KAPITEL 14

Fragen

„Dann wollen Sie also sagen“, fragte der Typ in der dritten Reihe, „dass diese Leute so etwas wie telekinetische Fähigkeiten entwickelt haben?“

Chuck warf einen Blick zu dem Bildschirm hinter ihm auf der großen Bühne. Er zeigte ein Standbild von Saras „Nutzedie-Macht“-Augenblick, als sie Tim abklatschte. Er hatte die Entstehung des Projekts von der Eingebung bis zu den ersten Früchten referiert, hatte alle Testpersonen während verschiedener Phasen der Entwicklung gezeigt (begleitet von anwachsendem Murmeln und spontanem Applaus, der aber nie das ganze Publikum zu erfassen schien) und hatte bei den Videos des Teams in ihren Gamma-Zuständen, aber vor der Zeta-Phase geendet.

Und doch ging die erste Frage um Telekinese.

Er hatte gedacht, die Beschreibung sämtlicher Komponenten der Vorrichtung und ihrer Wirkungsweise würde ihn vor dieser Frage bewahren. Im ersten Moment war er perplex, denn sie hatten sich darauf geeinigt, dass die Wahrheit etwas war, was er nicht erzählen würde, und die Wahrheit lautete, ja, diese Leute hatten eine Form von Telekinese entwickelt – eine Form, die darauf beruhte, dass sie die Mechanik des betreffenden Gegenstands steuerten. Chuck, der wusste, dass er ein furchtbar schlechter Lügner war, musste einen Weg finden, weniger als die Wahrheit zu sagen, ohne regelrecht zu lügen.

„Was ich damit sagen will“, antwortete er schließlich, „ist, dass diese Leute … mentale Muskeln spielen lassen, von denen wir nicht wussten, dass sie sie besitzen. Sie steuern diese Komponenten mithilfe der elektrischen Impulse ihres Gehirns und dank einer Formel, die Dr. Matt Streegman vom MIT entwickelt hat. Mit dieser Formel lassen sich die Impulse regulieren – oder in den richtigen Zustand bringen –, sodass die Schnittstelle sie interpretieren kann.“

„Sie haben also einen drahtlosen Sender und einen Transceiver, der Maschinen fernbedient steuert.“ Der Typ zuckte mit den Achseln. „Was ist der zusätzliche Nutzen im Vergleich dazu, die Maschinen einfach auf andere Weise fernzusteuern?“

Chuck lächelte. Mit diesem Aspekt kannte er sich bestens aus.

„Nun, stellen Sie sich einfach vor, Sie haben einen äußerst fähigen Programmierer, der seine Hände nicht mehr gebrauchen kann. Mit dem System von Forward Kinetics bräuchten Sie das Wissen und die Fähigkeiten dieses Programmierers nicht mehr zu verlieren, und er müsste seinen Job nicht verlieren oder langfristig arbeitsunfähig geschrieben sein. Mit unserem System könnte er lernen, seine Software zu bedienen, ohne seine Hände benutzen zu müssen. Oder denken Sie an die bedauernswerte Lage eines Menschen, der einen schweren Schlaganfall erlitten hat. Er ist noch da drin in diesem Körper, er denkt, er fühlt. Er kann nur nicht kommunizieren. Mit dem System von Forward Kinetics hoffen wir, ihm die Fähigkeit zur Kommunikation zurückgeben zu können – und noch mehr.“

Ein anderer Mann ergriff das Mikrofon. „Ist das Militär schon auf Sie zugekommen? Denn die militärische Bedeutung dieser Sache ist ja wohl gewaltig.“

Chuck blinzelte. „Das Militär? Nein, das hat sich noch nicht bei uns gemeldet.“

„Finden Sie das nicht merkwürdig? Man sollte meinen, sie müssten voll auf so etwas abfahren.“

„Wahrscheinlich halten sie uns für eine bessere Version der durchgeknallten Computerfreaks, die Mützen aus Alufolie tragen und im Keller ihrer Eltern an Robotern werkeln.“ Chuck erhielt anerkennendes Gelächter von den anderen Computerfreaks im Raum (grob geschätzt das gesamte Publikum) und lächelte. Aber die Frage beschäftigte ihn sehr wohl. Das Militär musste ihn und seine Partner doch irgendwie zur Kenntnis genommen haben. Der Gedanke ließ ihn frösteln.

„Wenn man bedenkt, wie weit Drohnen inzwischen entwickelt sind“, sagte jemand anderes „welche Vorteile bietet ein solches System dann noch? Ich meine, was könnte das Militär gewinnen, wenn Einsatzkräfte mit dieser Technologie ausgerüstet wären statt mit den immersiven Virtual-Reality-Systemen, die sie gerade zu nutzen beginnen?“

So unwohl ihm dabei war, über militärische Anwendungsmöglichkeiten zu sprechen, fand Chuck Gefallen daran, die Technologie von Forward Kinetics hochmodernen VR-Orientierungssystemen gegenüberzustellen.

„Einfach ausgedrückt“, sagte er, „wird unsere Technik kleiner, leichter transportierbar und letzten Endes weit weniger teuer sein. Im Moment gibt das Militär viele Millionen, wenn nicht Milliarden für Schnittstellen für physische VR-Systeme aus. Mit der Forward-Kinetics-Technologie bräuchten sie das alles nicht.“

„Was wäre nötig, damit jemand von Ihrer Technologie Gebrauch machen kann?“, war die nächste Frage.

