuern. In ihrem Volk galt sie sogar als beseelt, heilig. Sie erzeugte die Träume bewusst, indem sie sich in Trance versetzte. Es war nicht immer ganz klar, was ihr die Traumbilder zeigten, aber auch wenn es ihr nicht gelang, sie zu deuten, traf immer ein, was sie gesehen hatte. Auf die eine oder andere Art. Viele Jahrzehnte später lebte ich in einem ungarischen Dorf. Dort hatten sich viele Zigeuner niedergelassen. Eine von ihnen, ein junges Mädchen, behauptete, geträumt zu haben, dass ein großes -Feuer kommen würde. Eine Woche später brannte die halbe Siedlung am Rand des Dorfes ab. Ich half ihnen dabei, alles wieder aufzubauen, und unterhielt mich mit dem Mädchen über ihre Träume. Sie erzählte mir, dass sie immer wieder seltsame Bildern heimsuchen, die sich deutlich von normalen Traumbildern unterscheiden. Sie konnte sie nicht immer verstehen, aber sie kamen in unregelmäßigen Abständen zu ihr.“
„Was ist der Auslöser?“, fragte ich aufgeregt.
„Das weiß niemand. Die Großmutter des Zigeunermädchens behauptete, dass es in der Familie liege. Die Indianer sind davon überzeugt, dass jeder die Traumwelt bereisen kann, um Antworten zu finden. Ich glaube, dass es in deinem Fall nicht sehr ausgeprägt ist. Die Verbindung mit Istvan muss eine Art Auslöser bei dir sein und vermutlich siehst bzw. träumst du auch nur Dinge, die unmittelbar für euch bestimmt sind“, deutete er nachdenklich an.
„Ich kann das nicht glauben. Wieso sollte ausgerechnet ich so etwas können?“, sagte ich ungläubig.
„Wieso hast ausgerechnet du dich in einen Werwolf verliebt? Wieso hast du keine Angst vor uns? Und wieso triffst du wichtige Entscheidungen in deinem Leben auf der Grundlage von Träumen?“, entgegnete Valentin geheimnisvoll.
„Hm“, war das Einzige, was ich drauf zu sagen wusste.
„Und was mache ich jetzt?“, fragte ich ihn ratlos.
„Nichts. Du kannst es nicht erzwingen. Wenn du einen weiteren Traum hast, erzähl ihn Istvan oder mir. Vielleicht können wir ihn zusammen verstehen, ihn entschlüsseln. Womöglich hilft es sogar“, hoffte Valentin. Sein Optimismus war mir ein Rätsel.
Ich atmete erschöpft aus und hatte das Gefühl als -schwirre mir der Kopf zu heftig, als dass ich weiterhin darüber nachdenken könnte.
„Tut mir leid, dass ich dir dabei keine große Hilfe bin. Aber ich habe einen anderen Rat für dich, auch wenn er dir wahrscheinlich nicht gefällt“, deute er kryptisch an. Ich wusste nicht, ob ich noch mehr aushalten konnte. Aber wenn nur die -mindeste Chance bestand, dass es die Situation zwischen mir und Istvan verbessern konnte, würde ich stark genug dafür sein Traum-was-auch-immer hin oder her.
„Okay. Ich höre“, sagte ich im überzeugendsten Tonfall, den ich unter diesen Umständen hinbekam.
„Istvan wird erst soweit sein, bereit sein, sich seinem Monster zu stellen, wenn er völlig frustriert ist. Deinetwegen, meine ich“, versuchte er beschönigend anzuspielen.
„Wie meinst du das?“, fragte ich verwirrt nach. Der merkwürdige Tonfall seine Samtstimme gefiel mir nicht. Er bewirkte, dass ich mich irgendwie peinlich berührt fühlte.
„Wenn ihr zu sehr zusammen seid und diese Dunkle Seite seines Wolfswesens ausbricht, dann würde ihn das fürchterlich erschrecken, aber auch unglaublich motivieren.“
Ich konnte es nicht leiden, dass er in schwammigen Andeutungen sprach. Ich wollte Klartext, brauchte das sogar. Auch wenn es unglaublich peinlich sein würde.
„Jetzt mal Klartext. Verlangst du von mir, absichtlich zu weit zu gehen, um zu testen, ob es dabei zum Vorschein kommt“, stieß ich skeptisch hervor. Ich traute meinen eigenen Ohren nicht.
