KAPITEL 30

Die sich gegen uns versündigen

Matt stand auf der sonnendurchfluteten Straße neben einem der Fahrzeuge der Deeps. Sein Blick war auf den Firstbalken eines Strandhauses gerichtet, das direkt unterhalb der Straße in Marina del Rey lag. Ein Offizier von Deep Shield stand bewaffnet und täuschend lässig neben ihm. Beide trugen kugelsichere Westen unter ihren Windjacken. Matt hatte keine Ahnung, wieso. Der Gedanke, Chuck Brenton könnte für irgendwen eine Gefahr darstellen, war lächerlich.

„Der Wagen ist noch in der Garage.“ Die knisternde Stimme kam aus dem Funkgerät seines Bewachers.

Matt zuckte zusammen. Sie hatten seine Nachricht nicht erhalten. Sie waren nicht geflohen. Sie waren noch im Haus. Er wusste nicht, ob er erleichtert oder entsetzt sein sollte.

Er hörte eine Stimme im Befehlston schreien: „US-Agenten. Machen Sie auf!“

Dann nichts.

Er hörte, wie die Tür aufgebrochen wurde.

Weitere Rufe. „US-Agenten. Zeigen Sie sich!“

Noch immer nichts.

„Hier ist niemand“, kam aus dem Funkgerät seines Bewachers.

Es hätte nicht viel gefehlt, und Matt wäre gegen das Fahrzeug gesunken. Chuck und seine kleine Ausreißermannschaft waren einmal mehr entwischt. Aber wie? Und wohin?

Sara stand in der Mitte der Kommandozentrale. Sie hatte sich nicht bewegt, seit die Lichter ausgegangen waren. Die Dunkelheit machte ihr etwas bewusst, was sie lange nicht wahrgenommen hatte: ein Gefühl der Verwundbarkeit.

„Wir müssen etwas dagegen unternehmen.“

„Wenn die Generatoren durchgebrannt sind, gibt es nichts, was wir tun können“, sagte Tim. „Dann haben wir nichts, womit wir arbeiten können.“

„Das ist mir egal“, brauste sie auf. „Wir brauchen verdammt noch mal Licht hier drin!“

Und plötzlich kamen zwei rote Lichter in etwa eins achtzig Höhe über dem Boden auf sie zu. Gefolgt von einem zweiten Paar. Und noch einem.

„Mist“, sagte Tim. „Ein paar von ihnen müssen hereingekommen sein.“

Die drei Roboter rückten gleichmäßig durch die Dunkelheit vor, geleitet von ihrer Infrarottechnik. Sara fluchte leise. Ihre Körperwärme verriet das Team. In dieser Kampfarena war der bloße Umstand, ein Mensch zu sein – lebendig zu sein –, ein Schwachpunkt. Oder konnten die Roboter ihre Angst riechen?

Hinter ihnen gingen die Lichter der Monitore flackernd an. „Ich habe einen gefunden“, sagte Mike. „Ein Generator war nicht beschädigt.“ Es waren seine ersten Worte, seit er einen großen Teil von General Howards Armee ausgelöscht hatte.

Sara wünschte, er hätte sie nicht gesagt. Sie wünschte, er hätte keinen funktionierenden Generator gefunden. Denn es wäre ihr lieber gewesen, nicht zu sehen, was im Halbdunkel auf sie zukam.

Zwei der Roboter waren kräftig und muskulös, auch wenn die Muskeln natürlich alle künstlich erschaffen waren. Sie erinnerten Sara an jene alten Muscle-Cars, Chevelles und Chargers, ganz aufgemotztes Metall und Chrom, mit fies aussehendem Kühlergrill und weiß der Himmel wie viel PS unter der Haube. Halb rechnete sie damit, dass sie ihre Motoren aufheulen ließen. Irgendwie war ihr leises, beharrliches Surren jedoch schlimmer.

