KAPITEL 29
Abgeriegelt
Matt hatte einen neuen Laptop. Er hatte ihn bar bezahlt. Er war kompakt genug, um in eine kleine Umhängetasche zu passen, und Matt ließ ihn nie aus den Augen. Sämtliche wichtige Daten hatte er auf eine externe Festplatte kopiert, und er speicherte nichts von Bedeutung mehr in seinem persönlichen Account in der Cloud, weil er befürchtete, der Account könnte gehackt werden. Er wusste zwar, die Deeps konnten im Moment nichts tun, sie waren vollständig von ihrer Operationsbasis und ihrer ganzen schlauen Technik abgeschnitten und hatten zu Überwachungszwecken nur menschliche Kräfte zur Verfügung. Aber sie arbeiteten sehr hart daran, den früheren Zustand wiederherzustellen.
In den Nachrichten tönte es von einer „terroristischen Tat“, die zu einer Art Umweltkatastrophe im Michaux State Preserve geführt hatte. Offenbar hatte Howard eine Tarngeschichte in Umlauf gebracht, aber er schien nichts mit der Reaktion der Regierung zu tun zu haben. Matt nahm an, dass sein Kontakt im Pentagon auf einer ziemlich niederen Ebene angesiedelt war. Er glaubte sogar zu wissen, wer es sein könnte – der Kerl, den er ursprünglich wegen Forward Kinetics angesprochen hatte, Schell oder Snell oder so ähnlich.
Die Deeps hatten alle Leute außer dem technischen Personal gehen lassen; Brendas Robotik-Team musste zehn, zwölf Stunden am Tag arbeiten, um neue Einheiten zu bauen. Matt war weniger Mitarbeiter als Geisel, aber nachdem Howard ihn in der ersten Woche mit Adleraugen beobachtet hatte, ignorierte er ihn größtenteils. Aus Sicht des Generals war er ein Werkzeug von begrenzter Brauchbarkeit. Tatsächlich bestand seine einzige echte Aufgabe darin, so viele Brewster-Brentons einzurichten, wie sie zur Verfügung hatten, damit Reynolds und die anderen Gruppenleiter weitere Soldaten mit ihnen ausbilden konnten.
Das erwies sich als problematisch. Was immer Howard getan hatte, um potenzielle Experten zu rekrutieren, es brachte ihm nicht sehr viele ein. Er hatte eine kleine stehende Armee oder Miliz, von der Matt inzwischen annahm, dass es sich um eine Söldnertruppe handelte, aber wie er außerdem entdeckt hatte, gehörte es zu den bestgehüteten Geheimnissen von Howards Unternehmung, dass er über viel weniger Leute verfügte, als es auf den ersten Blick aussah. Von daher der Charme einer Roboterarmee: Offenbar hatte Howard beabsichtigt, letzten Endes ganze Roboterteams von seinen ausgebildeten Führern steuern zu lassen.
Während sich Howard also abstrampelte, um neue Mittel in die Hand zu bekommen, richteten die Alpha-Zetas Chaos und Verwüstung bei allem an, was militärisch war. Sie hatten alles stillgelegt, was flog – einschließlich internationaler Stützpunkte – und schienen jeden Versuch, sie unter ihrem Berg herausholen zu wollen, sofort zu bemerken. Howard hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, und es war ihm – in seiner rechtmäßigen Eigenschaft als Berater – sogar irgendwie gelungen, dem Pentagon die Idee zu verkaufen, dass unter den bewaldeten Höhen des Michaux-Reservats tatsächlich eine terroristische Organisation am Werk war.
