27. Licht und Schatten
 
 
Ein breiter Sonnenstrahl überflutete die Küche, nicht zu übersehen, selbst für Anfang September. Jeder andere würde ihn mit offenen Armen empfangen. Ich wünschte ihn zur Hölle, weil er nur eines bedeuten konnte: Dass wir jetzt ohne weitere Verzögerung das Zeltlager im Wald aufschlagen würden, direkt beim Tunnelzugang, um diesen strategischen Vorteil für Farkas nutzlos zu machen. Kurz gesagt, es wurde ernst. Und alleine die Vorstellung jagte mir blanke Angst ein. Ich stand noch immer am Küchenfenster in der breiten Lichtschneise, zusammen mit Abertausenden von Staubpartikeln, die um mich herumwirbelten, während hinter mir hektischer Betrieb herrschte. Taschen wurden gepackt, Vorräte zusammengetragen, Zelte verschnürt und andere Dinge wurden so an mir vorbeigeschmuggelt, dass ich sie nicht allzu lange ausspionieren konnte. Normalerweise hätte ich mich dieser umtriebigen Hast angeschlossen, um nicht nachdenken zu müssen. Aber etwas hielt mich hier fest, ließ nicht zu, dass ich mich daran beteiligte, einen Kampf vorzubereiten, der Istvans Leben ernsthaft in Gefahr brachte und auch das aller anderen bedrohte, die für mich zu Freunden geworden waren. Ich hörte leise, vorsichtige Fußtritte, die auf mich zukamen, aber ich drehte mich nicht um, denn ich wusste auch so, wer es war.
„Du bist so still und nachdenklich“, murmelte er in meinem Rücken, ohne mich zu berühren. Ich schloss die Augen, versuchte die Worte zu ignorieren, damit nur Istvans Stimme übrig blieb.
„Ich komme gleich und helfe euch“, wich ich aus. Er kam noch einen Schritt näher, bis er meinen Rücken streifte. Sofort sandte er einen kribbelnden Schauer über meinen gesamten Körper. Ich presste meine geschlossenen Lider noch fester zusammen.
„Musst du nicht. Wir sind so gut wie fertig. Kann ich irgendetwas tun, damit du dich besser fühlst?“, fragte er mich geduldig.
„Ändere den Lauf der Welt! Schwör mir, dass alles gut wird und nichts schiefgeht!“ Ich redete dummes Zeug, das wusste ich, aber genau das wünschte ich mir, auch wenn es sinnlos war. Er atmete schwer aus und legte sein Kinn auf meiner Schulter ab.
„Könnte ich es, würde ich es für dich tun … aber ich werde dich nicht belügen“, flüsterte er mir ausweichend ins Ohr. Leider wusste ich genau, was es wirklich bedeutete: Ich weiß nicht, ob wir alle überleben. Ich weiß nicht, wie es ausgehen wird. Ich hoffe bloß, dass alles gut wird. Aber so etwas würde Istvan nie zu mir sagen.
Ich merkte, wie er sich anspannte. „Aber etwas anderes kann ich dir versprechen … dir wird nichts geschehen! Nicht, solange noch ein Funken Leben in mir steckt!“
Ich wandte mich ruckartig um und sah in seine grünen Augen. Sie blickten fest entschlossen und waren unergründlich. Eine Panikwelle wallte in mir hoch, aber nicht, weil mir etwas zustoßen könnte, sondern weil er derart gleichgültig über sein eigenes Leben sprach, das jagte mir eine Scheißangst ein. Deshalb sagte ich ihm die Wahrheit. „Genau das ist es, wovor ich davonlaufen möchte. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass dir etwas passiert … vor allem, wenn es meinetwegen ist“, gestand ich ihm stockend und ließ meinen Kopf auf seine Schulter fallen. Ich fühlte mich irgendwie besiegt. Das gefiel mir gar nicht und ich konnte nicht damit aufhören, weiterzubrabbeln, obwohl ich all die Dinge gar nicht laut äußern wollte. Sie sollten lieber dort bleiben, wo sie herkamen, tief in meinem Inneren.
