KAPITEL 24

Filmabend

Chuck kam zu dem Schluss, dass Eugene einen kranken Humor haben musste. Denn den brauchte es wohl, um ausgerechnet Transformers als den Film auszusuchen, den sie angeblich schauten, um ihre geheimen Aktivitäten zu tarnen. Eugene und Dice trafen als Erste bei Chuck ein, um die Filmvorführung vorzubereiten. Typisch für Dice hatte er dem Videostream eine Audiospur angefügt mit unverständlichen Gesprächsfetzen, Lachen und anderen Geräuschen an den passenden Stellen. So etwas taten nur eingefleischte Nerds.

„Übrigens hat dein Kammerjäger eine dieser Werbebotschaften an den Türknopf gehängt. Ich habe sie auf den Tisch im Flur gelegt.“

Chuck warf einen Blick in die Eingangshalle. „Ich habe keinen Kammerjäger.“

Eugene runzelte die Stirn unter dem dunklen Lockenschopf. „Jetzt hast du einen.“

Chuck ging in den Flur und fand das Kuvert, wie von Eugene angegeben. Es stammte von einem bekannten Schädlingsbekämpfungsunternehmen am Ort, das Chuck jedoch noch nie beschäftigt hatte. Dem Umschlag lag sogar ein Angebot für einen monatlichen Service bei. Er konnte nur bewundern, wie sich die Deep-Shield-Crew absicherte. Hätte er die Nummer auf dem Kuvert angerufen, wäre er an einen echten Kammerjägerservice geraten, der ihn für vierzig Dollar monatlich mit Freuden als Kunden registriert hätte.

Mini traf mit der Lanfen-Attrappe im Schlepptau später ein. Dafür war eine Pantomime epischen Ausmaßes nötig gewesen. Sie hatte zu Lanfens Townhouse fahren, sie an der Tür fabrizieren und dann zu Chuck weiterfahren müssen. Man hätte schon den Verdacht hegen müssen, dass man einen Doppelgänger vor sich sah, um die Täuschung zu bemerken, und Chuck hätte gewettet, dass die Mehrzahl der sehr nüchternen und vernünftigen Agenten, die man ihnen zugeteilt hatte, absolut nicht zu einem solchen Verdacht neigten.

Eugene hatte Mike in aller Öffentlichkeit zu ihrem Filmabend eingeladen, und er brachte Softdrinks und Bier mit. Sie bestellten Pizza. Sie machten Popcorn. Sie unterhielten sich über ihre Ausbildungserfolge, bis es Mike gelungen war, die Überwachungsgeräte ausfindig zu machen, die Deep Shield in Chucks Arbeitszimmer installiert hatte. Mike manipulierte sie so, dass nur das statische Bild eines leeren Arbeitszimmers zu sehen und der Ton ganz abgedreht war.

Chuck winkte Mike in den frisch abgeschirmten Raum und schrieb einen Zettel wegen der Kammerjäger. Der Bauingenieur durchkämmte daraufhin das gesamte Haus und fand zwei Wanzen in der Küche, die zuvor nicht da gewesen waren, wie Chuck mit Bestimmtheit wusste. Ohne Frage hatte man sie als Reaktion auf die mangelhafte Leistung der ursprünglichen Geräte installiert. Sie ließen diese neuen Wanzen in Ruhe, aber es störte Chuck, dass seine Hausalarmanlage die Deep-Shield-Leute nicht abschrecken konnte.

Nachdem das Überwachungsproblem gelöst war und der präparierte Film lautstark im Wohnzimmer lief, versammelte sich das Team im Arbeitszimmer. Chuck hatte den Raum für ihre subversiven Aktivitäten gewählt, weil er exakt in der Mitte des Obergeschosses lag, keine Fenster hatte und andere Räume nach allen Seiten als Puffer dienten. Er hatte ihn speziell für das Studium neurologischer Röntgenstrahlen so konzipiert.