Eins wusste Matt mit Bestimmtheit: Howard war in Bezug auf die Alpha-Zetas zum gleichen Schluss gekommen wie er selbst – nur andere Zetas konnten es mit ihnen aufnehmen. Howard war außerdem rasch aufgegangen, dass seine handverlesenen, kampfbereiten Telekinetiker ohne ihre Roboter nur sehr wenig gegen ihre ehemaligen Ausbilder ausrichten würden. Damit blieben ihm nach Matts Einschätzung zwei Möglichkeiten. Er konnte erstens versuchen, seine Zetas so nahe an die Anlage zu bringen, dass sie Zugang zu ihren Robotern bekamen und Saras Team von innen angreifen. Oder er konnte Chuck und sein Team aufspüren und gefangen nehmen.
Letzteres erschien Matt als eine sehr vage Möglichkeit. Er selbst war in Kontakt mit den Flüchtigen und hatte trotzdem keine Ahnung, wo sie sich befanden. Dass Howard es wissen sollte, kam ihm unwahrscheinlich vor … bis Brenda ihm eine knappe Notiz zuschob: Deeps senden Agenten nach Pasadena, CA.
Er war gerade in ihrem Labor, um eine Brewster-Brenton-Einheit auf die Roboterschnittstelle abzustimmen. Der Zettel mit der kurzen Notiz, der im Rahmen des Geräts steckte, half seiner Erinnerung auf die Sprünge. Natürlich. Chuck hatte seinen ersten Abschluss am CalTech erworben. Er hatte von einem Freund dort erzählt, einem Kollegen, dessen Name Matt nicht mehr einfiel.
„Wann?“, formte er mit den Lippen.
Brenda hielt drei Finger in die Höhe und flüsterte: „Stunden.“
Er beendete seine Arbeit an der Einheit und fuhr mit seinem Laptop zum Lunch in ein Bistro am Ort. Seine „Security“ nahm wenig diskret an der Tür Platz. Nach kurzem Surfen im Netz hatte er ihn: Dr. Douglas Boston. Chuck hatte gesagt, er sei ein markanter Typ und würde eher wie ein Reggae-Musiker aussehen als wie ein College-Professor.
In die Hintergrundgeräusche des Restaurants gehüllt, rief Matt auf seinem nagelneuen Prepaid-Handy das Büro des Neurowissenschaftlers an. Der Professor unterrichtete gerade, deshalb hinterließ er eine Nachricht. „Sagen Sie unserem gemeinsamen Freund, er wird Besuch bekommen.“ Er nannte seinen Namen nicht.
Dann lehnte er sich zurück und dachte nach. Nur Zetas konnten auch nur hoffen, andere Zetas in Schach zu halten. Doch selbst bei Mini und Lanfen fragte sich Matt, ob Chucks Überzeugungskraft reichen würde, die Deeps letzten Endes von ihren Vorhaben abzuhalten. Im Augenblick mochten sie ganz „Schwerter zu Pflugscharen“ sein, was aber, wenn man sie bedrohte? Oder wenn ihre Angehörigen bedroht wurden?
Er dachte plötzlich an Mikes Frau und seinen Sohn. Was ist aus ihnen geworden?
Es gab nur eine Lösung für diese sich zuspitzende Lage, und die hieß Chuck Brenton. Matt war überzeugt, die Zetas trauten Chuck und seinem Team. Er wusste, dass in den letzten Tagen vor der großen Flucht von Team Chuck heimlich Informationen zwischen ihnen hin- und hergegangen waren. Wenn diese Geschichte enden sollte, ohne dass es im besten Fall zu einer ernsten Störung der weltweiten Kommunikation und im schlimmsten zu einem Blutbad kam, musste jemand Chuck finden. Und dieser Jemand, beschloss Matt, sollte lieber er sein. Wenn Howard ihn vor ihm fand … Nun, er durfte gar nicht daran denken.
Das stellte Matt vor ein Dilemma. Er konnte Maryland nicht verlassen, ohne dass man ihm folgte, und egal, welchen Anschein von Freiheit man ihm gewährte, er wusste, er wurde lückenlos überwacht. Falls es ihm tatsächlich gelingen sollte, Chuck und sein Team zu finden, konnte er davon ausgehen, dass Howard sofort zur Stelle sein würde, um sie alle einzusammeln.
