KAPITEL 23

Höhere Mächte

General Howard rief Matt am frühen Samstagmorgen an und weckte ihn aus einem gesunden Schlaf. „Wir müssen reden, Dr. Streegman.“

Trotz seiner Verärgerung, weil man ihn am Wochenende aus geschäftlichen Gründen weckte, musste Matt lachen. „Machen Sie mit mir Schluss, General?“

„Bitte nehmen Sie das ernst, Doktor.“

„Was soll ich ernst nehmen, Leighton? Warum rufen Sie mich zu dieser unchristlichen Zeit an?“

„Ist Ihnen bekannt, dass eine Gruppe Ihrer Kollegen gestern Abend eine Zusammenkunft in Dr. Brentons Haus hatte?“

Wie bitte? „Was? Sie haben eine Party ohne mich geschmissen? Wie können sie es wagen?“

„Ich werde Ihren unangebrachten Humor ignorieren, Doktor. Es kann eine Party gewesen sein. Es kann aber auch etwas ganz anderes gewesen sein.“

Matt setzte sich auf und stieß die Decke beiseite. Er nahm undeutlich wahr, dass seine Pyjamahose ein Loch am Knie hatte, und bohrte beiläufig mit einem Fingernagel darin herum. „Was sollte es denn sonst gewesen sein? Meine lieben Kollegen hängen ständig zusammen herum. Eugene und Mini sitzen sich sowieso pausenlos auf der Pelle, und Chuck ist bestimmt hingerissen von einer Frau, die ihm jederzeit anständig in den Arsch treten kann.“

„Das waren so ziemlich die Teilnehmer der Party. Der Einzige, den Sie vergessen haben, ist Dr. Kobayashi.“

„Und?“, sagte Matt. Einen Augenblick später wurde ihm die volle Bedeutung von Howards Worten bewusst, und es traf ihn wie eine kalte Dusche. Er hörte auf, an dem Loch in seinem Pyjama herumzuspielen. „Moment mal … Woher wissen Sie, wer dort war? Lassen Sie die Leute überwachen? Und mich? Sie lassen mich überwachen?“

„Zu Ihrem eigenen Schutz, Matt. Überlegen Sie doch, wie wertvoll Sie für ausländische Interessen sein könnten, die von unserer Zusammenarbeit erfahren. Sie würden über Nacht von einem Haufen potenziell verrückter Unternehmer zu einem militärischen Vorteil werden.“

Ein militärischer Vorteil. Sind wir das jetzt also? „Zu unserem eigenen Schutz? Wenn Sie so besorgt um unseren Schutz sind, warum fragen Sie mich dann nach einer Party, die ein paar Freunde nach Feierabend veranstaltet haben?“

„Ich frage Sie genau deshalb, weil Sie nicht eingeladen waren. Ich finde das merkwürdig, Sie nicht?“

Matt setzte bereits zu einer bissigen Erwiderung an, aber dann überlegte er es sich anders. „Wie es der Zufall will, war ich eingeladen. Ich war nur so erschöpft und musste noch an einem Aufsatz für die American Mathematical Society arbeiten. Deshalb habe ich mich entschuldigt. Abgesehen davon kann man Die Braut des Prinzen auch nicht beliebig oft anschauen, sonst fängt man an, die Dialoge im Schlaf aufzusagen.“

Es gab ein kurzes Zögern am anderen Ende. „Dann wussten Sie also von der Zusammenkunft?“

„Ja, ich wusste es. General, Sie müssen mehr unter die Leute gehen. Sie fangen an, ein bisschen paranoid zu klingen.“

Der General ignorierte diese Bemerkung. „Ihr Partner ist ein Idealist, Dr. Streegman. So hübsch das als Idee ist, so gefährlich kann es in der Praxis sein. Wenn Charles Brenton das nächste Mal bei sich zu Hause eine Party gibt, empfehle ich dringend, dass Sie daran teilnehmen. Man darf ihn nicht aus den Augen lassen.“

„Chuck? Er ist harmlos.“

„Niemand ist harmlos, wenn man nicht auf der Hut ist.“

Nachdem der General aufgelegt hatte, lehnte sich Matt ans Kopfbrett des Betts und ging die Unterhaltung noch einmal durch. Die Party bei Chuck beunruhigte ihn für sich genommen nicht. Was ihn jedoch gewaltig beunruhigte, war das sichere Wissen, dass Dice ihn von dort mit seinen Bedenken wegen der Überwachung durch Deep Shield angerufen hatte, wahrscheinlich während die anderen Mitglieder der Gruppe zuhörten.

Matt fluchte. Er hatte gestern Abend gedacht, dass die Verbindung ein bisschen hohl klang. Er hatte es einem schwachen Signal zugeschrieben. Jetzt wurde ihm klar, dass er auf Lautsprecher gewesen sein musste, damit die anderen beide Seiten des Gesprächs mithören konnten.

Er schnellte aus dem Bett und ging rasch unter die Dusche. Er musste zu Chuck fahren, bevor sein Partner noch weitere „Partys“ schmeißen konnte. Wenn General Howard glaubte, dass es bei Forward Kinetics eine subversive Unterströmung gab, konnte niemand sagen, was er tun würde, um sie abzuwürgen.

