KAPITEL 22

Lorstad

Früher einmal, vor langer Zeit, hatte Chuck es genossen, spät abends noch zu arbeiten. Eine besondere Art von Zufriedenheit ging mit der Stille des nächtlichen Forward-Kinetics-Gebäudes einher, wenn die meisten Leute – häufig mit Ausnahme von Eugene, Dice und Brenda – bereits nach Hause gegangen waren. Es gab kaum oder gar keine Störungen, und wenn, dann wurden sie meist von Eugene oder Dice verursacht, weil sie mit einer Frage, einer Idee oder plötzlichen Eingebung hereinplatzten, die Chuck selbst ebenfalls fesselnd fand. Manchmal versammelten sich die vier dann für ein Brainstorming, zu dem sie reichlich Kaffee in sich hineinschütteten.

Jetzt hatte Chuck, wenn er länger blieb, immer häufiger das Gefühl, sich subversiv oder lästig gegenüber den Deep-Shield-Leuten zu verhalten, die für die Sicherheit der Einrichtung zuständig waren. Er fühlte sich wie ein Fremder in seinem eigenen Labor und ging weitaus häufiger pünktlich nach Hause als früher.

Heute Abend war eine Ausnahme. Er wollte noch einige Daten zusammenstellen und vergleichen, deshalb war er geblieben. Vorbei waren die Zeiten, da er seine Arbeit mit nach Hause nehmen konnte. General Howard hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass keine Daten, die mit der Arbeit für seine Abteilung zu tun hatten, das Firmengelände verlassen durften. Chuck hatte eine vom Militär gestellte externe Festplatte für den Deep-Shield-Auftrag.

Als die Sonne hinter den Bäumen versank und das Licht, das in sein Büro drang, ein gespenstisches Rot annahm, gab Chuck den Versuch auf, sich auf seine Datensätze zu konzentrieren. Er lehnte sich zurück und fragte sich, worauf zum Teufel sie sich mit diesem Regierungsauftrag nur eingelassen hatten: Bewaffnete Männer und Frauen in Anzügen und mit Knopfhörern im Ohr pirschten durch ihre Flure. Ihre Arbeit gehörte ihnen nicht mehr. Manchmal fragte er sich, ob ihre Labore und Büros abgehört wurden.

Er verscheuchte diesen paranoiden Gedanken aus seinem Kopf und versuchte, seine müden Augen und seinen Verstand wieder auf die Testdaten von Saras Rekrutengruppe zu richten. Ein leises Räuspern veranlasste ihn, den Blick zu heben. Der Mann, der in seiner Bürotür stand, war ein vollkommen Fremder. Er war hochgewachsen, dünn und knochig, mit einem länglichen Gesicht und dichtem, gewelltem Haar, das an den Schläfen silbern zu werden begann. Er trug einen Gehrock und eine schmale Krawatte; beides ließ ihn aussehen, als wäre er just einem Mark-Twain-Roman oder einer Zeitmaschine entstiegen.

„Dr. Brenton?“ Die fein akzentuierte Stimme des Fremden war leise, aber nicht weniger durchdringend als sein dunkler Blick.

„Ja, ich bin Charles Brenton. Kann ich Ihnen helfen?“ Der Fremde musste ohne Frage einer von Howards Leuten sein, sonst wäre er am Empfang gestoppt und zurückgeschickt worden.

„Ich habe eigentlich gehofft, Ihnen helfen zu können.“ Der Mann kam in das Büro und schloss die Tür hinter sich. Er nahm ein Gerät von der Größe und Form einer Stimmpfeife aus der Rocktasche und hielt es in der offenen Handfläche. Es gab kein Geräusch von sich, aber ein Licht auf seiner Oberseite wechselte von Rot über Gelb zu Grün.