Ein weiteres Minenfeld. Wenn tatsächlich zutraf, was nach Chucks Ansicht mit ihren Testpersonen geschah, dann würde der Kunde außer zu Trainingszwecken nichts von der ganzen Ausrüstung brauchen. Ihre Leute könnten bei Forward Kinetics trainieren und dann losziehen und ihre Aufträge erfüllen. Das durfte er jedoch nicht sagen, deshalb antwortete er auf dem höchsten Level – was sie brauchten, um jemanden mit einer Zeta-Welle zu trainieren.

„Nun, da ist der modifizierte EEG-Apparat, also der Brain Pattern Monitor, das Elektrodennetz und die kinetische Schnittstelle, die aus der Streegman-Konverter-Software und dem Brenton-Kobayashi Kinetic Interface besteht. Zu Letzterem gehört eine Aktualisator-Einheit. Wir arbeiten daran, das alles zu verkleinern. Theoretisch bräuchte man kein großes Firmengebäude, jeder Ort mit Stromanschluss genügt. Daran arbeiten wir natürlich ebenfalls – die Nutzung verschiedener Stromquellen zu ermöglichen.“

„Aber was ist der Mechanismus, Doktor?“, fragte eine junge Frau mit ernstem Gesichtsausdruck. „Was genau steuern die Testpersonen? Ich meine, Ihre Gruppe besteht aus ganz unterschiedlichen …“ Sie brach ab und blickte zum Bildschirm. „Hardware und Software zu beeinflussen sind zwei völlig verschiedene Anwendungen, sollte man meinen.“

Damit war Chuck wieder auf sicherem Terrain. „Na ja, im Grunde genommen nicht. Selbst der Roboterarm, mit dem Sie Mike vorhin arbeiten sahen, oder der Bagger, mit dem er seine …“ Er hielt inne, um zu überlegen, wie er es formulieren sollte, „… seine Zwischenprüfung abgelegt hat, könnte man wohl sagen, besitzen eine Software-Komponente, für die eine Folge von Befehlen nötig ist. Auch ein mechanisches Gerät hat einen Befehlssatz. Es ist nur einfach so, dass der Befehlssatz für die Software-Hardware-Kombination von Tim oder Sara in Einsen und Nullen geschrieben ist, und der Befehlssatz in einem mechanischen Gerät ist in Erg geschrieben, in Einheiten der aufgewandten Energie. Es ist trotzdem binär – an/ aus, vorwärts/rückwärts, links/rechts – und alle diese Dinge lassen sich erreichen, indem man die elektrischen Impulse des Gehirns nutzt. Das ist der Unterschied zwischen dem, was wir tun und direkter Telekinese. Unsere Testpersonen bewegen nicht Gegenstände. Sie beeinflussen die Mechanismen, die Dinge dazu veranlassen, sich zu bewegen.“

Der Gedanke kam ihm, kaum dass er das letzte Wort ausgesprochen hatte. Er hatte schon früher mit der Idee geflirtet, aber jetzt holte sie ihn wieder ein: Wenn das, was er über Impulse und Ergs gesagt hatte, zutraf, konnten seine Testpersonen dann eines Tages tatsächlich jeden Gegenstand direkt beeinflussen?

Die Folgerungen aus dieser Überlegung wurden von einer Flut von Fragen fortgespült: Wenn die Gamma-Welle anzeigte, dass verschiedene Gehirnzustände vereint am Werk waren, was repräsentierte dann seiner Ansicht nach die Zeta-Welle? Glaubte er, dass jedermann Zetas erzeugen konnte? Was war der nächste Schritt für Forward Kinetics? Nahmen sie Bewerbungen an?

Er saß im Hotelrestaurant und genoss ein spätes Abendessen, als seine Gedanken zur Frage nach den Folgerungen aus der Zeta-Welle zurückgingen. Die Tatsache, dass es ihnen gelungen war, den Zustand bei allen dreien ihrer ursprünglichen Testpersonen sowie bei Mini auszulösen, hatte sicherlich etwas zu bedeuten. Es legte die Vermutung nahe, dass dieser neue Gehirnzustand bei manchen Menschen sehr nahe an der Oberfläche lag. Und das wiederum ließ vermuten, dass sie evolutionär betrachtet kurz davor waren, ihn von allein zu entwickeln.

Wie kurz davor? Wenn sie den Prozess künstlich beschleunigten – würde die Menschheit bereit dafür sein? War in einer Welt, in der machthungrige Männer immer noch jedes zur Verfügung stehende Instrument nutzten, um sich Herrschaft, Ressourcen und Gebiete anzumaßen, selbst die aufgeklärteste Gesellschaft bereit für die Gotteswelle?

Er schüttelte sich und versuchte den Gedanken zu verbannen, als zwei der Zuhörer seines Vortrags an den Tisch kamen und ihn um ein kurzes Gespräch baten. Er lächelte freundlich und sagte, ihre Fragen seien ihm willkommen.

Sie waren ihm weitaus willkommener als seine eigenen.