„Ich würde das nie von dir verlangen. Es ist gefährlich und eigentlich gegen Regeln, die ich selbst aufgestellt habe. Aber wenn du so kühn bist, wie ich vermute, wärst du ohnehin irgendwann selbst auf die Idee gekommen, oder?“
Ich dachte darüber nach. Er hatte recht. Ich hatte keine Geduld und hätte irgendwann die Dinge überstürzt. Ich musste nur an den Vorfall vor dem Badezimmer denken. Er lag nur wenige Tage zurück, aber ich musste mich dabei unglaublich zusammennehmen, um nicht etwas Unbesonnenes zu tun, um ihn nicht zu küssen.
Valentin konnte anscheinend durch mich hindurchsehen wie durch Glas. Jetzt verstand ich auch, was Istvan damit meinte, dass Valentin einem manchmal das Gefühl geben konnte, einen besser zu kennen als man sich selbst.
„Du hast ja recht. Ich hätte es vermutlich getan, eigentlich ziemlich sicher, wenn ich ganz ehrlich bin. Aber ich bin dabei nicht das Hauptproblem. Es gibt immer zwei Menschen, die dazu notwendig sind. Und Nummer zwei ist ein überbesorgter, vorsichtiger Beschützertyp, der mich niemals absichtlich in Gefahr bringen würde“, erinnerte ich ihn.
„Das stimmt zwar, aber, Joe, mal ehrlich: Konnte Istvan dir je widerstehen?“, fragte er mich mit hochgezogener Augenbraue. Ich hätte ihm zu gerne mit Nein geantwortet. Aber das wäre eine Lüge gewesen. Er konnte mir widerstehen, zu meinem eigenen Besten. Diese harte Lektion hatte ich in den Wochen vor meiner Abreise nur allzu deutlich gelernt. Ich musste Valentin daran erinnern, auch wenn ich es nur ungern zugab. Diese Art von Gesprächen führe ich nicht mal mit Carla, ging es mir durch den Kopf, bevor ich ihm antwortete.
„Doch, er konnte mir widerstehen. Ich erinnere mich nur ungern daran“. Es tat weh. Meine letzten Worte konnten die Traurigkeit kaum verbergen, die hinter diesem Geständnis standen.
„Joe, das waren ganz andere Umstände. Ich bin erstaunt, dass du den Unterschied nicht bemerkst. Er kann sich, wenn ihr zusammen in einem Raum seid, kaum von dir lösen. Denkst du, wir hätten nicht alle bemerkt, wie ihr euch hier extra zusammennehmen müsst. Wir sind nicht blind, Liebes“, schnaufte er lachend.
Ich wurde sofort rot. Es war so demütigend. Wir täuschten niemanden, schon gar nicht die Valentins. Wie blind mussten die anderen Dorfbewohner sein, um immer wieder auf unsere Charade hereinzufallen. Aber es war gut so, für uns alle.
„Ich weiß schon, was du meinst, aber er ist sehr vorsichtig. Es wird eine Weile dauern, bis ich ihn endgültig überzeugen kann, wieder …“, meint ich und versuchte das Ende meines Satzes mit den Augen zu vermitteln, damit ich es nicht aussprechen musste. Ich kam mir schon beschämt genug vor.
Valentin nickte heftig und ließ es damit gut sein. Ich seufzte laut, als mir klar wurde, dass dieses seltsame Gespräch endlich zu Ende war. Valentin war, das wurde mir nun in aller Deutlichkeit bewusst, ebenfalls kein Mann für Small Talk. Unter anderen Umständen hätte ich das sehr sympathisch gefunden, aber in dieser Nacht war alles zu anstrengend dafür gewesen.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens wollte ich Valentin noch einmal nach meiner angeblichen Traumgabe befragen, aber Woltans Auftauchen hielt mich davon ab. Ich wollte mich vor Woltan, einem Werwolf, nicht als Freak outen. Offenbar war ich tatsächlich etwas falsch gestrickt.
Woltan setzte sich zu mir auf die Bank und wirkte sehr müde und ganz schön fertig.
„Alles in Ordnung?“, wollte ich wissen.
„Nicht wirklich“, sagte er mit geschlossenen Augen. Den Kopf tief in den Nacken gelegt, sagte er: „Dein feiner Freund und dieser ausgefuchste Marius haben mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Wieso falle ich immer darauf rein?!“, schalt er sich selbst aus.