„Und dann … ich habe diese Träume nicht mehr und keine Ahnung, wieso. Was kann das bedeuten? Nein! Ich will es lieber nicht wissen. Ich will nicht darüber nachdenken!“, stammelte ich gebrochen. War ich dabei durchzudrehen? Er ließ mich einfach reden. Meine dummen Sorgen wurden von seiner Brust verschluckt, leider nicht ganz. Er legte mir beruhigend die Hand auf den Kopf. „Lass es raus!“, befahl er mir sanft. Aber ich wollte nicht und schüttelte heftig den Kopf. Sein warmes Baumwoll-T-Shirt rieb über meine Wange. „Nein, ich will nicht!“, flüsterte ich störrisch und spannte alle meine Muskeln an.
„Tut mir leid. Es ist schon vorbei. Kurzer Aussetzer“, entschuldigte ich mich knapp und fuhr mir fahrig mit der Innenhand über die trockenen Augen. Wenigstens etwas Würde hatte ich mir bewahrt.
„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin doch auch kurz vorm Ausflippen. Vor einer Stunde habe ich ernsthaft drüber nachgedacht, dich in ein Flugzeug zu setzen. Leider kenne ich dich zu gut, um mir selbst einreden zu können, dass du dabei jemals mitmachen würdest.“ Istvan versuchte ein Lächeln, das sehr verkrampft aussah. Ich lachte angespannt, weil er mich vollkommen richtig eingeschätzt hatte. Er hätte mich betäuben müssen. Mindestens! Mit meinen Augen zwang ich ihn, mich weiter anzusehen.
„Mach dir meinetwegen keine Sorgen! Ich bleibe im Lager, wie abgemacht, und werde in der Nähe meines Bewachers bleiben, wie du wolltest“, versicherte ich ihm nochmals. Er nickte dankbar. Nachdem ich mir meine Tasche vom Küchentisch umgehängt hatte, nahm ich seine Hand. „Dann lass uns mal gehen!“
„Sicher?“, fragte er mit geneigtem Kopf nach. Anstatt zu antworten, zog ich ihn weiter. Auch ich wollte ihn nicht belügen, denn sicher war ich mir bei so gut wie nichts mehr. Außer bei ihm.
Das Lager war schneller errichtet, als ich gedacht hatte. Vier Zelte, eine Feuerstelle und mehrere Versorgungskisten. Die Zeltaufteilung lag auf der Hand. Valentin teilte sich den Unterschlupf mit Woltan, Jakov mit Serafina und Istvan mit mir. Das letzte Zelt war für Marius gedacht, der sich womöglich mit -Petre und Radu den Platz teilen musste. Wenigstens war ich jetzt eine kleine Hilfe. Dank Serafinas Unterweisungen konnte ich die Zelte vertäuen und aneinander binden. Auf diese Weise bildete sich ein Kreis aus einem Strick, der etwas über den Boden liegend als Vorwarnsystem diente. Wenn jemand an das Seil stieß, Gegner oder nicht, bewegten sich alle Zeltwände. Der Ort war derart abgelegen, dass wir trotz Sonnenschein und beginnendem Abend nicht befürchten mussten, dass Wanderer oder sonst jemand mitbekam, dass wir unerlaubt hier campierten. Auch wenn das die unglaublichste Verharmlosung aller Zeiten war. Valentin hatte sich ein Satellitentelefon besorgt, damit er trotz miserablen Handyempfangs ständig mit Petre und Radu in Kontakt bleiben konnte. Sie hatten das Farkas-Rudel aufgespürt und überwachten seither jede seiner Bewegungen. Als das letzte Zelt stand, kam schon der nächste Anruf.
„Ja?“, meldete Valentin sich knapp. Eine unerträglich lange Pause folgte. Dann … „Verstehe … mhmm. Das habe ich befürchtet. Dann geht es bald los. Haltet euch bereit. Bis dann.“ Istvan und ich standen wie angewurzelt vor der Feuerstelle mit den drei halbierten Baumstämmen, auf die man sich setzen konnte. Valentin ließ sich darauf nieder und alle kamen he-ran, als wüssten sie, dass genau das von ihnen erwartet wurde. Istvan zog mich herab. Ich ließ es geschehen und fixierte Valentin. Er blickte forschend in die Runde.