Chuck war jetzt wahrhaftig sehr besorgt – sowohl was seinen Geisteszustand anging als auch wegen der Situation, in der sie sich befanden. Er hatte ein paar Gefälligkeiten von Johns-Hopkins-Absolventen eingefordert und Telefonnummern bei der CIA und von einem Büro im Pentagon erhalten. Durch die kam er zumindest ein klein wenig hinter die öffentliche Fassade der beiden Organisationen. Beim FBI hatte er selbst eine relativ hohe Unbedenklichkeitsbescheinigung, weil er einige neurologische Studien für sie angefertigt und an der Ausbildung zweier Teams von Profilern mitgewirkt hatte. Auch das würde er sich nun zunutze machen.

Er hatte zuerst den Pentagon-Kontakt angerufen und gesagt, er sei ein Mitarbeiter von General Leighton Howard bei Deep Shield, und er müsse mit jemandem wegen des Roboter-Programms sprechen. Unter dieser Nummer erreichte er rein gar nichts, doch er wurde an jemanden in einer höheren Position weitergereicht, einen stellvertretenden Technik-Direktor. Dort versuchte er es auf eine andere Tour. Er war ein privates Verteidigungsunternehmen, das eine Zusammenarbeit mit General Howards Truppe in Erwägung zog. Er wollte sich vergewissern, dass bei Deep Shield alles mit rechten Dingen zuging. Das hatte den Vorteil, dass es zumindest teilweise stimmte.

Wieder kein Glück. Der stellvertretende Direktor reichte ihn an seinen Direktor weiter, für den er seine Geschichte wiederholte, und der Direktor ließ ihn fünfzehn Minuten am Telefon warten, ehe er wieder an den Apparat kam und eine Nummer erbat, unter der man ihn erreichen könne. Er gab sie ihm widerwillig, auch wenn er nicht wirklich damit rechnete, dass sie sich bei ihm melden würden.

Er hatte gerade dieselbe Übung mit dem Kontakt bei der CIA hinter sich gebracht, als Matt an seiner Haustür läutete. Zu behaupten, er sei überrascht gewesen, seinen Partner an einem Samstagmorgen um halb zehn vor seiner Tür stehen zu sehen, war noch untertrieben. In der ganzen Zeit ihrer Zusammenarbeit war Matt kein einziges Mal bei ihm zu Hause gewesen. Sie waren Geschäftspartner und Kollegen, keine Freunde.

Auf Chucks Überraschung folgten rasch Ärger und dann Wachsamkeit, als er den Ausdruck in Matts Augen bemerkte. „Was ist los, Matt?“

„Genau das wollte ich Sie fragen, Doktor.“ Matt warf einen Blick zur Straße zurück, zuckte mit den Schultern und betrat Chucks geräumige Eingangshalle. „Hübsch“, sagte er und sah sich um. „Tudor, oder? Sind Sie allein?“

„Ja. Was ist passiert?“

Matt lachte bellend. „Wer sagt, dass etwas passiert ist? Kaffee?“ Er wies mit einem Kopfnicken in Richtung Küche, aus der das Aroma frischen Kaffees kam.

„Sicher. Kommen Sie weiter in die Küche.“

Chuck ging voran und schenkte Matt an der Küchentheke eine Tasse Kaffee ein. Matt stand unterdessen vor der Terrassentür und tat, als würde er die mit Blauregen behangene Pergola bewundern. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und spielte mit den Wagenschlüsseln in seiner Hosentasche.

Chuck stellte Matt eine Kaffeetasse auf den Küchentisch und nahm mit seiner eigenen in der Hand Platz. „Würden Sie mir nun verraten, was Sie derart aus der Fassung gebracht hat?“

„Ist es so offensichtlich?“

„Ja.“

Matt setzte sich und trank einen Schluck von seinem Kaffee, ehe er wieder sprach. „General Howard hat mich heute Morgen angerufen. Früh am Morgen. Er sagte etwas von einer Party, die Sie gestern Abend hier gegeben haben.“

Chuck bemühte sich, sein plötzliches Unbehagen zu verbergen, aber er wusste, dass es ihm nicht einmal ansatzweise gelang. Er hatte eins jener Gesichter, die ihre Geheimnisse preisgeben, bevor überhaupt jemand vermutet, dass es welche gibt. „Hat er es so genannt – eine Party?“

„Ja, aber er hat es auch ein Treffen genannt. Ich habe es eine Party genannt. Ich sagte zu ihm, ich sei eingeladen gewesen, hätte aber arbeiten müssen. Ich sagte, wir würden die ganze Zeit privat miteinander verkehren.“

Chuck dachte einen Moment darüber nach. „Er wird sicherlich zumindest vermuten, dass das nicht stimmt“, sagte er schließlich. „Immerhin überwacht er uns.“

Matt hob ruckartig den Kopf. „Sie wussten es?“

„Darum ging es bei dem Treffen gewissermaßen. Dice, Eugene, Lanfen und Mini, sie alle hatten … ihre Erlebnisse mit der Überwachung durch Deep Shield.“

„Du meine Güte, Chuck! Hatten Sie keine Angst, dass Howards Leute Sie belauschen könnten?“

„Nein.“

„Wie können Sie sich so sicher sein?“

„Sagen wir einfach, ich kann mir sicher sein und belasse es dabei.“

„Lassen Sie mich raten – Dice hat Ihnen ein Hightech-Störsender zusammengebastelt?“

Chuck sagte nichts. Er hatte, wenn er ehrlich war, große Angst davor, Matt könnte darauf bestehen, dass er General Howard das Störgerät seines geheimnisvollen Besuchers aushändigte, falls er es ihm zeigte.