Istvan hatte sich also ganz gut geschlagen. Marius hatte, wie nicht anders zu erwarten, abgesahnt. Serafina war ausgestiegen, als sie begann, zu viel zu verlieren. Anscheinend kam beim Poker immer ein wenig von den Charaktereigenschaften einzelner Spieler zum Vorschein. So ging Woltan Risiken ein, während Serafina immer auf Nummer sicher ging, genau wie in ihrem Liebesleben. Marius spielte so lange, bis er als Sieger vom Tisch gehen konnte. Und Istvan? Er hielt solange durch, wie er konnte. Wie eine heiße Katze auf einem Blechdach kam er mir dabei vor. Vielleicht war das mein Zeichen.
Nach ein paar Minuten tauchten auch die anderen Valentins auf und wir saßen alle auf den Holzbänken, abgesehen von Valentin, der in seinem Schaukelstuhl seine Rehschnitzerei zu Ende brachte.
Es war schon fast Mitternacht und der volle Mond stand hoch.
Der volle Mond, wiederholte ich in Gedanken, bevor mir die Bedeutung klar wurde. Dann sprach ich es laut aus.
„Übermorgen ist Vollmond, oder?“, fragte ich in die Runde. Alle starrten mich an. Jeder Einzelne von ihnen belauerte meine Reaktion.
„Hey Leute, ich weiß schon, was das bedeutet“, scherzte ich übertrieben. Sie beruhigten sich etwas. Istvan setzte sich neben mich und tauschte dafür mit Woltan seinen Platz.
„Und du hast dir das wirklich gut überlegt?“, fragte er mich zum unzähligsten Mal.
„Ja. Ich möchte dabei sein. Natürlich nur, wenn ihr nichts dagegen habt?“, wollte ich von dem gesamten Rudel wissen. Sie sahen sich alle abschätzend an, dann nickte einer nach dem anderen: Valentin, Serafina, Woltan und Marius.
„Na, jetzt bekommst du was für Istvans Geld geboten“, feixte Marius und zwinkerte mir zu. Ich lächelte zurück und ignorierte den leisen, nervösen Krampf in der Magengegend.
Später in dieser Nacht beichtete ich Istvan von Valentins Vermutung, was meine Träume anging. Von seinen anderen Mutmaßungen sagte ich kein Wort.
Istvan bestätigte Valentins Verdacht und machte sich wieder einmal Selbstvorwürfe, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Sein Kommentar dazu war, wie nicht anders erwartet:
„Siehst du! Ich habe dir immer gesagt, dass du etwas Besonderes bist.“
„Aha. Ich bin also etwas Besonderes, weil ich alle heiligen Zeiten merkwürdige, beinahe-prophetische Träume habe, aber du, der sich bei Vollmond in einen Wolf verwandeln kann, bist verflucht. Kommt dir das nicht selbst irgendwie heuchlerisch vor. Du misst mit zweierlei Maß“, beschwerte ich mich heftig. Er ging nicht darauf ein.
„Das ist etwas anderes. Du bist dennoch ein normaler Mensch“, meint er fast schon nervig herablassend.
„Aber ein ganz besonderes Mädchen“, flüsterte er und versuchte mit Flirten meinen Einwand zu überspielen. Istvan kam zu mir und setzte sich auf sein Bett, in dem ich auf der Decke lag.
„Genau genommen bin ich eine Frau“, erinnerte ich Istvan und kam näher an ihn heran.
„Als könnte ich das vergessen!“, murmelte er mit aufgerissenen Augen und ließ seinen Blick kurz über meinen Körper schweifen.
Es kribbelte überall auf mir. Ich musste mich mehrmals ermahnen: Falscher Zeitpunkt!
„Also morgen“, bemerkte ich beiläufig und legte den Kopf zurück.
„Ja, morgen. Ich bin gespannt, ob du endlich einmal Angst bekommst. Ich mache mir schon Sorgen, dass deine Angst-reaktion falsch gepolt ist“, sagte er spielerisch.
„Mit mir ist alles in Ordnung“, gab ich zurück. „Ich sehe nur die Dinge etwas anders. So, wie sie wirklich sind, nicht so, wie sie mir erscheinen.“ Istvan verstand sofort, dass ich eine Anspielung darauf gemacht hatte, dass er die Dinge aus seinem eingeschränkten Blickwinkel sah. Aber er reagierte nicht darauf. Aus irgendeinem Grund hätte ich mich deswegen gerne mit ihm gestritten. Es würde es leichter machen, nicht darüber nachzudenken, wieso wir bald im selben Bett schlafen würden, aber nicht miteinander.
Aber dann sah ich Istvans müden Blick und zähmte meine künstliche Streitlust.
