KAPITEL 26
Kontakte
Dice war der Erste, dem Chuck von Matts SMS erzählte. Oder vielmehr zeigte er sie ihm wortlos. Die bloße Weitergabe der Information rief ihm den kalten Schauder wieder in Erinnerung, der ihm über den Rücken gelaufen war, als er sie gelesen hatte. Er war erst gegen fünf Uhr morgens eingeschlafen.
Dass Dice erblasste, als er die SMS sah, war einerseits ein Trost für Chuck (nein, ich überreagiere nicht), andererseits die Ursache für einen neuen Angstschub (wir stecken tief in der Scheiße).
„Wie wär’s mit einer Hausparty?“, murmelte Dice. „Heute Abend?“
Chuck nickte nur.
„Sollen wir die üblichen Verdächtigen einladen?“
„Klar“, sagte Chuck und zwang sich zu einem leichten Ton. „Mini will dieses Mal den Film aussuchen. Transformers hat ihr nicht sonderlich zugesagt.“
„Ach, komm“, sagte Dice. „Wie kann man große, kräftige Kampfroboter nicht mögen?“
Die Partypläne wurden binnen Minuten abgeschlossen und die Information ging von einem Mitglied von Team Chuck zum andern. Mit Saras Team konnten sie allerdings keinen Kontakt mehr aufnehmen, da alle bereits zur Anlage der Deeps aufgebrochen waren.
Chuck war den ganzen Vormittag ein reines Nervenbündel. Jeden Moment, so glaubte er, würde das Telefon läuten und man würde ihn zu einem Treffen mit General Howard rufen, oder Smiths würden kommen und ihn zur Vernehmung abholen. Es war nicht so abwegig: Als der übliche Fahrer eintraf, um seine Schützlinge zu holen, hatte er einen Smith im schwarzen Anzug im Schlepptau, der das Hauptgebäude betrat, seinen Ausweis am Empfang zückte (wo inzwischen ein Zwilling von ihm saß) und sich auf den Weg in den Laborbereich machte.
Chuck, der nach einer Besprechung mit ihrer Büroleiterin gerade den Konferenzraum verließ, sah den Smith im Korridor auf sich zukommen, und das Herz rutschte ihm in die Hose. Er hielt den Atem an, eiskalter Schweiß drang ihm aus den Poren. Der Impuls zu fliehen war so stark, dass er fast losgerannt wäre, aber stattdessen sah er dem Agenten in die Augen und hielt mit einer Hand seine Kaffeetasse umklammert und mit der andern seinen Laptop.
„Doktor“, sagte der Mann und nickte … und ging an ihm vorbei, ohne langsamer zu werden.
Vielleicht doch ein bisschen abwegig.
Chuck sank gegen die Wand im Flur und sah, wie der Smith stehen blieb und an Matts Bürotür klopfte. Er riss sich los und ging zu seinem Labor zurück, den toten Winkel, den Mike für ihn geschaffen hatte, vermied er bewusst. Dieses eine Mal wollte er, dass man sein Verhalten zur Kenntnis nahm.
Etwa fünf Minuten später erschien der Smith mit Matt im Schlepptau wieder. Chuck sah sie durch die offene Tür, als sie dem Ausgang zustrebten. Matt warf ihm einen schneidenden Blick zu, sein schmaler Mund war verkniffen. Wieder fühlte Chuck den Impuls zu fliehen. Stattdessen verließ er sein Büro, beschäftigte sich einige Minuten sinnlos im Labor und betrat sein privates Reich dann wieder über den toten Winkel, während er gleichzeitig das Störgerät aktivierte.
Anschließend rief er einen Kollegen in Kalifornien an und bat ihn um einen sehr großen Gefallen.
Der Film war Independence Day – nicht ganz die romantische Komödie, die sich Lanfen vorgestellt hatte, aber auch diesmal ging es nicht um den Film. Es ging um den Plan für das weitere Vorgehen, und aus Chucks Sicht war das, worüber sie sprechen mussten, so einfach wie folgenschwer: Er musste sich aus der Lage befreien, in die er sich gebracht hatte, als er eine geschäftliche Beziehung mit Matt Streegman eingegangen war.
Im Schutz sämtlicher Anti-Überwachungsmaßnahmen versammelte sich das Team in Chucks Arbeitszimmer um ihn, ihrer Höhle. Er warf einen Blick in die Runde. Alle sahen so ängstlich aus, wie er sich fühlte – was ihn sowohl tröstete als auch beunruhigte. Halb auf seinem Schreibtisch sitzend, sah er jedem Einzelnen von ihnen in die Augen: Eugene, Dice, Lanfen, Mini. Dann ergriff er das Wort.
„Howard weiß, dass ich mit jemandem im Pentagon wegen Deep Shield Kontakt aufgenommen habe – ich weiß nicht, ob er von meinen Nachfragen bei CIA und FBI weiß, aber ich muss davon ausgehen. Die Sache ist nämlich die: Wir haben Kenntnis von gewissen Dingen, und ich bin mir nicht sicher, ob jemand erfahren darf, dass wir sie haben. Ich könnte natürlich meinen Freund beim FBI anrufen, aber ich kann zwar ihm vertrauen, nicht jedoch den Leuten, für die er arbeitet. Und es spielt im Grunde sowieso keine Rolle.“
„Wovon redest du?“, fragte Mini.
„Kurz gesagt, ich kann so nicht weiterleben. Ich muss raus aus der Sache. Sobald ich einige Verbindungen geknüpft und …“
„Du allein?“, fragte Lanfen und im selben Moment sagte Eugene: „Ich auch.“
Dice nickte. „Ich bin dabei. Raus, meine ich.“
Mini starrte nur geradeaus, die Arme um den Körper geschlungen. Ihr Gesicht war eierschalenweiß in dem schwach beleuchteten Raum.