„Howard traut Ihnen nicht, mein Freund“, sagte Matt. „Er glaubt, Sie könnten hinter geschlossenen Türen intrigieren.“

„Er macht sich Sorgen, was ich hinter geschlossenen Türen tue?“

„Wenn Sie intrigieren, ja.“

„Wir ‚intrigieren‘ nicht. Unser Personal ist zu mir gekommen, weil sie verständlicherweise besorgt darüber sind, dass man sie bespitzelt und dass Deep Shield begonnen hat … unsere Umgebung zu manipulieren. Ohne unsere Erlaubnis.“

„Sie müssen uns beschützen, Chuck.“

Matt hatte die Stimme gesenkt und sich über den Tisch gebeugt, obwohl Chuck inzwischen überzeugt war, dass niemand mithörte. Lorstads Ding hatte offenbar funktioniert wie versprochen. Das war immerhin etwas.

„Verstehen Sie, wieso?“, fragte Matt. „Wir sind ein sehr wichtiger Vermögenswert für sie geworden. Sie wollen sicherstellen, dass nicht irgendeine ausländische Organisation daherkommt und uns ein Geschäft anbietet, das wir nicht ablehnen können. Wir wären ein enormer militärischer Vorteil für ein fremdes Land oder eine Terrororganisation.“

Chuck verzog angewidert das Gesicht. „Hat Howard das zu Ihnen gesagt?“

„Ja. Glauben Sie nicht, dass er recht hat?“

„Wahrscheinlich. Aber stört es Sie nicht, von einer Person in einen militärischen Vorteil verwandelt worden zu sein? Unsere Leute stört es gewaltig.“

„Geht es darum bei der ganzen Sache? Dann beruhigen Sie die Leute, okay? Howard will nur verhindern, dass wichtige Humanressourcen zu einer Beute werden.“

Chuck war die veränderte Rhetorik nicht entgangen. „Wenn Sie das sagen.“

„Ich sage es.“

Chuck öffnete den Mund, um Matt zu erzählen, was Lanfen bei Deep Shield gesehen hatte, aber er hielt sich im letzten Moment zurück.

Matt bemerkte sein Zögern. „Was ist?“

„Ich habe einen Kontakt im Pentagon angerufen, um wegen Deep Shield zu fragen. Ich muss mit einem halben Dutzend Leuten gesprochen haben, zwei davon auf Direktorenebene. Sie haben nie davon gehört.“

Matt lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Natürlich haben sie nie davon gehört. Und wenn, dann würden Sie es Ihnen nicht sagen. Es ist topsecret.“

„Der Technikdirektor hat mir Fragen nach ihnen gestellt, Matt. Die CIA sagt, sie hätten keine Ahnung, wer diese Kerle sind und …“

Matt stand auf und setzte seine Kaffeetasse abrupt ab. Kaffee schwappte auf den Tisch. „Alles, was recht ist, Chuck, Sie sind genauso paranoid wie der General. Kriegen Sie sich wieder ein. Diese Leute arbeiten in vertraulichen Bereichen. Würden Sie einem wildfremden Anrufer Ihre Geheimnisse verraten?“

„Paranoid? Ich bin paranoid?“ Chuck vergaß seine Vorbehalte, alles auszuplaudern. „Matt, Lanfen hat entdeckt, dass sie eine kleine Armee von Robotern verstecken, die sie selbst produziert haben. Roboter, die sie sorgsam sogar vor Dice verstecken.“

„Na und? Sie experimentieren mit verschiedenen Ausführungen. Wir haben erwartet, dass sie das tun, oder?“

Chuck holte tief Luft. Das führte nirgendwohin. Er ließ die Luft entweichen und schüttelte scheinbar resignierend den Kopf. „Ja, ja, wir haben es erwartet. Sie haben ja recht. Natürlich haben Sie recht. Das Team ist einfach … überempfindlich. Ich werde versuchen, sie zu beruhigen.“

„Ja?“ Matt sah erleichtert aus. „Das ist gut, denn auf Sie werden sie hören. Selbst Dice glaubt, dass ich zu sehr auf Schmusekurs mit Howard bin.“

„Na, das ist mal eine Vorstellung“, murmelte Chuck. „Ja, sicher, ich rede mit ihnen. Sofort am Montagmorgen.“

„Gut“, sagte Matt. „Gut. Vielleicht sogar noch früher, wenn Sie können. Vielleicht sollten Sie am Wochenende gleich noch eine Party schmeißen.“ Dann schien er sich zusammenzureißen und ließ Chuck allein am Küchentisch zurück, das Handy bereit, um beim FBI anzurufen.

Die Alpha-Zetas, wie sie sich selbst scherzhaft nannten, bildeten inzwischen eine feste Clique in den Reihen von Forward Kinetics. Besser so, um sich selbst zu schützen, dachte Sara. Sie beobachteten ihre Beobachter aufmerksam und verglichen täglich ihre Erkenntnisse. Sie fürchteten sich nicht vor Überwachung. Tim hatte Wege gefunden, die Kameras über die Software lahmzulegen, während Mike auf mechanischem Weg Abhörvorrichtungen ihren Geist aufgeben und Kameras einfach in die falsche Richtung schauen ließ. Sara lernte gerade beide Formen der Manipulation, war von den Fähigkeiten der beiden aber noch weit entfernt.

Mike war besonders skrupellos, was die Überwachungsausrüstung der Deeps anging. Er hatte Wanzen in seinem Haus entdeckt, und war so aufgebracht darüber gewesen, dass sie in die Privatsphäre seiner Familie eindrangen, dass er mehrere ihrer Geräte eines „natürlichen“ Todes sterben ließ.