Matt hatte Wort gehalten und keinen Druck auf Dice ausgeübt, seinen Roboter früher als versprochen fertigzustellen. Zwei Wochen intensiver Arbeit waren nötig gewesen, aber nun war Bilbo der Zweite endlich bereit für eine Trainingseinheit. Chuck war noch auf der Rückreise von der TED-Konferenz in Long Beach und wurde erst am nächsten Morgen wieder im Büro erwartet, deshalb brachten sie die Videoausrüstung vom Hauptlabor nach unten, um ihre Aktivitäten aufzuzeichnen.

Bilbo war schön auf seine Weise, dachte Dice. Sein Kopf war humanoid, aus durchsichtigem, gegossenem Hartplastik und Stahl. Er hatte LEDs, die anzeigten, wo seine Kameras saßen – nicht unbedingt notwendig, sah aber, wie Brenda gesagt hatte, „wahnsinnig cool“ aus. Die vorderen waren blau, die hinteren rot, und die auf der Seite grün. Die Kameras hatten Infrarotobjektive, die mit einem Gedanken aktiviert werden konnten – so war es zumindest geplant. Die VR-Ausrüstung würde der Person, die den Roboter bediente, bei Tag und Nacht einen Dreihundertsechzig-Grad-Blick ermöglichen. Dice und sein Team hatten außerdem kleine Stirnlampen in den nach vorn gerichteten Videoapparat eingebaut.

Der Kopf drehte sich auf einem Paar Schultern, die in etwa so breit waren wie die von Lanfen. Die Hüften waren genauso breit. Der ganze Körper war von einer silbern glänzenden Haut aus einer Titan-Aluminium-Legierung bedeckt, die stahlhart und beweglich war und das verletzliche Rückgrat schützte. Arme und Beine waren mit Gelenken versehen, die im Großen und Ganzen wie menschliche Gelenke funktionierten, nur dass der Roboter sie umkehren und so in die Gegenrichtung wechseln konnte, indem er einfach den Kopf um hundertachtzig Grad schwenkte und die Gelenke neu ausrichtete. Das sollte mehr oder weniger automatisch geschehen, wenn die Person, die ihn bediente, mental den Rückwärtsgang einlegte.

In der Theorie.

Es waren Merkmale wie diese, dachte Dice, die Antwort auf die immer wiederkehrende Frage gaben, was ein Zeta-Operator, wie er es für sich nannte, einer Person voraushatte, die ein manuelles VR-System benutzte. Eine Person mit einer herkömmlichen VR-Ausrüstung konnte ihren Kopf nicht um dreihundertsechzig Grad drehen – nicht einmal um hundertachtzig – oder die Gegenrichtung einschlagen, ohne sich umzudrehen. Selbst wenn ein Mensch in einem vollständigen Virtual-Reality-Anzug kinetische Informationen direkt an einen humanoiden Roboter übermittelte, würde der Roboter auf das beschränkt bleiben, wozu der menschliche Körper fähig war.

Er hatte die Modelle gesehen, mit denen die Japaner experimentierten. Seiner Meinung nach war ihr Ansatz vollkommen falsch. Sie hatten C-3PO und Data im Kopf, während sie Slinky im Kopf haben sollten. So wie das Mantra der Immobilienbranche „Lage, Lage, Lage“ war, hieß das Mantra der Robotik „Anwendung, Anwendung, Anwendung“. Und für diese Art der Anwendung waren eindeutig Beweglichkeit und Gleichgewicht vor allem andern gefragt, deshalb ergab es wenig Sinn, die Roboter humanoider machen zu wollen, wie es die Japaner taten. Es waren die Beweglichkeit des menschlichen Rückgrats, die Stoßdämpfereigenschaften seiner Gelenke und Muskeln, denen er nacheifern wollte, und weniger dem aufrechten Gang oder gar der exakten Funktionsweise der Gelenke.

Als Lanfen um neun Uhr abends kam, belohnte sie ihn, indem sie zustimmte, dass Bilbo II in der Tat ein Kunstwerk sei.

„Wow“, sagte sie und rieb sich fröstelnd die Hände, während sie sich an einem Heizgebläse aufwärmte. „Er ist wunderschön, Dice. Ich liebe es, wie sich sein Rückgrat biegen lässt.“ Sie grinste. „Hey, Papa, krieg ich die Schlüssel für den Roboter?“

Dice erwiderte das Grinsen. „Aber nur, wenn du versprichst, ihn nicht wieder zu schrotten.“

Lanfen machte ein bestürztes Gesicht. „Ich … es tut mir leid …“

„Nein“, sagte Dice, erschrocken über seinen Fehler. „Mir tut es leid. Das sollte jetzt nicht so herauskommen, ehrlich. Hören Sie, Matt hat frischen Kaffee gemacht. Was halten Sie davon, wenn Sie erst einmal einen trinken? Wärmen Sie sich auf vor der Testfahrt.“

Sie nickte und zog ihren Mantel aus. Sie trank gerade ihren Kaffee, als Matt summend hereinkam. Das war höchst ungewöhnlich – Matt summte nur, wenn er in Hochstimmung war, weil er einen großen Coup gelandet hatte oder ein wirklich gutes mathematisches Theorem in ihm keimte. Dice wusste, dass es keinen Sinn hatte, direkt zu fragen, aber er bohrte ein wenig, nur für den Fall, dass Matt in mitteilsamer Stimmung war.