„Das Rudel setzt sich in Bewegung. Er bringt sie alle mit. Gut daran: Sie sind teilweise verstreut und es wird dauern, sie einzusammeln. Schlecht daran: Sie sind uns zahlenmäßig überlegen. Etwa zwölf oder vierzehn werden es sein. Radu und -Petre werden so lange zurückblieben, bis sie uns angreifen. Vielleicht unterschätzen sie uns und werden unvorsichtig. So oder so, sie werden frühestens morgen Nachmittag oder spätestens morgen Abend eintreffen.“
Sobald Valentin diesen Satz beendet hatte, hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so still wurde es. Jetzt gib es kein Zurück mehr, ging es mir gnadenlos durch den Kopf. Ich konnte spüren, dass Istvan mich mit einem verstohlenen Seitenblick musterte, also versuchte ich, möglichst unbeeindruckt auszusehen. Es gelang mir anscheinend, denn er verstärkte den lockeren Griff um meine Schulter nicht.
„Ich schlage vor, dass wir uns früh schlafen legen, denn vor uns liegen ein harter Tag und ein noch anstrengenderer Kampf“, meinte Jakov und sah fragend in die Runde. Anscheinend hatte ihn irgendjemand zu einer Art rechten Hand von Valentin erklärt, was mir wohl entgangen war. Für mich gab es andere Prioritäten. Sogar Woltan nickte zustimmend, was mich ähnlich überraschte, als hätte er plötzlich blondierte Haare. Es dämmerte noch nicht mal und wir hatten schon zu Abend gegessen. Die Stimmung war bedrückt und angespannt. Jakov und Serafina gingen eine Kampfstrategie nach der anderen durch, wobei sie ihre gestikulierenden Hände immer dazu benutzten, einander verstohlen zu berühren. Weil ich ihnen diese Zweisamkeit gönnen wollte, versuchte ich, sie nicht zu beobachten. Wer wusste schon, wie lange die Ruhe anhalten oder was morgen alles geschehen würde? Wieder schnürte sich mir die Brust zu, als ich die anderen ansah, die ebenfalls in der Mitte des Lagers saßen. Valentin, Marius und Woltan schienen erst unsere Aussichten abzuwägen, beschlossen dann aber die Anspannung durch eine Partie Poker abzubauen. Ich musste nicht fragen, wessen Vorschlag das gewesen war. Istvan saß mit mir auf einem großen, verrotteten Baumstumpf direkt vor unserem Zelt. Er musste keine Nachtwache übernehmen, genauso wie Jakov. Die zwei stärksten Kämpfer sollten ihre Kräfte sparen, während die anderen sich bei der Überwachung abwechselten.
Der Stumpf war nicht groß genug für uns zwei, sodass ich auf Istvans Schoß sitzen musste, obwohl ich es eher als „sitzen durfte“ empfand. Er hatte die Arme um meine Hüften geschlungen und ließ sein Kinn an meine Schulter lehnen. Wir hatten beide lange nichts gesagt und den anderen nur zugesehen. Ich hätte schwören können, dass er es aus demselben Grund tat wie ich. Wir beide machten uns Sorgen darüber, was jedem von ihnen zustoßen könnte, weil er für uns kämpfte. Als hätte er diesen Gedanken erahnt, murmelte er mir kaum hörbar etwas zu.
„Wir müssen einfach das Beste hoffen.“ Anstatt etwas zu sagen, neigte ich meinen Kopf, damit er seinen berührte. Meine Hand streichelte das kurze Haar in seinem Nacken. Ich konnte fühlen, wie er davon Gänsehaut bekam. Das half besser als alles anderer auf der Welt. Ohne ein weiteres Wort stand ich auf, winkte allen kurz zu und kletterte mit Istvan auf meinen Fersen ins Zelt. Dort war es dunkel, merkwürdig eng, aber gemütlich. Ich ließ mich einfach auf die beiden auseinandergefalteten Schlafsäcke in der Mitte fallen und zog an Istvans -T-Shirt, bis seine Brust genau über mir war. Mit einem leichten Druck in sein Kreuz brachte ich ihn zu mir herab. Er senkte seinen Kopf auf meine Brust. Sofort begannen seine Finger abwechselnd über meinen Bauch und meinen Unterarm zu streichen, zu kreisen. Die kleinen, kribbelnden Wellen, die er damit -auslöste, bewirkten, dass ich mich entspannte und die Müdigkeit, die ich lange unterdrückt hatte, zum Vorschein kam. Machte er das mit Absicht? Denn egal, wie sehr ich auch gegen meine schweren -Lider ankämpfte, Istvans Berührung war stärker als mein Wille, wach zu bleiben. Ohne dass ich es wollte, schlummerte ich immer wieder ein. Jedes Mal wenn es mir gelang, die Augen wieder aufzuschlagen, nahm er die Berührungen mit gesteigerter Intensität auf, bis ich letzten Endes nicht mehr anders konnte, als die Augen erneut zu schließen. Aber ich hatte bereits angefangen, auf seinem Rücken dieselben kreisenden Bewegungen nachzuahmen. Auch sein Atmen wurde gleichmäßig und flacher, bis er zusammen mit mir einschlief.