„Mich zu überwachen ist eine Sache“, hatte er zu Sara gesagt, „aber meine Frau und die Kinder zu beobachten, ist eine ganz andere. Sie haben mit dieser Geheimhaltungsscheiße nichts zu tun und werden auch nie etwas damit zu tun haben.“

Falls die Deeps ahnten, dass das gelegentliche Versagen ihrer Ausrüstung und ihr Kommunikationschaos nicht nur zufällige Pannen waren, dann sagten sie es jedenfalls nicht, und die Zetas achteten darauf, sie nicht mit der Nase darauf zu stoßen. Sie hielten sich sklavisch an ihr Programm und lehrten nur das, was sie laut Vertrag lehren mussten: grundlegende, stupide Beeinflussung von Dices patentierten Servos und Software-Engines mit einem hoch entwickelten Kobayashi-Modul, das ihnen die Arbeit erleichterte. Es war somit vielleicht keine Überraschung, dass keiner der Deeps – nicht ein einziger – direkt mit der Hardware oder der Software arbeiten konnte.

Die Alpha-Zetas kommunizierten häufig genug mit den anderen Mitgliedern des Teams – den Beta-Zetas, wie Sara sie für sich nannte –, um zu wissen, dass auch sie direkt mit ihren Geräten arbeiteten und in Bezug auf die Smiths, den Deep Shield Humvee mit seinen geschwärzten Fenstern oder die Anlage des Militärs, die keiner von ihnen jemals von außen gesehen hatte, genauso wenig begeistert waren wie die Alphas.

„Sie könnte verdammt noch mal direkt unter dem Weißen Haus liegen“, hatte Tim eines Tages bemerkt. „Oder unter dem Washington Monument. Wäre es nicht verrückt, wenn sie unter dem Washington Monument liegen würde?“

Die erschreckende Neuigkeit, dass man Eugene gefolgt war, genügte, damit Sara eines Mittwochnachmittags in Chucks Büro auftauchte. Sie wollte versuchen, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie er auf all das reagierte, aber als sie dann dort war, wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

Die beiden starrten sich einen Moment lang an wie ein Paar erschreckter Eulen, dann sagte Sara: „Wissen Sie eigentlich, wie viele Gruppen wir voraussichtlich noch ausbilden müssen, bevor unser Vertrag erfüllt ist?“

Brenton blinzelte und nahm seine Brille ab. „Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich würde sagen, noch mindestens zwei.“

Sie nickte und überlegte fieberhaft, wie sie am besten nach dem fragen könnte, was sie eigentlich wissen wollte. „Ich habe mich immer noch nicht an die Vorstellung gewöhnt, dass sie wahrscheinlich alles abhören, was wir sagen.“ Sie sah ihn so eindringlich an, wie sie nur konnte, schlug mit einer Hand leicht an ihr Ohr und zog fragend die Augenbrauen hoch.

Er erwiderte ihren Blick für einen Moment und sah dann rasch zur Bürotür, die sie hinter sich geschlossen hatte. „Sie versuchen es mit Sicherheit. Mein Büro ist jedoch eine Insel der Stille und geistigen Gesundheit.“

„Sind Sie sicher? Wie das?“

„Ich habe Mittel und Wege.“

„Werden sie es nicht seltsam finden, dass es in Ihrem Büro so still ist?“

„Oh, ich lasse sie mehrmals täglich Dinge mithören. Normalen Arbeitsalltag. Aber im Moment sind sie ausgesperrt.“

Saras Knie fühlten sich plötzlich weicher an als noch einen Augenblick zuvor. Sie nahm gegenüber von Chuck Platz. Die Alpha-Zetas hatten sich mit den Betas nur selten und unregelmäßig austauschen können, aus dem einfachen Grund, weil der General und seine Lakaien anscheinend enorme Anstrengungen unternahmen, die beiden Gruppen getrennt zu halten. Sie hatte hundert Mal überlegt, Chuck anzurufen und ihn zu fragen, ob es einen Ort gab, wo sie sich treffen konnten, ohne belauscht zu werden. Bis heute hatte sie jedes Mal gezögert.

Wie viel Zeit haben wir verloren, weil ich so unschlüssig war?

„Mir gefällt nicht, was hier passiert, Doktor“, sagte sie. „Keinem in meinem Team gefällt es. Die Deeps, die Smiths … ich meine, das Wachpersonal …“

Brenton lächelte. „Ja, wir nennen sie auch so.“

„Es ist, als würden wir uns auf sehr dünnem Eis über einem bodenlos tiefen See bewegen. Und unter uns gehen Dinge vor sich, die beängstigend sind.“ Sie streckte das Kinn vor und sah den Wissenschaftler prüfend an. „Natürlich werden Sie jetzt vielleicht sagen, ich bilde mir alles nur ein oder übertreibe …“

„Ich werde nichts dergleichen sagen, Sara. Sie haben unsere Gärtner durch ihre Leute ersetzt, sie lassen uns verfolgen …“

Sara sog die Luft scharf ein, weil er ihren Verdacht bestätigte. „Verdammt.“

„Und es ist mir auch nicht entgangen, dass die Leute des Generals alles dransetzen, die beiden Teams der Zetas getrennt zu halten.“

„Dann bin ich also nicht die Einzige.“

Er lächelte wieder. Der Mann schien wirklich in keiner Lage seinen Humor zu verlieren.