„Sie klingen so vergnügt, Dr. Streegman. Dann ist wohl etwas Wunderbares passiert?“

Matt blieb stehen und sah Dice an, als hätte er seine Anwesenheit jetzt erst bemerkt. „Wunderbar? Nein, nur positiv.“ Er rieb sich die Hände. „So, können wir es krachen lassen?“

„Einen Moment noch“, sagte Lanfen und stellte ihre Kaffeetasse ab. Sie zog die Schuhe aus, betrat die Übungsmatte und absolvierte eine Reihe von Dehn- und Atemübungen. Nachdem das erledigt war, erklärte sie sich für bereit, es krachen zu lassen, und Dice schloss sie an.

Er überprüfte alle Inputs, ließ Matt seinen Algorithmus kontrollieren, um sicherzustellen, dass die neueste Version der Software lief, und fuhr den Apparat hoch. Lanfen hatte sich eine Art Routine angewöhnt – eine Reihe von Übungen, die sie immer benutzte, um in den Tunnel zu kommen, wie sie es nannte. Dice war fasziniert von dem Prozess, nicht nur, weil sie ungemein attraktiv war, sondern wegen der surreal erscheinenden Anmut und Körperbeherrschung, die sie zeigte. Sie wirkte manchmal, als würde sie mehr über der Matte schweben als darauf zu stehen, und die Art, wie sie von einer Kung-Fu-Stellung in die nächste wechselte, erinnerte ihn an Kunstturnerinnen auf einem Schwebebalken – nur etwa zehnmal eleganter.

„Du starrst“, murmelte Matt. „Nicht dass ich es dir verübeln könnte. Sie ist etwas Besonderes. Du solltest sie bitten, mit dir auszugehen.“

Dice schüttelte sich. „Ähm … Ich bin mit Brenda zusammen.“

Matt zog die Augenbrauen in die Höhe. „Arbeitet sie nicht unter Ihnen?“

„Wir sind hier nicht beim Militär, Matt“, sagte Dice in schärferem Tonfall als beabsichtigt.

Matt zuckte nur mit den Schultern und beobachtete weiter, wie Lanfen Bilbo seine Fähigkeiten demonstrieren ließ. Sie machte die Bewegungen an diesem Punkt noch selbst, um sich an die Balance des Roboters und an die neue VR-Komponente zu gewöhnen, die ihr erlaubten, die Welt aus Bilbos Sicht zu sehen.

„Was denken Sie?“, fragte Dice. „Bereit zum Überschnappen?“

Sie lachte. „Lustig, dass Sie es so ausdrücken. Ich komme mir immer vor, als wäre ich übergeschnappt, wenn mich jemand fragt, was ich in meiner Freizeit tue.“

Matt hob ruckartig den Kopf. „Sie haben eine Geheimhaltungserklärung unterschrieben, Ms. Chen. Was erzählen Sie den Leuten über Ihre Freizeitbeschäftigung?“

Lanfen warf ihm einen nicht zu deutenden Blick zu. „Ich erzähle ihnen, dass ich dasselbe wie bei meiner Arbeit mache – Kung-Fu.“ Sie und der Roboter drehten eine Pirouette zu Matt herum und verbeugten sich höchst schicklich. Dann ließ sie sich in einer Lotusstellung nieder und veranlasste Bilbo zu einer Reihe von Bewegungen, ohne ihrerseits auch nur zu zucken.

Dice war beeindruckt.

Nachdem sie die Grundstellungen zweimal durchgegangen war, begann sie, schwierigere Bewegungen einzustreuen, Bewegungen, die sie vielleicht in einem Sparringskampf einsetzen würde.

„Wissen Sie“, sagte sie, während der Roboter hüpfte, hin und her pendelte und Fußtritte verteilte, „es wäre sehr viel realistischer, wenn Bilbo jemanden oder etwas als Trainingspartner hätte. Vielleicht müssen Sie einen zweiten Kampfsportler anstellen.“

„Offiziell haben wir aktuell keine Kampfsportler angestellt“, erinnerte Matt sie.

„Stimmt.“

Der Roboter führte einen Roundhouse-Kick aus und rollte mit einem Purzelbaum ab. Er kam auf der anderen Seite der Matte wieder auf die Beine, wo ihn Lanfen den Kopf umdrehen und eine Folge von Tritten und Rollen in die Gegenrichtung machen ließ.

„Ach, ist das nett“, sagte sie begeistert. „Das ist wirklich eine hübsche Besonderheit!“

„Warum muss sie die ganze Zeit plappern?“, murmelte Matt.

„Das habe ich gehört“, sagte sie. „Ich mache Multitasking. Bringt mich schneller zu Gamma. Ich bin jetzt in einem stabilen Gamma, richtig?“ Dice nickte und warf Matt einen Seitenblick zu. „Ja, das sind Sie.“

„Okay. Bis jetzt habe ich von außen zugesehen. Ich schalte nun auf die Roboterkamera.“ Es gab eine Pause, dann sagte sie: „Hoppla, das ist ja komisch. Bilbo ist kleiner als ich.“

Der Roboter wehrte einen imaginären Angreifer ab, anschließend trat er mit dem Fuß zu, ging in die Hocke und machte mehrere Überschläge rückwärts. Dann rannte er los, vollführte einen Sprungkick und zog den Kopf zu einer Rolle vorwärts ein.