„Aha. So“, sagte er. Er steckte das Gerät wieder ein und wandte seine Aufmerksamkeit Chuck zu. „Mein Name ist Kristian Lorstad. Ich vertrete eine ehrwürdige Wissenschafts- und Kultureinrichtung, die an Ihrem technischen Durchbruch sehr interessiert ist. Wir betrachten ihn als einen potenziellen Gewinn für die Menschheit.“

„Moment mal … Sie gehören nicht zu Deep Shield?“

„Nein.“

„Wie sind Sie dann hereingekommen?“

Lorstad lächelte. „Ich habe dem Herrn am Empfang einfach meine Ausweispapiere gezeigt.“

„Dann sind Sie von der Regierung.“

„Nein, wir haben ganz sicher nichts mit der Regierung zu tun. Unsere Ziele sind nicht politischer Natur, und ein großer Teil der Macher in der Regierung sind heutzutage Sklaven eines politischen Dogmas. In einer solchen Atmosphäre gedeihen Programme, die der Menschheit nutzen, nicht gut.“

Chuck fragte sich, welche Art Ausweis einem nicht staatlichen oder militärischen Akteur Zutritt zu Forward Kinetics verschaffte, aber er stellte die Frage nicht laut.

Lorstad nahm in einem der Bürosessel Platz und betrachtete den Neurowissenschaftler mit nüchternem Blick. „Sie möchten der Menschheit gern von Nutzen sein, nicht wahr, Dr. Brenton?“

„Ja. Natürlich will ich das.“

„Haben Sie den Eindruck, dass Ihr gegenwärtiges Arrangement mit Deep Shield diesem Ziel dienlich ist?“

„Was wissen Sie über unser gegenwärtiges Arrangement mit Deep Shield? Und woher wissen Sie überhaupt über Deep Shield Bescheid?“

„Die Institution, die ich vertrete, setzt sich aus sehr einflussreichen Menschen zusammen, Dr. Brenton. Wir wissen, was wir wissen müssen.“

Einflussreiche Menschen. Chuck wurde begraben unter einflussreichen Menschen. Er traute ihnen nicht, er hatte genug von ihnen. Er brauchte keine mehr. Er stand auf. „Es tut mir leid, Mr. Lorstad, aber mein Bedarf an einflussreichen Personen und Organisationen ist gedeckt. Für mich sieht es so aus, als würden sie mein Leben bestimmen. Das Leben von uns allen hier.“

Lorstad blieb sitzen. „Und das würden Sie gern ändern, nicht wahr?“

Chuck blinzelte. „Ja.“

Der andere spreizte die Hände, als wäre es die leichteste Sache der Welt, diese Veränderung herbeizuführen. „Dann kann ich Ihnen ja doch helfen.“

„Nein, ich glaube nicht, dass Sie das können. Sie können mir vielleicht dabei helfen, einen Teufel, den ich kenne, gegen einen zu tauschen, den ich nicht kenne. Darauf habe ich keine Lust. Mir reicht es mit Rätseln und Geheimnissen. Ich habe genug von Aufsehern, Stichprobenkontrollen und Überwachungskameras. Und wahrscheinlich Wanzen. Dieses Gespräch wird höchst wahrscheinlich aufgezeichnet.“

„Oh, ja“, sagte Lorstad und sah sich im Büro um. „Hier gibt es mit Sicherheit Wanzen. Aber keine Angst, dieses Gespräch wird nicht aufgezeichnet. Es wird nicht einmal mitgehört. Die Wanzen sind außer Betrieb und werden es bleiben, bis man sie wieder instand setzt.“

„Wie bitte – soll ich etwa glauben, Sie haben sie mit diesem Ding vorhin außer Gefecht gesetzt?“

„Glauben Sie, was Sie wollen. Was die Überwachungstechnik von Deep Shield betrifft, hat dieses Gespräch nie stattgefunden.“ Nun stand Lorstad auf. „Dr. Brenton, ich biete Ihnen Freiheit. Wollen Sie das nicht? Wollen Sie nicht frei sein, Ihre Labore so zu betreiben, wie es Ihrer Ansicht nach sein sollte? Frei sein, der ganzen Menschheit zu helfen, statt nur dieser Elite-Abteilung des Militärs?“

„Eigentlich will ich nur meine Ruhe vor einflussreichen Leuten. Nein …“, fügte er an, als Lorstad wieder zu sprechen ansetzte. „Ich bin nicht interessiert.“

„Wie Sie meinen. Dann lasse ich Ihnen das hier.“ Er legte eine schlichte, weiße Visitenkarte auf Chucks Schreibtisch. „Und eine Frage: Haben Sie je darüber nachgedacht, welchem Ministerium Deep Shield eigentlich Rechenschaft abzulegen hat?“