„Nein“, sagte er. „Sie sind nicht paranoid, Sara. Sie beobachten uns wirklich. Ich glaube, es liegt einfach daran, dass sie mir nicht trauen, und Ihr Team betrachten sie als die in der Praxis am weitesten Fortgeschrittenen. Sie, Mike und Tim sind die Hexer, was unser System angeht, und damit sind Sie ihnen offenbar am wichtigsten. Lanfens Disziplin ist eine speziellere Ebene als Ihre, und Minis Kunst ist für sie nichts als schmückendes Beiwerk.“

Etwas an der Art, wie er es sagte, ließ sie nachhaken. „Wollen Sie andeuten, dass Mini möglicherweise mehr als nur schmückendes Beiwerk ist?“

Ein fast schon bösartiger Ausdruck trat auf Chucks Gesicht. „Wir drängen ihnen den vollen Umfang unserer … Errungenschaften nicht direkt auf.“

Jetzt lächelte auch Sara. „Wir ebenfalls nicht.“

Sie berichtete ihm in groben Zügen, wozu Mike und Tim fähig waren, was die unmittelbare Beeinflussung von Mechanismen anging. Er war sprachlos vor Staunen.

„Ungeachtet all dessen“, sagte Sara, als sie ihren kurzen Bericht abgeschlossen hatte, „können wir uns nicht weiter auf diese Weise treffen. Mike kann tote Winkel für uns schaffen und sogar ziemlich wirkungsvoll an den Kameras herumpfuschen, aber das wird nach einer Weile verdächtig wirken. Und wenn ich wiederholt zu Ihnen ins Büro komme, wird es ebenfalls auffallen.“

Chuck kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Genau wie wenn wir plötzlich anfangen würden, privat zu verkehren.“

„Dice arbeitet ziemlich oft mit uns. Vielleicht gibt es einen Weg, wie ich ihm Informationen zukommen lassen kann. Sobald er es kapiert hat, fällt ihm sicherlich etwas ein, um zu antworten. Er ist ein schlauer Kerl.“

„Ja, das ist er“, stimmte Chuck zu. „Schauen Sie, was Sie tun können, Sara.“

Sie erkannte, was sie tun konnte, als sie am folgenden Nachmittag einen Gebäudeaufriss differenziert umsetzte, um ihre Fähigkeiten mit einer neuen Software zu testen. Aus einer „Laune“ heraus fügte sie einige Beschilderungen und raffinierte Elemente in ihre Darstellung ein.

„Gefällt Ihnen meine Arbeit, Dice?“, fragte sie, als sie das Gebäude fertig hatte.

Er sah auf. Stutzte. Erst stand Verwirrung in seinen Augen, aber dann zauberte das Licht des allmählichen Begreifens ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Sie gefällt mir sehr“, sagte er. „Kann ich ein Exemplar davon behalten? Ich weiß, es ist nur ein Übungsentwurf, aber …“

„Natürlich.“

„Vielleicht“, sagte Dice, „könnten Sie sogar ein paar von meinen Roboterentwürfen umsetzen?“

Und so geschah es. Er gab Informationen in seinen Anweisungen für die Roboter an sie weiter, und sie übermittelte Informationen an ihn in ihren Ausführungen. Meist waren es kurze Berichte über die Fortschritte bei ihrer privaten Arbeit an ihren Fähigkeiten oder neue Beobachtungen, was das Verhalten der Deeps anging. Komplexere Dinge wurden bei kurzen Treffen, meist zwischen Dice und Mike, kommuniziert.

Es war schon ironisch, dachte Sara, als sie ihrer Gruppe Deeps beim Üben mit der Konstruktions-Software zuschaute, die sie handhaben sollten. Die Zetas hatten diese Arbeit mit dem Ziel begonnen, ihr praktisches Können an ihre Klienten weiterzugeben, und inzwischen arbeiteten sie daran, es vor ihnen geheim zu halten. Die armen Deeps wussten nicht, was sie nicht wussten … glaubte sie zumindest.

Sie erkannte erst eines Dienstags beim Lunch, dass sich das Szenario änderte. Sie war an der Reihe, sie alle in das Restaurant zu chauffieren, das die Zetas regelmäßig besuchten, und wartete mit Mike mehrere Minuten lang auf dem Parkplatz, bis Tim erschien. Sara sah ihm an, dass er aufgebracht war, als er in den Wagen stieg. Sein Gesicht war rot, die Augen blitzten, und er hatte die Augenbrauen zu einem aggressiven Stirnrunzeln zusammengezogen.

„Was ist los, Junge?“, fragte Mike und lugte um die Kopfstütze zu dem jüngeren Mann nach hinten. „Du siehst aus wie eine Gewitterwolke.“

„Ist es sicher hier? Sind wir ungestört?“, fragte Tim zurück.

Mike verdrehte die Augen, dann schloss er sie für einen Moment, ehe er nickte. „Ja. Was ist los?“

„Die imperialistischen Affenjungen stellen Fragen“, sagte Tim in düsterem Ton.