Ein Roboter hatte den rechten Arm erhoben, der in etwas endete, was wie ein Kavalleriesäbel aussah – ein langes, scharfes, vollkommenes Stück Metall, das durch einen menschlichen Körper schneiden konnte, als wäre er nichts weiter als Kochwurst. Der andere hielt den linken Arm von sich gestreckt, mit einer Hand, die an eine Armbrust erinnerte. Beides waren perfekte Waffen für einen Nahkampfangriff, bei dem sich der Schaden im Kommandoraum in Grenzen halten würde. Wenn an diesem Szenario etwas positiv war, sagte sich Sara, dann, dass General Howard offenbar immer noch Wert darauf legte, möglichst viel von seiner Investition in Deep Shield zu retten – materiell wie emotional. Menschliche Schwäche, dachte sie und lächelte bitter.

Der dritte, größere Droide war mehr wie Lanfens Bilbo – eher agil als kräftig. Ein Kung-Fu-Roboter ohne Waffen … von seinem ganzen Körper abgesehen.

Das Bemerkenswerteste an allen Robotern war natürlich, dass nirgendwo jemand zu sehen war, der sie bediente.

Die Zetas standen einen Moment lang schockstarr da, wie die Figuren eines antiken Frieses, das eine vor langer Zeit ausgelöschte Zivilisation darstellte. Dann erwachten sie mit einem Schlag zum Leben und taten das Erste, wozu Teams neigen.

Sie teilten sich auf.

Tim ging hinter der Steuerkonsole in Deckung, der Armbrust-Roboter folgte ihm. Sara sprintete ans andere Ende der Kommandozentrale; dort war es zwar dunkler, aber sie wollte möglichst viel Entfernung zwischen sich und den Fu-Bot legen. Mike rannte gegen seinen Instinkt auf seinen Angreifer zu, wich dem säbelschwingenden Droiden mit einem raschen Schritt zur Seite aus und stürzte aus der Tür.

„Feigling“, rief Tim ihm nach, ehe er sich seinem eigenen Angreifer zuwandte. Von seinem Platz hinter den Monitoren sah er bei der schwachen Beleuchtung kaum, wie der Roboter den Arm hob und die Waffe genau auf seinen Kopf richtete. Und er hatte kaum Zeit genug …

Nein, er hatte überhaupt keine Zeit mehr.

Der Pfeil schoss aus der Armbrust und flog ein kurzes Stück, ehe er den Schädel durchbohrte und in das Gehirn eindrang. Tim sank auf die Knie.

Einige Augenblicke regte sich nichts in dem fast dunklen Raum.

Dann reckte Tim triumphierend die Arme in die Höhe. „Diese verdammten Arschlöcher!“, rief er. „Ich weiß im Schlaf, wie eine Armbrust funktioniert. Mit dieser Waffe habe ich in World of Warcraft Level 80 erreicht. War denen nicht klar, wie leicht es für mich ist, sie rückwärts schießen zu lassen?“

Er sah zu dem Roboter hinauf, der vor ihm stand. Der Bolzen steckte immer noch in der Schaltzentrale in seinem Kopf. Aus einiger Entfernung abgegeben, hätte die Schutzpanzerung den Schuss abgelenkt, aber aus dieser geringen Entfernung war er tödlich gewesen, weil er einen Kurzschluss im System des Roboters auslöste.

Sara war zu beschäftigt, um an Tims Siegesfeier teilzunehmen. Sie stand dem Fu-Bot auf gut fünfzehn Meter Entfernung gegenüber und tat, was sie konnte, um ihn niederzustarren wie eine Boxerin beim Wiegen vor dem Kampf, die weiß, dass sie unterlegen ist. Der Roboter senkte die Augen für einen Moment auf Hüfthöhe: Er hatte sich vor seiner Gegnerin verbeugt. Sara kannte die Bedeutung dieser Geste nicht genau, vermutlich war es etwas Ähnliches wie ein Tischgebet, bevor man sein Mahl verschlang.