Das hatte sich Chuck tatsächlich gefragt, und er merkte, wie Lorstads Wortwahl Unbehagen bei ihm auslöste. Denn je mehr er über General Howard nachdachte, desto mehr gewann er den Eindruck, dass der Mann niemandem Rechenschaft abzulegen hatte. Das konnte natürlich nicht sein. Aber wer waren seine Vorgesetzten? Matt glaubte, dass es das Verteidigungsministerium war, aber ebenso gut konnten es CIA, FBI, NSA oder eine obskure Einheit für verdeckte Operationen sein, die bei irgendeiner der Truppengattungen des Militärs angesiedelt war.

Himmel – wer konnte schon wissen, ob überhaupt irgendwer in der Regierung von all dem hier Kenntnis hatte?

Na, das war mal ein warmer, behaglicher Gedanke.

Lorstad sah einen Moment lang zu, wie alle diese Dinge durch Chucks Kopf paradierten, dann machte er kehrt und verließ das Büro durch das äußere Labor. Chuck nahm die Visitenkarte zur Hand und lauschte mit einem Ohr den Schritten des Mannes. Sie hielten inne. Einen Moment später hörte Chuck, wie die Tür zur Galerie geöffnet wurde.

Chuck seufzte. Der Bursche tat ihm beinahe leid. Diesen grandiosen Abgang mit seiner ach so geheimnisvollen Frage hinzulegen, nur um dann die falsche Tür zu erwischen und auf einer Galerie im ersten Stock zu landen, von wo es keine Möglichkeit gab, würdevoll nach draußen zu kommen. Er ging um seinen Schreibtisch herum und lauschte nach den Schritten des Mannes. War er am Ende der Treppe zur Galerie stehen geblieben?

Er ging zum Fuß der Treppe und rief nach oben. „Mr. Lorstad? Der Ausgang ist auf der anderen Seite.“

Er bekam keine Antwort. Chuck ging durch die offene Tür und stieg die Treppe zur Galerie hinauf. Niemand war im Treppenhaus, und die Galerie war leer. Der Kerl hatte offenbar geschnüffelt. Er hatte wahrscheinlich die Tür zur Galerie geöffnet und dann das Gebäude über den Hauptkorridor verlassen.

Chuck ging wieder zum Labor hinunter und auf den Korridor hinaus. Er blickte in beide Richtungen, sah aber niemanden außer einem umherwandernden Wächter. Der Mann war ihm fremd, und Chuck fragte sich, wie viele dieser Sicherheitsleute inzwischen eigentlich im Dienst waren.

„Stimmt etwas nicht, Doktor?“, fragte der Wachmann.

„Nein. Ich habe mich nur gewundert …“ Es widerstrebte ihm, seinen Besucher zu erwähnen, auch wenn er nicht sagen konnte, wieso. „Ich habe nur überlegt, ob Dr. Pozniaki vielleicht noch im Haus ist.“

„Nein, Sir. Dr. Pozniaki ist vor etwa vierzig Minuten gegangen.“

„Verstehe. Dann werde ich wohl auch nach Hause fahren. Ich kann ja morgen früh mit ihm sprechen.“

„Ja, Sir.“ Der Wachmann machte kehrt und setzte seine Runde fort.

Chuck ging in sein Büro zurück und sah rasch überall nach, wo sich ein erwachsener Mensch eventuell verstecken könnte, fand aber nichts. Er fühlte sich plötzlich erschöpft, packte seinen Laptop zusammen, schloss die von Deep Shield gestellte externe Festplatte im Safe ein und machte das Licht aus. Ein weißes Leuchten auf seinem Schreibtisch sprang ihm ins Auge: Lorstads Karte … und mit ihr etwas, das er noch gar nicht bemerkt hatte – das kleine Gerät, mit dem der Mann angeblich jede Überwachung blockiert hatte. Er hob beides auf, verstaute es in einer Außentasche seines Rucksacks und ging nach Hause.