Er stellte seinen Laptop auf den Schreibtisch und wartete darauf, dass die Zuspielung von Thorin anfing. In der Zwischenzeit bemühten sie sich, in jeder Weise wie eine Gruppe Freunde bei einem Filmabend zu wirken. Sie liefen wiederholt in die Küche, aßen Pizza und Popcorn und sahen angeblich einen Film über empfindungsfähige Roboter.

Um 20.04 wurde Lanfen aus ihrer Meditation gerissen, weil die Toilettentür auf- und wieder zuging. Die Schritte bewegten sich zuerst tiefer in den Raum, und sie hörte das Geräusch von Metall auf Metall. Jemand kontrollierte die Papierspender in den Kabinen, was bedeutete …

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Wenn die Spender neu befüllt werden mussten, würde die Reinigungskraft diesen Schrank öffnen müssen, und das durfte nicht geschehen. Anders als Mini konnte sie nicht das Aussehen eines Staubsaugers annehmen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Schließmechanismus in der Tür zu und glitt in ihren Zeta-Zustand. Dann attackierte sie die Zuhaltungen und hielt sie verbissen fest. Aus einer Eingebung heraus neigte sie eine von ihnen in eine neue Stellung.

Kaum hatte sie es getan, steckte der Reinigungsarbeiter seinen Schlüssel ins Schloss – oder vielmehr versuchte er, ihn hineinzustecken. Mit den neu geordneten Zuhaltungen war das unmöglich. Der Schlüssel passte schlicht nicht mehr.

Lanfen hörte den Mann durch die Tür frustrierte Geräusche von sich geben. Er versuchte ein zweites und ein drittes Mal, den Schlüssel ins Schloss zu bringen, er fluchte laut und bildhaft und schlug mit der Faust an die Tür. Schließlich holte er ein Handy – oder vielleicht war es auch ein Funkgerät – hervor und rief seinen Vorgesetzten an.

Lanfen zog den Kopfhörer aus dem Ohr und lauschte aufmerksam.

„Sergeant, ich habe ein Problem hier unten auf der Damenlatrine im D-Geschoss. Das Scheißschloss von dem Scheißputzschrank ist im Arsch … Nein, ich meine richtig im Arsch. Ich kriege den Schlüssel nicht mal mehr rein. Da muss jemand dran herumgepfuscht haben.“

Es gab eine kurze Pause, während der Mann seinem Sergeant zuhörte. „Ja, ja, Sie haben recht“, sagte er dann. „Heute Abend lässt sich da nichts mehr machen. Rufen Sie doch beim Facility-Management an, die sollen sich darum kümmern, okay? Ich hole mir inzwischen bei den Männern, was ich an Nachschub brauche … Ja, danke, Sarge.“

Er ging, nicht ohne der Tür noch einen kräftigen Tritt zu verpassen. Später kam er noch einmal, offenbar mit Zeug, das er aus der Männertoilette auf der anderen Seite des Flurs geholt hatte. Lanfen hörte ihn saugen und den Boden wischen, Spender auffüllen, Toiletten spülen, Mülleimer leeren. Kurz nach neun war er fertig und ging, und es wurde unheimlich still.

Zeit.

Lanfen machte es sich bequem, holte tief Luft und tauchte wieder in den Zeta-Zustand, um nach Thorin zu greifen. Als sie durch seine Augen sah, fand sie sich in einem dunklen Raum wieder. Stille herrschte dort. Sie wartete und lauschte mithilfe der Audiosensoren des Roboters nach Geräuschen im angrenzenden Raum und im Flur.

In beiden war es still.

Lanfen aktivierte die Videozuspielung und ließ Thorin von seiner Ladestation steigen. Es war 21.05 Uhr. Sie hätte schwören können, dass sie spürte, wie der Stromfluss durch die Ladezellen in seinen Füßen plötzlich abbrach. Noch eine Verbesserung, die die Deeps eingeführt hatten – Bilbo musste immer noch über ein Kabel geladen werden, das man in seinem Brustkasten anschloss.