Chuck stützte sich schwer auf seinen Schreibtisch. „Ihr müsst nicht fliehen. Sie können nicht wissen, dass ihr von meiner Paranoia …“
„Komm schon, Doc“, sagte Eugene. „Wir hängen da zusammen drin. Wir alle. Niemand von uns will etwas mit diesen Kriegsmaschinen zu tun haben, die sie bauen. Niemand von uns weiß, wem er trauen kann.“
„Außer uns gegenseitig“, sagte Lanfen. „Wir wissen, dass wir uns vertrauen können. Ich will ebenfalls raus. Welche Möglichkeiten haben wir?“
Chuck dachte an die ganz in Weiß gehaltene Visitenkarte in seiner Brieftasche, aber einmal mehr verwarf er den Gedanken. „Ich habe einen Kollegen, einen Freund am California Institute of Technology. Er ist Neurologe dort, Leiter seines Fachbereichs. Er war schon immer ein bisschen subversiv, was militärische Dinge angeht. Ich habe ihn heute Morgen angerufen und ihm – ohne groß ins Detail zu gehen – erzählt, dass eine Technologie, die ich entwickelt habe, gerade vom Militär missbraucht wird. Er sagte, er kann uns helfen. Er hat mir ein Versteck angeboten, das er für sicher hält. Aber wenn wir alle fünf gehen …“
„Wenn wir mehr sind, sind wir sicherer“, sagte Dice. „Wenn sich alle an der Planung beteiligen, ist es weniger wahrscheinlich, dass wir etwas Wichtiges übersehen. Wir müssen an Transport, finanzielle Mittel und dergleichen denken.“
„Was ist mit dem Zeug in den Laboren?“, frage Eugene. „Wir können nicht einfach alle unsere Aufzeichnungen und Dokumentationen zurücklassen. Dice hat die Schnittstelle so verkleinert, dass sie in einen Rucksack passt. Glaubst du, wir könnten eine irgendwie hinausschmuggeln?“ Chuck zuckte verlegen mit den Achseln. „Das wird nicht nötig sein. Ich habe eine hier im Haus. Ich habe … geübt. Besser wir setzen nicht darauf, dass es uns gelingt, irgendetwas aus unseren Laboren zu schaffen.“
„Chuck hat recht“, sagte Lanfen. „Ihr könnt die Trainingseinheiten neu bauen, wenn es sein muss. Ich meine, ihr seid schließlich das Team, das sie entwickelt und zuerst gebaut hat.“
In diesem Moment wurde es Chuck mit aller Schärfe bewusst: Wenn sie verschwanden, würde Howard Himmel und Hölle in Bewegung setzen, denn sie waren Forward Kinetics. Sie waren die Quelle der Technik, die er in seine Gewalt bringen wollte.
Ein leises Geräusch ließ Chuck den Kopf nach rechts zu Mini drehen. Sie weinte. Große, lautlose Tränen kullerten ihr über die Wangen. Er und Eugene machten beide im selben Moment Anstalten, sie in die Arme zu nehmen. Chuck ließ seinem Assistenten den Vortritt.
„Hab keine Angst, Mini.“
„Ich habe keine Angst“, flüsterte sie und hätte fast seinen Arm abgeschüttelt. „Ich bin wütend. Frustriert.“ Sie hob den Blick zu Chuck. „Wer sind diese Leute? Wofür halten sie sich? Wir haben das alles mit den besten Absichten angefangen. Wir wollten helfen.“ Sie sah in die Runde ihrer Mitstreiter, die alle so hilflos aussahen. „Wir haben etwas Schönes geschaffen. Sie haben unsere Arbeit gestohlen und ins Gegenteil verkehrt. Und jetzt? Jetzt sollen wir fliehen? Man darf ihnen nicht erlauben, das zu tun. Wir dürfen es nicht zulassen!“
Chuck sah in ihr blasses, tränenüberströmtes Gesicht und wusste, dass sie recht hatte. Sie konnten nicht einfach weglaufen und sich verstecken. Sie mussten kämpfen. Geheimnis gegen Geheimnis. Intelligenz gegen Macht.
Aber erst einmal mussten sie entkommen – bevor Howard Gelegenheit hatte, seine Maschinen zum Einsatz zu bringen.
„Okay, passt auf. Sind alle dabei? Wollt ihr alle aussteigen?“
Es gab kein Zögern. Alle vier nickten.
Chuck fühlte reine Emotion in sich aufsteigen. Ein Hochgefühl. Diese Leute vertrauten ihm; er vertraute ihnen. Was immer sie erwartete, sie würden ihm zumindest gemeinsam entgegentreten. Er schob die wissenschaftliche Neugier beiseite und genoss den Augenblick als ein Mann, der gerade eine sehr schwere Entscheidung getroffen hat.
„Also gut. Dann lasst uns überlegen, was wir alles tun müssen und wann wir es tun.“
Sie machten Listen, sie machten Pläne, sie skizzierten einen zeitlichen Ablauf. Die Punkte auf der Liste würden bis Samstagabend abgehakt sein müssen, denn am frühen Sonntagmorgen würden sie Forward Kinetic und Deep Shield weit hinter sich lassen.
Bis Freitagabend hatten sie Sicherungskopien ihrer Dateien gemacht und eine große Menge von ihnen in die Cloud geschickt – woran nichts Ungewöhnliches war. Dice hatte sich ein Speicherprotokoll ausgedacht, das es ermöglichte, die kinetische Schnittstelle abzuschalten, wenn die Roboter gelagert wurden und sie mithilfe eines individuellen Codes, den alle Roboterführer jeweils für sich entwarfen, wieder in Betrieb zu nehmen. Sie wussten außerdem, dass ihre Anwesenheit bei Deep Shield am Montag nicht erwünscht war, vorgeblich, weil der Montag ein Feiertag war. Niemand von ihnen glaubte auch nur eine Sekunde lang, dass das der wahre Grund war, aber sie empfanden eine grimmige Freude darüber, denn es verschaffte ihnen mehr Zeit.