Wenn er gehofft hatte, dort würde es weniger verrückt oder ruhiger zugehen, so sah er sich getäuscht. Er traf in der Abenddämmerung bei seinem Haus ein, warf die Laptoptasche auf das Sofa und ging in die Küche. Während er noch überlegte, ob er ein Bier trinken sollte, klopfte es an die Schiebetür zum Garten. Chuck unterdrückte mit Mühe einen erschrockenen Aufschrei, und als er sich umdrehte, entdeckte er Eugene und Mini vor der Tür, die ihm gestikulierend bedeuteten, sie einzulassen.

„Danke, Doc“, sagte Eugene. „Wir müssen reden …“

Es klopfte an der Haustür.

Eugene blinzelte. „Oh, Mann …“, sagte er.

Chuck bedeutete ihnen, zu warten und ging zur Vordertür. Zwei schattenhafte Gestalten standen auf der Eingangstreppe. Durch die Scheibe neben der Tür erkannte er sie als Dice und Lanfen. Er wollte schon das Eingangslicht anmachen, zögerte aber und zog stattdessen die Tür halb auf, um sie in die nur schwach beleuchtete Eingangshalle schlüpfen zu lassen.

„Geht weiter in die Küche“, sagte er, dann holte er seinen Rucksack, bevor er sich zu ihnen gesellte. Er kam sich ein wenig lächerlich vor, als er Lorstads Blockadegerät herausholte, den Schalter auf der Seite betätigte, und das Licht auf dem Ding sofort grün aufleuchten sah.

„Was ist das?“, fragte Eugene.

„Ich glaube … Ich glaube, es bedeutet, dass meine Küche nicht verwanzt ist.“

Dice wurde blass. „Wanzen? In unseren Häusern?“

„Vielleicht eben nicht. In meinem Büro war es zuerst rot.“

„Woher hast du das?“, wollte Dice wissen.

„Nicht so wichtig“, sagte Chuck. „Warum seid ihr alle hier? Das sieht aus, als wolltet ihr irgendwie intervenieren.“

„In gewisser Weise“, sagte Lanfen. Sie sah die anderen an. „Ich habe das Gefühl, dass wir alle etwas Wichtiges zu sagen haben. Wer will anfangen?“

Niemand sagte etwas. Chuck fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Okay, vielleicht zunächst eine kurze Vorschau. Mini?“

„Das gesamte Gartenpersonal wurde durch Deeps ersetzt.“ Das war ein Frösteln wert. Und die Art, wie sie es so unvermittelt heraussprudelte, erinnerte an Die Körperfresser kommen.

„Euge?“

„Ich wurde heute Nachmittag verfolgt. Ein Typ in einem silbernen Honda. Er ist mir in zwei Läden gefolgt und dann den ganzen Weg zurück zur Firma.“

Chuck sah Dice an. „Ich traue mich fast nicht zu fragen.“

Der Roboterexperte blickte zu Lanfen, ehe er begann. „Mir ist aufgefallen, dass es Dinge und Räume in der Anlage der Deeps gibt, zu denen uns der Zutritt strengstens verboten ist. Zeug, das sie uns nicht einmal dann sehen lassen wollen, wenn ein Roboter repariert werden muss. Das hat mich neugierig gemacht, deshalb bat ich Lanfen, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, wenn sie kann.“

„Sie konnte“, sagte Lanfen. „Ich bin huckepack auf Lieutenant Reynolds Roboter mitgeritten und konnte einen Blick in ihren Lagerbereich werfen. Chuck, die haben Roboter da drin stehen … Sagen wir einfach, es ist schwer vorstellbar, dass sie für humanitäre Anwendungen gebaut wurden.“

Alle Augen waren nun auf die Kampfsportmeisterin gerichtet. „Können Sie sie beschreiben?“

„Sie hatten Panzerketten statt Füße. Sie waren riesig, größer noch als die Hob-bot-Serie. In ihre Arme schien eine Art Bewaffnung eingebaut zu sein.“

Chuck sank schwer auf einen seiner Küchenhocker. Seine Lippen fühlten sich taub an. „Bewaffnung?“

„Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher. Ich müsste es genauer sehen können. Die Frage ist nur – was dann? Wir können sie ja schlecht zur Rede stellen.“

„Wieso nicht?“, sagte Mini. „In unserem Vertrag steht ausdrücklich, dass unsere Technik nicht für offensive Bewaffnung eingesetzt werden darf, oder?“

„Ja, aber sie könnten einfach behaupten, es handle sich um eine defensive Bewaffnung.“

„Oder dass es überhaupt keine Bewaffnung ist“, sagte Lanfen. „Diese großen Vorrichtungen an den Armen könnten auch nur Greifzangen sein.“

„Wenn es Greifzangen sind“, wandte Dice berechtigterweise ein, „warum sollten sie sie dann vor uns verstecken?“

„Damit wir ihre Konstruktionen nicht verwenden?“, sagte Mini.