 
Ich wurde wach, als ich hörte, wie Seiten umgeblättert wurden. Automatisch streifte mein Arm über meinen Bauch, aber das, was dort sein sollte, war weg. Erschrocken fuhr ich hoch. Istvan saß im Schneidersitz in einer Zeltecke und hatte eine Campinglampe mit schwachem Licht vor sich gestellt. Als er mich ansah, legte er sein Notizbuch zur Seite und lächelte schwach. Aber diese Geste kam zu spät. Ich hatte schon den grüble-rischen, dunklen Ausdruck auf seinem Gesicht entdeckt, den er jetzt zu überspielen versuchte.
Doch bevor ich darauf reagieren konnte, rieb ich mir den Schlaf aus den Augen. Ich wollte ihn fragen, warum er nicht mehr schlief, aber als ich zur Frage ansetzte, wurde ich abgelenkt. Es war mitten in der Nacht, und abgesehen von dem leisen Blätterrauschen im Hintergrund waren nicht die geringsten üblichen Waldgeräusche zu hören, egal wie sehr ich mich darauf konzentrierte.
„Es ist wieder so still“, sagte ich beklommen.
„Der Wald schweigt, weil so viele von uns hier sind …“
„Glaub mir, du möchtest nie mit mir in den Zoo!“ Unglaub-lich, aber es zuckte tatsächlich gefährlich in seinen Mundwinkeln.
„Ich habe gesehen, wie die Nachbarskatze auf dich reagiert hat. Ich kann’s mir vorstellen.“
Sofort lachten wir beide, was ihn wieder zu mir zog. Er umarmte mich und lachte kopfschüttelnd, während er sich an mich schmiegte.
„Kannst du nicht schlafen?“, fragte ich ihn wieder ernst.
„Nein, überhaupt nicht. Und du? Wieso schläfst du nicht weiter?“
Ich schenkte ihm einen Das-kann-wohl-nicht-dein-Ernst-sein-Blick, bevor ich mich wieder aufsetzte. Der Schlaf war vorbei. Definitiv. Wieso las er bei diesem schwachen Licht in seinem Notizbuch? Istvan wirkte sehr nachdenklich, fast schon bedrückt. Bedachte man, was uns bevorstand, war das irgendwie verständlich, doch ich wollte es trotzdem wissen. Ich irrte mich, denn es ging anscheinend nicht nur um das, was sowieso offensichtlich war. Es ging um mehr.
„Etwas stimmt doch nicht. Was ist mit dir?“ Wollte ich die Antwort darauf wirklich wissen? Er atmete tief ein und aus, nahm sein schwarzes Buch wieder in die Hand, nur um es wieder wegzulegen. Er schob es zur Seite und blicke mich direkt an. Verstörend eindringlich.
„Ja, du hast recht. Etwas macht mir Sorgen, abgesehen von allem anderen …“
„Was denn?“, fragte ich leise, vielleicht hörte jemand zu.
„Sein Rudel, die Jüngeren vor allem … ich meine … bin ich wirklich in der Lage, einem von ihnen absichtlich das Leben zu nehmen?“ Er schnaubte kurz. „Farkas? Ohne zu zögern. Dimitri oder Vladimir? Sollten sie auch nur in deine Nähe kommen …“ Seine Augen brannten, als er den Satz unvollendet ließ. Ich bekam Gänsehaut von seiner unverhohlenen Wut. „Aber die jungen, verwirrten Burschen, die keine Ahnung haben, worum es hier geht und was Farkas ihnen antut, was er ihnen alles weggenommen hat … kann es richtig sein, sie dafür zu bestrafen? Wie Jakov sagte, die meisten von ihnen wissen nicht mal, dass es eine Wahl gibt, eine andere, eine bessere Art zu leben!“ Er brach ab, rieb sich übermüdet das Gesicht und fuhr sich durch die Haare. Ich hatte ihm die ganze Zeit still und aufmerksam zugehört und da fiel mir wieder auf, klar und deutlich, wie erstaunlich rein Istvans Seele und wie stark und aufrecht sein Herz war. Er würde immer versuchen, das Richtige zu tun, egal, wie viel es ihn selbst kosten könnte. Ja, selbst jetzt, vor den schlimmsten Prüfungen unseres Lebens, lag er wach und dachte darüber nach, wie er andere verschonen konnte, einfach weil es richtig war. Ich bewunderte ihn dafür. Aber ich war mir auch fast sicher, dass irgendwo da -draußen Farkas wach lag und überlegte, wie es ihm gelingen würde, möglichst viele von uns zur Hölle zu schicken.