Der Roboter griff an, und Sara schluckte schwer. Aus vollem Lauf begann er plötzlich durch die Luft zu segeln, um ihr einen tödlichen Flying-Kick an die Brust zu versetzen. Haltung und Zielgenauigkeit waren fehlerfrei, nur mit einem hatte der Roboter nicht gerechnet.

„Pass auf die Wand auf.“

Aus ihrer Ecke des Kommandoraums veranlasste Sara eine der Stahlplatten, sich von ihrem Tragbalken zu lösen und sich vor sie zu schieben. In weniger als zwei Sekunden stand eine Wand, wo vorher keine gewesen war – es ging genauso leicht, wie wenn sie ihre virtuellen Häuser baute. Der Roboter krachte frontal gegen die Wand, sein Fuß wurde zertrümmert. Der Aufprall war so heftig, dass das halbe Bein abgerissen wurde, und Sara zuckte unwillkürlich zusammen – es klang einfach zu sehr nach brechenden Knochen. Das Bein lag wie ein Stück Altmetall auf dem Boden, der Fuß war irreparabel beschädigt, der Rest unversehrt bis auf das abgetrennte Kniegelenk. Der Roboter selbst war ein Stück entfernt gelandet, er lag lang gestreckt und reglos da. Sein Kopf war merkwürdig zur Seite verdreht, und das Licht seiner Augen war erloschen.

Sara kam hinter ihrem Versteck hervor und ging zu ihm. Sie bückte sich, um das metallische Rückgrat und die Sehnen aus Kabel am Schädelansatz zu untersuchen, wo einige farbige Drähte sich gelöst hatten.

„Die Konstruktionen des großen Daisuke Kobayashi sind wohl doch nicht so großartig, wie wir …“

Die Augen des Roboters wurden lebendig. Sein Kopf rastete ein, und sein rechter Arm schoss nach oben und packte Sara an der Kehle. Sie fühlte den Druck auf ihrer Luftröhre, als die Roboterhand sich wie eine Schraubzwinge schloss.

Sara starrte in die leblosen roten Kugeln der Roboteraugen. Sie starrte, bis sie das Bewusstsein zu verlieren begann. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich.

Das abgetrennte Bein des Roboters flog durch die Luft und sauste mit voller Wucht in den Hals des Roboters, wo es stecken blieb wie ein Speer. Die scharfen Ränder des gerissenen Gelenks hatten die Kabel durchtrennt und den Roboter halb enthauptet. Die roten Lichter erloschen.

Sara riss sich die Klaue vom Hals und holte tief Luft, bevor sie dem Roboter einen Tritt versetzte, dass der Kopf davonflog.

„Tooooor!“, rief Tim von der Mitte des Raums. Sara ging zu ihm.

Im Schein der Monitore sahen sie Mikes Robotergegner wie erstarrt an der Tür stehen. Er hielt das Schwert noch, es war von einem rosa schimmernden, feuchten Film überzogen.

„Was wohl mit Mike passiert ist“, sagte Sara, als sie näherkamen.

„Vergiss Mike. Ich frage mich, was mit seinem Roboter passiert ist.“

Rein äußerlich war er in makellosem Zustand, was sich von Mike nicht behaupten ließ, als er kurz darauf durch die Tür kam.

„Nichts ist mit dem Roboter passiert. Ich habe ihn einfach … stillgelegt.“

Die anderen beiden Zetas sagten nichts. Sie starrten auf sein Gesicht, das zu Brei geschlagen war. Auf seine blutigen Knöchel. Auf sein weißes Hemd, das sich seitlich am Körper rot färbte.

Er bemerkte ihre Blicke. „Der verdammte Droide hat mir einen Kratzer verpasst, als ich rausgelaufen bin.“

„Das nennst du einen Kratzer? Kratzer kriege ich beim Rasieren, nicht von einem Säbel. Ich würde sagen, das ist eine klaffende Wunde“, sagte Tim.

„Wem willst du etwas vormachen?“, sagte Mike und ging an ihm vorbei. „Du rasierst dich doch gar nicht.“

Sara stand immer noch an der Tür, erschüttert von Mikes Aussehen, vor allem von seinen Augen. Sie sahen tot aus. Unmenschlich. Beinahe roboterhaft.