„Dr. Streegman.“
Matt blickte auf. Reynolds stand in Zivilkleidung vor seinem Tisch und sah zu ihm hinab. Hinter ihm lümmelte ein weiblicher Offizier im Eingang des Cafés. Matt hatte sie bereits im Hauptquartier von Deep Shields gesehen. Auch sie trug keine Uniform.
„Sie müssen mit mir kommen, Doctor“, sagte Reynolds. „Wir haben die verschwundene Gruppe gefunden. Vielleicht brauchen wir Sie, um sie zurückzuholen.“
Matt sagte das Erste, was ihm in den Sinn kam.
„Nein, verdammt.“
„Ich fürchte, Sie haben keine Wahl, Sir.“
Matt hätte ihn am liebsten geschlagen. „Schön. Dann habe ich keine Wahl. So viel dazu, dass dies ein freies Land ist.“
„Sie haben einen Vertrag unterschrieben, Sir, den Ihr Partner gerade bricht. Betrachten Sie es als Teil Ihrer vertraglichen Verpflichtungen.“
„Verträge? Sie reden von Verträgen?“ Matt lachte laut auf. „Man verschleppt nicht jemanden, weil er einen Vertrag bricht. Man verklagt ihn. Wenn Sie zu einem Richter gehen wollen, bitte sehr, gehen wir.“
Reynolds blieb ungerührt. „Dr. Streegman, ich werde Sie nicht noch einmal bitten.“
„Lecken Sie mich“, murmelte Matt. Dann raffte er seine Sachen zusammen und folgte Reynolds und seiner Begleiterin aus dem Café.
Mike beobachtete die vorrückenden Soldaten mit einer bizarren Mischung aus Angst und Wut. Seine Familie war in Sicherheit, so viel wusste er immerhin, seine Frau hatte ihm über die Nummer, die sie von Tim bekommen hatte, eine Nachricht geschickt. Aber dass sie zu seinen Eltern nach Kanada fliehen mussten, dass sie aus dem Zuhause fliehen mussten, das er für sie gebaut hatte – und das sie renoviert hatten, seit ihr Einkommen durch seine Arbeit bei Forward Kinetics sprunghaft gestiegen war –, das war quälend und beängstigend. So etwas sollte in Amerika nicht passieren. Es war auf vielen Ebenen sehr, sehr falsch. Mike konnte es nicht einmal in Worte fassen. Überhaupt hatte er genug von Worten. Er würde jetzt Taten sprechen lassen.
Der Mann, der die Entwurzelung seiner Familie verursacht hatte, schickte ihnen jetzt Soldaten auf den Hals. Dass sie allen Ernstes dachten, sie könnten sich in die Bergfestung schleichen, die Howard erbaut hatte, war kaum zu glauben. Mike konnte sich nur vorstellen, dass sie annahmen, die Zetas wüssten nicht, wie man das Überwachungssystem von The Deep bediente.
Er lächelte grimmig. Und ob sie es wussten – und sie waren bereit, es zu beweisen.
„Wie nahe wollen wir sie kommen lassen?“, fragte Tim. Er saß an der Konsole, die er zu seiner gemacht hatte, und kippte mit dem Stuhl halb nach hinten. Sein Blick war wie der von Mike auf die roten Punkte gerichtet, die für die rund zweihundert Soldaten standen, die sich den Berg heraufarbeiteten. Die Rotpunktsoldaten pulsierten zwischen den Bäumen und in dem langen, breiten Tunnel, den die Fahrzeuge der Deeps als Aus- und Einfahrt benutzten.
Sara stand in der Mitte des großen, halbmondförmigen Raums, ihr Blick wanderte von einem Plasmaschirm zum andern, während sie die Eindringlinge verfolgte. Mehrere der Schirme zeigten Echtzeitbilder der anrückenden Soldaten, die von fest installierten Kameras und von Drohnen stammten, die Tim zum Spionieren losgeschickt hatte.