„Um Himmels willen“, sagte Sara und lachte. „Was für Fragen?“

„Einer der Typen hat mich gefragt, ob es eine Möglichkeit gibt, wie sie Hardware direkt beeinflussen können – die Kobayashi-Servo-Module umgehen und direkt auf die Hardware und eingebaute Software einwirken. Dann fing er davon zu reden an, Signale durch die Leiterbahnen auf einer Platine buchstäblich umzuleiten, sodass die Eingabebefehle Dinge bewirken, die nicht geplant gewesen waren.“

Sara blickte geradeaus, legte den Gang ein und fuhr los. In ihrem Kopf ging es wild durcheinander. „Zu Sabotagezwecken?“

„Das war das Einzige, was ich mir denken konnte“, sagte Tim. „Aber es ist nicht mein Fachgebiet. Mit Hardware oder Firmware habe ich nichts zu tun. Ich bin Programmierer. Maschinensprache, ja, die kann ich manipulieren. Einsen und Nullen sind meine Muttersprache. Aber diese Typen …“ Er blickte einen Moment wie geistesabwesend aus dem Fenster, ehe er sich wieder zusammenriss. „Wisst ihr, dieser kleine Kommandeur hat da etwas gesagt …“

„Wer?“, fragte Mike.

„Der ranghöchste Offizier – wie heißt er noch? Ortiz. Er ist Lieutenant Commander und lässt es mich nicht vergessen. Behandelt mich wie …“ Er fing Saras Blick im Rückspiegel auf. „Jedenfalls hat er eine Bemerkung gemacht, sie müssten in den Untergrund gehen, um … wie hat er es genannt? Um ihr Gelerntes zu festigen. Er sagte, seiner Meinung nach würden wir unsere letzte Rekrutengruppe in einigen Wochen bekommen.“

„Die letzten Rekruten?“, wiederholte Mike. „Ist das nicht eine gute Nachricht? Dann sind wir fertig mit ihnen und können zurückgehen zu …“

„Glaubst du wirklich, sie lassen uns zu einem Leben zurückkehren, wie es einmal war?“, fuhr ihn Tim an. „Wir sind ein verdammtes Sicherheitsrisiko.“

„Beruhige dich, Tim. Wenn wir einen neuen Haufen Rekruten bekommen, heißt das, die aktuelle Gruppe glaubt, sie ist bereit für ihren Abschluss.“ Sara sah stirnrunzelnd zur Straße. „Der Typ, der gefragt hat, wie man die Firmware manipulieren könnte – das war nicht derselbe, der von den neuen Rekruten gesprochen hat, oder?“

„Nein. Es war einer seiner Lakaien – Pierce.“

„Hattest du den Eindruck, dass er in offiziellem Auftrag fragt?“

„Na ja, jetzt wo du es sagst. Ortiz und der Rest seiner Mannschaft scheinen leidenschaftliche Programmierer zu sein. Pierce ist anders drauf – er ist vielleicht ein bisschen zu neugierig.“

„Ja, aber Ortiz ist der, auf den es ankommt, richtig? Und wie es sich anhört, glaubt er, dass sie alles an Training haben, was sie brauchen. Und da niemand von ihnen die Fähigkeit erkennen ließ, Hardware ohne eine Schnittstelle zu steuern …“ Mike zuckte mit den Achseln. „Dann war’s das wohl.“

„Ja, vermutlich.“

„Und was noch besser ist: Die Sachen, die du gesagt hast, dass sie uns nicht gehen lassen würden – hey, wir sind amerikanische Bürger. Wir haben Familien und Freunde. Sie können uns nicht einfach verschwinden lassen. Schlimmstenfalls lassen sie uns bombastische, megastrenge Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben, sodass wir schon sehr dämlich sein müssten, sie zu brechen.“

Tim verzog spöttisch den Mund. „Ach ja? Glaubst du? Und wie sieht bestenfalls in deiner sonnigen kleinen Schneekugel aus?“

„Es sieht so aus, dass sie uns bezahlen, sie ziehen mit einer Ermahnung ab, die Verschwiegenheitserklärung zu beachten, die wir bereits unterschrieben haben, und wir gehen unseren Geschäften im Privatsektor nach. Ich bin jedenfalls froh, wenn sie nach der nächsten Rekrutengruppe Leine ziehen. Dann kann alles wieder normal werden.“

„Vielleicht“, sagte Sara. „Vielleicht auch nicht. Ich habe fast schon vergessen, wie normal aussieht.“

Sie heckten den Plan in einer asiatischen Suppenküche im Einkaufszentrum am Hafen aus. Eugene hatte gehofft, er würde simpel und idiotensicher sein, aber das schlossen die vertrackten Bedingungen im Hauptquartier der Deeps aus. Ihre Dienstpläne waren so angelegt, dass Sara, Mike und Tim am Montag, Dienstag und Mittwochvormittag für jeweils sechs Stunden dort waren; Lanfen und Mini kamen am Mittwochnachmittag und arbeiteten dann noch jeweils sechs Stunden am Donnerstag und Freitag. Dices Dienstplan änderte sich laufend, aber er war an den meisten Tagen für eine gewisse Zeit anwesend.

Da sie das wussten, hatte sich Team Chuck (der Spitzname stammte von Eugene) Mittel und Wege ausgedacht, wie sie vorhandenes Talent zur Erreichung ihrer Ziele einspannen konnten. Zumindest hatten Lanfen und Mini sich etwas ausgedacht; Eugene und Chuck waren nur dagesessen, hatten Nudeln geschlürft und zugesehen, wie sie einen Plan ausheckten, bei dem die beiden Männer nur als Hilfspersonal, zu Ablenkungsmanövern oder für einen tapfer eingestreuten Witz taugten.