„Wie hast du ihn stillgelegt?“, fragte sie und fürchtete sich vor der Antwort.

„Ich dachte mir, wenn die Roboter von unseren Schülern gesteuert werden, können sie nicht weit weg sein. Selbst wenn sie hinter unserem Rücken geübt haben, konnten ihre Fähigkeiten ohne Schnittstelle noch nicht allzu ausgeprägt sein.“

„Also bist du …“

„Zur Quelle gegangen.“

„Was heißt das?“, drängte Sara.

„Es heißt, er hat sie sich vorgeknöpft“, sagte Tim mit einigem Respekt.

Mike sank an der Monitorkonsole zu Boden und hielt sich die Seite. „Nein, Sara“, warnte er, als er sah, dass sie auf dem Weg zum Flur war. „Glaub mir, du willst da nicht rausgehen.“

„Sind sie alle …?“

Er setzte sich mühsam aufrecht. „Sie haben mir noch erzählt, bevor sie … bevor ich … Sie haben mir erzählt, dass Reynolds ebenfalls noch irgendwo hier ist. Ich habe ihn nicht gesehen. Aber er ist der Einzige, der uns noch Probleme machen kann.“

Sara zögerte einen Moment, bevor sie sich wieder der Tür zuwandte.

„Nein!“

„Es ist mir egal, was du da draußen angerichtet hast, Mike. Du hast getan, was du tun musstest. Wie wir alle. Aber was ich jetzt tun muss, ist da rausgehen und Verbandszeug für dich suchen. Ich will verdammt sein, wenn ich dich über meiner Konsole verbluten lasse.“

Tim kauerte auf dem Boden unweit des Steuerpults, sein Gesicht war grau im matten Flimmern der Schirme. Er schien in seinem Element zu sein, als er so im Schneidersitz dasaß und sich mit den besiegten Robotern beschäftigte, die er hierher geschleift hatte.

„Hey, Mike, erinnerst du dich noch an Robocop? Hier darf ich dir jetzt Robocaputt vorstellen.“

Mike antwortete nicht. Er hatte vor mehr als zwanzig Minuten nämlich das Bewusstsein verloren, eine Tatsache, die Tim nicht im Geringsten zu beunruhigen schien.

„Weißt du, Mike, du betreibst wirklich lausige Konversation. Kein Wunder, dass die ganzen Zeta-Bräute mich haben wollen. Ich schwöre, ich habe Sara dabei erwischt, wie sie den Reißverschluss meiner Hose mental zu öffnen versucht hat.“ Er stöhnte, als er den Armbrustpfeil aus dem Kopf des Roboters zog. „Ah, Sara“, sagte er, da er sie hereinkommen hörte. „Du musst geahnt haben, dass wir von dir reden. Ich bin froh, dass du wieder da bist. Ich wollte Mikes Meinung zu meinem neuen Outfit hören, aber der Mann hat keinen Schimmer von Mode.“

Er stand auf, um ihr seine neue Rüstung zu zeigen, die er aus den Metallplatten mehrerer Roboter geschneidert hatte. Er trug die Armüberzüge des Fu-Roboters wegen ihrer Beweglichkeit, und abgesehen davon waren sie das Einzige, was von diesem heil geblieben war. Er hatte einen Helm auf – das ausgehöhlte Kopfteil seines hingeschiedenen Gegners, das er trotz des Lochs in der Stirn wie eine Kriegstrophäe trug –, dazu Brust- und Schulterplatten der beiden untersetzten Roboter. Alles in allem sah er aus wie die missglückte Kreuzung zwischen einem Stormtrooper aus Star Wars und einem Eishockeytorwart.

„Und, was meinst du, Sara?“ Das sollten eigentlich seine nächsten Worte sein. Was stattdessen aus seinem Mund kam, war „Boah.“

Denn was da vor ihm stand, war ziemlich sicher nicht Sara.