Am Samstag arbeitete jeder für sich, um sein oder ihr Leben in Ordnung zu bringen und Dinge zu erledigen: Geld auftreiben, Reiseverbindungen buchen, packen. Sie hatten einen Filmabend am Samstag, ließen es aber nicht spät werden. Am Sonntagmorgen trafen sich Mini, Lanfen, Dice und Eugene in Wanderkleidung und mit Rucksäcken und Verpflegung bei Chuck. Dices Freundin Brenda fehlte. Sie hatte zuvor bereits vereinbart, sich um die Inspektion des Minivans ihrer Mutter zu kümmern.
Das Wetter war mild – Pulloverwetter hatte es Lanfens Mutter immer genannt. Sie nahmen Chucks Volvo SUV und fuhren nach Nordwesten zum Prettyboy Reservoir. Das war ein verästelter, künstlich geschaffener See mit vielen Meilen Uferlinie, und so dicht bewaldet, dass das Blätterdach an zahlreichen Stellen undurchdringlich war. Sie parkten am Frog Hollow Cove am östlichen Ufer und mieteten ein Boot, um auf die andere Seite des Reservoirs überzusetzen, auf eine dreieckige Halbinsel, die südlich in den See ragte. Von dort wanderten sie in den dichtesten Teil des Waldes nach Norden.
Das Ganze hatte etwas Unwirkliches an sich, besonders, da sie schweigend wanderten, weil jeder seinen persönlichen Gedanken nachhing. Es war fast, dachte Lanfen, als würden sie glauben, dass Howards Überwachungsvorrichtungen sie selbst hier draußen hören konnten. Sie ertappte sich dabei, wie sie nach Hubschraubern oder Flugzeugen lauschte, und sah durch Lücken in den Bäumen häufig nach oben.
Einmal hörten sie ein Flugzeug, und auch wenn es nicht einmal annähernd über ihre Position hinwegflog, gingen sie rasch in Deckung. Das Einzige, was Lanfen außer dem Motor in der Ferne hörte, war Eugenes Keuchen. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass er nicht gerade der sportliche Typ war, oder ob er einfach ungemein nervös war, obwohl sie bisher noch nichts besonders Gefährliches getan hatten. Falls Howards Leute sie jetzt aufspüren und abfangen sollten, konnten sie immer noch behaupten, sie würden nur einen Wochenendausflug unternehmen.
So weit, so gut.
Nach einer knappen Stunde Gehzeit kamen sie auf einen im Schatten von Bäumen liegenden Parkplatz hinaus, wo die Spooks Hill Road nahe ans Wasser kam und am oberen Ende eines spitzen Bacheinlaufs eine Schleife machte. Am Rand des Waldes, mit der Beifahrerseite dicht an ein Gestrüpp geparkt, stand ein silberner Toyota Siena, der schon seit dem Abend zuvor dort stand, obwohl er eigentlich in einem Big O in Baltimore zum Reifenauswuchten sein sollte. Es war Phase zwei ihrer Flucht, und sie war so greifbare nahe dass die Gruppe sie fast spüren konnte.
Die Wanderer näherten sich dem Van vom dichten Unterholz her. Die Schiebetür auf der Beifahrerseite ging auf, und Brenda Tansy kam zum Vorschein. Wortlos setzte sie sich ans Steuer. Lanfen konnte nicht umhin, zu bemerken, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte und sehr blass war.
Schweigend verteilten sie sich im Wagen. Der massiv getarnte Dice nahm auf dem Beifahrersitz Platz, Chuck und Lanfen in der Mittelreihe und Eugene und Mini hinten.
„Alles gut gegangen?“, fragte Brenda, ließ den Wagen an und fuhr vom Parkplatz. Sie warf einen Seitenblick zu Dice und lächelte matt. „Ein Wahnsinnslook, den du da hast.“
Dice nahm die Wollmütze ab, die er den ganzen Vormittag getragen hatte, und ließ mit Gel bearbeitetes Haar mit blonden Strähnen sehen. Mit der Spiegelbrille, die er aufhatte, ähnelte er kein bisschen mehr ihrem leicht nerdigen Roboterexperten – und bis sie ihr erstes Ziel erreichten, würde keiner von ihnen mehr aussehen wie sonst. Mini hatte ihr Haar geglättet und trug Make-up. Lanfen hatte sich die Haare geschnitten und war vollkommen anders gekleidet als üblich, und auch Chuck und Eugene hatten ihr Aussehen verändert.
Chucks Verwandlung war besonders bemerkenswert, dachte Lanfen. Erstaunlich, wie sehr es ihn veränderte, dass er das Haar dunkler gefärbt und straff nach hinten gekämmt hatte und dass er Kontaktlinsen statt einer Brille trug.
Gefällt mir.
Nach ihrer Theorie würde ihnen jetzt niemand folgen. Selbst wenn man sie bis zum See beschattet hatte, würde das Überwachungsteam nach ihrer Theorie nun Chucks Volvo beobachten, der noch am Frog Hollow Cove stand. Theoretisch hatten sie stundenlang Zeit, um zu verschwinden.
Lanfen vertraute Theorien. Sie bemühte sich, entspannt zu bleiben, sich einzureden, dass alles gut gehen würde. Es schien ihr allerdings nicht ganz zu gelingen, denn Chuck streckte die Hand aus und legte sie auf ihre. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie die Fäuste geballt hatte.