„Sie haben den zweiten Verteidigungsgürtel erreicht“, sagte Sara. „Es ist Zeit, sie zu stoppen.“
„Cool“, sagte Tim und grinste.
Er drehte sich kurz um und beobachtete Sara, aber die eigentliche Show fand draußen statt. Dort begannen Dinge zu geschehen, als sie sich konzentrierte. Schlimme Dinge – zumindest für Generals Howards Truppe.
Auf dem Berghang sprangen Sperrzäune aus dem Boden und blockierten den Weg der vorrückenden Armee. Als sie verwirrt stehen blieben, übernahm Tim.
Die beiden andern beobachteten auf dem Schirm, wie der Spieleentwickler ein Talent zum Vorschein brachte, von dessen Existenz sie nichts gewusst hatten. Anstatt den mit einem Maschinengewehr und einem Flammenwerfer ausgerüsteten Geschützturm unmittelbar vor seiner Drohne nur mental zu bedienen, konfigurierte er seinen Mechanismus um und änderte seine Gestalt in die eines geschuppten, metallischen Drachens. Er nahm die anrückenden Soldaten unter Beschuss und brachte sie so zum Stillstand, dann setzte er den Flammenwerfer ein, der Feuerkugeln ausspie und den Wald in Brand setzte. Chaos brach aus. Mit Kampfanzügen bekleidete Körper fielen, flohen und fingen Feuer. Grellrote Spritzer bissen sich mit den Erdtönen des Waldes. Es war wie in den vielen Videospielen, die er kreiert hatte, nur lebensechter. Mike glaubte fast, verbranntes Menschenfleisch auf dem Schirm zu riechen. Er spähte zu dem Schirm mit der grafischen Darstellung des Geschehens. Waren einige der roten Punkte erloschen?
Er wandte sich wieder den Echtzeitbildern von Tims Drohnen zu und sah Männer, die sich blutend und mit Brandwunden zurückzogen. Er sah einen Fuß mit einem Stiefel daran aus einem Haufen aus Laub und Rinde ragen. Er sah weggeworfene Waffen, die über den Waldboden verstreut lagen.
„Tim …“
„Pass auf!“
Einige Meter entfernt tauchte ein zweites Ex-Geschütz auf, das jetzt ein Drache war, spuckte Kugeln und stieß seinen feurigen Atem aus. Auf einem Schirm sah man Soldaten, die rannten, stolperten und durcheinander schrien, auf dem andern verschwanden weiter rote Punkte.
Tim lachte. „Erzittert vor dem großen und schrecklichen Smaug!“
Die Mehrzahl der Soldaten befand sich nun auf dem vollständigen Rückzug, ihre Verwundeten zogen sie hinter sich her.
„Okay, Tim, sie ziehen ab“, sagte Mike. „Du kannst aufhören.“
Er hörte nicht auf. Kugeln und flammender Atem schossen weiter aus dem Maul des Drachen. Auf dem Berghang war die Hölle ausgebrochen, und Tims Raserei würde erst enden, wenn die Munition zu Ende war.
Mike rang um Atem. Auf eine schreckliche Weise erinnerte ihn Tim an seinen Sohn Anton – ein Kind, das mit Spielzeugsoldaten spielte. Nur dass es kein Spiel war und dass hier keine Plastikfiguren den Berg hinunterflohen. Mike sagte jedoch nichts mehr, denn sie hatten ein drängenderes Problem: Die Angreifer auf der Erdoberfläche waren zurückgeschlagen, aber diejenigen, die es in den Tunnel geschafft hatten, rückten immer noch weiter vor. Sie kamen vorsichtig, die Waffen im Anschlag, die Zufahrt entlang, mehrere Humvees sicherten sie als Nachhut ab. Wenn sie auf eins der großen Stahltore trafen, die Sara geschlossen hatte, um sie auszusperren, gaben sie manuell einen Overridecode ein, und rückten weiter vor.