„Ich kann jeden Roboter steuern“, hatte Lanfen gesagt. „Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Ich meine, ich kann es natürlich schon, aber mein Ich, das zurückbleibt, befindet sich in einem Zustand tiefer Konzentration, und so kann ich mich nicht präsentieren, wenn ich mit der Gruppe zusammen bin. Das war letztes Mal nur machbar, weil sich mein Fahrer verspätet hat. Ich brauche eine Art Deckung.“

Eine Weile hatte frustriertes Schweigen geherrscht, bis Mini sagte: „In der Damentoilette auf der D-Ebene gibt es einen Putzschrank. Zwischen der Cafeteria und ihren inneren Laboren. Wenn wir dich, sagen wir am Mittwochabend in diesen Schrank bringen könnten, dann könntest du den Roboter über Nacht aktivieren, richtig?“

„Ja, sicher, aber mein Fahrer wird sich wundern, wo ich geblieben bin.“

Daraufhin hatte Mini von einem Ohr zum andern gegrinst und dann einen Blick in den Gang geworfen, der zu den Toiletten des Restaurants führte. „Schaut mal, wer da ist.“

Sie schauten wirklich alle und sahen Lanfen aus dem Gang ins Restaurant kommen. Sie blieb kurz stehen und winkte ihnen zu, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück in Richtung Damentoilette. Tatsächlich marschierte sie bis direkt an die Tür und verschwand.

„Fantastisch“, sagte die Lanfen, die am Tisch saß.

„Danke.“ Mini strahlte.

„Du schlägst also vor“, sagte Chuck, „dass die Lanfen, die am Mittwochabend Deep Shield mit dir verlässt, eine Fata Morgana ist?“

Mini nickte.

„Wir müssen mich in die Damentoilette bringen“, sagte Lanfen. „Wobei hineinkommen natürlich keine große Sache ist. Aber wie komme ich hinein, ohne dass die Wachleute bemerken, dass ich nicht mehr herauskomme? Wir könnten vielleicht das Störgerät benutzen …“

Chuck sog scharf die Luft ein. „Wir können uns aber nur dank diesem Gerät ungestört auf dem Firmengelände besprechen.“

„Darum könnte sich Mike vorübergehend kümmern“, schlug Mini vor.

Chuck nickte. „Okay, gut. Das könnte funktionieren. Ich werde mir einen stichhaltigen Grund ausdenken müssen, ihn in mein Büro zu holen, aber das ist mein Problem.“

„Wunderbar“, sagte Lanfen. „Sobald der Laden für die Nacht dichtgemacht ist, müsste es mir möglich sein, Brians Roboter Thorin zu aktivieren und eine kleine Wanderung zu unternehmen.“

„Und am Morgen“, fuhr Mini fort, „komme ich mit der virtuellen Lanfen und frischer Kleidung in die Damentoilette, und wir gehen zusammen hinaus. Wir müssten die Überwachungskameras nur für ein, zwei Augenblicke stören.“

„Mein Gott, ihr seid fantastisch“, sagte Eugene. „Und furchterregend. Furchterregend fantastisch.“

„Frage“, sagte Lanfen, sah zuerst Eugene an und hob dann eine Hand. „Der Roboter sollte Videobilder direkt an Chuck und Euge übermitteln können. Wie machen wir das?“

Dice hatte später die Antwort darauf. Während Lanfen am Mittwochnachmittag ihre Gruppe trainierte, trat bei Thorin ein rätselhaftes Problem mit dem Gleichgewicht auf, das Daisuke Kobayashis kundige Hand benötigte. Als der Roboter in den Übungsraum zurückkehrte, war sein Videosystem manipuliert. Lanfen, die persönlich die Schwindelanfälle des Roboters arrangiert hatte, tastete nun nach dem Schalter, den Dice installiert hatte, als er angeblich den Kreiselstabilisator neu einstellte. Sie würde diesen Schalter umlegen, wenn sie so weit war, Thorin von seinem Ruheplatz zu holen. Seine Videobilder würden dann live an Chucks persönlichen Laptop geschickt werden.

Matt Streegman war an diesem Nachmittag mit ihnen zu den Deeps gefahren – was Dice Kobayashi zapplig vor Nervosität werden ließ. Lanfen warf ihm jedoch einen Blick zu, und der Ingenieur beruhigte sich. In der Anlage von Deep Shield war Matt dann im öffentlichen Bürobereich verschwunden und zu einer Besprechung mit General Howard und seinem Beraterstab geführt worden. Dice, Mini und Lanfen waren jeweils zu ihren Ausbildungsgruppen gegangen.

Lanfen war neugierig, was Matt und Howard dieser Tage zu besprechen hatten. Sie überlegte, ob es nicht eine Möglichkeit gab, Matt mit einer Abhörvorrichtung auszustatten, ohne dass er es merkte. Allein der Gedanke löste Schuldgefühle bei ihr aus, aber dann rief sie sich in Erinnerung, was sie heute noch tun würde und warum sie es tat. Sie schob die Schuldgefühle beiseite. Howard hatte sie zuerst abgehört. Den Spieß umzudrehen, war nur fair.

Lanfen musste zu Atemübungen und mentalen Tricksereien Zuflucht nehmen, um nicht ständig nur an die bevorstehende Spionagemission zu denken. Sie wollte keine gespannte Erwartung aufkommen lassen, denn daraus entwickelte sich nur zu leicht Furcht. Sie achtete auch deshalb besonders auf ihre Seelenlandschaft, weil sie so aufmerksame Rekruten hatte. Ein leichter Wellenschlag scheinbar verborgener Angst in einem unbedachten Augenblick konnte das Radar bei irgendwem auslösen.