„Alles ist in Ordnung“, sagte er, obwohl er unmöglich wissen konnte, ob das stimmte. „Sie werden darauf warten, dass wir zum Wagen zurückkommen. Falls sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben, uns hier heraus zu folgen. Wir schaffen das. Alles wird gut.“
Sie zwang sich, die Fäuste zu öffnen. Chuck verschränkte seine Finger mit ihren und drückte sie. Sie erwiderte den Druck und begann im Geist ihre Beruhigungsübung durchzugehen. Dabei musste sie an Bilbo denken, der immer noch Gefangener in der Deep-Shield-Einrichtung war. Er war ein unbelebtes Objekt, außer wenn sie ihn besetzte. Er war nur eine Maschine. Doch irgendwie machte es Lanfen enorm traurig, ihn sich von all diesen Fremden umgeben vorzustellen. Es war sehr gut möglich, dass sie ihn nie wiedersah.
Der nächste Abschnitt ihrer Reise führte sie nach Hagerstown, wo sie Flüge vom Regionalflughafen der Stadt zum LaGuardia-Airport in New York gebucht hatten. Brenda setzte sie am einzigen Terminal in Hagerstown ab, und nach einem angespannten und tränenreichen Abschied von Dice, in dessen Verlauf er schwor, es würde nicht für immer sein, fuhr sie nach Baltimore zurück. Von LaGuardia würden sie nach Omaha, Nebraska, fliegen und von dort nach Albuquerque. In New Mexico würden sie einen Wagen mieten und gerade einmal bis zum nächsten Automarkt fahren, um einen zu kaufen.
Sie flogen nicht zusammen. Sie hatten geplant, sich auf jedem Flughafen neu zu gruppieren. Beim Abflug in Hagerstown waren Dice und Lanfen also ein asiatisches Touristenpaar, Mini und Chuck bildeten ein zweites Gespann und Eugene reiste allein.
Am LaGuardia wurden Mini und Lanfen zu zwei Geschäftsfrauen, die es sich auf Firmenkosten gut gehen ließen, während alle drei Männer scheinbar allein unterwegs waren. Als sie am frühen Montagmorgen schließlich in Omaha landeten, war Chuck erschöpft und nervlich am Ende. Trotzdem hoffte er, dass ihr Fehlen frühestens am Sonntagabend bemerkt worden war, weil sie nicht zu seinem Wagen zurückgekehrt waren.
Inschallah – das hatten seine muslimischen Kollegen am Johns Hopkins oft gesagt. So Gott will. Er hoffte, Gott wollte, dass jeder Überwachungstrupp, den Howard eventuell auf sie angesetzt hatte, sich so langweilte, dass sie Zuflucht bei Handyspielen suchten. Er überlegte kurz, ob Gott überhaupt von Candy Crush wusste. Aber das war eine Frage für eine andere Gelegenheit. Im Moment musste er einige Telefongespräche führen.
Matt Streegmans Handy läutete um 6.30 Uhr am Montagmorgen. Er war nicht erfreut, Leighton Howards Büronummer im Display zu sehen, aber er meldete sich pflichtschuldig und gab sich gut gelaunt, denn der Kunde hat verdammt noch mal immer das Recht, einen anzurufen, egal, wann es ihm einfällt. Zumindest wenn der Kunde so viel Geld bezahlte, wie es Deep Shield tat.
„General Howard, Sie sind aber schon früh auf den Beinen.“
„Das bin ich immer. Ich möchte, dass Sie heute Morgen hierher kommen, Dr. Streegman. Einer meiner Überwachungsanalysten hat mir gerade etwas gezeigt, und ich denke, das sollten Sie sehen.“
Matt versuchte Chuck anzurufen, während er auf den Wagen von Deep Shield wartete. Chuck ging nicht ans Telefon. Erst jetzt fiel Matt ein, dass sein Partner und einige ihrer Mitarbeiter am Sonntag zum Wandern ins Prettyboy Reservoir gefahren waren. Wahrscheinlich schlief er sich aus. So etwas fiel nur Chuck ein. Filmabende. Gemeinsame Essen. Teambildungs-Wochenenden, um einmal aus allem rauszukommen.
Matts Verstand stolperte über die Worte, und für einen Moment erfasste ihn Schwindel. Aus allem rauskommen. Würde Chuck etwas so Radikales tun? Seinen kleinen Fanclub in den Wald hinausschleifen, wo die Deeps sie nicht überwachen konnten? Über die Grenze fliehen? Welche Grenze? Es gab keinen Ort, an dem Howard sie nicht finden konnte, davon war Matt überzeugt.
Und ihm wurde klar, wie wenig angenehm diese Gewissheit war.
Er tat die unerfreulichen Gedanken mit einem Achselzucken ab. Der Wagen von Deep Shield war eingetroffen, was bedeutete, dass Howard ihn noch vor seinem Anruf losgeschickt hatte. Typisch.
Im Hauptquartier brachte man Matt eilig direkt zu Howards Büro, wo der General und ein Techniker in einer schmucklosen Kaki-Uniform an einem kleinen Konferenztisch vor einer großen Leinwand saßen.
Howard bedeutete Matt mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen.
„Ich möchte, dass Sie sich diese Aufnahmen ansehen und mir sagen, was daran verquer ist“, sagte Howard ohne Einleitung.
Das Video zeigte die Längsaufnahme einer leeren Toilette. Die Kamera war in der Ecke gegenüber den Kabinen und Waschbecken angebracht, und sie zeigte, wie die Tür vom Flur aufging, und wie Mini Mause die Toilette betrat und Lanfen die Tür aufhielt. Mini machte der anderen Frau Komplimente wegen ihrer Stiefel, dann ging sie zu einer der Kabinen und öffnete sie. Nun hielt sie jedoch inne und begann in ihrer übergroßen Handtasche zu wühlen, anscheinend auf der Suche nach ihrer Haarbürste. Sie ging zurück in die Mitte des Raums und hielt die Handtasche ins Licht.