Lanfen brauchte einige Schritte, bis sie sich an den Unterschied in den Abmessungen zwischen Thorin und Bilbo gewöhnt hatte. Sie stellte sich vor, wie sie sich selbst ausdehnte, um die größere, schwerere Hülle zu füllen. Sie beugte und streckte die Gelenke, ließ den Kopf kreisen, passte sich an das neue Gewicht und die andere Statur an. Während sie sich mit aller Kraft darauf konzentrierte, wandte sie sich den schwereren Panzerrobotern am Ende der Reihe mit Ladestationen zu. Wie bei Thorin war jede Station mit einer einzigen, matt schimmernden LED-Lampe versehen, die den Nutzer der Station in ein bleiches Licht tauchte.

Sie baute sich genau vor einem dieser Roboter auf und musterte ihn langsam von seinem eierförmigen Kopf bis hinunter zu den Panzerketten. Sie hielt an den Unterarmen inne und ging in die Hocke, um einen besseren Blick auf die Hände und Finger zu erhalten. Dabei entdeckte sie dann ein seltsames Gebilde in der Mitte des Brustkastens, das sie an die Deflektorschilde erinnerte, die alle Schiffe der Sternenflotte in den Star-Trek-Folgen besaßen. Was ist das, fragte sie sich und betete, dass Chuck und die andern sahen, was sie sah.

„Was ist das?“, fragte Eugene und beugte sich zu dem Flachbildschirm vor, der an der Wand von Chucks Arbeitszimmer hing. „Eine Radarschüssel vielleicht?“

„Möglich“, sagte Dice und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Ich habe über den Einbau verschiedener Überwachungsgeräte mit ihnen gesprochen, aber …“

„Aber was?“, fragte Chuck, der auf dem Rand seines Schreibtischs saß.

Dice ging zum Bildschirm und zeigte darauf. „Zunächst einmal müsste sich der ganze Roboter um die eigene Achse drehen, um dreihundertsechzig Grad abzudecken, wenn eine Radarschüssel so wie hier fest in den Torso eingebaut ist. Und sehen Sie diese kleinen Vertiefungen im Kopf des Roboters? Und diese Blase auf dem Scheitel?“

Chuck nickte.

„Ich glaube, das ist das Überwachungssystem. Tatsächlich haben mich ihre Ingenieure gefragt, ob es ratsam wäre, einziehbare Transceiver im Kopf unterzubringen. Sie hatten Angst, es könnte den Kreiselstabilisator beeinträchtigen. Ich denke, dabei könnte es sich um das Radar oder Sonar handeln, oder welche Technik sie sonst benutzen.“

„Wofür ist dann dieser Deflektorschild?“, fragte Eugene.

„Wenn ich einen Tipp wagen darf – vielleicht ein EMP-Transmitter.“

Eugene machte große Augen. „EMP wie in elektromagnetischer Puls? Das könnte verheerende Schäden bei einem Gegner anrichten. Aber das ist nicht möglich, oder? Zumindest nicht in dieser Größe. Das ist …“

„Science-Fiction“, sagte Mini leise. Sie saß in einem zu weich gepolsterten Sessel neben Mike und hinter den drei Männern, die nervös um den Bildschirm herumstanden.

Thorin ging jetzt weiter, er wandte sich der Doppeltür zum angrenzenden Labor am Ende des Arbeitsraums zu. In drei langen Schritten hatte er sie erreicht und öffnete sie einen Spalt. Der Raum war menschenleer, das einzige Licht kam von den beleuchteten Schaltern selbst. Thorin verharrte einen Moment im Halbdunkel, dann sah die Gruppe in Chucks Haus den Raum unvermittelt in Infrarot.

Lanfen brachte Ordnung in das Trommelfeuer visueller Informationen und stieß tiefer in den Laborkomplex vor. Das Labor hier war ausschließlich Werkbänken und Computern vorbehalten – es diente vermutlich diagnostischen Zwecken. Es gab einige Ladestationen, aber nur eine davon war besetzt. Es war ein Roboter der Zwergenserie wie Thorin, aber beide Unterarme waren abmontiert. Sie sah sich um und entdeckte die fehlenden Teile auf einer der Werkbänke.