„So war das aber nicht gedacht“, sagte Chuck. „Es ist einfach nicht … Ich werde Matt anrufen.“

Alle starrten ihn an.

„Was ist?“

Dice ergriff als Erster das Wort. „Bist du sicher, dass das klug ist, Doc? Er ist ziemlich dicke mit Howard. Wenn wir Matt wissen lassen, dass wir wegen dieser Waffensache ausflippen, wird er vielleicht etwas zum General sagen. Und wenn sie uns jetzt schon folgen, was werden sie dann erst tun, wenn sie glauben, wir sind kurz davor, uns aus dem Staub zu machen?“

„Sind wir das?“, fragte Mini leise. „Überlegt ihr euch, abzuhauen? Ich nämlich schon. Diese Männer im Garten sind keine Gärtner mehr, Chuck. Sie sind Regierungsagenten, und ich glaube mehr und mehr, sie sollen ebenso verhindern, dass wir herauskönnen, als dass jemand hineinkommt.“

„Ich weiß, was du meinst. Und ich habe mich immer noch nicht mit der Tatsache abgefunden, dass wir im Grunde nicht einmal wissen, wer sie sind. Ich bezweifle irgendwie, dass sie auf dieselbe Weise beaufsichtigt werden, wie es bei den meisten Abteilungen des Militärs der Fall ist.“

„Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich weiß, was du damit sagen willst“, sagte Dice.

„Ich denke an Geheimoperationen.“

Dice fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich dachte, die gibt es nur im Kino.“

Chuck war drauf und dran, ihnen von Lorstad zu erzählen, aber er tat es nicht. Wenn sie glaubten, verdeckte Operationen existierten nur in Filmen, was würden sie dann von Lord Lorstad, dem Vampir, halten? „Ich denke, wir sollten Matt aushorchen“, sagte er vorsichtig. „Aber sehr sanft. Sehr unauffällig. Und wir sollten wahrscheinlich mit anderen Mitgliedern des Teams reden. Vielleicht gehen noch weitere Dinge vor sich, von denen wir nichts wissen. Dann … ich weiß nicht.“

„Dann ist dann“, sagte Eugene. „Aber jetzt sofort sollten wir Pizza bestellen, denke ich.“ Er antwortete auf die fragenden Blicke der andern umgehend: „Dann wird das hier wie eine Party wirken, falls irgendwer dahinterkommt, dass wir alle hier sind.“

Dice erbleichte. „Glaubst du, ihr seid verfolgt worden?“

„Falls ja, haben wir sie abgehängt. Wir sind durch ein Parkhaus gefahren. Zweimal.“

Lanfen nickte. „Dice und ich haben getrennte Autos und verschiedene Routen benutzt. Ich bin nach Hause gefahren, habe den Wagen abgestellt und mein Motorrad genommen.“

„Wow, ihr seid ja wirklich kein Risiko eingegangen“, sagte Chuck beeindruckt.

„Wir sind genug Risiken eingegangen mit diesen Leuten“, konstatierte Mini.

Also bestellten sie Pizza. Sie blieben in der Küche, weil Lorstads Apparat (und Chuck betete zum Himmel, dass er ihn richtig benutzte) anzuzeigen schien, dass sie dort nicht belauscht wurden. Mit dem Gefühl, selbst an einer verdeckten Operation beteiligt zu sein, ließ Chuck einen Actionfilm in seinem Wohnzimmer laufen, nur für alle Fälle. Er würde ihre Gespräche übertönen und es wirklich so aussehen lassen, als würden sie nur abhängen. Sie unterhielten sich zwei Stunden lang und überlegten, was sie tun konnten – oder ob sie überhaupt etwas tun konnten. Sie beschlossen, dass es am besten war, wenn Dice mit Matt redete, da er am längsten mit ihm zusammenarbeitete und ihn am besten kannte. Dice war erkennbar unglücklich darüber, aber er musste einräumen, dass es Sinn machte.