Tim war schweißgebadet. Seine Metalldrachen hatten sich wieder in Geschütztürme zurückverwandelt, und er lächelte nicht mehr. „Ich habe nichts mehr in petto, Sara“, sagte er. „Die Tore sind der große Schutz im Tunnel, und für die haben sie den Hardwarecode.“
„Du stehst blank da, Timmy? Dann wird es wohl Zeit, dass eine Frau die Sache in die Hand nimmt.“
Sie kniff die grauen Augen zusammen und studierte den Aufbau der Schutztore, bis sie die Lösung hatte: Die Soldaten konnten ein System nicht überschreiben, wenn es defekt war.
Sara stellte sich direkt hinter den Monitor, der zeigte, wie die Soldaten auf das nächste Tor vorrückten. Dahinter kam nur noch eins, wie sie wusste. Die manuellen Bedienungselemente für jedes Tor befanden sich jeweils links davon, hinter einer massiven Metallabdeckung. Sie wusste, wie es da drinnen aussah, sie hatte nicht nur die Architektur der Anlage studiert, sondern auch ihre inneren Mechanismen. Als sich der Anführer der Soldaten der Sperre näherte, verschränkte Sara die Arme und schloss die Augen, griff einfach in den Tormechanismus ein und drehte. Als dann die Soldaten das Steuerungsfach öffneten, fanden sie nur verbogenen Metallschrott darin vor. Während sie diese Tatsache noch verdauten, sprengte Sara den hydraulischen Hebemechanismus des Tors Bolzen für Bolzen in die Luft.
Mike stieß den angehaltenen Atem aus. Jetzt würden sie doch sicherlich kehrtmachen.
Aber sie taten es nicht. Der Anführer der Deep-Shield-Truppe kommandierte einen schultergestützten Raketenwerfer nach vorn.
„Was tun sie da?“, murmelte Mike. „Das sollten sie bleiben lassen.“
„Es kann nicht funktionieren“, sagte Sara. „ich habe die Baupläne der Anlage studiert. Dieses Tor ist zu massiv. Sie würden etwas viel Stärkeres als einen Raketenwerfer brauchen.“
„Sie zielen nicht auf das Tor, verdammt“, sagte Mike.
Sie feuerten den Raketenwerfer – einmal, zweimal, dreimal – über das Tor ab, genau auf die Stelle, wo sich einer der riesigen Verschlussbolzen in den geschwächten Fels bohrte. Beim dritten Mal begann der Fels darüber zu bröckeln, baseballgroße Steine lösten sich. Soldaten riefen und begannen sich zurückzuziehen. Zu spät. Der Fels an der Tunneldecke ächzte, und aus dem Prasseln der Steine wurde ein Hagel von Felsbrocken in der Größe von Männerköpfen.
Über den Soldaten öffnete sich eine Spalte im Tunneldach. Aus dem Steinhagel wurde eine Lawine. Es gab ein Donnern, als würde ein Güterzug vorbeifahren, Staub und Geröll ließen das Kameraauge blind werden. Als der Staub sich legte, war das Stahltor immer noch intakt, aber die Zetas sahen, dass wenigstens die Hälfte der Rekruten von Gestein begraben worden war. Blut lief in kleinen Rinnsalen zwischen den Felsbrocken hervor und sammelte sich auf dem Tunnelboden.
Sie erhielten noch einen guten Blick auf das Blutbad, ehe die Lichter im Tunnel zu flackern begannen und ausgingen. Soldaten schrien und riefen im Dunkeln um Hilfe.