Sie bewegte sich darauf zu, damit ihre Gefährten in der Ferne ein Bild davon bekamen, was die Ingenieure mit den Armen taten. Es sah aus, als würde etwas neu darauf montiert, aber Lanfen erkannte nicht, was es war.

Als sie den Roboter ausgiebig gemustert hatte, ging sie zur nächsten Tür weiter. Die Labore, erkannte sie, waren eins hinter dem anderen angeordnet, allerdings gab es in jedem noch eine Tür, die auf einen zentralen Hof oder Korridor führte. Sie überlegte, einen Blick durch eine dieser Türen zu werfen, entschied dann aber, dass sie ihre Zeit besser nutzte, wenn sie die Labore eins nach dem andern erkundete.

Ein blinkendes rotes Licht hoch oben in einer Ecke machte sie auf die Tatsache aufmerksam, dass möglicherweise jemand beobachtete, wie sie – oder vielmehr Thorin – durch die Labore schlich. Der Gedanke ließ ihr Herz rasen und ihre Haut kalt werden. Sie bewegte den Roboter rasch zur Tür und freute sich, wie leise er war. Da sie ihn direkt steuerte, waren selbst die Servomotoren still. Das einzige Geräusch, das Thorin machte, war das leise Tappen seiner gepolsterten, mit Gelenken versehenen Füße.

Das dritte Labor war riesig, locker dreimal so groß wie die beiden, die sie gerade durchquert hatte. Es gab zwei lange Reihen Ladestationen, und jetzt hatte sie mehr als genug Licht, um durch Thorins normale Optik zu sehen. Sie schaltete die Infrarotlinse ab – und erstarrte. Die Stationen in den Nischen des lang gestreckten Raums enthielten eine kleine Armee gedrungener, kräftiger Roboter. Ihre Köpfe waren aerodynamisch geformt, wie Eier mit Fahrradhelmen. Unheilvoll aussehende Fahrradhelme – schlank, mit länglichen, schief stehenden Optik-Eingängen, als hätte jemand eine Hommage an die archetypischen Außerirdischen der 1960er im Sinn gehabt. Die Armaturen waren aus glänzendem, eloxiertem Stahl und mit Werkzeugen gespickt: Greifarme, ein Laserschneider und etwas, das wie ein kleiner Raketenwerfer aussah.

Ihr Telefon läutete. Sie meldete sich, indem sie den Schalter an ihrem Ohrknopf drückte. Dice flüsterte ihr ins linke Ohr: „Näher ran.“

Sie drehte Thorin zu dem am nächsten stehenden Roboter und suchte ihn von Kopf bis Kette visuell ab. Ihre Herzfrequenz stieg wieder. Das waren definitiv keine Roboter für die Tiefseerettung. Das waren mechanische Supersoldaten.

In ihrem Schrank schlang Lanfen die Arme um den fröstelnden Körper. Draußen im Labor spiegelte Thorin die Bewegung wider und legte die Arme klirrend an den Rumpf. Lanfen zischte leise einen Fluch und unterdrückte ihre Angst. Zaghaft streckte sie Thorins Hand aus und hob einen der Arme des anderen Roboters an, damit das Licht über der Nische die in eine Waffe verwandelte Hand beleuchtete.

In ihrem Ohr stockte Dice hörbar der Atem.

Chuck sprang in seinem Arbeitszimmer auf, sein Herz raste. „Was zum Teufel ist das?“

Dice trat neben ihn und ließ sein Handy mit aktivierter Lautsprecherfunktion auf dem Schreibtisch liegen. „Es gibt kein Magazin, aber da ist dieses Rohr. Ein Flammenwerfer vielleicht? Oder eine Plasma-Waffe?“ Er wandte den Kopf zum Telefon. „Lanfen, ist die andere Hand genauso? Kannst du sie uns zeigen?“

Thorin ließ die erste Hand wieder sinken und hob die zweite ins Licht. Oberhalb der beiden Mittelfinger war eine Art Düse. Wie bei der Waffe auf der anderen Seite führte ein Rohr davon in den Arm.