Sie bemerkte, dass Brian Reynolds sie während des Nachmittagsblocks ständig beobachtete. Anschließend kam er auf sie zu.

„Ist irgendetwas mit Ihnen, Lanfen?“

Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Mir geht es gut. Wieso?“

„Sie wirken nervös. Nervös für Ihre Verhältnisse, jedenfalls.“ Er lächelte. „Natürlich würde man bei den meisten Leuten immer noch sagen, dass sie entspannt, ruhig und gefasst aussehen.“

Die kleinen Rädchen in ihrem Kopf arbeiteten. Was könnte ihren Adrenalinausstoß in die Höhe treiben? „Es ist wegen meines Shifus, Meister Chu. Der Mann, der ihm alles beigebracht hat, was er kann, besucht sein Kwoon – seine Schule – und er hat mich gebeten, einige der anspruchsvolleren Shaolinquan- und White-Crane-Techniken zu demonstrieren, die er mich gelehrt hat.“ Das stimmte sogar. Dass sie deshalb nervös war, stimmte nicht. „Eine Vorführung für Shifu Chu ist schon furchteinflößend genug, auch wenn ich es gewöhnt bin. Eine Vorführung für seinen Meister ist der blanke Schrecken.“

„Ja, das verstehe ich. Es ist, wie wenn ich meinem Dad etwas zeigen muss. Mein Auftritt für General Howard an Ihrem ersten Tag hier war nur ein Fegefeuer. Ein Auftritt vor meinem Dad ist die Hölle.“

Dann machte er kehrt und marschierte zum Roboterlager. Die Deep-Shield-Leute achteten sehr darauf, ihre Roboter nie mit jemandem von Lanfens Team allein zu lassen. Sie berührte den Videoschalter in Gedanken wieder und stellte fest, dass Brian mental noch nicht einmal zuckte. Er schien nichts von ihrer Gegenwart zu ahnen.

Sie zog sich wieder aus dem Roboter zurück, holte tief Luft und ging zu Mini und Dice in die Cafeteria. Mini sah aus wie Mini immer aussah. Dice zerpflückte eine Serviette.

„Hallo“, sagte Lanfen beiläufig, als sie an ihren Tisch trat. „Ich muss noch aufs Häuschen, bevor wir fahren.“

„Oh“, sagte Mini und sprang von ihrem Stuhl auf. „Ich auch.“

Sie gingen zur Damentoilette.

Dort angekommen, machte Lanfen tatsächlich Gebrauch von ihr. Erstaunlich, wie die menschliche Blase auf Stress reagierte. Dann gingen sie und Mini zur Tür der Toilette und öffneten sie. Lanfen trat halb auf den Flur hinaus und aktivierte Chucks geheimnisvolles kleines Störgerät. Mini ging weiter, scheinbar mit Lanfen an ihrer Seite. Lanfen versuchte, sich nicht vom Anblick ihres eigenen, sich entfernenden Rückens aus der Fassung bringen zu lassen, und schlüpfte zurück in die Toilette, wo sie direkt zu dem Putzschrank in der Ecke neben der Tür ging. Er war versperrt. Sie brauchte nur Sekunden, um in den Zeta-Zustand zu kommen. Ihre Vorstellungskraft war sehr buchstäblich: Sie sah sich selbst in das Schloss fahren, um mit erhöhten Sinnen den Mechanismus zu erkunden und die Zuhaltung zu erspüren. Zu erspüren und zu beeinflussen. Es erforderte einen Moment Konzentration – und die Erinnerung an jenes Youtube-Video über Schlösserknacken, das sie einmal angeschaut hatte, nachdem sie sich aus der Wohnung gesperrt hatte – dann war die Tür offen.

Der Schrank war voller Dinge, die man in einem Putzschrank erwartet: Staubsauger, Wischmopps, Toilettenpapier und dergleichen. Es roch nach Reinigungsmittel und Papier.

Lanfen verzog das Gesicht, schloss die Stahltür und ließ sich hinter einem großen Rollwagen mit zwei Abfallbehältern auf dem Boden nieder. Sie sah auf ihr iPhone. Es ging auf halb sieben zu. Sie steckte sich einen Kopfhörer ins Ohr für den Fall, dass Chuck anrief, und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie die Einrichtung für die Nacht dichtmachten. Und woran sie es überhaupt merken sollte.

Die Lösung kam schnell und mit einem Schuss Selbstverachtung. Lanfen nahm ihre Sinne zusammen, schloss die Augen und stellte sich Thorin in seiner kleinen Nische vor. Dann streckte sie ihre mentalen Fühler nach ihm aus …

Er war nicht da.

Verdammt! Brian musste noch anderswo mit ihm unterwegs sein. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Um ihn zu beruhigen, absolvierte sie mehrere ihrer Rituale, ehe sie das Unwohlsein verbannte. Dann versuchte sie noch einmal, den Roboter zu erreichen, voller Anteilnahme für ihn, weil er in seinem engen Raum feststeckte, genau wie sie in diesem Schrank. Diesmal hatte sie Erfolg. Er war da in seiner Wandvertiefung. Sie spähte durch seine Optik in die Werkstatt hinaus. Vier Techniker arbeiteten an den Tischen in der Mitte des großen Labors. Brian Reynolds stand unmittelbar vor der Tür und plauderte mit einem weiteren Mitglied ihrer Ausbildungsgruppe. Sie sah, wie die beiden Männer sich umdrehten und den Raum verließen.

Super, dachte Lanfen. Zwei erledigt, bleiben noch vier.