Istvan zog sich aus und kam dann ins Bett. Er legte seinen Kopf neben meinem aufs Kissen, dann fragte er:
„Und ich soll nicht doch auf der Couch schlafen?“
„Untersteh dich!“, warnte ich ihn eindringlich und legte seine Hand in meine, bevor ich die Augen schloss und einschlief. Leider gelang es mir nicht, besonders tief zu schlafen, weil ich immer wieder fürchtete zu träumen. Ich sorgte mich umsonst. Ich träumte gar nichts, nicht einmal diese ausdruckslosen Bilder, die lediglich halfen, den vergangenen Tag zu verarbeiteten.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag Istvans Hand noch immer kraftlos in meiner, doch seine Haut war bereits glühend heiß. Die erste Vollmondnacht stand bevor. Sein Körper begann sich bereits auf die Verwandlung vorzubereiten. Ich hoffte für ihn, dass es jetzt, wo die Valentins dabei sein würden, für Istvan nicht mehr so schmerzhaft sein würde.
Eine aufregende Nacht stand bevor, doch zuvor musste Istvan den Tag in der Bibliothek hinter sich bringen. Ich hatte drei verschiedene Aufträge. So hatten wir beide bis zum Nachmittag genug zu tun, um nicht allzu viel über diese besondere Nacht nachzudenken. Am Vormittag brachte ich eine langatmige Sitzung hinter mich, deren Themen ich in der Redaktion zusammenfasste. Danach musste ich einige Fotos für die Warter-Schule schießen. Den Rest des Tages feilte ich an einer ausführlichen Musikkritik über eine Soulband. Bis ich alles erledigt hatte, war es fünf Uhr und ich schlenderte zu Fuß zur Bibliothek, um mich dort mit Istvan zu treffen, wie wir es verabredet hatten.
Er wirkte etwas nervös, hielt aber an seinem Versprechen fest, dass ich dabei sein durfte. Wir fuhren mit dem Camaro zum dritten Lager, das Istvan zusätzlich angelegt hatte, damit genug Vorräte für alle Valentins vorhanden waren. Es lag am untersten Nordhang, ganz in der Nähe von Lockenburg, und war etwas schwerer zu erreichen, da es hinter einem sehr verwilderten Waldstück lag. Den Wagen parkten wir beim Wolftanzlager. Dort versteckte Istvan den schwarzen Schlitten unter ein paar Zweigen, dann schlendert er mit mir die Abhänge hi-nunter. Ich hatte ihm vorher schon angekündigt, dass ich mich bestimmt nicht wieder von ihm tragen lassen würde. Deshalb mussten wir früh aufbrechen. Ich brauchte lange, um über den knackenden Waldboden zu gehen. Nach einer Ewigkeit, zumindest für Istvans Begriffe, kamen wir an. Die Valentins warteten bereits. Doch noch begann es nicht zu dämmern. Woltan und Serafina hatten das Zelt für mich schon aufgestellt. Das war sehr fürsorglich von ihnen, fand ich. Als ich den gedul-digen Blick von Valentin und Marius erkannte, war ich verdammt froh, dass ich nicht auf den Armen von Istvan hier aufgetaucht war. Das wäre einfach zu demütigend gewesen. Keiner von ihnen sollte mich als schwaches Menschlein sehen.
Ich setzte mich auf einen umgefallenen Baumstamm und wartete mit den anderen auf die eintretenden Verwandlungsschmerzen. Zu meiner Verwunderung wirkte keiner von ihnen, abgesehen von Istvan, besorgt. Die Dämmerung brach an und sofort bekam Istvan seine Migräne. Die anderen wirkten absolut schmerzfrei, auch wenn sie mitleidig Istvans Qual verfolgten. Als das Fieber bei ihm ausbrach, bemerkte ich auch auf Serafina die Schweißperlen. Während Istvan deswegen zitterte, schienen die anderen nur etwas schwächer zu werden und sie begannen sich zu setzen.