Dice war angespannt. Genau das hatte Lanfen in etwa getan, als die Katastrophe eingetreten war. Diesmal jedoch schnellte der Roboter am Rand der Matte in die Höhe, kehrte seine Ausrichtung um und vollführte eine Folge von Tritten und Rollen in die Gegenrichtung. Dice warf einen Blick zum Monitor. Lanfen war in einem stabilen, aber mit Spitzen durchsetzten Zeta. Einen Moment später, als Bilbo nach einem erschreckenden und spektakulären Drehsprung wieder auf der Matte landete, schaltete Dice lautlos die kinetische Schnittstelle ab. Es gab eine winzige Verzögerung in der nächsten Bewegung des Metallmannes, aber Dice bezweifelte, dass ein Beobachter sie wahrgenommen hätte.

Er warf einen Blick zu Matt. Der Gesichtsausdruck des Professors war unverändert. Dice musste beinahe lächeln. Sein Boss hatte den Unterschied nicht bemerkt, und Lanfen …

Holla, was war denn hier los.

„Na, Lanfen“, sagte Dice beiläufig, „Sie scheinen sich ja an den Blick zu gewöhnen.“

„An die kleinwüchsige Bilbo-Cam, meinen Sie? Mhm.“

Und das war das Verrückte dabei: Sie sah immer noch aus dem Blickwinkel des Roboters. Die mechanische Schnittstelle war abgeschaltet, und dennoch benutzte sie irgendwie das Kameraauge des Roboters. Dice wollte eben eine Bemerkung zu Matt machen, als ihn etwas außerhalb des Laborfensters ablenkte. Drüben im Hauptflügel war in Chucks Büro Licht angegangen.

„Oh-oh.“

Matt sah ihn an und folgte seinem Blick. „Verdammt. Ich hätte wissen müssen, dass er gleich in der ersten Nacht nach seiner Rückkehr hereinschauen würde.“ Er gab ein frustriertes Geräusch von sich, dann wies er mit einem Kopfnicken zu Lanfen. „Sieh zu, ob du sie nicht von der Schnittstelle entwöhnen kannst. Ich gehe hinüber und sorge dafür, dass ihr nicht gestört werdet.“

„Sie ist seit dreieinhalb Minuten auf sich allein gestellt, und Matt, sie …“

„Gute Arbeit. Fantastisch!“ Matt klopfte ihm auf die Schulter und eilte aus dem Labor. Auf der Matte tanzte Bilbo weiter.

„Sag es ihr, nicht mir. Ich arbeite hier nur“, murmelte Dice seinem Boss hinterher.

„Sie sind es also tatsächlich.“ Matt lehnte im Rahmen von Chucks Bürotür.

Chuck blinzelte ihn hinter seiner Schreibtischlampe an. „Äh, ja, ich … Wer sollte es sonst sein? Der Reinigungsdienst kommt am Wochenende, nicht wahr?“

Matt schlenderte in den Raum und nahm in dem Sessel gegenüber von Chucks Schreibtisch Platz, dann rollte er ihn ein Stückchen in Richtung Tür, um Chucks Blick vom Fenster abzulenken. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber halb offen; wenn Chuck geschaut hätte, hätte er sehen können, dass im Delta-Labor im unteren Flügel Licht brannte. Vielleicht hatte er es bereits bemerkt.

„Und, wie war die Konferenz?“

Chuck holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen, bevor er antwortete.

„Interessant.“ Chuck schloss den Deckel seines Laptops, stützte sich mit den Ellbogen darauf und fuhr sich mit den langen schlanken Fingern durchs Haar. „Es gab die unterschiedlichsten Reaktionen, die man sich nur vorstellen kann. Leute, die es für einen Schwindel hielten und sagten, sie würden sich bei den Organisatoren beschweren. Leute, die so begeistert waren, dass sie sich für einen Job oder ein Praktikum hier bewerben wollten, Leute, die von den Maschinen fasziniert waren, andere, die sich für die neurologischen Folgerungen interessierten, und diejenigen, die fragten, ob es unserer Ansicht nach so etwas Ähnliches wie Telekinese sei.“ Er schüttelte den Kopf. „Tatsächlich lautete die allererste Frage: ‚Ist das Telekinese‘?“

„Und was haben Sie gesagt?“

„Ich bin auf Zehenspitzen um das Thema herumgeschlichen und habe einfach wiederholt, dass es sich lediglich um eine Schnittstelle zwischen den natürlich auftretenden elektrischen Impulsen des Gehirns und Ausgabegeräten handle. Ohne Schnittstelle läuft nichts. Es war keine große Sache.“ Er schwieg einen Moment, dann fragte er. „Matt, hat uns das Militär angesprochen?“

Matts Alarmglocken schrillten. „Sie meinen, ob das Pentagon an unsere Tür geklopft und gefragt hat, was zum Teufel uns eigentlich einfällt?“

Chuck sah ihn an. „Etwas in dieser Art.“

Matt zögerte einen Moment, was nicht oft bei ihm vorkam. Wie streberhaft und sperrig Chuck auch sein mochte, er war für Matt das, was einem Freund am nächsten kam. Himmel, in einem Moment der Schwäche hatte er ihm sogar von Lucy erzählt und ihm eine Kopie ihrer Diagramme gegeben. So unerforschlich sie für ihn waren, es war der einzige heilige Text, den er je gekannt hatte. Jetzt, da sein Partner seine vertrauensvollen, haselnussbraunen Augen auf ihn richtete, kam er sich vor, als beabsichtige er, einem Welpen einen Tritt zu versetzen. Und doch konnte er nicht anders.