Es war so ziemlich das Einzige bei der ganzen Geschichte, was Sinn machte.

Sie dachten sich ein Drehbuch mit ungefährlichen Fragen aus, und Dice aktivierte die Lautsprecherfunktion seines Handys für das Gespräch. Er saß am Ende von Chucks Kücheninsel und schwitzte. Alle andern hielten den Atem an.

„Hallo, Matt“, sagte Dice. „Bist du noch im Büro?“

„Nein, ich bin zu Hause. Was gibt es?“

„Ich wollte über etwas mit dir reden, das … Ich bin mir nicht sicher, ob es mich beunruhigen sollte.“

„Du bist dir nicht sicher, ob es dich beunruhigen sollte? Wovon redest du?“

„Neulich musste ich bei Deep Shield einen Kreiselstabilisator reparieren, von einem ihrer neuen Roboter. Sie wollten mich den Roboter nicht sehen lassen. Sie ließen mich nicht einmal die ganze Hirnschale sehen. Sie hatten die CPU herausgenommen, bevor sie mir den Stabilisator zeigten.“

„Und jetzt willst du wissen, ob dieses Maß an Geheimhaltung dich beunruhigen sollte?“

„Ja, so ungefähr.“

„Das ist die Regierung, Dice. Die sind von Berufs wegen paranoid.“

„Ach ja, was das angeht – welchem Regierungsministerium sind sie eigentlich unterstellt?“

„Spielt es eine Rolle?“

„Das hängt davon ab, aus welchem Grund sie uns Dinge verheimlichen.“

„Konntest du das Problem beheben?“

Dice überlegte, wie ehrlich er sein sollte. „Ich weiß es nicht genau“, sagte er vorsichtig. „Ich habe ihnen erklärt, wodurch das Problem vermutlich verursacht wird, aber ich kann unmöglich wissen, ob ich recht habe, weil ich meine Annahme nicht überprüfen kann.“

Er konnte beinahe hören, wie Matt mit den Achseln zuckte. „Dann überlasse die Überprüfung eben ihnen. So steht es im Vertrag – sie nehmen unsere Konstruktionen und machen die Feinabstimmung für verschiedene Anwendungen.“

„Jemand hat mir erzählt, dass sie Roboter mit Panzerketten bauen.“

„Wer hat dir das erzählt?“

Hatte Matts Tonfall plötzlich eine gewisse Schärfe angenommen? Dice blickte zu den andern vier am Tisch auf. In ihren Gesichtern stand ein beinahe identischer Ausdruck von Besorgnis.

„Einer ihrer Techniker. Ich kenne seinen Namen nicht.“

„Dann wird es wohl kein so großes Geheimnis sein, wenn ein Techniker davon weiß.“

„Ja. Ja, da hast du wohl recht. Äh … nur aus Neugier: Warum hast du die Gärtner gefeuert?“

„Was? Die … Ich habe keine Gärtner gefeuert. Warum sollte ich das tun?“

„Genau das haben wir … habe ich mich auch gefragt.“ Dice verdrehte die Augen, aber der Versprecher war passiert.

„Wir? Wer ist wir?“

Dice blickte auf. Er schwitzte jetzt dreimal so stark. Mini fing seinen Blick auf und deutete auf sich.

„Äh, Mini, genauer gesagt. Sie ist heute Abend ins Labor gekommen und hat Chuck gefragt, ob er die Garten-Crew gefeuert hat. Sie hat sich mit Jorge Delgado angefreundet, dem Chef der Truppe. Chuck wusste nichts davon.“

Von Matt kam nur ein vielsagendes Schweigen. Als er wieder sprach, klang er distanziert und vorsichtig. „Und ich weiß ebenfalls nichts. Ich nehme an, die Besitzer des Gewerbeparks werden einen neuen Gartenservice engagiert haben.“

Mini schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre kurzen Locken flogen.