Es war schon fast ganz dunkel, als die Zuckungen bei Istvan einsetzten. Schneller als sonst verhärteten sich seine Muskeln. Alle vier Valentins stürzten zusammen und bildeten einen lockeren Kreis. Während Istvans Muskeln sich Partie für Partie härteten und dann erst die eigentliche Verwandlung über ihn kam, ging es beim Valentin Rudel so schnell und fließend, dass ich es fast nicht richtig mitbekam. Die Phasen der Verwandlung waren jedoch bei Istvan einzeln sichtbar und sein Schmerz dabei traf mich jedes Mal unvorbereitet. Bei den Valentins waren keine einzelnen Phasen mehr erkennbar. Sie alle saßen in ihrer Runde und krümmten sich in die Fötalposition, in der sie schon nicht mehr vollkommen menschlich waren. Innerhalb weniger Sekunden waren ihre Körper geschrumpft und hatten die menschliche Form gegen eine wölfische getauscht. Direkt, nachdem die Verwandlung vollzogen war, kamen sie auf allen vieren zu Istvan, der sich noch immer auf dem Boden vor mir krümmte. Ich flehte inständig, dass er auch endlich den Punkt erreichen würde, bei dem er es hinter sich hatte. Als könne er meine Bitte hören, knackte sein Rückgrat, sein Fell sprang hervor und mein Wolf mit seinen Sandflecken stand vor mir. Ich blickte in seine grünen Augen. Dann versuchte ich, die Valentins in ihren Wolfsformen zu erkennen. Ich ordnete den größten Wolf Valentin zu. Er hatte schwarze und braune Flecken auf weißem Grund. Seine Augen wirkten auf mich sehr wissend. Die beiden Wölfe, die neben ihm standen, mussten die Zwillinge sein. Woltan war ein brauner Wolf mit sehr starken Muskeln und dennoch schlank und geschmeidig. Serafina hatte braunes und schwarzes Fell. Ihre Augen waren fast schwarz. Marius stand etwas abseits, war aber am leichtesten von den anderen zu unterscheiden, denn er war etwas breiter und fülliger. Sein Wolfsgesicht wirkte fast wie das Antlitz eines Schakals, ebenso sein brauner Körper.
Ich konnte förmlich die Spannung in der Luft spüren. Es drängte die Wölfe. Sie wurden ungeduldig. Der Ruf des Waldes und ihrer Instinkte tobte und zerrte merklich an ihnen. Sie konnten sich nicht lange zurückhalten und rannten in V-Formation in den Wald vor mir, Valentin an der Spitze. Istvan wartete. Ich bedeutete ihm, dass er den Valentins folgen sollte, doch er zögerte. Erst als ich mich zu ihm herabbückte, seine Schnauze in meiner Hand hielt und fest in seine irisierend grünen Augen sah, verstand er, dass ich es ehrlich meinte. Er stieß einen kehligen Laut aus, als wollte er mir sagen: „Ich vermisse dich schon jetzt“, dann folgte er der Spur des Rudels. Ich hörte seine leisen Pfoten auf dem Unterholz, bevor er ganz verschwunden war. Ganz alleine war es mir zu unheimlich draußen und ich schlüpfte in das warme Zelt. Sobald ich in den dicken Schlafsack eingewickelt war, bemerkte ich meine Müdigkeit. Aber es gelang mir die ganze Nacht nicht zu schlafen. Das lag aber nicht an den lang gezogenen Wolfsgeheul, das immer mal wieder zu hören war, sondern daran, dass ich einfach keine Ruhe fand. Daran war nicht zu denken, bis ich nicht wissen würde, dass er sicher zurück war.
Zum Glück kam jeder der Valentins am nächsten Morgen angezogen zum Lager. Es wäre der Gipfel der Peinlichkeit gewesen, hätte ich Marius nackt sehen müssen. Als Erster kam Istvan zurück, der nicht zufrieden war, mich bereits wach vorzufinden. Danach traf das Rudel zusammen ein, wobei sie wieder Menschen waren, so, als wäre die letzte Nacht nie passiert.
„Also waren wir wohl nicht besonders erschreckend?“, beschwerte sich Marius, als er sah, dass ich noch im Lager war.
Ich schüttelte über seine Bemerkung grinsend den Kopf. Danach brachte mich Istvan nach Hause, wo ich den versäumten Schlaf nachholte, während er die Bibliothek öffnete.
Ich beschloss zu Istvans Zufriedenheit, den beiden weiteren Verwandlungen nicht beizuwohnen, da ich in den Folge-tagen immer Frühtermine für das Lokalblatt hatte, die sich nicht verschieben ließen.
Der Vollmondzyklus des Mai ging also ohne Vorfälle zu Ende. Das Einzige, was sich im Hause Valentin nach der letzten Vollmondnacht veränderte, war der unerwartete Besuch von Woltans Verlobter Miriam, die die ständige Trennung von ihrem Zukünftigen nicht mehr aushielt und deshalb aus Deutschland angereist war. Ich war sehr gespannt, sie zu treffen. Immerhin hatten wir eine auffällige Gemeinsamkeit.