„Warum fragen Sie?“

„Es kam zur Sprache. Mehrmals sogar.“

Chuck wrang inzwischen die Hände – eine Geste, die verriet, wie tief besorgt er war.

„Aha. Nein, das Pentagon hat uns nicht zu einem Rendezvous eingeladen. Und wir haben auch keinen Mucks von den Men in Black gehört.“

„Finden Sie das nicht merkwürdig?“

Matt blinzelte. Das kam unerwartet. „Sie?“

„Ja. Für das, was wir tun, gibt es offenkundige militärische Anwendungsmöglichkeiten – Sie haben es sogar selbst erwähnt, als wir überlegten, welche Disziplinen wir in unsere erste Studie aufnehmen sollten. Wenn sie keine Annäherungsversuche gemacht haben, stellt sich mir die Frage, wieso.“

Matt ließ sich im Bestreben, unbekümmert zu wirken, tiefer in den Sessel sinken. „Haben Sie irgendwelche Theorien dazu?“

„Eine. Sie halten uns für einen Haufen Spinner und glauben, dass unsere Technologie nur einen Schritt von Wünschelrutengehen und Kirlian-Fotografie entfernt ist.“

Matt lachte erleichtert, weil Chuck nicht über den wahren Grund dafür gestolpert war, warum er keinen Mucks vom Militär gehört hatte. „Männer, die auf Ziegen starren: die nächste Generation?“

Chuck lächelte matt. „Ja. Glauben Sie, das ist es?“

Matt stemmte sich aus seinem Sessel hoch und steckte die Hände in die Jackentasche. „Wahrscheinlich. Aber lassen Sie sich davon nicht entmutigen. Bei der Applied Robotics wird es sie aus den Socken hauen.“

Chuck steckte seinen Laptop aus und begann das Stromkabel aufzurollen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie aus den Socken hauen will. Es gefällt mir, dass sie uns für Spinner halten.“

„Sie mögen das Militär wirklich nicht, was?“

„Fünf Seiten“, murmelte Chuck. Er legte sein Stromkabel auf den Computer und stand regungslos da.

„Was?“ Himmel, Chuck konnte manchmal auch so etwas von nervig sein.

„Das Pentagon. Warum fünf Seiten? Pentagramm. Fünfzackiger Stern.“

Ach, du meine Güte. „Fünf Truppengattungen des Militärs: Army, Navy, Air Force, Marines, Küstenwache?“

Chuck lachte und fuhr sich wieder mit den Fingern durchs Haar. „Ja, das war verrückt, oder? Ich bin müde. Wahrscheinlich der Jetlag. Mein Gehirn stellt zufällige Zusammenhänge her, wenn mein Verstand zu müde ist, es zu beaufsichtigen.“

„Was?“, sagte Matt wieder und hoffte, er hörte sich nicht wie ein Bauerntrampel an.

Chucks trüber Blick heftete sich auf sein Gesicht. „Gehirn und Verstand sind nicht dasselbe“, sagte er bedächtig. „Das wissen Sie, oder? Das Gehirn erzeugt die elektrischen Impulse, die unseren Körper in Betrieb halten. Der Verstand ist das, was sie lenkt und beaufsichtigt.“

„Okay, das klingt wenigstens wissenschaftlich. Mir ist schon das Messer in der Hosentasche aufgegangen. Ich dachte, dass Ihnen Religion das Hirn vernebelt oder so was.“

Tief in Chucks Augen blitzte etwas wie eine Warnung auf. „Warum kann eine wissenschaftliche Idee nicht auch eine religiöse Idee sein? ‚Größer als die Sinne ist der Verstand. Größer als der Verstand ist Buddhi, die Vernunft. Und größer als die Vernunft ist Er – der Geist im Menschen und in allem‘. Bhagavad Gita, Kapitel drei, Vers zweiundvierzig.“

„Zweiundvierzig, hm? Die Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest?“

„Ich glaube ja.“

Matt hob kapitulierend die Hände. Er hatte nicht vor, sich auf einen Streit über Religion mit Sankt Chuck, dem wahren Gläubigen, einzulassen. „Sie sind dabei, zu gehen?“

Chuck holte tief Luft und sah sich um. „Ja. Ich habe mir nur ein paar Aufzeichnungen geholt, die Eugene für mich dagelassen hat.“

„Dann sehen wir uns morgen früh wieder, oder?“

Chuck nickte und ließ den Laptop in die Computertasche gleiten. Matt machte sich auf den Weg zur Tür.