„Ja“, sagte Dice. „Wahrscheinlich hast du recht. Es wird die Parkverwaltung gewesen sein. Aber doch irgendwie seltsam, dass sie uns nichts davon gesagt haben, oder?“

„Ja“, sagte Matt. „Das ist seltsam. Hat Chuck zu dieser ganzen Geschichte etwas gesagt?“

„Chuck? Eigentlich nicht. Er sprach einmal davon, dass die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen ein bisschen gewöhnungsbedürftig sind.“

„Tja, ich fürchte, es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als sich daran zu gewöhnen.“

„Ja, vermutlich. Äh, eine Sache noch. Werden wir … das klingt jetzt sicher dumm und paranoid … aber, werden wir überwacht?“

„Was hat Chuck dir erzählt?“

Erschrocken blickte Dice über den Tisch zu Chuck und fühlte plötzlich Zorn in sich aufwallen. „Chuck? Chuck hat mir rein gar nichts erzählt, aber mehr ist ja wohl nicht zu erwarten, denn du erzählst mir verdammt noch mal auch nichts über irgendwas. Bemerkst du wirklich nichts von dem Scheißdreck, der in der Firma vor sich geht, oder mauerst du nur?“

Chuck war blass geworden, und Eugene machte beschwichtigende Gesten mit beiden Händen. Mini sah irgendwie verdutzt aus, Lanfen schaute grimmig, aber entschlossen aus, als wollte sie Dice antreiben.

„Warum sollte ich das tun? Was ist in dich gefahren, Dice?“

„Was in mich gefahren ist? Was ist mit dir los, Matt? Es ist, als hättest du einen Tunnelblick, einzig darauf konzentriert, dein schönes Geschäft am Laufen zu halten. Nichts ist in mich gefahren. Nichts außer dem absolut normalen und vernünftigen Wunsch, die Arbeit, die ich liebe, nicht in einer vergifteten Atmosphäre machen zu müssen.“

Nach einer langen Pause fragte Matt. „Ist es wirklich so schlimm?“

Dice blies die Luft aus den Backen. „Na ja, vielleicht übertreibe ich ein bisschen, aber verdammt noch mal, Matt, das Ausmaß an Geheimhaltung und Sicherheitsmaßnahmen, das sie …“

„Es geht nicht anders, Dice. Wir haben es hier mit Dingen zu tun, die den zweiten Zusatzartikel der Verfassung berühren – die Sicherheit des freien Staates.“

Dice fühlte das absurde Bedürfnis zu lachen. „Hätte ich mir denken können, dass du eine neue Deutung des zweiten Zusatzartikels auftischen würdest.“

„Es ist keine neue Deutung. Es ist zu einem großen Teil das, worum es beim zweiten Zusatzartikel geht – den Staat vor Plünderungen durch seine Feinde zu bewahren. Und darum geht es auch General Howard. Die Vereinigten Staaten vor allem zu schützen, was sie bedroht.“

„Was ist mit dem vierten Zusatzartikel? Schutz vor staatlichen Übergriffen?“

„Jetzt fängst du an, wie Chuck zu klingen. Bist du sicher, dass du nicht mit ihm darüber gesprochen hast?“

Dice sah zu dem Neurowissenschaftler und verzog das Gesicht. Er war ein furchtbar schlechter Lügner, und er wusste es. „Na-ja, ein bisschen. Ich war nämlich dabei, als Mini ihm von den Gärtnern erzählt hat.“ So viel stimmte immerhin.

„Rede nicht mehr mit ihm darüber, okay? Es regt ihn nur fürchterlich auf. Es ist wichtig, dass er ruhig bleibt und uns nicht in die Quere kommt. Hast du verstanden?“

„Oh ja, das habe ich. Wir sehen uns dann Montag, ja?“

„Bis Montag“, sagte Matt und legte auf.

Dice saß da und starrte einen Moment lang ausdruckslos auf sein Handy.

„Ich soll ruhig bleiben und euch nicht in die Quere kommen?“, wiederholte Chuck.