Hinter ihr schlüpfte Lanfen in die Kabine, die Mini geöffnet hatte, und Mini gab die Suche nach der Haarbürste auf, ging in die Kabine daneben und schloss die Tür. Matt hörte sie etwas darüber sagen, dass sie sich Lanfens Haarbürste borgen wollte, aber er hörte Lanfen nicht antworten. Sie sprachen über den Film, den sie am Abend zuvor gesehen hatten. Sie sprachen über Stiefel. Dann kamen sie heraus und gingen zu den Waschbecken.
Matt runzelte die Stirn. „Was hätte ich bemerken sollen?“
„Lassen Sie es noch einmal laufen“, sagte Howard zu dem Techniker. Zu Matt sagte er: „Achten Sie auf die Kabinentür links.“
Matt sah zu. Mini wühlte in ihrer Handtasche. Hinter ihr schlüpfte Lanfen durch die halb offene Kabinentür und stieß sie dabei ein klein wenig weiter auf. Mini ging in ihre Kabine – Matt hielt den Blick eisern auf die andere Tür gerichtet – und …
Er blinzelte. Die Tür auf der linken Seite war halb offen, dann war sie geschlossen und abgesperrt. Man sah sie nicht zugehen, man hörte sie nicht zufallen. Sie war schlicht offen, und dann war sie es nicht mehr.
„Was ist passiert?“, fragte er.
„Ich weiß es nicht“, sagte Howard. „Ich dachte, Sie wissen es vielleicht.“
„Warum sollte ich?“
„Sie kennen diese beiden Frauen. Sie wissen, dass sie beide … talentiert sind.“
„Sie glauben, sie haben sich aus irgendeinem Grund an der Kamera zu schaffen gemacht?“
„Nicht auf mechanischem Weg. Ich weiß nur, dass diese spezielle Damentoilette der Schauplatz mehrerer seltsamer Vorfälle in eben dieser Nacht war – in der Nacht, in der sich Lieutenant Reynolds’ Roboter unerlaubt vom Dienst entfernt hat. Ein Mitarbeiter der Reinigungsmannschaft hat festgestellt, dass der Schlüssel zum Putzschrank plötzlich nicht mehr sperrte. Am nächsten Morgen hat jemand in der Zeit, in der ihre beiden Kolleginnen hier in der Toilette waren, draußen ein Schild aufgestellt, dass sie gerade gewischt wird. Vom Putztrupp weiß niemand etwas davon.“
Matt hatte das Gefühl, als wären seine Gedanken in einem Hamsterrad – sie rannten und rannten und hatten trotzdem immer eine Wand vor sich. „Ich nehme an, Sie beabsichtigen, sie zu all dem zu befragen?“
Howard nickte. „Gleich als Erstes morgen früh.“
„Das ist wahrscheinlich das Beste, was Sie tun können, denn ich habe ehrlich keine Ahnung, was hier los ist. Was glauben Sie denn, was sie getan haben?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich frage mich, ob es etwas mit dem Laboreinbruch zu tun hatte. Ich will offen zu Ihnen sein, Doc. Der Zeitpunkt für die Eskapaden Ihrer Freunde hätte nicht ungünstiger sein können. Ich musste gerade den Countdown für einen wichtigen Probeeinsatz stoppen.“
Matt holte tief Luft. „Einen Probeeinsatz. Von was genau?“
„Von Deep-Shield-Truppen in einer verschleierten Kampfsituation. Das ist alles, was Sie wissen müssen.“
„Was ich weiß, ist, dass Sie unserem Vertrag zufolge mit dieser Technologie keine solchen Unternehmungen durchführen dürften. Das deckt unsere Vereinbarung nicht ab.“
„Unsere Vereinbarung? Ja, darüber wollte ich ohnehin mit Ihnen reden. Je nach Erfolg der Unternehmung werden wir vielleicht über Veränderungen der Arbeit sprechen wollen, die Ihre Gruppe hier verrichtet. Veränderungen, von denen beide Seiten profitieren.“
Matt unterdrückte seine Verärgerung. Dafür hatte er schließlich gearbeitet. Dahin hatten ihn Lucys letzte Hirnwellen geführt.
„Aber es wird keine Unternehmung geben, wenn Ihre Leute etwas mit den Robotern in den Laboren angestellt haben“, schloss Howard.
Matt schluckte schwer. „Was soll ich tun?“
„Was Sie immer für mich tun müssen: sie unter Kontrolle halten. Ich dachte, nur Dr. Brenton sei das Problem. Jetzt sehe ich, dass es weiter geht. Seine ganze Gruppe ist infiziert. Ich brauche Sie in ihrer Nähe. Sie müssen mit ihnen reden. Ihnen zuhören. An ihren Plänen teilhaben und verdammt noch mal immer wissen, was sie im Schilde führen, damit ich dagegen kontern kann.“
„Kontern? Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Haben sie nicht mit Ihren Leuten gearbeitet? Haben wir unseren Teil der Abmachung nicht erfüllt?“
„Nicht wenn es außerdienstliche Aktivitäten gibt, die diesem Projekt schaden könnten.“
Sie müssen gerade reden. Verschleierte …
„Und ich glaube, dass genau das gerade passiert“, fuhr Howard fort. „Direkt vor Ihrer Nase. Das war immer das Problem mit Ihnen, Streegman. Ihnen fehlt die Bindung zu Ihren Leuten, zu Ihrer Firma, zum Leben. Sie müssen sie herstellen, und Sie müssen es schnell tun.“
Matt nickte und stand auf, ihm war zumute, als hätte jemand seinen Kopf mit Schneematsch gefüllt. Etwas an dieser ganzen Situation fühlte sich plötzlich falsch an. Und doch hatte Howard recht. Recht in Bezug auf Chuck, recht in Bezug auf ihn.