„Das ist eine Düse“, sagte Dice. „Kannst du näher zum Rumpf gehen? Zum Rücken hin ist eine merkwürdige Ausbuchtung. Ich kann nur kaum …“

Der Kamerawinkel veränderte sich, und ins Bild kam etwas, das für Chuck wie eine Art Tank aussah.

„Ein Feuerwehrroboter?“, murmelte Eugene hinter ihm. „Darüber haben wir gesprochen, wisst ihr noch? Das würde den Laserschneider und den Tank erklären, oder? Vielleicht versprüht er Kohlendioxid.“

Dice schaute skeptisch. „Möglich, aber …“

Aus dem iPhone fragte Lanfen. „Aber was, Dice? Wie können wir uns absolut sicher sein, dass das nicht ein harmloser Rettungsroboter ist?“

„Ich weiß es nicht, Lanfen. Kannst du schauen, ob irgendetwas darauf hindeutet, was sie in den Tank zu füllen gedenken?“

„Wie zum Beispiel?“

Dice wollte es nicht aussprechen. „Chemische Kampfstoffe.“

„Nein, nein, nein.“ Chuck schüttelte nachdrücklich den Kopf. Der Adrenalinstoß, den er beim Anblick des Roboters gespürt hatte, war zu einem eisigen Matsch geworden, der in seinen Adern hart wurde. „Ich denke, es ist Zeit, dass du wieder rausgehst, Lanfen. Zieh dich zurück.“

„Chuck, es kann gut sein, dass sie Thorin bereits hier unten herumspazierengesehen haben. Wir bekommen nur diesen einen Versuch, und ich will mir sicher sein. Wir müssen uns sicher sein.“

„Nicht, wenn wir dich dadurch in Gefahr bringen.“

„Mich in Gefahr bringen? Wie? Das bin nicht ich dort unten im Labor. Das ist ein Roboter. Sie haben keine Möglichkeit, herauszufinden, wer ihn steuert oder an welchem Ort sich diese Person befindet.“

„Aber sie können eine naheliegende Vermutung anstellen, Lanfen.“

„Thorin ist aber nicht ‚mein‘ Roboter, er ist der von Reynolds. Würde der Verdacht nicht automatisch auf ihn fallen? Hör zu, wir vergeuden nur Zeit. Ich gehe tiefer in die Anlage. Vielleicht gibt es irgendwo ein chemisches Labor oder etwas, das mir zumindest verrät, womit sie experimentieren.“

„Lanfen, bitte …“

„Lass es mich machen.“

Chuck drehte sich um. Mike war aufgestanden und starrte auf den Schirm.

„Sie hat recht, Doc. Wenn diese Hurensöhne tun, wonach es aussieht, dann müssen wir es wissen.“

Chuck sah wieder zum Monitor. Das Bild darauf tanzte kurz wie verrückt umher, ehe es auf der nächsten Doppeltür einrastete. Thorin ging hindurch in den nächsten Saal. Auch dieser enthielt Reihen von Robotern. Sie ähnelten denen im vorherigen Raum, waren jedoch nicht identisch mit ihnen. Thorin bewegte sich rasch zum ersten von ihnen und musterte ihn gründlich von Kopf bis Fuß, aber es gab nichts, was der Gruppe ins Auge gesprungen wäre.

Was jedoch ihr Interesse weckte, war etwas im nächsten Raum. Es war gelinde gesagt eine merkwürdige Sammlung von Dingen. Zusätzlich zu vier Ladestationen, von denen zwei besetzt waren, gab es Regale mit verschiedenen Roboterfortsätzen, alle mit verschiedenen Waffen oder Werkzeugen ausgerüstet. Einige der Waffen waren an den in die Oberarme eingebauten Munitionsmagazinen als Sturmgewehre erkennbar. Eine weitere Regalreihe enthielt Geschosse: winzige Raketen, eierförmiges Schrotkorn, Objekte, die wie kurze Harpunen aussahen.