Es war unbegreiflich, dass diese beiden Männer Vater und Sohn sein sollten. Sie waren gegensätzlicher als Licht und Schatten. Während Istvans Licht tief aus seinem Inneren kam und jeden, der ihm nahe kam, und das war gerade ich, bis in die Zehenspitzen erwärmte, war Farkas kaum ein Mann. Er war der Schatten, der übrig blieb, wenn alles Menschliche vergangen war. Etwas, das einen frösteln ließ, wie etwas Totes, das niemand um sich haben will, das aber unaufhaltsam auf uns zukam.
Istvan dachte schon, ich könnte ihn nicht verstehen, weil ich seit einer halben Ewigkeit nichts gesagt hatte. Ich wollte ihn küssen, wie eigentlich immer, tat es aber nicht. Stattdessen sagte ich:
„Du versuchst so viele Leben wie möglich zu verschonen.“ Klang ich, als würde ich heulen, oder bildete ich es mir nur ein?
„Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Ich kenne dich. Aber ich flehe dich an. Tu nichts, was dich zu sehr in Gefahr bringt, aus einem merkwürdigen Pflichtgefühl heraus, das dir zum Verhängnis werden könnte.“
„Joe“, sagte er beruhigend. „Ich wünschte nur, es gäbe eine Möglichkeit, die jungen Farkaswölfe zu überzeugen, damit sie nicht gegen uns kämpfen und … um sie vielleicht zu retten.“
Ich fühlte einen kalten Blitz der Erkenntnis, der durch mich durchging wie eine Messerklinge.
„Wie lange denkst du schon darüber nach?“
„Ehrlich gesagt, schon seit Jakov zu uns gekommen ist und uns alles erzählt hat. Ich kann den Gedanken nicht loswerden, dass ich auch einer von ihnen hätte werden können …“
„Nein!“ Ich unterbrach ihn scharf. „Nein. Du könntest niemals so sein! Vielleicht hättest du Farkas täuschen, wie Jakov vorgeben können, ihm zu gehorchen. Aber ich hätte sogar dann etwas anderes in dir gesehen. Daran glaube ich ganz fest, Istvan!“
„Wirklich?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Musst du wirklich fragen? Ja, doch!“ Jetzt beförderte er mich wieder in seine Arme und drückte mich so fest an sich, dass mir die Luft wegblieb.
„Aber bitte, unternimm nichts Waghalsiges einer noblen Idee wegen, die nach hinten losgehen könnte … Ich würde es nicht aushalten, wenn …“ Ich drückte mein Gesicht ganz fest gegen seine Schulterbeuge, bis die Welt um mich herum verschwand und nur noch der Duft und das Gefühl seiner Haut auf meiner real waren. Ich konnte kaum noch atmen, weil mir die Angst die Luft abschnürte.
„Ich werde nichts riskieren, was mich von dir fernhalten könnte. Das nicht! Bestimmt nicht!“
Jetzt war das Thema, das wir schon seit Stunden vermieden hatten, plötzlich und unwiderruflich präsent. Es füllte das ganze Zelt und dehnte sich unaufhörlich aus. Aber keiner von uns wollte es direkt ansprechen.
 
„Hast du den Brief geschrieben?“, fragte Istvan ausweichend.
„Den an meine Eltern? (Den Abschiedsbrief) … Nein. Falls alles gut geht, werde ich ihnen schreiben, sobald wir im Flieger sind. Wenn nicht, wenn ich nicht überlebe …, wird Carla ihnen erklären, dass ich untertauchen musste.“ Ich ließ das Unaussprechliche ungesagt.