Draußen auf dem Flur stand sein pflichtbewusster Begleiter bereit, um ihn in die äußeren Schichten der Deep-Shield-Zwiebel zurückzuführen. Im Hangar wartete Matt dann auf seinen Fahrer, als sein Handy läutete. Er zog es aus der Tasche. Eine Nummer, die er nicht erkannte. Er meldete sich trotzdem.
„Streegman.“
„Matt, ich bin’s.“ Chucks Stimme übertönte Geräusche, die ziemlich sicher zu einem Flughafen gehörten.
Matt senkte die Stimme und den Kopf, was ihn wahrscheinlich mehr als schuldbewusst aussehen ließ. „Chuck? Von wo rufen Sie an? Ich habe die Nummer nicht erkannt.“
„Es ist ein Prepaid-Handy. Hören Sie, wir sind weg, okay? Ich kann Ihnen nicht sagen, wo wir sind. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich heute Morgen von meinem FBI-Kontakt erfahren habe: Deep Shield ist seines Wissens keine offizielle staatliche Einheit. Sie wissen, was sie bauen, Matt. Und Sie wissen, sie planen einen Einsatz.“
„Howard hat mir soeben mitgeteilt, dass sie den Countdown gestoppt haben.“
„Für wie lange? Nein, es spielt keine Rolle. Das sind keine Rettungsroboter, Matt. Oder Roboter für den Sanitätseinsatz. Es sind keine Roboter für das Bauwesen oder für Erkundungszwecke und nicht einmal für den Katastrophenschutz. Es sind Angriffswaffen. Und es sind Angriffswaffen in den Händen einer streng geheimen paramilitärischen Organisation.“
Matt war zumute, als hätte jemand ein Tiefkühlfach in seinen Eingeweiden geöffnet. „Verdammt noch mal, Chuck, sind Sie komplett verrückt geworden? Ich habe Ihnen doch gesagt, dieser Comicheft-Mist …“
„Ist wahr. Je früher Sie es kapieren, desto früher können wir überlegen, was zu tun ist. Sie können uns helfen, Matt, oder Sie können mit Howard gemeinsame Sache machen und versuchen, uns zurückzuholen. Es ist Ihre Entscheidung. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen. Unsere Verträge decken unsere Beteiligung an der Art von Technologie, wie Lanfen sie neulich nachts in den Laboren gesehen hat, nicht ab, und was noch wichtiger ist, unser moralisches Empfinden billigt sie nicht. Und selbst wenn wir Ihnen egal sind, wenn Sie keine moralischen Bedenken haben und sich nicht wegen der nationalen Sicherheit oder einer extrem mächtigen paramilitärischen Einheit sorgen, dann denken Sie um Gottes willen wenigstens über Urheberrechtsverletzung nach.“
Urheberrechtsverletzung? So dachte Chuck also von ihm?
Und dennoch … warum nicht?
Er schwankte für einen Moment. Howard zu helfen war ein Akt guten Willens, der wahrscheinlich genügte, um den Rest der Verträge nach diesem Aufstand zu retten. Er konnte Informationen gewinnen, Hinweise auf das Versteck des Teams herausfinden. Chuck hielt so wenig von ihm? Sollte er nur. Dann konnte er seine Gefühle für seinen Expartner in einem schlichten Satz zusammenfassen: Scheiß auf Chuck.
Andererseits war da dieses braune Kuvert, mit dem Chuck ihn überrascht hatte. Matt hatte es weder am selben Tag noch überhaupt während der Messe geöffnet. Er hatte es wochenlang danach nicht angerührt. Eines Nachts dann, nach einer endlosen Folge identischer Nächte, die er alle allein verbracht hatte, wollte er hören, was Lucy zu sagen hatte.
Chuck hatte alles an den Rand neben Matts Algorithmen geschrieben. Lucys Gehirn im Schlafzustand, in einem verlängerten Alpha-Koma, unterbrochen von spitzen Zacken oder K-Komplexen – Chuck hatte sie als Arousals bezeichnet. Neurologisch gesehen, hatte er notiert, hatte das mit Aktivität in ihren Parietal- und Temporallappen korrespondiert – wo Erinnerungen, Gedanken und Gefühle verarbeitet werden. Es hatte auch Anstrengungen in ihrer primärmotorischen Rinde gegeben; sie hatte vielleicht versucht, die Augen zu öffnen oder den Arm zu heben, um etwas zu halten. Ihr Gehirn hatte versucht, einen Körper zu bewegen, der nicht gehorchen wollte, als hätte ihre Schnittstelle eine Reparatur gebraucht. Es war ein teilweises Aufwachen gewesen, aber kein aufgewühltes. Die rhythmischen Theta-Wellen, die auf diese Ausbrüche folgten, zeigten Ruhe, Frieden.
Matt wusste, was es bedeutete: Sie hatte wahrgenommen, dass er da war. Lucy hatte auf seine Anwesenheit in diesem Krankenzimmer reagiert und versucht, die Hand auszustrecken und ihn zu trösten. Sie war ruhig und heiter gewesen, und sie hatte ihm, wie so oft in ihrem gemeinsamen Leben, sagen wollen, dass er sich um Himmels willen beruhigen sollte. Nicht immer gegen alles ankämpfen, sondern einfach akzeptieren, was er nicht ändern konnte, weil es vielleicht einen größeren Grund dafür gab, der sich nicht so glatt in seine mathematischen Formeln fügte. Nach all der Zeit hatte Lucy ihm endlich sagen können, dass sie, egal, was mit ihrem Gehirn geschah, noch immer an ihn dachte.