„Und was tun Sie so spät noch hier?“

Matt blieb stehen und kratzte sich hinter dem Ohr. „Ach, Dice und ich arbeiten noch an den letzten Macken eines Roboters, den sein Team entwickelt hat. Einen Security-Roboter. Er hat ihn für die Alpha-Tests der VR-Einheit benutzt.“

„Wie soll das mit den Zetas funktionieren? Die Virtual-Reality-Einheit funktioniert einwandfrei, wenn man eine physische Schnittstelle hat, aber wie kann sie funktionieren, wenn Becky offline geht?“

Matt starrte ihn an, als hätte er begonnen, „Jabberwocky“ rückwärts auf Jiddisch zu rezitieren. Hatte die VR-Schnittstelle weitergearbeitet, als Dice die Hardware vom System getrennt hatte? Die Frage ließ sein Herz und sein Hirn (den Verstand, was immer) rasen.

„Das ist eine verdammt gute Frage, Dr. Brenton. Ich werde sie den Experten stellen.“

Er machte sich aus dem Staub, bevor Chuck ihn noch etwas fragte, was er sich selbst hätte fragen sollen.

Matt fand sich in der sonderbaren Situation wieder, Informationen zu besitzen, die entscheidend für den weiteren Kurs von Forward Kinetics sein konnten. Es war ihm nicht möglich, sie mit jemandem außer Dice zu diskutieren, denn der war der Einzige außer ihm, der wusste, dass von allen Zetas nur Lanfen in der Lage war, die VR-Schnittstelle ohne die physische Verbindung durch Becky zu benutzen. Warum das so war, während ihre Beherrschung des Roboters weiter problematisch blieb, war ein Rätsel.

Matt wusste nicht, was diese Anomalie bedeutete – ob sie mit Lanfens Selbstdisziplin als Kung-Fu-Meisterin zu tun hatte, mit ihren Meditationstechniken oder der einzigartigen Funktionsweise ihres Gehirns. Er wusste nur, dass die anderen Testpersonen zwar die Fähigkeit besaßen, ihre verschiedenen Mechanismen zu steuern, aber nicht selbstständig auf kinetischem Weg zu virtueller Realität wechseln konnten. Wenn die Verbindung zu Becky unterbrochen war, konnte Mike noch seine Maschinen bewegen, aber er konnte die Welt nicht aus ihrem Blickwinkel sehen. Tim, dessen Figuren keine physischen Wesenheiten waren und deshalb keine VR-Fähigkeiten besaßen, konnte die Welt ohnehin nicht durch die Augen seiner Geschöpfe sehen.

Es war ärgerlich genug, dass die Anomalie überhaupt auftauchte, aber dass sie noch dazu bei einer Testperson auftauchte, die nicht offiziell zum Programm gehörte, war doppelt ärgerlich. Und die Tatsache, dass Matts Mitverschwörer fand, sie sollten mit der Wahrheit herausrücken, machte es zu einem dreifachen Ärgernis, und zwar aus dem simplen Grund, dass Dice recht hatte und Matt es wusste. Matt und Co über Lanfen im Dunkeln zu lassen, ließ Matt und Dice im Dunkeln darüber, was Lanfens seltsame Stärken und Schwächen verhießen.

Und er brauchte den neurologischen Sachverstand von Chuck und Eugene, um das Problem zu untersuchen.

Doch er sagte nichts und verbot Dice weiterhin, etwas zu sagen. „Alles zu seiner Zeit“, erklärte er seinem Laborleiter, „alles zu seiner Zeit.“

„Und diese Zeit ist jetzt“, hatte Dice bei ihrer letzten Begegnung gesagt.

Es war der Text zu seinem Abgang gewesen – was Matt billig und unprofessionell fand. Es hatte ihn dazu gezwungen, hinter Dice herzujagen und sicherzustellen, dass er ihr Geheimnis bewahren würde, obwohl er der festen Überzeugung war, sie sollten die anderen in ihre Fortschritte mit dem Ninja-Roboter einweihen. Matt hatte ein ganzes Arsenal von Argumenten im Ärmel: Dass er ihn unter seine Fittiche genommen hatte, als er noch schlicht Daisuke gewesen war, ein Niemand, und ihn beruflich auf die Überholspur gebracht hatte. Dass er ihn überhaupt erst zu Forward Kinetics geholt hatte. Dass er Brenda und die übrigen Laborassistenten feuern würde, wenn er auch nur ein Wort zu Chuck verlauten ließ. Oder dass sie nach der Messe bei dieser Sache und jeder folgenden Entwicklung alle zusammenarbeiten würden.

Aber nichts davon war nötig.

Dice hatte sich umgedreht und nur einen Satz gesagt: „Ich tue es aus Loyalität zu dir – aber nur dieses eine Mal, und dann sind wir quitt.“

In Ordnung, dachte Matt, wenngleich er nicht sah, dass er mit einem der anderen Beteiligten an dem Projekt jemals „quitt“ sein würde. Er würde immer einen Vorteil haben, sich immer an die erste Stelle setzen. Schließlich war er ein Zahlenmensch.

Jetzt lehnte sich Matt auf dem Sofa in seiner Wohnung zurück und trank einen Schluck von dem Merlot, den er sich vor einer halben Stunde eingeschenkt und dann vergessen hatte. Seine Augen waren immer noch auf den Schirm des Laptops auf seinem Kaffeetisch gerichtet. Das Bild darauf zeigte Chucks Gesicht, in einem Moment wahren Kreuzfahrereifers erstarrt, als er auf der TED-Konferenz seine Vision für die Technologie von Forward Kinetics darlegte.