„Ergibt Sinn“, murmelte Dice. „Genauso würde ich es jedenfalls machen. Ein Grundgestell für einen Roboter bauen, das man je nach Einsatz dann einfach mit wechselnden Teilen ausstattet.“

„Ich höre jemanden“, sagte Lanfen, und der Blick verschwamm wieder.

„Mach, dass du rauskommst“, sagte Chuck.

„Sie ist draußen, Chuck“, sagte Mini leise hinter ihm.

„Aber der Roboter …“

„Moment“, sagte Lanfen.

Sie bewegte den Roboter ans andere Ende des Labors, seine Optik war auf eine dicke, stahlverkleidete Tür gerichtet, wie man sie an einer Tiefkühlkammer oder einem Tresor findet. Es gab ein rundes Fenster in der Tür, das aus zwei dicken, im Abstand von zehn Zentimetern eingesetzten Glasscheiben bestand. Das Fenster wurde immer größer, bis es den Bildschirm zur Gänze ausfüllte.

Chuck erkannte, dass sie in einen kleineren Raum blickten, der Regalreihen voller Kanister enthielt. Er ging näher zum Monitor.

„Lanfen, kannst du auf die Etiketten scharfstellen?“

Aber sie tat es bereits. Das Bild stellte so schnell scharf, dass Chuck schwindlig davon wurde. Als er selbst wieder scharf sehen konnte, wurde die Beschriftung lesbar.

„Oh“, sagte Eugene mutlos. „Das ist kein CO2, oder?“

„Nein“, antwortete Chuck. „Es ist Methylphosphonsäuredifluorid.“

„Was ist das?“, fragte Mini.

„Man verwendet es, um Sarin herzustellen.“

Thorins Audiosensoren fingen nun definitiv Geräusche von Bewegung im angrenzenden Labor auf. War der Roboter entdeckt worden, oder drehte nur eine Wache ihre normalen Runden? Es war kein Alarm zu hören gewesen, aber das konnte natürlich daran liegen, dass sie den ausgerissenen Roboter – oder die Person, die ihn führte – überraschen wollten.

Die sich nähernden Geräusche kamen aus dem Labor, das Lanfen und ihr metallisches Gegenstück zuvor besucht hatten. Deshalb machte sie kehrt, bewegte sich so schnell und leise wie möglich zu einer der beiden nicht besetzten Ladestationen und stellte Thorin darauf. Obwohl sie teilweise demontiert waren, ließen ihn seine beiden Nachbarn winzig erscheinen. In einer Ecke ihres Bewusstseins gestattete sich Lanfen Erheiterung darüber, dass sie Thorin früher furchteinflößend und übergroß gefunden hatte.

Kaum hatte sie den Roboter reglos abgestellt, ging die Tür zum Labor auf und ein einzelner Wachsoldat trat ein und machte das Licht an. Sein Blick überflog das Labor einmal und landete auf Thorin. Er trat mit einer spöttischen Miene zu dem Roboter, als würde er seine Anwesenheit erheiternd finden. Er beugte sich vor, sein Blick war auf die rechte Schulter des Roboters konzentriert.

Adrenalin traf Lanfen wie ein elektrischer Schlag. Sie musste ihn von Thorin ablenken, und zwar sofort.

Gedankenschnell sprang Lanfen geistüber in den Kampf-Droiden, den sie im vorhergehenden Labor inspiziert hatte, fuhr ihn hoch und ließ ihn gegen die Werkbänke in der Mitte des Raums torkeln. Sie waren so massiv gebaut, dass kein Schaden entstand, aber es gab einen Höllenlärm.

Sie sprang rechtzeitig in Thorin zurück, um zu sehen, wie der Wachmann zur Tür zurückeilte, die Waffe zog und schnell in sein Headset sprach. Er verschwand im Nachbarlabor.