Mike warf einen Blick zu Sara. Ihre Miene war entschlossen, ihre Augen funkelten. Seine Lippen fühlten sich taub an. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an. „Was tun wir jetzt, Sara? Was tun wir?“
Sie schaltete auf eine andere Reihe Kameras, um zu sehen, ob über diese etwas zu erkennen war. „Nichts. Sie werden darauf bauen müssen, dass ihre eigenen Leute sie herausholen – wenn noch welche übrig sind. Ich hoffe nur, sie haben ihre Lektion gelernt.“
„Aber sie sind verwundet.“
Sara drehte sich zu ihm um. „Denk nach, Mike. Welche Möglichkeiten haben wir? Das Tor ist kaputt. Selbst wenn es mir gelingen sollte, es zu öffnen, was würde es nützen? Wir sind keine Ärzte. Wir können ihnen nicht helfen, und wir würden am Ende nur die Kontrolle über die Anlage verlieren.“
„Ich glaube, ein paar von uns haben die Kontrolle bereits verloren.“
Saras zornigen Blick hatte er erwartet. Was ihn überraschte, war Tims Lachen. „Du glaubst, ich habe die Kontrolle verloren, mein Freund? Du irrst dich. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so beherrscht. Du wirst es selbst sehen. Dir ist klar, was hinter diesem Tor kommt, oder?“
Mike wusste nur zu gut, was als Nächstes kam. In seinen Eingeweiden herrschte Aufruhr, er wollte nicht tun, was Tim und Sara gerade getan hatten. Doch er wusste auch, dass er keine Wahl hatte.
„Da!“ Sara starrte in den Monitor. Nur schwach beleuchtet von einem Notstromgenerator huschten Soldaten durch den Tunnel. Sie wusste nicht, wie viele noch übrig waren, aber sie wusste eins mit Sicherheit: „Mike, du musst sie aufhalten. Sofort!“
Aus sicherer Distanz verfolgte General Howard weiter unten am Berg die wackligen Bilder der Videozuspielung. Reynolds und die überlebenden Soldaten drangen durch den Tunnel vor. In wenigen Minuten würden sie am letzten verbliebenen Tor sein – dem einen Hindernis, das sie noch vom inneren Heiligtum trennte.
Reynolds ging voraus, seine Helmkamera übermittelte Schwarzweißbilder wie von einem Low-Budget-Versuch eines Indie-Horror-Films. Nur dass der Horror real war.
Trittsicher und leise rückte er vor wie ein Ninja, nachdem er über die Steinlawine geklettert war, über die Leichen seiner gefallenen Kameraden und das ehemalige Schutztor. Reynolds kannte die Deep-Shield-Anlage in- und auswendig. Er kannte sie fast so gut wie Howard und fand sich selbst im Dunkeln zurecht.
Aber dann zuckte ein greller Blitz, und es war nicht mehr dunkel im Tunnel.
Im Kommandoraum stützte sich Mike schwer auf seine Workstation und spähte auf die körnigen Bilder im Monitor: die Rückenansicht einiger weniger Soldaten, die hastig durch den Tunnel auf dem Rückzug waren.
„Nicht schlecht, aber ich habe nicht das Gefühl, dass du wirklich mit dem Herzen dabei warst, Mikey.“ Tim schwenkte seinen Sessel herum und schenkte Mike seine volle Aufmerksamkeit und ein Grinsen, das nur eine Mutter lieben konnte – wenn sie Mrs. Manson war. „Beim Nächsten gilt es jetzt. Sieh zu, dass es ein Volltreffer wird.“
„Spar dir die Kommentare, Tim.“ Sara betrachtete Mike aus dem Augenwinkel. Er war immer der Ruhige gewesen. Er war wie sie. Beherrscht. Aber jetzt sah er aus, als könnte er durchdrehen. Und wenn er es tat, konnte es in beide Richtungen losgehen.