Chuck war derjenige gewesen, der diese Nachricht überbracht hatte. Und was immer das Leben Matt schulden mochte, dafür schuldete er Chuck etwas.
Er holte tief Luft, senkte die Stimme noch mehr und beugte sich über sein Handy. „Sie wissen, dass neulich nachts etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Howard hat gerade eine Vorführung für mich veranstaltet: ‚Worüber Nerd-Girls auf dem Klo reden‘.“
„Was?“
„In den Toiletten sind Überwachungskameras, Chuck.“
„Ja, natürlich. Das wussten wir vorher.“
„Okay, wie auch immer, ihr habt etwas übersehen. Aber Howard hat es nicht übersehen. Und er wird euch jagen. Wo seid ihr? Vielleicht kann ich helfen.“
„Tut mir leid, Matt, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich wollte nur, dass Sie wissen, womit Sie es zu tun haben. Ich werde später wieder versuchen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen – Ihnen eine Nummer geben, die Sie vielleicht benutzen können, wenn Sie aussteigen wollen. Sie können mich über die sozialen Medien erreichen, wenn nötig.“
„Ich will nicht aus…“, begann Matt, aber Chuck hatte bereits aufgelegt.
Matt starrte einen Moment auf sein Handy, bevor er den letzten eingegangenen Anruf löschte. Verdammt, das sah ja übel aus. Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen?
„Sir?“
„Ja, ja, ich bin so weit, wir können fahren.“ Er blickte auf und rechnete damit, dass sein Fahrer vor ihm stand, doch stattdessen sah er sich zwei Soldaten und einem Paar Fu-Roboter gegenüber. Da einer der Männer Lieutenant Reynolds war, nahm er an, der Roboter war Thorin. Beide Männer waren bewaffnet, sie hatten die Waffen fürs Erste jedoch nicht gezogen.
Es war soeben schlimmer gekommen.
„Was gibt es für ein Problem, Lieutenant“, fragte er Reynolds in ruhigem Ton.
„Ich brauche Ihr Telefon, Sir“, sagte Reynolds mit unerschütterlicher Höflichkeit.
Das Telefon. Das ohne Frage angezapft war. Das die Nummer, von der Chuck angerufen hatte, irgendwo in seinem Speicher hatte, zusammen mit möglichen Hinweisen auf den Aufenthaltsort von Chuck und den andern. Matt überlegte, es auf den Boden fallen zu lassen und unter dem Schuh zu zermalmen, aber im nächsten Moment hatte der zweite Soldat es ihm bereits aus der Hand gerissen.
Bevor Matt protestieren konnte, sagte Reynolds beinahe entschuldigend. „Da ist noch etwas, Sir. Sie müssen mit uns kommen.“
„Ich wollte gerade nach Hause fahren.“
„Nein, Dr. Streegman. Sie müssen wieder mit hineinkommen. Es hat eine neue Entwicklung gegeben, Sir. Deep Shield ist abgeriegelt.“
Als Sara am Dienstagmorgen das große Labor der Zetas in Deep Shield betrat, fühlte es sich falsch an. Zu still. Tim saß am Terminal der Ausbilder auf der linken Seite des Raums und ließ ein paar schuppige Kerlchen in Lendenschurzen wilde Kickbox-Bewegungen ausführen. Er bekam diese 3-D-Geschichte inzwischen ziemlich gut hin. Sara wusste, es hatte ihn geärgert, dass ihm eine technisch weniger begabte Künstlerin wie Mini zuvorgekommen war.
In einer hinteren Ecke auf der anderen Seite des Raums saß Mike inmitten seiner Spielzeuge – einer Ansammlung von Robotern für Bauarbeiten in verschiedenen Formen und Größen – und trank seine erste Tasse Kaffee. Die Roboter waren ganz so angeordnet, als würde sich eine Schulklasse um einen Lieblingslehrer scharen. Der große mechanische Arm – den Mike Fezzik nannte – schaukelte sanft vor und zurück. Sara fragte sich, ob Mike überhaupt bewusst war, dass er das tat.
Von ihren beiden Teamkollegen abgesehen, war der Raum leer, nur ein Wachmann besetzte ein winziges Büro zwischen Tims Workstation und Saras Arbeitsplatz im vorderen Teil des Büros. Sie konnte ihn durch das Plexiglasfenster in seiner Bürotür telefonieren sehen.
Sie zögerte an ihrer Konsole und blickte über die Schreibtische, die fächerförmig vor ihrem standen. Normalerweise waren um diese Zeit schon Leute aus ihren Gruppen im Labor und arbeiteten an Projekten. Sara setzte ihre Umhängetasche ab und ging zur Kaffeekanne auf der anderen Seite des Raums.
„Wo sind alle?“
„Keine Ahnung“, sagte Tim. „Interessiert mich auch nicht sonderlich. Dann ist die Schlange am Bagel-Stand wenigstens nicht so lang.“
„Findest du es nicht seltsam, dass noch keiner von unseren dienstbeflissenen Rekruten da ist?“
„Vielleicht haben sie eine Übung.“
Sie warf einen Blick zu Mike. Er wirkte entspannt, aber Sara wusste plötzlich, dass er alles andere als das war. Er war auf eine Weise wachsam, wie es nur Mike sein konnte. Sie ging zu ihm und lehnte sich an seine Werkbank.
„Sprich mit mir, Mikey. Was denkst du?“, fragte sie leise.
„Das ist keine Übung.“
„Wie lange werden wir wohl warten müssen, bis wir herausfinden, was es dann ist?“
„Nicht lange“, murmelte Mike.