Seine letzten Worte hallten noch in Matts Kopf wider: „Denken Sie an die bedauernswerte Lage eines Menschen, der einen schweren Schlaganfall erlitten hat. Er ist noch da drin in diesem Körper, er denkt, er fühlt. Er kann nur nicht kommunizieren. Mit dem System von Forward Kinetics hoffen wir, ihm die Fähigkeit zur Kommunikation zurückgeben zu können – und noch mehr.“

Noch da drin in diesem Körper, denkt, fühlt.

O Gott.

Nein.

Matt Streegman glaubte nicht an Gott – nicht an einen Gott, der Lucys Seele, Geist oder Verstand in einem Körper eingesperrt hatte, der nicht länger funktionierte. Der sie in einem Gehirn gefangen hielt, das langsam von anonymer Entropie aufgezehrt wurde.

Er schüttete den letzten Rest Wein hinunter, ohne ihn richtig zu schmecken, legte den Kopf in den Nacken und sah zu der holzgetäfelten Decke hinauf. War Lucy noch in ihrem allmählich versagenden Gehirn eingeschlossen gewesen, wie Rapunzel in ihrem hohen steinernen Turm? Wenn sie heute noch lebte, könnte die Technologie von Forward Kinetics die Funktion des Haars haben, das sie als Strick hinunterließ?

Er erinnerte sich an einen Spaziergang durch ein Einkaufszentrum, den er in den Tagen vor Lucys Tod unternommen hatte. Auf einem hochauflösenden Bildschirm im Schaufenster eines Videoladens war Das wandelnde Schloss gelaufen, und er war wie hypnotisiert – ergriffen – von einer Sequenz davorgestanden, in der das zu Gefühlen fähige Schloss, von seinem es belebenden Geist befreit, durch die Hügel taumelt und bei jedem Schritt Stücke seiner selbst verliert. Die Analogie zu Lucys Verfall war mehr gewesen, als er ertragen konnte.

Etwas war an diesem Abend in Matt zerbrochen. Etwas hatte sich verändert. Er konnte nicht sagen, dass er damals an Gott geglaubt hätte – er hatte es nicht getan –, aber er hatte Gott nicht als seinen Feind betrachtet. Seitdem tat er es. Wenn es einen Gott gab, der es wert war, dass man ihn verehrte, wäre Matt sicherlich Chuck Brenton begegnet, bevor Lucys Krankheit ihr Zerstörungswerk begann.

Sein Verstand flüsterte die offensichtliche Erwiderung: Wäre er Chuck damals begegnet, hätten sie keinen Berührungspunkt gehabt, denn Chuck hätte seine Experimente mit Hirnwellen noch nicht begonnen gehabt, und Matt hätte keinen Grund, in endlosen Stunden ihren Wellenbereich und ihre Stromstärke zu berechnen und über ihre Bedeutung nachzusinnen.

Das Pragmatische an diesem Gedanken frustrierte ihn nur noch mehr.

Er zog sich selbst von diesem Abgrund zurück. Er war keine dieser bemitleidenswerten Gestalten, die den Tod eines nahen Angehörigen dazu benutzten, zum Aktivisten in einer Sache zu werden, die mit diesem Tod in Zusammenhang stand. Er war vielseitig gebildet. Ein Pragmatiker. Natürlich könnte sich Forward Kinetics dem medizinischen Fortschritt verschreiben, aber wenn die Medizin Lucy nicht retten konnte, warum sollte dann jemand anderer diese Chance verdient haben? Für ihn war das Unternehmen ein Mittel, wissenschaftliche Glaubwürdigkeit und berufliches Ansehen aus einer äußerst schweren und schmerzhaften Zeit seines Lebens zu gewinnen. Ein Weg, Profit aus Schmerz zu schlagen, etwas Greifbares für sein Leiden zu ernten. Ein Weg, einen Ausgleich zu schaffen.

Es war außerdem eine Möglichkeit, Gott in die Fresse zu treten. Wenn Gott nicht da war, um Lucy zu retten, dann konnte er ihn mal kreuzweise. Und Chuck – ein Wissenschaftler, einer, der es besser wissen sollte – konnte ihn ebenfalls, weil er an ihn glaubte.

Matt klappte den Laptop zu. Vergiss es, er würde Chuck nichts von seinen Experimenten mit Lanfen und virtueller Realität erzählen. Chuck wusste, dass sie nach Feierabend noch experimentierten. Matt wusste dasselbe von ihm und Mini, und dass sie ihre Zeit mit noch mehr Fantasiegeschöpfen wie Engeln und Einhörnern vergeudeten.

Es stimmte zwar, dass das ganze Team ihnen bei dem VR-Aspekt behilflich sein konnte, doch der war für ihren Erfolg nicht entscheidend, und das war im Augenblick alles, was zählte. Sollte Chuck ruhig so überrascht wie alle andern sein, wenn Lanfen bei der Applied Robotics auf die Bühne kam. Sollte die Körperlichkeit ihrer Demonstration seine Engel alt aussehen lassen. Sollten sie alle in Ehrfurcht erstarren vor dem, was Matt zuwege brachte, ohne dass ihm jemand half.

So, wie es immer war.