„Also lügen“, meinte er direkt. „Das wird nicht nötig sein!“ Worte und Gesten waren dabei eindringlich. Ich wollte ihm nicht wehtun oder ihn verunsichern, dennoch musste ich es ihm gegenüber ansprechen, auch wenn jede Faser in mir dagegen war. „Das weißt du nicht. Das weiß niemand.“ Ich klang merkwürdig vage, fast unbeteiligt, als wäre nichts dabei. Mit heftigem Kopfschütteln weigerte er sich, mir zuzuhören. Aber er musste es hören, ebenso wie ich.
„Istvan … Istvan“, schnaubte ich und rüttelte an beiden Schultern.
„Du musst dir dessen bewusst sein. Sieh es doch ein. Morgen könnten wir …“ Er presste mir die Hand auf den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen. Seine Augenbrauen waren schmerzhaft eng zusammengezogen. Mit glanzüberzogenen Augen schüttelte er wieder den Kopf. Diesmal nur ein einziges Mal.
„Bitte nicht, Joe!“, flehte er gedämpft. Ich nickte leicht. Mein Magen zog sich fest zusammen bei seinem Anblick. Er hatte vielleicht doch recht. Wenn der schlimmste Fall eintrat und das hier unsere letzte gemeinsame Nacht war, dann sollte ich diese Stunden nicht damit verschwenden, die mögliche Katastrophe von morgen zu zerreden. Nur widerwillig löste er die Finger von meinem Mund, um ihn sofort danach mit seinem Mund zu verschließen. Ich wusste, was er mir damit sagen wollte: „Kein Wort mehr davon.“ Er presste seine Lippen so hart auf meine, dass es schmerzte, und dennoch war es mir nicht genug. Nicht, wenn dies hier wirklich die letzte Nacht sein sollte.
Ich grub meine Finger tief in seine Schulterblätter, bis er aufstöhnen musste. Aber wehgetan hatte ich ihm nicht. Das konnte ich gar nicht. Istvan wusste genau, wohin es führen würde und bot mir, auch wenn ich es kaum fassen konnte, einen Ausweg.
„Du weißt“, schnaufte er atemlos, „dass sie alles hören werden.“
Die Reue auf seinen Gesichtszügen war kaum zu übersehen.
„Das ist mir gerade so was von egal. Komm wieder her … zu mir!“, bestürmte ich ihn mit ausgestreckten Händen, die sich an seinen Kragen heften, um daran zu ziehen. Doch atmen konnte ich erst wieder frei, als seine Hände blitzschnell nach mir fassten und um meine Mitte kamen. Fest gegen seinen Körper gedrückt, schloss ich die Augen. Unmittelbar danach stand mein ganzer Körper in Flammen. Wie immer, wenn er mich auf diese Weise berührte, entbrannte mein Inneres und wurde zu einem flüssigen, heißen Strom. Er lag bereits auf mir, als wir unseren nächsten innigen Kuss teilten, dem hungrigere folgten. Alles an uns war so verzweifelt intensiv. Die Art, wie seine Zunge meine fand, wie mein Unterleib darauf regierte und sich ganz von selbst gegen seinen drängte. Die Hastigkeit unserer Lust überwältigte uns beide. Ich hörte auf, über irgendetwas nachzudenken, verlor vorübergehend sogar die Fähigkeit, Gedanken zu bilden, und ließ mich einfach fallen, jede seiner Berührungen über und unter mir, die harten ebenso wie die zarten, genießend. Alles, was ich in diesem Moment schmeckte, roch oder fühlte, ging mir durch und durch und wurde ein Teil des flüssigen Stroms in meinem Inneren. Ich kam mir merkwürdig transparent vor, als wären Istvans Wärme und Licht die einzige Substanz, die mich durchdringen und ausfüllen könnte. Randvoll war ich. Von ihm! Bis in die Fingerspitzen. Selbst als unserer Körper aufgehört hatten, miteinander zu sprechen, konnten wir uns nicht voneinander trennen. Wir lagen völlig ineinander verschlungen da und küssten zärtlich und träge Partien unserer Haut, die wir zuvor hatten vernachlässigen müssen.
Ich sog ohne jede Scham den süßlich herben Geruch seines Handgelenks eine, ehe ich das Aderngeflecht darunter mit einem gehauchten Kuss verabschiedete.
Für manche Dinge gibt es einfach keine passenden Worte. Wie hätte ich es nennen sollen, wenn seine Augen von meiner Taille bis zur Hüfte entlang glitten und es sich wie eine Berührung anfühlte?