Na super – jetzt bin ich abgeschnitten.

Damit blieben ihr drei Möglichkeiten: Ihren Weg durch die untereinander verbundenen Labore fortsetzen und hoffen, dass die Wachen eine komplette Schleife drehten, sich in den Flur hinauswagten oder Thorin ließen, wo er war. Sie entschied sich für den Flur und spähte vorsichtig aus der Tür des Chemielabors.

Ihre Vorsicht war berechtigt. Auf dem Korridor herrschte etwas mehr Betrieb, als sie vielleicht gehofft hatte. Ein Wachtrupp lief bereits in das Labor, in dem sie den Krach mit dem Kampfroboter veranstaltet hatte.

Sie schätzte die Lage ab. Wenn sie weiter durch den Ring aus Laboren lief, würde sie am Ende in dem gegenüber von Thorins Unterkunft ankommen. Thorin verschwand also wieder in den Labors, eilte durch eins nach dem andern und übertrug alles, was auf seinem Weg lag. Dazu gehörte eine verblüffende Vielfalt von Roboterformen. Quälende, verstörende, erschreckende Formen. Es gab noch größere Kampfroboter, die mit noch stärkeren Waffen ausgestattet waren. Es gab geschmeidige, reptilienartige Roboter mit segmentierten Rümpfen wie dem von Bilbo und Magnetkrallen am Ende ihrer Fortsätze. Es gab andere vom gleichen Typ, aber von einem Taucheranzug bedeckt.

Keine Zeit, sie gründlich zu untersuchen. Ich kann nur hoffen, dass sich Dice und Chuck anhand der Bilder, die ich sende, zusammenreimen können, was das alles bedeutet.

Zeit war definitiv ein Faktor, und sie hielt nur gelegentlich kurz inne, um für eine neue Störung auf ihrem Weg zu sorgen – auch wenn es ihr nicht viel half. Alarmsirenen schrillten jetzt, und die Sensoren registrierten eine große Zahl menschlicher Füße, die über die Flure stürmten. Die zusätzlichen Sinnesreize und ihre halsbrecherische Flucht durch die Anlage ließ sie die Orientierung verlieren, und sie scheute davor zurück, ihren Roboterkopf noch einmal in den Flur hinauszustrecken. Nachdem sie Gebete um Weisheit an ihre Vorfahren geschickt hatte, erspähte Lanfen schließlich eine leere Ladestation in einer Nische, die offenbar für Reparaturen gedacht war. Sie stellte Thorin darin ab, fuhr ihn herunter und floh in ihren Putzschrank.

In kalten Schweiß gebadet kauerte sie in der Ecke hinter den Abfalleimern und wartete zitternd auf den Morgen.

Es war nach Mitternacht, als alle Chucks Haus verließen. Sie hatten noch einen späten Film im Fernsehen eingeschaltet, um ihre fortgesetzten Diskussionen zu tarnen. Zorn und Angst kochten in jedem von ihnen hoch.

Chuck hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so ohnmächtig gefühlt. Das war nicht seine Welt. Er kam sich vor wie in einer Kiste eingesperrt, deren Abmessungen er nicht sehen konnte. Er glaubte nicht, dass er Schlaf finden würde. Lanfen war fürs Erste zwar halbwegs in Sicherheit, aber zu wissen, dass sie in einer geheimen Militäreinrichtung auf dem Boden einer Putzkammer hockte und vor dem Morgen nicht hinauskonnte, reichte aus, ihn in den Wahnsinn zu treiben.

Was hatten sie sich nur dabei gedacht? Dass sie Spione waren? Superspione sogar, mit hellseherischen Fähigkeiten? Er war um Himmels willen bloß ein Neurologe. Ein Wissenschaftler, der nun zu viel über eine Organisation wusste, die offiziell nirgendwo zu existieren schien, zumindest was seine Kontakte betraf.