„Wie geht es dir, Mike?“
„Wie es mir geht, Sara?“ Er wandte ihr das Gesicht vollständig zu. Sie konnte die Adern genau über seinen Schläfen hervortreten sehen. Es erinnerte sie halb an ihren Vater, halb an Frankensteins Monster. Oder war das sowieso dasselbe? „Ich habe gerade eine Rakete in eine Gruppe Halbwüchsiger geschossen, die sich als Soldaten ausgeben.“
„Das sind keine Halbwüchsigen, Mike.“
„Nein? Ich wette, die Hälfte von ihnen hat noch weniger Haare auf der Brust als unser Freund Tim hier.“
„Hey, ich kann nichts für meine natürlich glatte Haut. Und mit dem Rest mache ich Manscaping. Willst du mal sehen, Sara?“ Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. „In meinen Shorts sieht es aus wie im Garten von Versailles.“
„Okay, das reicht jetzt.“ Sara schlug mit der Faust auf die Konsole. „Mike, lös doch mal deine verheulten Augen von der Seifenoper auf dem Schirm und sieh dir das hier an.“
Sie stand vor einem Monitor, der die Luftwaffenstützpunkte zeigte, die sie vor Kurzem lahmgelegt hatten. Einige der Lichter waren wieder angegangen.
„Siehst du diese roten Lichter? Der kanadische Stützpunkt North Bay ist wieder in Betrieb. Goose Bay ebenfalls. Auf beiden sind amerikanische Maschinen stationiert. North Bay ist in Ontario.“ Sara sah ihm in die Augen. „Deine Familie ist in Ontario, oder?“ Sie wandte sich wieder dem Schirm zu. „Schau dir Russland an. Ein paar von ihren Stützpunkten funktionieren ebenfalls wieder.“
Mike schaute nicht auf den Bildschirm. Er hatte die Augen geschlossen und ließ den Kopf hängen.
Sara fuhr fort. „Du hast dieselben Nachrichten wie ich gesehen, wie sich Regierungen gegenseitig vorwerfen, ihre militärischen Einrichtungen stillgelegt zu haben. Du hast gehört, dass Russland sagte, es werde jedes Ziel angreifen, das es für eine Bedrohung hält.“
Mike hob langsam den Kopf. Als er es tat, brach in dem Tunnel unter ihnen ein großer Raketenwerfer aus dem Boden und stand wie ein Koloss vor dem letzten verbliebenen Tor. Erde und Felsen rieselten von seiner grauen Metallhülle.
Mikes Augen waren weiterhin geschlossen, als würde das verhindern, dass Saras Worte in sein Gehirn eindrangen. „Je schneller wir diese Sache mit Howard beenden, desto früher können wir in der richtigen Welt wieder alles in die richtige Bahn lenken“, fuhr sie fort. „Keine Militärschläge. Keine Bomben. Keine Kollateralschäden. Keine Zivilisten, die an Orten wie, sagen wir … Ontario, Kanada, ums Leben kommen.“
Mike öffnete die Augen, sie sahen härter aus als vorher, erweitert, als wäre alle Farbe aus ihnen gewichen. Gleichzeitig ging die Luke des Raketenwerfers auf und starrte wie ein Zyklopenauge reglos geradeaus auf sein Ziel.
Mike fixierte den Überwachungsmonitor vor ihm. Ehe Tim und Sara jedoch feststellen konnten, was er sah, spürten sie es unter ihren Füßen. Die Erde grollte, als eine Hawk-Rakete durch den Tunnel schoss und in ihr Ziel einschlug. Soldaten hasteten in Richtung Ausgang, in Richtung Sicherheit, aber sie schafften es nicht einmal in seine Nähe.
Die Explosion riss Gliedmaßen von Körpern, zerstörte das letzte Verteidigungstor und löschte alle Lichter in der gesamten Anlage.
Mikes Monitor wurde schwarz. Howards Videozuspielung brach ab. Die ganze Anlage lag einige Sekunden in seltsamer Dunkelheit und Stille. Bis Tim langsam und gleichmäßig in die Hände zu klatschen begann.