Wie beschreibt man das tiefe Gefühl der Unruhe und des gleichzeitigen Friedens, das in mir war, als er mich küsste und mich dabei die herrlichen Sandstoppeln seines Kinns streiften? Welcher Ausdruck, welches Wort wäre in der Lage, zweifelsfrei wiederzugeben, dass es sich bei niemand anderem je genauso anfühlen könnte?
Wir küssten einander in dieser Nacht, bis es zur Qual wurde.
„Deine Lippen sind schon ganz geschwollen“, flüsterte er selbstvergessen, als sein Zeigefinger die Kurve meiner Unterlippe entlang fuhr. Er konnte es selbst bei dieser Dunkelheit erkennen, anders als ich.
„Deine müssen auch schon ganz taub sein“, versuchte ich festzustellen und tastete halb blind nach seinem Mund, um seine Geste mit meinem Daumen nachzuahmen. Er kam nahe genug, dass ich ihn wieder besser sehen konnte. Der grüne Blick seiner Augen veränderte sich gefährlich.
„Es gibt da etwas, das ich dir sagen möchte.“ Es klang wie eine Vorwarnung. Versteinert versuchte ich nicht auszuflippen, egal, was er mir sagen wollte. Nur keine Abschiedsworte!, flehte ich für mich.
„Ich habe ein Haus für uns“, sagte er aufgeregt.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Er hatte mich kalt erwischt. Ich blickte fragend zu ihm.
„Es ist eine Blockhütte. Mitten in der kanadischen Wildnis. Ich hab mir gedacht, dass es dir gefallen könnte …“ Ich hörte sofort seinem Tonfall an, dass er sich das wünschte, also lächelte ich aufmunternd.
„… Alles ist unfassbar grün. Man kann einen klaren, großen See von der Veranda aus sehen. Ich könnte dir dort schwimmen beibringen. Natürlich nur, wenn du willst. Unendliche Bergzüge und Sonnenuntergänge, wie du sie noch nie ge-sehen hast, Joe!“, schwärmte er. Istvan redete sich in Rage, fast wie im Fieber.
„Das klingt wie ein wahrgewordener Traum.“ Eigentlich zu gut, um wahr zu sein. Aber ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als diesen dummen Gedanken vor dir auszusprechen.
„Kein Traum! Unser Leben, wenn du es willst. Joe, du hast mir soviel gegeben. Dinge, von denen ich nicht einmal gewusst habe, dass ich sie mir wünsche. Von der Sekunde an, als du mir begegnet bist, so verrückt es auch klingt, bist du zu meiner personifizierten Hoffnung geworden. Meiner einzigen Hoffnung. Und als du erneut in mein Leben getreten bist, hast du mich erst wirklich zum Leben gebracht. Deshalb möchte ich dir Dinge zeigen, schöne Dinge. Kairo und die Pyramiden. Das Nordlicht. Die irische Küste. Die Kettenbrücke in Budapest bei Nacht. Die Florida-Keys von einem Boot aus … es gibt so viel, was ich mit dir sehen will.“
Ich musste lächeln und konnte nicht damit aufhören, weil ich begriff, wie lange er darüber schon nachgedacht haben musste.
„Istvan, du musst mir nicht die halbe Welt schenken, auch wenn ich das alles gern mit dir tun würde. Es macht mich schon glücklich, mir vorzustellen, mit dir ganz alleine in dieser Hütte in Kanada, von mir aus auch in Timbuktu oder sonst wo, zu sein …“, das brachte ihn zum Lachen, „… nur du und ich und ein paar Schwimmstunden, die ich kaum erwarten kann. Darauf kommt’s an. Solange ich mit dir leben darf und ich dich küssen kann, wo, wann und vor wem ich will, bin ich dabei.“
Ich presste mich mit geschlossenen Augen an seine Brust. „Außerdem hast du mir schon jetzt mehr gegeben, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich weiß auch erst seit dir, was es heißt, wirklich lebendig zu sein.“
Er strich mir das feuchte Stirnhaar hinters Ohr. Etwas ließ ihn verkrampfen.
„Und alles, was es dich gekostet hast?“, fragte er bang.
„Zählt nicht!“, antworte ich knapp.
„Oder siehst du das anders?“, fragte ich herausfordernd. So was nennt man eine Fangfrage, Mr.
„Hm“, brummte er hinhaltend und rieb sich verschmitzt das Kinn.
„Nein. Mit dir lebendig sein, schlägt einfach alles!“