Die Unterhaltung mit seinem Kollegen beim FBI hatte ihm am meisten Angst gemacht. Chuck besaß dort selbst eine ziemlich hohe Unbedenklichkeitsstufe, und für seinen Freund Wallace Freely blieb nur sehr wenig geheim. Konfrontiert mit den Namen Deep Shield und General Leighton Howard sowie der Tatsache, dass im Pentagon und bei der CIA nichts über sie in Erfahrung zu bringen war, hatte Wallace nur gesagt: „Ich muss Nachforschungen anstellen, Chuck. Bitte behalt das alles für dich.“

Seine Fantasie spielte verrückt. Was, wenn die Deeps den Laden nach dem Vorfall mit dem Roboterausreißer dichtmachten? Was, wenn sie die Forward-Kinetics-Gruppen strichen? Was, wenn Lanfen am Ende in der Basis festsaß und nicht mehr hinauskonnte?

Was, wenn …

Gegen vier Uhr rief er sie schließlich auf dem Handy an, nur um sich zu überzeugen, dass es ihr gut ging. Er ging dazu wieder in sein Arbeitszimmer, wo die Wanzen dank Mikes Manipulationen noch immer schliefen.

„Hast du geschlafen?“, fragte er, als sie sich meldete.

Sie lachte leise. „Was glaubst du? Und selbst?“

„Nein, ich … Ich bin ein bisschen nervös wegen morgen. Wenn sie unsere Gruppen absagen, wenn wir nicht in die Anlage kommen, um dich herauszuholen …“

„Ich habe Energieriegel und eine Flasche Wasser“, sagte sie. „Und auf der anderen Seite der Tür ist eine Toilette.“

„Bist du ansonsten okay?“

„Ja. Nein. Ich meine … diese Dinger in den Labors …“

„Ja.“

„Was hat dein Mann beim FBI gesagt?“

„Dass er Nachforschungen anstellen muss. Dass ich mit sonst niemandem darüber reden soll. Natürlich hatte ich bereits mit anderen darüber geredet. Ich habe im Pentagon und bei der CIA angerufen. Aber das hatte ich ihm schon erzählt. Es war anscheinend okay für ihn.“ Was faselte er hier? Er hörte auf.

„Wie gut kennst du ihn, Chuck? Könnte er … Was, wenn er eingeweiht ist? Wenn er zu Howard geht? Hältst du das für möglich?“

„Äh … nein“, sagte Chuck. Dann wiederholte er entschiedener: „Nein. Ich habe mit Wallace gearbeitet. Er klang … erschrocken. Ich bin mir nicht sicher, ob General Leighton Howard ist, was er zu sein behauptet. Tatsache ist, dass wir im Grunde nur wissen, was Howard selbst uns erzählt hat … und was Matt angenommen hat.“

„Was tun wir also? Das hört sich an, als würden wir in der Falle sitzen. Wir können nicht einfach unter irgendeinem Vorwand unseren Vertrag brechen, oder?“

„Nein, aber vielleicht gibt es einen anderen Weg. Vielleicht gelingt es Matt, etwas auszuhandeln. Das kann er gut. Im Gegensatz zu mir.“

„Ich hoffe es.“ Sie gähnte. „Danke für den Anruf, Chuck. Ich glaube, jetzt werde ich ein bisschen schlafen können.“

„Ja, ich auch.“

Sie sagten Gute Nacht und legten auf. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht nahm Chuck die Visitenkarte zur Hand, die er in die Mitte seiner Schreibtischplatte gelegt hatte. Zwei Worte standen auf ihr – Kristian Lorstad – und unter dem Namen eine Telefonnummer. Er überlegte, sie zu wählen, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Es fühlte sich einfach zu sehr an, als würde er aus einem Boot in ein tiefes Gewässer springen, ohne die geringste Ahnung, was alles in ihm hausen mochte.

Er hatte die Wahl: sich ins Haifischbecken zu stürzen oder mit Matt zu reden.

Er würde sorgfältig abwägen müssen.