Sara folgte seinem Blick. Zwei Militärpolizisten waren im Flur vor der Labortür aufgetaucht. Saras Handy klingelte in der Tasche ihres Blazers. Sie nahm es heraus und blickte auf den Schirm. Sie sah einen einzelnen Satz in einer grünen Nachrichtenblase. „Einsatz steht unmittelbar bevor. CB.“
CB … Chuck Brenton?
„Was ist?“, sagte Mike und sah sie fragend an.
„Ich glaube, wir haben ein Problem“, sagte sie. „Ich weiß nur nicht, welcher Art.“
Sie sah, wie sich die Militärpolizisten mit einem der Smiths besprachen, dann betraten alle drei das Labor. Die MPs waren mit Gewehren bewaffnet. Einen Moment später kam der Wachmann aus seinem kleinen Büro im Labor. Seine Pistole steckte im Halfter, aber dessen Lasche war offen. Sara war sich in aller Deutlichkeit der Tatsache bewusst, dass sie die drei Zetas im hinteren Teil des Raums praktisch in die Enge getrieben hatten.
Sie räusperte sich. „Was ist los, Agent? Gibt es ein Problem?“
„Die Einrichtung ist hermetisch abgeriegelt, Ms. Crowell. Niemand darf hinein oder hinaus. Es gibt eine neue Entwicklung. Einige Ihrer Kollegen sind vor ein paar Tagen in ein Labor eingedrungen, haben es verwüstet und geschützte Informationen gestohlen. Jetzt sind sie verschwunden.“
Das heißt, wir sind auf uns allein gestellt. „Was hat das mit uns zu tun?“
„Genau das müssen wir feststellen.“
„Ich verstehe. Wie lange wird die Anlage abgeriegelt bleiben?“
„Bis wir Antworten auf unsere Fragen haben, Ma’am. Und bis wir Ihre Kollegen gefunden haben.“
„Wir haben noch ein Leben außerhalb von Deep Shield“, warf Sara ein. „Ich unterrichte an einem College.“
„Sie werden sich krankmelden.“
„Was ist mit meiner Familie?“, fragte Mike ruhig. „Soll ich mich zu Hause krankmelden?“
„Darum kümmern wir uns, Sir.“
„Ach ja?“
Etwas in Mikes Stimme veranlasste Sara, zu ihm zu schauen. Er hatte die Augen zusammengekniffen, seine Miene war nicht zu deuten. Als sich ihre Blicke trafen, war Sara sich ziemlich sicher, dass es so weit war. Und als Mike aufstand, wusste sie es mit Bestimmtheit.
„Sie haben recht – ich melde mich krank“, sagte er. „Und zwar von hier. Ich habe die Schnauze voll von diesem Laden. Ich gehe nach Hause.“
Die beiden Militärpolizisten hoben die Gewehre und kamen näher – in Mikes kleines Maschinenreich. Der Laborwachmann zog ebenfalls die Waffe und trat zwischen die Werkbänke von Sara und Tim.
Sara warf einen Blick zu Tim. Die beiden entfernten sich augenblicklich von ihren Terminals, während Tim einen Gedankenfunken an seinen Monitor schickte, der in einem Splitterregen und einer Rauchwolke explodierte. Der Wachmann schrie auf und versuchte sein Gesicht vor den umherfliegenden Trümmern zu schützen.
Die MPs legten mit ihren Gewehren an. Einer verfolgte Sara mit der Mündung und rief: „Keine Bewegung!“ Der andere näherte sich rasch Mike, die Waffe bereits auf den Kopf des Ingenieurs gerichtet.
Tim sah scharf auf Saras Computermonitor; der flog in die Luft und ließ Splitter und Funken auf den MP regnen. Über dem Kopf des Mannes zerbrachen die Neonleuchten, Plastik, Glas und Keramik prasselten auf ihn herab. Im Raum wurde es dunkler.
Der zweite Militärpolizist zögerte für einen kurzen Moment. In diesem Moment machte Mike eine kaum wahrnehmbare Bewegung. Fezzik, der Roboterarm, hörte mit seinem ziellosen Schaukeln auf und schwenkte wild in Richtung des MP. Er traf ihn an der Schulter und warf ihn zu Boden. Die Waffe flog ihm aus Hand. Er machte einen Satz auf sie zu, stolperte jedoch über ein Stromkabel, das sich wie aus dem Nichts um seine Knöchel geschlungen hatte. Diesmal ging er hart zu Boden, heillos in Kabel verwickelt. Tim lachte, und fünf weitere Neonröhren zerplatzten über dem Kopf des Mannes, der gezwungen war, sich mit den Händen vor dem Trümmerregen zu schützen.
Der Smith hatte sich unterdessen langsam im Rückwärtsgang zur Tür bewegt, jetzt drehte er sich um und rannte los.
„Daraus wird wohl nichts“, sagte Sara, und die Tür knallte dem Mann direkt vor der Nase zu.
Der Agent wirbelte herum und zog seine Handfeuerwaffe. Ehe er sie entsichern konnte, fiel ein Balken mit solcher Wucht von der Decke, dass er die Waffe zu Boden schlug und die Hand beinahe mitnahm.
„Sorry, Kumpel“, höhnte Sara. „Aber du bist hier wohl nicht derjenige, der am schnellsten zieht.“
Der Agent lugte unter dem herabgefallenen Deckenbalken hervor zu den drei Zetas.
„Was seid ihr drei?“
„Im Augenblick, Agent Smith, sind wir diejenigen, die hier das Sagen haben.“ Sara blickte von Tim zu Mike. „Zeit, dass wir den Laden dichtmachen, meine Herren.“
Mike lächelte leicht, und alle Lichter gingen aus. Es wurde stockdunkel im Raum.