Eugene schüttelte den Kopf. „Das gefällt mir gar nicht. Ich meine, es hört sich an, als wärst du eine Gefahr für Howard oder was.“

Überraschenderweise lachte Chuck. „Wahrscheinlich bin ich eher eine Nervensäge.“

„Nein“, sagte Dice sehr ernst. „Das ist nicht zum Lachen. Alles, was wir bisher von ihnen gesehen haben, deutet darauf hin, dass sie unvorstellbar viel Geld und eine Menge Spielraum haben, was die Gesetze angeht. Ich glaube nicht, dass es legal ist, seine Geschäftspartner zu überwachen, ihre Büros abzuhören und ihre Gärtner durch Agenten zu ersetzen, aber an wen wendet man sich damit?“

Chuck runzelte die Stirn und hob die Hand zu seiner Brusttasche, wo die Visitenkarte von Lorstad steckte, aber dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Ich habe keine Ahnung, an wen man sich wenden kann.“

„Vielleicht sollten wir es herausfinden“, sagte Lanfen. „Vielleicht sollten wir herauszufinden versuchen, wie General Howards Befehlskette aussieht. Nur für den Fall, dass es richtig ungemütlich wird.“

„Im Gegensatz zu jetzt?“, fragte Eugene, „da wir uns heimlich treffen und den Verdacht haben, dass man uns folgt und uns abhört?“

„Sie isolieren uns“, sagte Mini leise. „Sie ersetzen unseren Sicherheitsdienst, unsere Gärtner, unser Wartungspersonal durch Leute, denen sie trauen können.“

„Was in gewisser Weise Sinn ergibt“, sagte Dice, „wenn man bedenkt, wie bahnbrechend unsere Arbeit ist und für wie wichtig das Militär sie hält.“

Mini sah ihn zornig an. „Du verteidigst sie?“

„Nein. Ich versuche die Dinge nur, von ihrem Standpunkt zu sehen. Sie sind fokussiert. Wirklich, wirklich auf das Kinetik-Programm fokussiert. Ich glaube, Organisationen wie sie neigen dazu, alles aus den Augen zu verlieren, was außerhalb dieses Fokus liegt. Es ist etwas, was wir als Individuen alle tun. Wir alle hier in diesem Raum tun es. Ich habe es gesehen. Aber wenn es eine Organisation mit sehr viel Macht und Geld tut …“

„Was können wir also unternehmen?“, fragte Eugene. Er sah Chuck an, als erwartete er, dass der Doktor der Neurowissenschaft sich in Nick Fury verwandelte und die Superheldenbrigade zu Hilfe rief.

Chuck lehnte sich zurück und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand ein Ausdruck der Entschlossenheit in ihnen, den Dice noch kaum je an ihm gesehen hatte – vielleicht nicht ganz stahlhart, aber auf jeden Fall sehr solide. „Also gut, passt auf. Ich werde versuchen, in Erfahrung zu bringen, ob es jemanden gibt, gegenüber dem sich Howard zu verantworten hat. Jemand, der ihn ein bisschen in die Schranken verweisen könnte.“

„Wir könnten weiter unsere Deeps fragen“, sagte Mini. „Vielleicht rutscht einem von ihnen etwas Nützliches heraus. Es gibt da diesen jungen Corporal in meiner Gruppe, der offener zu sein scheint als die andern.“

„Nein.“ Chuck schüttelte den Kopf. „Ich will nicht, dass jemand von euch oder euren Leuten Schwierigkeiten mit Howard bekommt. Ich habe das Gefühl, jeder, dem etwas herausrutscht und der uns Dinge erzählt, die wir nicht wissen sollen, wird ziemlich streng gemaßregelt werden – im günstigsten Fall. Ich übernehme das.“ Er wandte sich an Lanfen. „Glauben Sie, Sie können noch einmal in die Anlage gelangen? Damit wir eine genauere Vorstellung davon bekommen, was sie dort treiben?“

Ein Ausdruck von Angst huschte über ihr Gesicht, aber sie fing sich rasch wieder. Sie und Chuck waren wie Buchstützen – der personifizierte Zweck. Dice hätte vielleicht gelacht, wäre die Lage nicht so ernst gewesen.

„Ich mache es. Ich habe mir überlegt … Nun, ich habe eine Idee.“

Sie wollte sich vorläufig nicht weiter dazu äußern, deshalb lösten sie das Treffen auf. Alle hatten in Folie verpackte Pizzastücke in der Hand und benahmen sich, als würden sie gerade eine Party verlassen. Falls sie auf dem Heimweh verfolgt wurden, bemerkte niemand etwas davon.

Dice fragte sich, wenn Deep Shield tatsächlich so gut war, ob sie überhaupt je wieder einen Verfolger sehen würden.